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Aus der Dunkelheit

von

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Einer dieser Tage

Es gab Tage, da war es einfach, nach vorne zu sehen. Die meisten Tage, fand Mirio, waren gute Tage, und über die meisten anderen kam er mit etwas Anstrengung auch noch hinweg. Heute allerdings… heute war etwas kaputt.

Es gab nicht mal einen bestimmten Grund. Kein Ereignis, keine unbedachten Worte. Vielleicht lag es am Wetter; es war warm und wolkenlos draußen, aber vermutlich würde abends ein Gewitter aufziehen. Vielleicht war es dieser drohende Wolkenbruch, der so schwer auf Mirios Stimmung schlug, aber auch das war keine Ausrede, die er akzeptieren konnte. Er hatte Sir Nighteye versprochen, dass er stark bleiben und lachend in die Zukunft sehen würde. Aber heute reichte allein der Gedanke an den kürzlich verstorbenen Helden, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Positiv denken… einfach an was Schönes denken. Es war alles gut. Der Himmel war blau, die Vögel sangen, auf dem Campus war alles friedlich. Es gab einfach keinen Grund traurig zu sein, den gab es nie. Warum nur war es dann so schwer, nicht zu weinen?

Mirio atmete tief durch und blickte hoch in den Himmel. Strahlend blau, immer noch. Tief durchatmen, positiv denken… und dann nach Ablenkung suchen. Inzwischen durften die Schüler, die nicht vom Unterricht befreit waren, auch zumindest Pause haben. Vielleicht konnte er Tamaki oder Nejire abpassen, die beiden würden ihn schon wieder aufheitern. Tatsächlich fand er Tamaki nach relativ kurzer Zeit in seinem üblichen Versteck; leider musste sein Glück damit auch schon wieder erschöpft sein, denn der schwarzhaarige sah selbst gerade aus, als bräuchte er jemanden, der ihn aufheitert. Seine Haltung war beinahe noch verschlossener als sonst, er wirkte direkt verängstigt.

„Hey Tamaki“, grüßte Mirio bemüht fröhlich, „Wie geht’s?“

Tamaki fuhr erschrocken zusammen, beinahe wie ein Kaninchen, dass der Hund anbellt. „Ha…hallo Mirio“, brachte er dann doch heraus, „Hab dich gar nicht kommen sehen…“ Er klopfte auf den Rasen neben sich, ein deutliches Zeichen, dass Mirio aller bösen Überraschung zum Trotz doch willkommen war.

„Ist irgendwas passiert?“, erkundigte Mirio sich vorsichtig.

Tamaki schüttelte den Kopf. „Nur das Übliche. Kennst mich ja.“

„Eben. Deswegen frag ich ja, ob was passiert ist.“

„Es ist nichts passiert. Mir geht’s einfach nicht so gut heute, das kommt vor.“

„Liegt wohl am Wetter, hm?“, mutmaßte Mirio. Tamaki zuckte nur die Schultern.

„Wir… haben heute Bewerbungen geschrieben. Lebenslauf, Anschreiben, so was halt. Der Abschluss rückt immer näher, wir sollen uns langsam Gedanken machen.“

„Ich wäre jetzt davon ausgegangen, dass Fatgum dich übernehmen würde. Habt ihr nie darüber gesprochen?“

Tamaki schrumpfte noch weiter in sich zusammen. „Hab mich nicht getraut“, nuschelte er.

„Dann schick ihm doch deine Bewerbung. Er sagt bestimmt nicht nein.“

„Und wenn doch?“

„Dann gründen wir unsere eigene Agentur. Die Big Three Agency, das wäre doch cool, oder?”

Tamaki schwieg, sah aber immerhin nicht mehr ganz so blass aus. „Ich… will euch keine Umstände machen.“

„Tust du ja nicht“, versicherte Mirio schnell, „Ich hab zwar von Centipede versichert bekommen, dass er mir die Stelle frei hält, bis ich meine Macke wieder einsetzen kann, aber im Moment mach ich eh nur Bürokram. Und ohne Sir ist es…“, nun musste er selbst heftig schlucken, um sich wieder über Wasser zu halten, „Es ist im Moment sowieso nicht dasselbe.“

Centipede hatte ihn eingeladen, sein Praktikum fortzuführen um mit dem liegengebliebenen Papierkram zu helfen, den Sir Nighteye bisher immer selbst erledigt hatte. Seine Buchführung war akribisch genau und sehr umfangreich; Centipede und Bubble Girl, die beiden ehemaligen Sidekicks, standen nun vor einem Berg an Arbeit, in die sie sich erst einfinden mussten. Dass sich dazu jede Zeile von Sirs makelloser Handschrift, jedes von ihm entworfene Formblatt wie ein Stich ins Herz anfühlte im Angesicht seiner schmerzhaften Abwesenheit, machte die Sache nicht gerade leichter. Die beiden Profis gaben ihr Bestes, positiv und lustig zu bleiben, wie Sir es sich gewünscht hatte, und sorgten zumindest vor ihm und Deku immer für gute Stimmung, aber man merkte es eben doch.

„Ist das nicht anstrengend?“, die Stimme riss Mirio aus den Gedanken. Es war Hidoku, der Klassenkamerad, den Mirio im Moment am allerwenigsten sehen wollte.

