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SHaRKY SCaM

SouRin
von

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Heimweh

Zwei Tage später war nicht nur Mittwoch, sondern auch Kisumis Geburtstag, von dem allerdings nur Chigusa – und jeder, der Zugriff auf die Daten der Patienten hatte – wusste. Entgegen jeglicher Erwartung, mochte Kisumi es nämlich nicht, an diesem Tag besonders viel Aufmerksamkeit zu bekommen, auch den Grund hierfür kannte wieder nur Chigusa.
 

Als die Jugendlichen nicht wirklich motiviert im Unterricht saßen, fragte sich ihre Lehrerin, weswegen das Geburtstagskind so traurig aussah und warum sich niemand sonderlich um ihn zu kümmern schien. Sie hoffte sehr, dass die kleine Überraschung, welche sie für ihn bereithielt, seine Laune ein wenig heben würde.

Nach dem Unterricht am Mittag, packten die vier Teenager ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg zum Mittagessen, doch bevor er abhauen konnte, rief Miho den Rosahaarigen zu sich zurück.
 

„Shigino-kun, warte!“, hielt sie Kisumi davon ab, mit den anderen zu gehen. „Ich hab noch was für dich.“
 

Überrascht blieb der junge Mann stehen und sah sie fragend an, wobei sich sein übliches Grinsen auf die Lippen schlich: „Ich liebe Überraschungen, aber ich bin auch ungeduldig~“
 

Mit diesen Worten kam er zurück zum Unterrichtssaal, in welchem Miss Amakata zu ihrem Pult zurückgegangen war und etwas aus der obersten Schublade holte.
 

„Was ist es?“, kam er freudig erregt zu seiner Lehrerin gehüpft.
 

„Alles Gute zum Geburtstag“, lächelte Miho ihn an, als sie ihm den Brief überreichte. „Es ist zwar nichts von mir persönlich, aber ich denke, dass er dich trotzdem freuen wird.“
 

Perplex nahm Kisumi den Brief, der an seinen Namen adressiert war, entgegen und drehte ihn um. Schon ohne ihn zu öffnen, wusste er, von wem er stammte, denn er kannte die Handschrift seiner Mutter nur zu gut.

Vollkommen überfordert, nahm er den Brief erst einmal an sich und steckte ihn in die Tasche.
 

„Danke schön~“, säuselte er danach Miho zu und machte sich eiligst auf den Weg, aus dem Raum zu kommen. „Bis morgen dann~“
 

Verwirrt blickte Miss Amakata ihrem Schüler hinterher. Das war nicht ganz die Reaktion, die sie sich erhofft und erwartet hatte. Eigentlich hätte sie gedacht, dass Kisumi den Brief sofort öffnen und lesen würde, doch vielleicht wollte er sich das auch für einen späteren, ruhigen Moment aufbewahren, in dem er sich voll und ganz dem Geschriebenen widmen konnte.
 


 

„Wo ist eigentlich Kisumi?“, wollte Rin eine Viertelstunde später wissen, als er und die beiden anderen schon fast fertig mit dem Mittagessen waren.
 

„Ich weiß nicht…Miss Amakata wollte anscheinend noch was mit ihm besprechen“, erwiderte Chigusa, welche mitbekommen hatte, wie ihr bester Freund noch einmal zurückgerufen worden war.
 

„Wird schon nichts Schlimmes sein, oder?“, meinte der Hai daraufhin.
 

„Ich denke nicht“, erwiderte sich nachdenklich, beließ es aber dabei.
 

Sousuke und Rin wussten nichts davon, dass Kisumi Geburtstag hatte und sie würde die beiden auch nicht aufklären, weil sie wusste, dass er an diesem Tag ohnehin schon genug mit sich zu kämpfen hatte. Wahrscheinlich hatte er sich nach dem Gespräch zurückgezogen und tat wieder sonst war…

Chigusa beschloss nach dem Essen auf jeden Fall nach ihm zu sehen und ihn von möglichen Dummheiten abhalten, falls er welche geplant hatte.

