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Joeys eigene Welt

Ich wartete ein paar Minuten vor unserem Zimmer. Von drinnen war kein Mucks zu hören. Ich war mir dennoch sicher, dass Joey sich dorthin zurückgezogen hatte. Welche anderen Optionen bestanden denn sonst? So wie ich meinen Freund mittlerweile kannte und einzuschätzen vermochte, brauchte er ein wenig Zeit für sich.
 

Als mir die Zeit günstig erschien, klopfte ich kurz an, nur um die Tür leise zu öffnen. Es war dunkel, obwohl die Sonne draußen schien. Joey hatte die Vorhänge zugezogen. Er saß im Schneidersitz auf dem Bett. In der rechten Hand hielt mein Freund einen Bleistift, mit dem er irgendetwas in seinen Block kritzelte. Seinen Gesichtsausdruck vermochte ich nicht zu deuten, zumal das spärliche Licht mir auch ein wenig die Möglichkeit nahm, diesen genauer zu beurteilen. Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir und zögerte. Sollte ich ihn ansprechen? Er schien mich überhaupt nicht zu registrieren.
 

„Joey?“, fragte ich leise. Er sah nicht auf, geschweige denn, dass er überhaupt eine Reaktion zeigte. Der Blondschopf war einzig auf seinen Block fixiert. Er wirkte wie im Wahn. Die Linien, die er ins Papier drückte, fast schon mit Gewalt zu pressen schien, waren zittrig. Je näher ich ihm kam, desto mehr konnte ich erkennen, was er da malte. Mit jedem Schritt wurde mir mulmiger zumute. So hatte ich ihn wirklich noch nie erlebt.
 

Ich hockte mich neben ihn und beobachtete schweigend sein Werk. Ein Drache zerfleischte einen Menschen. Die Schuppen, das Muster, das stechende Starren – der Weiße Drache mit Eiskaltem Blick. Mit jeder Sekunde die verging, wurde das Bild detailreicher. Der Mensch im Maul des Fabelwesens bekam eine Rüstung, genauso wie ein Schwert, welches er in der rechten Hand umklammert hielt. Am Boden lag ein mir wohlbekannter Helm herum, während Joey dem Flammenschwertkämpfer eine äußerst charakteristische Frisur verpasste: Seine eigene.
 

Joey registrierte mich noch immer nicht. Obwohl ich mir massiv Sorgen machte, wollte ich herausfinden, was er am Ende grafisch darstellen wollte. Mittlerweile war ich mir auch sicher, dass wir alle Recht hatten: Joey verarbeitete seine Probleme mittels Zeichnungen. Wahrscheinlich verbannte er sie damit aus seinem Geist, um ein wenig Ruhe erfahren zu können. Stumm zeichnete er weiter.
 

Die Züge des Flammenschwertkämpfers nahmen Form an. Sein Gesichtsausdruck war schmerverzerrt. Die Augen spiegelten Trauer und Schmerz wider; ex aequo Joeys Blick. Die Tunika des Flammenschwertkämpfers hing nur noch in Fetzen an seinem Oberkörper. Schlagartig wanderte der Bleistift nach oben, und versah den Weißen Drachen mit einer weiteren Person.
 

Nach und nach bekam auch der Reiter eine Form. Er stand hocherhobenen Hauptes auf dem Rücken des Monsters, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Augen waren spöttisch auf den Flammenschwertkämpfer gerichtet. Ein süffisantes Grinsen zierte seine Lippen. Er schien große Freude am Tun seines Monsters zu besitzen. Als die Frisur mit dem langen Mantel kombiniert wurde, war mir klar, wen Joey da zeichnete: Kaiba.
 

Hastig blätterte Joey um und begann ein neues Bild. Die Striche gewannen langsam an Form. Konturen wurden mit Leben erfüllt. Als Erstes zeichnete mein Freund eine sehr zierliche Person. Ihre Figur war schmal, fast schon ungesund dünn. Sie bekam schulterlange, glatte Haare verpasst. Die rechte Hand stemmte die Unbekannte in die Hüfte. Ihr Lächeln hatte etwas Sadistisches an sich. Der Körper wurde mit Kleidung versehen – leicht, fast schon ein wenig billig wirkend, mit genügend Einblick um ein gewisses Maß an Interesse zu wecken.
 

Neben ihr erschuf Joey eine weitere Gestalt. Diese war deutlich größer und breiter. Langsam wurden Torso, Arme und Beine mit einer Rüstung versehen, deren Verzierungen und Form ich nur zu gut kannte. Die säbelartige Waffe und der Schild komplettierten das Bild vom Soldaten des Schwarzen Lichts. Unter dem Helm lugte erneut Joey hervor, dieses Mal einen gequälten, fast schon flehenden Blick aufgesetzt. Die andere Person, ich vermutete stark, dass es sich dabei um Mei handelte, hatte ihre linke Hand unter sein Kinn gelegt.
 