„Was?“, fragte er dennoch.

„Die ganze Energie, die du investierst, um Tamaki aufzupäppeln?“ Hidoku warf dem Schwarzhaarigen einen hämischen Blick zu, „Das versackt doch alles in einer endlosen Grube. So eine Beziehung nennt man toxisch, weißt du? Du gibst und gibst und nichts kommt zurück, damit machst du dich nur kaputt.“

„Tut mir leid“, murmelte Tamaki, so leise, dass hoffentlich nur Mirio ihn hörte, und stand auf. Mirio bekam ihn gerade noch am Handgelenk zu fassen; auch er war aufgesprungen, unschlüssig, ob aus Wut oder Überraschung. Hidoku war ein Lästermaul, aber DAS konnte er doch jetzt nicht ernst meinen, oder?

„Aber was soll man auch von einem Kerl erwarten, der sich Suneater nennt?“, legte Hidoku noch nach, „Der würde selbst die Sonne verschlingen und uns alle im Dunkeln stehen lassen.“

„Das ist nicht… Das bedeutet der Name nicht“, entrüstete sich Mirio. Er wünschte, ihm würde eine bessere Erwiderung einfallen, aber sein Gehirn hing noch an der Sache mit dem leeren Büro fest. Centipede hatte dort einen kleinen Altar aufgebaut, direkt unter Sirs geliebten All Might Postern. Wenn er zu lange darüber nachdachte, würde er nur wieder zu weinen anfangen, und dafür war jetzt nicht der richtige Moment. „Du weißt doch ganz genau, wie Tamakis Macke funktioniert“, führte er aus, „Wenn er wirklich die Sonne verschlingen würde, könnte er sie auch wieder reproduzieren. Und zwar größer und heller als vorher! Nur weil etwas aussieht, als wäre es weg…“ Er konnte nicht mehr weitersprechen. Seine Stimme versagte ihm den Dienst, oder vielmehr, sie stellte ihn vor die Wahl: Entweder sprechen, oder die Tränen zurückhalten. Beides ging nicht. Aber der Moment der Schwäche ging unter im Angesicht der Schulglocke, die die Unterhaltung in diesem Moment beendete. Tamaki wand sich aus Mirios Griff und lief los, sicher froh, der Situation zu entkommen. Hidoku zuckte nur mit einem hämischen ‚pah‘ auf den Lippen die Schultern und machte sich ebenfalls zügig davon, um nicht zu spät zu kommen. Herr Aizawa schaffte es eben auch durch seine bloße Existenz, jeden Streit zwischen Schülern zu schlichten… in seinen Unterricht zu spät zu kommen war ein Risiko, dass niemand gerne einging.

Mirio blieb allein zurück. Er bekam nicht mehr auf die Reihe, was eigentlich gerade passiert war… nur schien irgendwie alles schief gelaufen zu sein. Um nicht doch noch in aller Öffentlichkeit zu Heulen anzufangen beeilte er sich, zurück ins Wohnheim zu kommen. Er fühlte sich, als würde er Sir damit enttäuschen, aber er konnte sich einfach nicht mehr zusammenreißen. Vielleicht half es, wenn er sich einfach die Decke über den Kopf zog und versuchte zu schlafen.
 

Letztendlich tat sich nichts, außer, dass das versprochene Gewitter aufzog. Regen peitschte gegen die Scheiben der Verandatür. Mirio hatte sich nicht dazu durchringen können, das Licht einzuschalten, und so wurde die Dunkelheit des Zimmers nur unterbrochen von den regelmäßigen Blitzen, die durch das Fenster schlugen und gleich wieder verschwanden. Mirio drehte sich auf die andere Seite und schlug prompt mit dem Kopf gegen die Wand. Früher war ihm das nicht so oft passiert… da war die Wand auch noch nicht so undurchdringlich wie jetzt. Nur zwanzig Zentimeter hastig errichteter Fertigteile, eilig konstruiert, als die UA auf ein Internatssystem umstellen musste, um ihre Schüler vor der Liga des Bösen zu schützen. Mirio hatte die Wand nie wirklich respektiert, als er noch jederzeit durch sie hindurch in Tamakis Zimmer schlüpfen konnte um ungeachtet der Nachtruhe mit seinem Freund herumzualbern. Nun, da er seine Macke nicht mehr nutzen konnte, rächte sich die Wand mit steinerner Härte. Er könnte hören, wie sich Tamaki auf der anderen Seite im Bett herumdrehte, wusste, dass sein Freund keinen Zentimeter weiter weg war als bisher. Und doch… war er plötzlich unerreichbar weit weg. Aus Frust und weil es immer noch besser war als wieder zu heulen schlug Mirio nochmal mit dem Kopf gegen die Wand. Es tat weh und die Wand blieb undurchdringlich, wie eigentlich jedes Mal. Nur fiel es ihm sonst leichter, den Rückschlag wegzustecken. Was war nur heute verkehrt? Warum konnte er sich nicht einfach wie sonst aus dem Sumpf ziehen und die Traurigkeit von sich werfen? Es gab keinen Grund, warum es ihm gerade jetzt nicht mehr gelingen sollte, fröhlich zu sein.