Die letzten Jahre hatte er sich nur jemanden gesucht, mit dem er ‚Spaß haben konnte‘, doch ob er auf diese Option auch in diesem Jahr zurückgreifen würde, wagte sie zu bezweifeln. Einerseits spürte er angeblich sowieso nichts mehr beim Sex, andererseits schien seine psychische Verfassung schlechter denn je zu sein.
 

Nach dem Essen ließ sie die beiden Jungs alleine, welche sich nicht viel dabei dachten, dass die Brünette nach Kisumi sehen wollte. Sousuke und Rin gingen gemeinsam zum Aufzug, der sie in den 6. Stock befördert, in welchem sie sich es auf der Dachterrasse gemütlich machten.
 

„Ich hatte schon fast vergessen, wie gut sich die Sonne anfühlt“, schloss Rin genießerisch die Augen und wurde dabei von seinem Freund beobachtete, dem es ein wenig besser zu gehen schien.
 

„Wenn du willst, können wir in den Sommerferien raus gehen“, schlug Sousuke vor, dem es sehr gefiel, den Rothaarigen so glücklich zu sehen.
 

Er würde beinahe alles dafür tun, wenn er dieses Lächeln nur irgendwie erhalten könnte. Der Plan, diesem zur Flucht zu verhelfen, geisterte nach wie vor durch seinen Kopf, doch wie genau er das anstellen sollte, wusste er noch nicht genau. Vielleicht ließe sich etwas mit den Schlüsselkarten machen, oder er könnte etwas anderes umprogrammieren…
 

„Wir können raus?“, öffneten sich die roten Augen schlagartig bei diesem Vorschlag.
 

„Ja, aber nur wenn sich eine Aufsichtsperson auf dem Hof befindet“, nickte Sousuke, dem gerade eben erst klar wurde, dass sein Gegenüber bisher nichts davon gewusst haben musste.
 

„Trotzdem toll~“, sehnte sich Rin schon dem Tag entgegen, endlich wieder einen Fuß nach draußen setzen zu können, wobei seine Augen zu leuchten begannen.
 

Fasziniert von diesem Anblick, brauchte Sousuke eine Weile, ehe er eine Antwort parat hatte und diese auch aussprach. Viel zu sehr beeindruckte ihn der andere immer wieder aufs Neue.
 

„Okay, dann gehen wir sobald wie möglich raus“, nickte der Dunkelhaarige und lächelte ebenfalls.
 

In solchen Momenten offenbarte sich seine wahre Natur, die nichts mit dem gefühlskalten Killer zutun hatte, als den man ihn an diesem Ort hinstellte. Im Grunde war Sousuke eine herzensgute Person, die einfach nur nicht mit Menschen zurechtkam und ein bisschen Zuwendung benötigte, um glücklich zu sein. Seit er Rin hatte, kehrten die Freude und die positiven Emotionen langsam in sein Leben zurück, wofür er ihm unendlich dankbar war. Mal ganz abgesehen davon, dass er sich unsterblich in Rin verliebt hatte, plante er auch nicht, diesen jemals wieder gehen zu lassen…im übertragenen Sinne versteht sich. Immerhin plante er schon seit geraumer Weile, diesen aus der Anstalt zu schmuggeln und zwar egal ob mit oder ihn sich selbst.

Solange er nur seinen Liebsten irgendwie glücklich machen konnte – und das war er in der Anstalt eindeutig nicht – war ihm jedes Mittel recht. Das Gleiche galt bekanntlicherweise, wenn sich jemandem Rin zu sehr näherte, oder ihm gar wehtun wollte. Ob seine Gefühle und Einstellung in dieser Hinsicht ganz so gesund waren, konnte man bezweifeln, doch das interessierte Sousuke herzlich wenig.
 


 

Zur gleichen Zeit kam Chigusa an Kisumis Zimmer an und klopfte an dessen Tür in der Hoffnung, dieser würde ihr mit seinem üblichen Lächeln im Gesicht öffnen.