Erneut blätterte Joey um. Wieder setzte er den Stift an und wieder ließ er langsam ein Bild entstehen. Wie viel Zeit inzwischen vergangen sein mochte, konnte ich nicht sagen. Waren es Minuten gewesen oder Stunden? Mir war es einerlei: Auch, wenn es mich schmerzte, ihm dabei zuzusehen, so bekam ich doch endlich einen Einblick in die Gefühlswelt des echten Joeys. Jenen, den er vor allen, sogar vor mir, verbarg.
 

Mein Freund hauchte dem Blauäugigen Ultradrachen Leben ein. Zwei der drei Köpfe waren in die Höhe gereckt. Die Klauen des Drachen umschlossen dabei jene eines anderen Wesens. Der mittlere Schädel war im Maul des anderen Monsters gefangen. Die monströse Gestalt bildete sich vor meinem geistigen Auge erneut. Ich konnte mich gut daran erinnern. Wie sie sich aus dem Himmel schälte. Das Brüllen, welches die Erde erbeben ließ. Joey versah den anderen Drachen mit einem zweiten Maul. In seinem Schädel thronte ein juwelartiger Kopfschmuck: Yugis Monster. Tatsächlich stand unser Freund auch auf dem Schädel seines Drachens. Einige Strahlen, die von seiner Brust und dem Milleniumspuzzle ausgingen, sollten wohl ein Leuchten signalisieren.
 

Die Tür sprang auf und ich schreckte hoch. Tristan stand, mit Yugi und Tea im Schlepptau, im Türrahmen. Gerade als er etwas rufen wollte, legte ich den Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. Mein Blick wanderte zu Joey, der noch immer nichts außer seinen Zeichnungen zu kennen schien. Die drei beobachteten unseren gemeinsamen Freund mit Sorge, gleich wie ich, doch sie verstanden auch, dass es das beste war, ihn nicht zu stören. Leise drückte Tea die Tür zu und das Trio näherte sich uns. Ich machte ein wenig Platz, sodass wir alle Joeys nächste Zeichnung begutachten konnten.
 

Dieses Mal schälten sich zwei wohlbekannte Figuren aus dem kreativen Geist meines Freundes. Eine davon war ich, die andere Kaiba. Beide standen wir da, die Arme vor der Brust verschränkt. Der CEO verwendete eine Duel Disk von seltsamer Form. Sie war sternförmig und schien zu leuchten. Kaibas Kopf wurde von einer Art Headset umgeben. An meiner Brust klebte der Milleniumsring, der ebenso leuchtete. Die spitzen Anhänger deuteten alle auf Kaiba.
 

Im Seitenprofil erschuf er zwei Monster. Der schemenhafte, riesige Krieger mit dem Juwel auf der Stirn, den Zacken, die aus seinem Körper ragten und seine Hände, die er zu Fäusten geballt hatte, erinnerten stark an das Monster, welches Kaiba in der VR benutzt hatte: Obelisk der Peiniger. Die Fäuste des Monsters wurden von Fingern umschlossen. Zu diesen gesellte sich langsam ein Torso, sowie Arme und Beine. An jeder Extremität baumelte eine Kette lose herab. Als der Schädel an seinen rechtmäßigen Platz hingezeichnet wurde, öffneten sowohl ich als auch Yugi die Münder: Das war die Exodia.
 

Joey begann zu weinen, bitterlich sogar. Er schluchzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Sekunden später umschlangen ihn mehrere Arme: Die von Yugi, Tea, Tristan und mir. Wir handelten alle reflexartig. Fest drückten wir unseren Freund und Liebsten an uns, jeder für sich. Schweigend saßen wir so da und gaben Joey das Gefühl, nicht alleine zu sein. Dafür waren keine Worte nötig, sie würden wahrscheinlich auch nichts ändern.
 

Nach einer Weile beruhigte sich Joey ein wenig. Der Tränenstrom versiegte und er entspannte sich ein wenig. „I-ich wäre gerne ein wenig a-alleine“ ,stammelte er, und zwang sich zu einem schiefen Lächeln. Wir alle zögerten. Unsere Blicke sprachen Bände. „B-Bitte“ ,fügte Joey an und wischte sich mit dem Handrücken über die verweinten Augen.
 

„Wenn du uns versprichst, nichts Dummes anzustellen“ ,entgegnete Tea zögernd und ließ Joey los. Nach und nach taten wir es ihr gleich, wobei ich der Letzte war, der sich, schweren Herzens, physisch von Joey trennte. Dieser nickte nur müde. Unsere Freunde machten einen betretenen Eindruck. Sie fühlten gleich wie ich. Leise verließen wir den Raum und zogen die Tür hinter uns zu. Wütend donnerte ich meine Faust gegen den Türrahmen und seufzte schwer.



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