Ein weiterer Blitz fuhr durchs Zimmer und streifte das Poster Von Sir NightEye, das an der Decke über dem Bett hing. Es fühlte sich an, als würden die scharfen Augen des Helden Mirio direkt ins Herz blicken, und der Junge fühlte sich schuldig. Normalerweise, wenn er zu seinem alten Arbeitgeber hochsah, war er motiviert, weiter sein Bestes zu geben, aber heute hatte er nur das Gefühl, auf ganzer Linie zu versagen.

„Mirio?“ Tamakis Stimme. Aber sie kam nicht durch die Wand, sondern vom Balkon. Verwirrt rappelte Mirio sich auf. Tamaki stand vor der Verandatür, nackt bis auf die tiefsitzende Unterhose, wie immer, wenn er eigentlich schon im Bett war. Draußen war es sicher kalt, aber Mirio war so überfordert, dass er einen Moment brauchte um zu verstehen, was er tun sollte.

Tamaki seufzte tief. Er hatte gemerkt, dass es Mirio nicht gut ging, und nahm ihm die momentane Benommenheit nicht übel. Es war ja nicht so, als würde er nicht allein durch die Tür kommen. Der Balkon über Mirios hielt den Regen halbwegs ab, aber die Kälte war doch so unangenehm, dass er nicht lange zögern wollte. Zum Glück hatte er gut gegessen… Oktopoden waren Wirbellose, ihre Tentakel so flexibel, dass sie sich auch durch schmale Spalten quetschen konnten. Er wusste aus Experimenten an seinem eigenen Balkon, dass zwischen Tür und Rahmen genug Platz frei blieb. Die ganzen Wohnhäuser waren eilig konstruiert; ein Sicherheitsleck vielleicht, aber eines, dass nicht jeder so gut ausnutzen konnte wie er. Es gehörte schon einiges Geschick dazu, die Tentakel an seinen Fingern durch den schmalen Spalt zu drücken um auf der anderen Seite auch noch den Hebel in die offene Position zu schieben. Aber es funktionierte. Die Tür ließ sich öffnen, und Tamaki trat ein, noch bevor Mirio es vom Bett geschafft hatte.

„Dachte, ich schau mal vorbei“, grüßte Tamaki leise, schaltete das Schreibtischlicht ein und schob seinen Freund zurück ins Bett, „Süßer Pyjama.“

„Oh… danke“, meinte Mirio und blinzelte etwas verlegen. Tamaki konnte sehen, dass er geweint hatte, und legte seinem Freund mitfühlend den Arm über die Schultern.

„Mieser Tag heute, was?“, begann er vorsichtig. Mirio nickte, es sah aus, als müsste er sich mächtig zusammenreißen, um nicht wieder zu weinen. „Ist okay. Solche Tage gibt es. Die gehen vorbei.“ Mirio schluchzte und Tamaki zog ihn an sich. „Wein dich ruhig aus. Ich weiß, dass du stark sein willst, aber manchmal…“ Er streichelte Mirio etwas unbeholfen den Kopf, unschlüssig, was er eigentlich sagen wollte. „Ich… kenne sowas, weißt du? Es gibt immer wieder Tage, an denen man einfach mies drauf ist. Ganz ohne Grund, und man kann nichts dagegen tun. Egal wie sehr man es versucht… nein, gerade, wenn man dagegen kämpft.“

„Was soll ich dann…“, wimmerte Mirio. Er fühlte sich hilflos und verzweifelt, unfähig, zu tun, was ihm sonst so leichtfiel. Tamakis Umarmung half ein wenig, aber dennoch… er konnte nicht aufhören zu weinen, im Gegenteil, es wurde nur noch schlimmer.

„Nachgeben“, meinte Tamaki schließlich, „Wie, wenn du gegen Aizawas Fesselungstuch kämpfst. Das dürfte eine gute Analogie sein… je mehr du dich wehrst, desto fester zieht sich das Tuch zu. Aber wenn du es einfach über dich ergehen lässt, gibt er dich irgendwann von selbst wieder frei. Oder muss mal blinzeln.“ Er drückte Mirio nochmal fest an sich. „Dir darf es auch mal schlecht gehen, Mirio. Niemand macht dir deshalb einen Vorwurf.“

Mirios Augen wanderten direkt wieder in Richtung des Posters. Tamaki lächelte gutmütig. „Auch er nicht. Sir Nighteye würde nicht wollen, dass du dich unnötig unter Druck setzt.“

„Natürlich nicht…“, Mirio rieb sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht, „Aber… ich will ihn einfach nicht enttäuschen…“

„Tust du nicht. Hat er dir den je einen Vorwurf gemacht, wenn du eine Aufgabe nicht auf den ersten Versuch schaffst?“

Mirio schüttelte heftig den Kopf. „Du hast Recht“, murmelte er, „Sir hat immer gesagt, dass man manchmal einen Schritt zurückgehen muss, um vorwärts zu kommen… oder sich zurückziehen, um Verstärkung zu holen.“

Tamaki klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Ich bin jetzt hier.“ Seine Stimme klang sicherer, als er sich selbst dabei fühlte. „Tut mir leid, dass ich dich heute Mittag hängen gelassen habe.“