Leider nur dauerte es schon viel zu lange, bis die Tür sich bewegte, sodass ihr nach der Minute, die sie wartete, schon klar war, dass ihr bester Freund nicht gut gelaunt sein und es auch nicht vortäuschen würde.
 

„Chi-chan…“, blickten die violetten Augen ungewohnt melancholisch durch den Türspalt der Brünetten entgegen, bevor diese aufgerissen und sie in das Zimmer gezogen wurde. „Ich bin ja so froh, dass du da bist!“
 

Das Mädchen wurde überschwänglich umarmt und ziemlich fest gedrückt, was sie nicht unbedingt störte und auch nicht weh tat, aber wirklich sehr überraschend kam. Auch wenn Kisumi erfreut klang, konnte man den traurigen Unterton in seiner Stimme unmöglich überhören.
 

„Was ist denn los mit dir? Ich bekomm keine Luft mehr“, lachte sie unsicher und schob den um einige Zentimeter größeren jungen Mann von sich.
 

Ohne große Umschweife, setzte sich der Rosahaarige auf sein Bett und deutete dann auf ein Blatt Papier, das sich bei genauerem Betrachten als Brief herausstellte.
 

„Meine Familie hat mir geschrieben…also genaugenommen meine Mutter“, klärte er Chigusa auf. „Ich hab noch nicht ganz fertig gelesen, aber…“
 

Kisumis Stimme brach an dieser Stelle und er wirkte, als würde er jeden Moment zu weinen beginnen, fing sich aber und fuhr fort: „Ich glaub, sie will mich nicht mehr…“
 

Chigusas Augen weiteten sich und sie schritt auf das Bett zu, ließ sich jedoch auf den Stuhl gegenüber von diesem sinken, da sie nach wie vor und mehr als je zuvor Probleme mit den Betten anderer Menschen – besonders Männern – hatte.
 

„Warum das denn?“, wurde ihre Stimme weicher und drückte aus, dass er ihr alles erzählen konnte, das ihm auf dem Herzen lag.
 

„Sie hat geschrieben, dass ich zwar immer ihr Sohn sein werde, aber sie einfach nicht vergessen kann, was ich getan habe…und dass sie nicht will, dass ich je wieder in die Nähe von Hayato komme…“, schluckte er den Kloß im Hals herunter und war in diesem Augenblick unfähig, sie anzusehen.
 

Er wischte sich stattdessen mit dem Ärmel seines hochgekrempelten Hemds über die Augen, nahm den Brief erneut in die Hand und drehte ihn um. Anscheinen hatte er wirklich noch nicht ganz zu Ende gelesen.

Insgeheim hoffte Chigusa für ihn, dass im Rest etwas enthalten wäre, das seine Laune zumindest wieder ein bisschen heben würde. Doch wie das nach dieser Nachricht noch möglich sein sollte, war ihr ein Rätsel.
 

Als er weiterlas, weiteten sich die violetten Augen jedoch und sein Gesicht hellte sich für einen Moment auf. Als er zu Ende gelesen hatte, sah er auf eine melancholische Weise glücklich aus, sodass sein Anblick Chigusa wirklich sehr verwirrte.
 

„Du siehst…glücklich aus? Was steht im Rest?“, stellte sie die unnötige Frage, da der andere ohnehin bereits drauf und dran gewesen war, ihr alles zu erzählen.
 

„Sie hat geschrieben, dass Hayato mich vermisst und wiedersehen will~“, flötete Kisumi, wischte sich aber erneut über die nassen Augen, in denen inzwischen kleine Tränen standen, man aber nicht sagen konnte, ob es sich um Freudentränen handelte, oder er jeden Moment einen emotionalen Zusammenbruch erleiden würde. Höchstwahrscheinlich stimmte beides zu.
 

Was Chigusa vom Rest des Briefes halten sollte, wusste sie noch, aber es klang schön, dass Kisumis Bruder ihn vermisste und wiedersehen wollte, wenn seien Mutter es schon nicht tat. Was sie ihm allerdings antworten sollte, wusste sie ebenfalls nicht, da es aussah, als würde alles, das sie sagen würde, den anderen verletzen.
 