Mirio schüttelte heftig den Kopf. „So war das doch nicht…“

„Was du gesagt hast…“, unterbrach Tamaki ihn, „von wegen, ich könnte alles Licht, dass ich verschlinge, stärker und heller wieder reproduzieren? Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, wie. Diese Helligkeit, die du verströmst… das ist nicht wirklich etwas, was ich wiedergeben kann. Ich bin nicht so wie du oder Kirishima. Ich weiß nicht, wie man jemanden aufmuntert, der traurig ist. Aber…“

„Aber du tust es gerade“, stellte Mirio leise fest. Er hatte es erst nicht gemerkt, aber jetzt spürte er deutlich, wie sich seine Mundwinkel ganz von selbst wieder zu einem Lächeln verzogen. Kaum zu glauben, dass es vorher so unmöglich gewirkt hatte. „Diesmal bist du es, der heller strahlt als die Sonne selbst. Auch wenn du es vielleicht nicht merkst…“, er sah seinen Freund direkt an, „Du tust es. Danke, Tamaki.“

„G…gern geschehen, denke ich.“

„Bleibst du noch etwas hier?“

„So lange du willst“, versprach Tamaki, „Vorausgesetzt, Aizawa kommt nicht nochmal vorbei, es ist schon nach zehn... Aber ich lass dir in jedem Fall die Balkontür offen.“ Er legte Mirio bekräftigend die Hand auf die Schulter. „Ich bin nicht weiter weg als sonst, hörst du? Du musst nur einen kleinen Umweg nehmen.“

„Hmmm… also soll ich aufhören, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen?“

„Wäre gesünder, ja.“

Mirio lachte. Es war plötzlich so lächerlich einfach, dass er fast nicht mehr aufhören konnte, und es fühlte sich wunderbar an. Tamaki blieb tatsächlich noch eine ganze Weile, hatte aber Glück und kam damit durch – offenbar waren die anderen noch zu verschlafen um zu merken, dass er aus dem falschen Zimmer kam. Und falls es ihnen doch auffiel behielten sie es wenigstens für sich. Lediglich, dass er so wenig geschlafen hatte würde sich im Laufe des Tages rächen, aber das musste eben der Kaffee retten. Mirio war wichtiger als die blöde Englischklausur.

Wofür hat man denn Freunde

Es war einfach alles zu viel.

Tamaki hatte sich im Bad eingeschlossen, und nicht nur, um dem Rest der Klasse zu entkommen, vor der er jetzt eigentlich einen englischen Text hätte vorlesen sollen. Direkt neben Mr. Yamada, der ihn noch mit allem Elan eines geübten Radiomoderators angekündigt hatte, und vor den Augen von nicht weniger als achtzehn Mitschülern. ‚Stell sie dir einfach nackt vor, wenn das mit den Kartoffeln nicht klappt‘ – Nejire hatte ja leicht reden. Als ob es irgendwie leichter wäre, als Erster der Klasse vorne zu stehen und laut aus Romeo and Juliet vorzulesen, schön salbungsvoll und betont natürlich, wenn man vor einem unbekleideten Publikum steht… danke, aber ein paar seienr Mitschüler konnte Tamaki schon in Unterwäsche kaum ertragen, die wollte er sich gar nicht nackt vorstellen!

„Tamaki, ist alles in Ordnung?“ Nejire klopfte an der Tür des Männerklos und trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten wäre sie einfach hineingestürmt, um nach ihrem Freund zu sehen, aber Frau Kayama hatte sehr eindeutig klar gemacht, was ihr blühte, wenn sie noch einmal im falschen Klo erwischt würde. Einfach einen der anderen Jungs vorschicken? Damit würde sie Tamaki eventuell nur noch mehr unter Druck setzen. Männern war es immer so schrecklich peinlich, wenn man sie in einem Moment der Verwundbarkeit sah… Nur für die allerbesten Freunde konnte man da eventuell eine Ausnahme machen. Gut also, dass Mirio zumindest wieder auf dem Campus lebte. Er kam immer zu Tamaki durch, sie musste ihn nur anrufen und herbestellen. Keine fünf Minuten später war der Junge auch schon da, verschwitzt und etwas außer Atem, aber mit dem üblichen beruhigenden Lächeln auf den Lippen.

„Mirio~“ Nejire fiel ihrem großen Freund erleichtert um den Hals. „Gut, dass du da bist! Tamaki ist seit zwanzig Minuten da drin und ich glaube, er übergibt sich. Ich will rein und ihn trösten, aber…“

„Aber Frau Kayama gibt dir Mülldienst für den Rest des Schuljahres, wenn du nochmal im Männerklo erwischt wirst, ja. Keine Sorge, ich regle das.“ Mirio klopfte Nejire aufmunternd die Schultern und sie ließ ihn los, damit er ungehindert in die Toilette stürmen konnte. Zumindest die äußere Türe war kein Hindernis für ihn, nur hatte Tamaki sich in einer der Kabinen eingeschlossen. Es war nicht schwer zu sehen in welcher; zwei von drei Türen standen offen, also musste es die letzte sein.

„Oi, Tamaki! Alles okay bei dir?“ Mirio hätte am liebsten einfach den Kopf durch die Tür gesteckt, aber das ging ja nicht mehr. Stattdessen klopfte er einfach umso lauter gegen das dünne Holz, das ihm die Sicht und den Zugang versperrte. „Bitte sprich mit mir!“

Tamaki drückte sich nur noch leiser in die Ecke neben der Kloschüssel. Zumindest die Übelkeit wurde langsam besser, vermutlich, weil nichts mehr da war, was er noch hätte von sich geben können. Deswegen wohl konnte er auch nicht einfach Tentakel oder Ranken reproduzieren, um die Tür aus der sicheren Ecke zu erreichen; er müsste aufstehen um sie zu öffnen, und das schaffte er gerade einfach nicht. Er wollte nur weg und in Ruhe gelassen werden, bis seine Panikattacke vorbei war. Dann würde er einfach ins Bett kriechen und nie wieder rauskommen. Er wusste, dass diese Gedanken albern waren. Es war nur ein dummer Vorlesetext, es ging nicht um seine Note, und so schrecklich peinlich alles auch war würde sich morgen schon niemand mehr daran erinnern. Aber im Moment fühlte es sich einfach so an, als wäre sein Leben an dieser Stelle vorbei, als gäbe es keinen Ausweg mehr. Mirios Klopfen wurde lauter, die dünne Holztür gab immer mehr nach unter den kräftigen Schlägen, und auch das machte Tamaki Angst.

„Komm schon Mann, mach auf!“, brüllte Mirio, der nun mit beiden Fäusten gegen die Tür schlug, „lass mich wenigstens zu dir rein, wenn du schon nicht rauskommst! Wenn ich meine Macke nicht benutzen kann…“, er musste nun doch einen Moment abbrechen, um die Tränen zurückzuhalten, „Ich kann nicht einfach durch die Tür gehen, Tamaki! Ich mach mir Sorgen um dich, und kann nicht mal nachsehen, wie es dir geht! Diese lächerlich dünne Tür…“, er schlug noch einmal dagegen, nun mit beiden Unterarmen, und der Schlag hob das Sperrholz beinahe aus seiner Fassung, „Wegen so einer lächerlichen Tür kann ich dir nicht helfen!“

Tamaki schluckte heftig. So schlecht es ihm selbst gerade ging… er wollte auf keinen Fall, dass Mirio darunter zu leiden hatte. Er schämte sich direkt dafür, wegen so einer Kleinigkeit einen solchen Aufstand zu machen, während Mirio mit dem Verlust seiner Macke fertig werden musste. Seine Beine zitterten und die Übelkeit kam sofort zurück, als er sich an der Wand hochstemmte, aber er schaffte es in drei lächerlich kleinen Schritten zu Tür und konnte den Riegel zurückschieben. Dann sprang er sofort wieder zurück in die Ecke neben der Schüssel, um nicht von der schnell aufschwingenden Tür erwischt zu werden, und Mirio stolperte in den winzigen Raum. Tamaki kauerte sich in seine Ecke, den Blick auf den Boden gerichtet. Am liebsten wäre er einfach in einem Mauseloch verschwunden… Aber Mirio kam er so leicht nicht aus, der kniete schon direkt vor ihm ihm und fasste ihn entschlossen an den Schultern.

„Was ist denn los mit dir, Tamaki? Nejire meinte, du seist aus dem Klassenzimmer gestürmt… Irgendwas von wegen Shakespeare oder so, ich hab’s nicht ganz verstanden.“

Tamaki presste die Lippen zusammen und blickte angestrengt an Mirio vorbei auf den Boden. Ihm war bewusst, dass er sich trotzig und kindisch verhielt und dass seine Freunde sich nur Sorgen machten, aber er konnte auch nicht einfach einen Schalter umlegen und einen auf fröhlich machen, wie Mirio es immer tat.

„Hast du geweint?“ Mirios Frage kam so überraschend, dass Tamaki doch aufblickte. Mirios Gesicht war ernst und entschlossen. Tamaki hatte vorher an seinem Tonfall gehört, dass Mirio auch geweint hatte, und aus dieser Nähe konnte er auch sehen, dass seine Augen ein wenig feucht glänzten. Aber mehr eben nicht. Tamaki selbst brauchte keinen Spiegel um zu wissen, wie verheult er aussah. Beschämt wandte er den Blick wieder ab, rang sich aber zumindest zu einem knappen Nicken durch. Mirio fragte nicht weiter, sondern schloss seinen Freund einfach fest in die Arme. „Ist schon gut. Ich bin jetzt hier.“ Wieder nur ein Nicken zur Antwort, aber die Worte blieben nicht ohne Wirkung. Tamaki krallte sich geradezu haltsuchend in Mirios Pullover, vergrub sein Gesicht in dessen Schulter und fing wieder an zu weinen. Diesmal fühlte es sich befreiend an, und als Mirio ihm dazu noch sachte den Rücken streichelte, fing er sogar langsam an, sich wieder zu beruhigen.

„Besser?“, fragte Mirio hoffnungsvoll.

„Ein bisschen.“ Tamaki wischte sich etwas unbeholfen mit dem Ärmel über das Gesicht. Er fühlte sich schwach und zittrig, sicher eine Folge des heftigen Erbrechens vorher. Nervös war er eigentlich nicht mehr… er fühlte sich nur noch krank.