„Weißt du was? Wenn ich aus diesem Drecksladen jemals wieder rauskomme, geh ich zu Hayato“, meinte Kisumi nun mit einer Mischung aus Entschlossenheit, Freude und etwas andrem in der Stimme, das man nicht identifizieren konnte und wollte. „Egal, was sie sagt…“
 

Falls wir hier jemals rauskommen“, senkte Chigusa den Kopf und die Stimme.
 


 

Ausnahmsweise schien Dr. Masefield mal wieder einer seiner weniger sadistischen Tage zu haben, sodass er Rin mal wieder nur mit Wasser beträufelte und kurzerhand entschied, ihm dann den ganzen Eimer über den Kopf zu gießen, sodass er sich die Stellen, die sich in Folge des Wasserkontakts transformierten, genau ansehen und notieren zu können. Danach wurde der Hai entlassen und wartete noch immer halb nass auf seinen Freund, für den er sich wünschte, dass dessen Therapiestunde – deren Namen hätte unpassender nicht sein können – ebenso glimpflich wie seine eigene verlief.

Sousuke kehrte diesmal auch nicht völlig mit den Nerven am Ende zurück, sondern sah nur ein bisschen verpeilt aus. Solange es nur das war, konnte Rin damit umgehen, da er diese zeitweise Ahnungslosigkeit irgendwie süß und sympathisch fand. Insgeheim hatte er die Vermutung, dass sein Freund öfter so drauf sein würde, wäre er nicht schon mehrmals durch die Hölle gegangen. Er war sich schon fast sicher, dass dieser Teil seiner Persönlichkeit nichts mit seinem Trauma zu tun hatte, sondern eher einer der wenig übriggeblieben normalen Eigenschaften am Größeren waren.
 

„Alles okay bei dir, du siehst so verwirrt aus“, lächelte Rin und stupste Sousuke auf die Nase, bevor er sich auf die Zehenspitzen stellte, die leicht stoppligen Wangen mit den Händen umfasste und ihn küsste.
 

„ich hab mich nur ein bisschen verlaufen…“, gab dieser zu, als sie den Kuss lösten, wollte daraufhin aber gleich noch einen.
 

„Hast du nicht eine Karte von Chigusa bekommen?“, lachte der Kleinere danach erleichtert, dass alle sin Ordnung zu sein schien, aber auch, weil er das Verhalten des anderen zu süß fand.
 

„Hab sie vergessen“, brummelte Sousuke in seinen nicht vorhandenen Bart und brachte Rin damit erneut zum Lachen.
 

„Die Hauptsache ist, dass du überhaupt zurückgefunden hast~“, wurde ihm dann auch schon wieder ein Kuss auf die Lippen gehaucht.
 

Noch waren sie unschuldig, doch Rin merkte bald, dass er wieder etwas weitergehen konnte. Offenbar hatte Sousuke seine Phase zum Teil überwunden, das nur ihnen beiden zugute kam~
 

Jedoch wurde der ein wenig zu gierige Hai bald gestoppt, als seine Hände unter das Oberteil des Größeren glitten. So weit war dieser anscheinend doch noch nicht…

Wenn er nur für einen Moment nachgedacht hätte, hätte Rin es sich auch denken können, doch er hatte sich einmal wieder zu sehr von seinem Körper leiten lassen, wofür er sich selbsthätte ohrfeigen können.
 

„Tut mir leid“, ließ er den Kopf schuldbewusst gegen Sousukes Oberkörper sinken.
 

„Schon okay…ist ja nichts passiert“, legte dieser seine Arme um den Kleineren und drückte ihn sanft an sich.
 

Er war nur froh, dass er dazu fähig gewesen war, Rin rechtzeitig zu stoppen, denn wenn man bei hm in diesem Stadium zu weit ging, konnte es unschön enden. Schwester Nicole hatte es schon mehrfach zu spüren bekommen, bei ihr hatte er jedoch keine Schuldgefühle. Wenn er seinem Freund hingegen wehtun würde, könnte er sich das niemals verzeihen. Wie man es auch drehte und wendete, er war nach wie vor ein Monster, das sich und sein Handeln nicht immer unter Kontrolle hatte.