„Lass uns raus gehen, Nejire macht sich auch Sorgen. Sie hat mich angerufen, weil sie dir nicht alleine hinterher durfte… ihre Schilderung der Lage war allerdings eher verwirrend, ich hab nur so viel verstanden, dass sie total verzweifelt war und nicht an dich ran kam, obwohl du Hilfe brauchtest.“

„Als sie das letzte Mal ins Jungenklo kam, hat sich einer der Zweitklässler beschwert“, erinnerte sich Tamaki, „Danach hat Frau Kayama dafür gesorgt, dass sie die Beschilderung ernst nimmt.“

„Ganz Unrecht hat sie ja auch nicht. Stell dir vor du stehst an nem Pissoir und plötzlich kommt ein Mädchen rein…“

„Deswegen geh ich immer in die Kabinen.“

Mirio lachte herzlich und führte Tamaki mit einem Arm um dessen Schultern zurück auf den Gang, wo ihre Freundin schon wartete. Auch Nejire hatte inzwischen Tränen in den Augen vor Sorge und fiel ihren beiden Jungs um den Hals, kaum, dass diese aus der Türe waren.

„Entschuldige bitte…“, murmelte Tamaki und erwiderte die Umarmung zögerlich, obwohl er am liebsten vor der unerwarteten Berührung geflüchtet wäre.

„Ach schon gut“, winkte Nejire fröhlich ab, „Geht’s dir denn wieder besser?“

„Ein... ein bisschen, denke ich.“

„Du siehst blass aus, musstest du dich übergeben? Soll ich Yamada sagen, dass du krank bist?“

„Ich…“

„Mirio kann dich zu Recovery Girl bringen, das machst du doch, oder, Mirio? Damit er nicht mehr in den Unterricht muss? Wenn Yamada ihn nochmal drannimmt, wird es bestimmt nur schlimmer.“

„Klar“, antwortete Mirio sofort, „Was genau hat-“

„Dann sag ich im Unterricht Bescheid, auch bei Aizawa später. So blass wie du bist lässt er dich bestimmt eh nicht trainieren. Werd‘ schnell wieder gesund, ja?“ Und bevor einer der beiden noch irgendetwas sagen konnte war Nejire auch schon wieder weg.

„Sie ist wirklich…“ begann Tamaki überrumpelt.

„Munter?“, half Mirio aus.

„Ich glaub, so könnte man es auch nennen.“

Mirio lächelte und legte Tamaki wieder den Arm um die Schultern. „Lass uns erstmal zu Recovery Girl gehen. Lass dir ne Krankschreibung geben, zumindest für heute, und vielleicht was gegen die Übelkeit. Aber jetzt erzähl erst mal, was hat Herr Yamada denn von dir verlangt?“

„Versprichst du, dass du mich nicht auslachst?“

„Du kennst mich, Tamaki.“

Tamaki seufzte tief, ließ sich aber ergeben auf die Krankenstation führen. Normal konnte er sich da immerhin auf die Süßigkeiten freuen, aber heute brachte schon der Gedanke an Gummibärchen reinen Magen zum Rebellieren. Aber wenn sein Magen nichts annahm konnte er kaum seine Macke verwenden… Nejire hatte Recht, in seinem Zustand konnte er sicher nicht am Training teilnehmen. Ohne etwas im Magen war er generell komplett nutzlos. Der Gedanke half nicht gerade dabei, seine Stimmung zu bessern. Immerhin war Mirio da. Und der hörte zu, ohne zu lachen, als Tamaki ihm in knappen Worten beschrieb, wie es ihm eben ergangen war. Er verurteilte ihn nicht und spielte seine Angst nicht herab, gab nur in umsichtigen Worten zu bedenken, dass Herr Yamada es vielleicht nett gemeint hatte; jeder an der Schule wusste, dass Tamaki nicht vor der Klasse sprechen konnte, aber eben auch, dass er genau daran arbeiten musste und wollte. Herr Yamada war einfach einer dieser lauten, extrovertierten Menschen, vermutlich hatte er gedacht, ein Sprung ins kalte Wasser würde Tamaki auf einen Schlag heilen. Oder dass es für ihn einfacher wäre, vor der eigenen Klasse zu sprechen, weil er seine Mitschüler ja nun schon seit fast drei Jahren kannte.

Eindeutig klar war dennoch: Mirio würde sich den Englischlehrer zur Brust nehmen. Ohne seine Macke konnte er vielleicht nicht am Heldentraining teilnehmen oder im Praktikum auf Patrouille gehen, aber davon, sich für seine Freunde einzusetzen, würde ihn nichts aufhalten.

Er musste sich nur noch ein bisschen daran gewöhnen, dass er nun nicht mehr einfach Kopf voran durch die Wand gehen konnte… aber mit ein bisschen Schwung würde er auch so irgendwie durchkommen. Notfalls auch durch eine verschlossene Tür, ein zweites Mal würde er sich jedenfalls nicht von einem bisschen Sperrholz aufhalten lassen.

Mit etwas gutem Willen...

Nejire konnte es kaum noch aushalten. Das Training unter Herrn Aizawa hatte sie noch ganz gut abgelenkt, da hatte sie keine Zeit gehabt, ihre Freunde zu vermissen. Dass nun aber nicht nur Mirio, sondern auch Tamaki im Unterricht fehlte, fiel schon unangenehm auf. Erst recht danach, als es wieder in den Frontalunterricht ging… eine Doppelstunde Mathe, gefühlte sechs Stunden moderne Literatur, und am Abend noch, wie um sie zu quälen, zehntausend Jahre klassische Literatur. Nejire hatte bisher noch nie erlebt, dass man gleichzeitig so gelangweilt und so besorgt sein konnte. Still auf ihrem Platz zu sitzen bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen, der Unterrichtsstoff war zäh wie altes Leder, sie konnte sich nicht im Mindesten konzentrieren und zu allem Überfluss hatte noch irgendjemand was mit der Zeit angestellt, die heute auch so gar nicht voranschreiten wollte… es war wie verhext, der Minutenzeiger dieser alten Wanduhr brauchte locker eine Viertelstunde, um einen Strich weiter zu rutschen. Und mit jeder Stunde wurde er noch langsamer.

Der letzte Gong des Tages fühlte sich an wie eine Erlösung. Nejire sprang auf wie ein Tiger, dessen Käfig nach Monaten und Jahren chinesischer Literaturgeschichte zum ersten Mal offensteht. Sie konnte sich gerade noch so davon abhalten, den Sprint zurück zum Wohnhaus mit ihrer Twisterwelle zu beschleunigen. Aber auch nur zu Fuß tat es gut, sich endlich so schnell bewegen zu dürfen, endlich so schnell wie irgendwie möglich zu den Jungs zu rennen um zu sehen, ob sie nicht doch helfen konnte. Auf ihre Textnachricht hatte Mirio zwar geschrieben, dass alles okay war und sie sich keine Sorgen machen sollte, aber wer sowas glaubte der hielt auch den Weihnachtsmann noch für echt. Wenn es Tamaki wirklich gut ginge hätte er ihr auch selbst schreiben können.

Etwas außer Atem, aber immer noch angespannt erreichte sie endlich das Gebäude. Der Gemeinschaftsraum war praktisch ausgestorben, weil der Rest der Klasse natürlich weit hinter ihr zurückgeblieben war. Tamaki war nirgends zu sehen, aber Mirio fand sie nach kurzer Suche in der Küche. Er stand vor einem dampfenden Topf, das Handy am Ohr, in das er regelmäßig „Ja“, „Aha“ oder andere bestätigende Geräusche machte. Nejire bemerkte er trotzdem und begrüßte sie mit einem breiten Grinsen.

„Mirio!“, sie konnte sich gerade noch davon abhalten, ihm um den Hals zu fallen, „Was machst du gerade? Wie geht es Tamaki? Mit wem telefonierst du da?“ Es waren mal wieder zu viele Fragen auf einmal und keine Zeit für eine Antwort. Nejire biss sich auf die Zunge und hielt die Luft an, um den nervösen Wortschwall wieder in den Griff zu bekommen. Zuhören war anstrengend, gerade jetzt, aber Mirio reagierte zum Glück schnell.

„Ich versuche zu kochen, Tamaki schläft und das ist meine Mutter“, antwortete er schnell und hielt Nejire das Handy hin.

„Hallo Mama Togata“, grüßte Nejire fröhlich, „Ich bin Nejire.“

Mirio schaltete auf laut und legte das Handy ab, sodass seine Mutter mit Nejire reden konnte, während er nochmal nach dem Topf sah. Er hielt sich nicht gerade für einen guten Koch, genau genommen hatte er es vorher noch nie ernsthaft versucht, weil er immer bei Tamaki schnorren konnte. Aber nun war Tamaki krank und so hatte Mirio kurzerhand seine Mutter angerufen, um sich einen guten Rat zu holen, und die leitete ihn nun dabei an, eine einfache Hühnersuppe zuzubereiten. Im Moment stand er allerdings nur vor einem Topf voll leicht gesalzenem Wasser, in dem ein nacktes Hühnchen schwamm, das er danach wieder herausholen sollte… das Wasser würde sich dadurch irgendwie in Suppe verwandeln, die möglicherweise noch genug Hühnchensaft enthielt, dass Tamaki seine Macke nutzen konnte, dabei aber auch bei Übelkeit gut verträglich sein. Mirio vertraute seiner Mutter und gab sich entsprechend zuversichtlich, trotzdem war er natürlich nervös ob der ungewohnten Herausforderung.

„Woran erkenne ich, dass das Huhn durch ist?“, fragte er in die angeregte Unterhaltung der Damen hinein und Nejire hielt ihm das Handy so hin, dass er die Antwort trotz des brodelnden Wassers gut verstehen konnte.

„Tamaki geht es doch nicht so gut, oder?“, fragte Nejire schließlich, „Ist ihm immer noch schlecht?“

„Er hat sich beruhigt und schläft gerade“, meint Mirio, „Aber ja, ihm geht es nicht so toll. Ohne was im Magen kann er seine Macke nicht nutzen, das macht ihn echt fertig. Aber er hat seit heute Morgen nichts mehr gegessen, was er auch bei sich behalten hätte… deswegen mache ich jetzt Hühnersuppe.“ Er warf einen besorgten Blick in Richtung des Topfes, der noch immer verdächtig vor sich hin blubberte. Mirio hatte keine Ahnung, ob das normal war und wie lange sowas dauerte, deswegen war er froh, dass seine Mutter sich die Zeit nahm, am Telefon dabei zu bleiben.