Genau davor fürchtete sich Sousuke am meisten: Die Kontrolle zu verlieren und seinem Partner weh zu tun, der der einzige Mensch war, an dem ihm wirklich etwas lag.
 


 

Nach seiner Therapie hatte Kisumi unterdessen mit ganz anderen Dämonen zu kämpfen, die in Form von Erinnerungen über ihn herfielen. Jedoch waren es nicht die schlimmen, verborgenen wie bei Sousuke, die nur sein Unterbewusstsein kontrollierten, sondern die Gedanken an eine perfekte Vergangenheit, von der man wusste, dass sie nie wieder wahr werden würde.

Kisumi saß mit angezogenen Knien auf dem Bett, die Arme um die Beine geschlungen und starrte apathisch auf den Brief, der vor ihm lag. Sein Blick ging ins Leere und verriet, dass er nichts von der Welt mitbekam, die vor seinen Augen lag, da er sich in einer völlig anderen befand. Insgeheim hoffte er jedoch, dass Chigusa wiederkehren und ihn aus diesem Zustand befreien würde. Sie hatte ihm immerhin versprochen zu ihm zurück zu kommen…
 

Tatsächlich wurde Kisumi wenig später von einem Klopfen aus seinen so süßen, düsteren Fantasien über vergangen Tage gerissen, das ihn dazu brachte, schwunghaft vom Bett zu springen, sodass er den Brief – sein neues Heiligtum – nicht zerknitterte.
 

„Chi-chan…“, begrüßte er die Brünette wie am Mittag, sah nun aber noch heruntergekommener als vor wenigen Stunden aus.
 

„Wie siehst du denn aus?“, riss Chigusa die grünen Augen erschrocken auf und fuhr erst einmal durch die zerzausten rosanen Haare, die sich der Größere wohl mehr als einmal gerauft haben musste.
 

Nachdem sie das in Ordnung gebracht hatte, gingen sie ins Zimmer und als die Tür fiel hinter dem Mädchen ins Schloss fiel, kippte Kisumi einfach um.

Chigusa hatte alle Mühe, den schweren Körper zu halten, sodass sie nicht beide fielen. Glücklicherweise war Kisumi nicht körperlich am Ende, sondern nur emotional, sodass er sie nicht mit seinem ganzen Gewicht belastete.

Nichtsdestotrotz sanken sie wenig später zu Boden, weil die Kleinere ihren besten Freund nicht lange aufrecht halten konnte und beschloss, dass das die beste Option wäre, ohne dass einer sich weh tat.
 

„Es ist alles gut…ich bin da“, strich sie schon wissen über den Kopf des Größeren, der sich daraufhin an sie schmiegte und sein Gesicht an ihrem Hals verbarg.
 

Was es auch war, das ihn so aus der Fassung gebracht hatte, bei Kisumi war sich Chigusa sicher, dass es nichts mit der Anstalt oder seiner Therapie zu tun hatte. Nein, seine psychische Verfassung war ganz alleine auf die Abwesenheit seines Bruders zurückzuführen, der wie unschwer zu erkennen war, dessen gesamten Lebensinhalt darstellte.

Die Trennung von diesem, sowie die Distanz wirkten sich unvorteilhaft auf Kisumis ohnehin schon angeschlagene Psyche aus. Wer wusste, was er durchgemacht hatte, bevor man ihn eingewiesen hatte?

Sicher gab es irgendetwas da draußen, dass seine Taten begründete, ihn dazu verleitet hatte…doch das hieß noch lange nicht, dass sie durch irgendetwas zu rechtfertigen waren. Sicherlich fungierten sie als Ventil, doch es war eines, mit dem er anderen schadete und das war durch nichts zu entschuldigen.

Trotzdem tat Kisumi ihr unendlich leid, sodass sie nun fast selber zu weinen begann, als das leise Schluchzen des anderen an ihre Ohren drang. Sie umschlang den weichen Haarschopf mit ihrem Armen und drückte ihn an sich, schloss die Augen und versuchte die Fassung zu wahren.

Auch wenn sie ihren besten Freund unbeschreiblich gern hatte, er war nach wie vor ein Mann und diese Nähe löste immer noch den Angstzustand aus, in dem sie früher jeden Tag gelebt hatte.
 

„Chi-chan…es ist so gruselig…“, nuschelte Kisumi gegen Chigusas Oberteil.
 

Ihm wurde in diesem Moment erst richtig bewusst, wie wichtig ihm seine beste Freundin geworden war und das erschreckte ihn. Hatte er sich doch geschworen, nie wieder jemanden in sein Herz zu lassen, der dann doch nur wieder von ihm gerissen werden würde, den er nicht lieben durfte…

Mit Chigusa war es anders als mit Hayato, aber sie war ihm fast schon genauso sehr ans Herz gewachsen wie dieser, sodass er nicht damit klar kam. Für jemanden, der sonst unfähig war, Mitleid, Schuldbewusstsein und Liebe zu empfinden, kam die Erkenntnis, dass man einen anderen mehr liebte als sich selbst, wie ein Schlag ins Gesicht. In Kisumis Fall war es nicht nur einer, sondern so viele, dass ihn der Schmerz zum Weinen brachte.

Irgendwann hatte er keine Tränen mehr übrig und seine Kehle fühlte sich trocken an, während er die sanften Finger wieder durch sein Haar streichen spürte.
 

„Was ist gruselig?“, wollte die sanfte Stimme des Mädchens wissen, die in diesem Moment so viel stärker und gefasster war als er.
 

Kisumis Schluchzen setzte für einige Sekunden aus, ehe er den Kopf ob und sie aus geröteten Augen ansah.
 

„Ich will diese Gefühle nicht!“, schrie er ihr schon fast entgegen, doch seine Stimme war vom ganzen Heulen kratzig und schwach.
 

Chigusa stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben, da sie mit allem, aber nicht damit gerechnet hatte, dass Kisumi ihr sozusagen gestand, dass er wider jeglichen Erwartens doch dazu fähig war, etwas für einen anderen Menschen zu empfinden, das nicht aus Gleichgültigkeit oder Hass bestand.
 

„Aber es ist ganz normal…es ist nichts, wofür du dich fürchten musst“, schenkte sie ihm ein unsicheres, aber ernst gemeintes Lächeln.
 

„Ich will das aber nicht! Ich wollte das nie wieder, es ist so-“, brach seien Stimme ab und er hustete, da ihm vom Weinen schlecht geworden war.
 

„Shigi…“, tätschelte Chigusa ihm liebevoll den Arm und zog ihn dann wieder in eine Umarmung, da er so wirkte, als könnte er noch mindestens eine gebrauchen.
 

„Ich hab keinen Bock mehr auf den ganzen Scheiß!“, schluchzte er wenig später gegen ihr Oberteil, das inzwischen einige dunkle Flecken von den Tränen, die auf es vergossen wurden, auf der ockerfarbenen Oberfläche aufwies.
 

Unfähig ihm mit Worten weiterzuhelfen, kraulte sie ihm nun einfach den Rücken und hielt ihn eng an sich gepresst, auch wenn es ihr Großes abverlangte. Seit Jahren hatte sie niemanden mehr so nah an ihren Körper gelassen, doch sie sagte sich, dass es okay wäre, weil Kisumi keinen anderen Zweck verfolgte, als sich trösten zu lassen.
 

„Es tut so weh…und ich weiß nicht warum…das soll sich doch schön anfühlen, oder?“, wurde Kismuis Stimme immer leise rund Chigusa wusste nun gar nicht mehr, wovon der anderen überhaupt sprach.
 

„Was ist es denn, das du fühlst? Und gegenüber wem?“, wollte sie mit sanfter Stimme wissen, hielt aber in ihrer Bewegung inne.
 

„Ich weiß es nicht…ich vermisse ihn so sehr und…“, begann Kisumi, den sie noch nie zuvor so aufgewühlt erlebt hatte. „Und dann bist da noch du…“
 

„Ich?“, wurde das Mädchen hellhörig, denn sie wusste nicht, was sie von dieser Aussage halten sollte, dachte sie doch, dass sich das Thema mit ihnen beiden schon lange erledigt hätte.
 

Augenblicklich und unkontrolliert versteifte sich ihr Körper, ebenso wie sie nicht mehr dazu fähig war sich zu rühren, oder Kisumi zu streicheln. Diese Schockstarre nahm sie meistens an, wenn ein Mann mit zweideutigen Absichten sie berührte…

Kisumi bemerkte wohl, dass seine Worte etwas in Chigusa ausgelöst hatten, das er gar nicht so beabsichtig und gemeint hatte, weswegen er schnell versuchte, das wieder richtig zu stellen.

Dazu löste er sich von ihr und sah sie aus wässrigen Augen an.
 

„So meinte ich das doch gar nicht! Ich hab dich einfach nur sehr gerne…ohne dass ich was von dir will!“, stellte er nun eifrig klar, sodass die Brünette sich tatsächlich wieder zu entspannen begann.
 

„Schon okay…ich weiß“, lächelte sie, da sie sich nun endgültig sicher sein konnte, dass sie von Kisumi nichts zu befürchten hatte. „Und was ist mit Hayato?“
 

„Ich weiß es nicht…es ist alles so verwirrend“, senkte der Größere den Kopf, dessen Tränen langsam abebbten und versiegten.
 

„Du hast ihn auch sehr gerne, nicht wahr? Es ist ganz normal, dass es weh tut, wenn man jemanden, den man liebt, vermisst“, erklärte Chigusa ihm dann.
 

„Meinst du?“, war er sich unsicher und nestelte nervös an seinem Hemdkragen herum. „Ich hab das noch nicht gefühlt…kennst du das Gefühl?“
 

„Ja…in gewisser Weise schon“, nickte sie daraufhin. „Als meien Mutter starb, war es schlimm…manchmal vermisste ich sie immer noch und dann tut es sehr weh…genau hier.“
 

Mit diesen Worten streckte sie ihre Hand aus und berührte Kisumis Oberkörper an der Stelle, unter der das Herz saß.
 

„Manchmal bekommt man auch schreckliche Magenschmerzen und es fühlt sich an, als würde man sterben“, erzählte sie mit ruhiger Stimme und lächelte Kisumi dann an, als dieser seine Hand zu seinem Herzen führte und sie über ihre legte.
 

Auch wenn er den Körperkontakt nicht in dem Sinne wahrnahm, spürte er innerlich, dass sein Körper mit einer angenehmen Wärme durchflutet wurde, die sich von dieser Stelle ausbreitete.
 

„Es wird besser, oder?“, wollte Kisumi mit einer kindlichen Neugier und Hoffnung wissen, die sich in seinem Blick widerspiegelten.
 

„Ja, das wird es“, schloss sie lächelnd die Augen. „Und du weißt auch, dass ich immer für dich da bin.“
 

Kisumis Verwirrung wich einem Lächeln, mit dem er die Augen schloss und nun die physische Berührung auf emotionaler Ebene wahrzunehmen begann. Dieser Moment weckte eine neue Hoffnung in ihm, seinen Bruder wiederzusehen, aber auch, die schönen Seiten der Gefühle endlich wieder kennen lernen zu dürfen. Chigusa half ihm sehr dabei und er war unendlich dankbar, sie in seinem Leben zu haben.

Tief im Innersten hegte er den Wunsch, zusammen mit seiner besten Freundin eines Tages von diesem grauenhaft bedrückenden Ort fliehen und zu seiner Familie zurückkehren zu können. Auch wenn seien Mutter ihn nicht mehr bei sich wollte und sein Vater ihn abgeschrieben hatte, das tat schon lange nicht mehr weh. Die einzige Familie, die er brauchte waren Hayato und Chigusa. Der Rest der Welt konnte ihm gestohlen bleiben.



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