„Was hat Recovery Girl denn gesagt?” Da. Nur eine Frage auf einmal. Nejire war direkt stolz auf sich.

„Sie konnte keine körperliche Ursache finden und denkt, es liegt einfach am Stress. Er soll einen Gang runterschalten und sich erholen, deswegen hat sie ihn krankgeschrieben. Er war ganz froh, dass er ins Bett durfte, denke ich.“

„Kann ich verstehen. Er hatte echt Angst da vorne… Ich meine, stell dir mal vor, da steht einer wie Present Mic und kündigt ihn an wie den Stargast einer Radioshow. Und dann auch noch mit einem Textabschnitt aus Romeo und Julia, den er schön salbungsvoll vortragen muss…“, Nejire seufzte tief. „Er wäre fast gestorben da vorne. Dabei hat wirklich keiner gelacht, die meisten von uns haben extra ganz angestrengt woanders hingeschaut.“

„Das wird Tamaki nur leider schon nicht mehr gemerkt haben“, vermutete Mirio, „Der macht da dicht und sieht nichts mehr. Kann gut sein, dass ihm das an Stress gereicht hat, aber so heftig hat er eigentlich noch nie reagiert.“
 

Nejire hätte sich gerne direkt überzeugt, dass Tamaki sich beruhigt hatte, aber sie wollte ihn auch nicht wecken. Also stand sie stattdessen Mirio bei, bis das Hühnchen durch und die Suppe fertig war.

„Das Huhn selbst könnt ihr aufheben“, riet Frau Togata über das Telefon, „Im Kühlschrank hält sich das wunderbar, und mit weißem Reis zusammen ist es auch noch sehr magenschonend. Wenn Tamaki die Suppe gut verträgt, könnt ihr ihm das Fleisch vielleicht schon morgen zum Frühstück geben.“

„Danke Mama, du bist die Beste!“ Mirio seufzte erleichtert, als er das Handy endlich ausschalten konnte. Der Akku war auf karge 2% runter, und um Mirios Geduld stand es auch nicht viel besser. Aber er hatte jetzt einen großen Topf warmer Hühnerbrühe, die Tamaki hoffentlich bei sich behalten konnte. Der Gemeinschaftsraum war inzwischen gut gefüllt, aber die meisten Mitschüler scharten sich um die Esstische, sodass Tamakis Rückzugsort in der Sofaecke für ihn frei war.

Nejire lief los, um ihn zu holen, als wäre Mirios Erlaubnis dazu sowas wie ein Startschuss gewesen. Sie fand Tamaki eingerollt unter seiner Bettdecke. Er reagierte nicht auf ihr Klopfen, aber die Tür war unverschlossen und er hatte die Augen geöffnet.

„Geht es dir wieder ein bisschen besser?“, fragt Nejire leise und kniete sich vor das Bett. Tamaki antwortete nicht direkt, sondern schloss nur wieder die Augen. Er sah müde und blass aus, schwer zu glauben, dass er nicht wirklich krank, sondern nur gestresst sein sollte. „Mirio hat Suppe gemacht“, informierte sie leise, „willst du runterkommen und es versuchen? Er hat sich richtig Mühe gegeben.“

Tamaki seufzte und wühlte sich tiefer in die Laken. Er fühlte sich kraftlos und zittrig, und der Gedanke ans Essen machte ihn gerade nicht glücklich. Sein Magen war so leer, dass es wehtat, aber das letzte, was er gegessen hatte, hatte er sofort wiedergesehen. Trotzdem… Nejire kauerte immer noch neben dem Bett, die großen, strahlend blauen Augen fest auf ihn gerichtet. Der Welpenblick wirkte, Tamaki hatte keine Chance. „Gib mir einen Moment“, murmelte er, „Nur was anziehen…“

„Okay, dann dreh ich mich kurz um!“ Zur Sicherheit legte sie sogar die Hände auf die Augen. Tamaki war ihr dankbar dafür. Er war nicht nackt, bei weitem nicht, und dank Mirio waren die Mädels aus ihrer Klasse auch schon einiges gewohnt, trotzdem fühlte Tamaki sich unwohl, wenn man ihn nur in Boxershorts und T-Shirt sah. Er ließ seine Schuluniform links liegen und griff sich lieber eine Jogginghose und einen dicken Pullover. Nicht das coolste Outfit, aber außerhalb seines Decken-kokons war ihm fürchterlich kalt. Er klopfte Nejire auf die Schulter zum Zeichen, dass sie die Augen wieder öffnen durfte. Sie strahlte ihn an, dass er sich fast geblendet fühlte, und führte ihn zurück in den Gemeinschaftsraum. Die anderen blickten maximal kurz von ihren Büchern und Tellern auf, waren aber so nett, ihn nicht anzusprechen und schnell wieder wegzusehen. Tamaki war ihnen dankbar für die Rücksichtnahme.

Mirio begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und einem Teller warmer Suppe. „Hoffe, dir geht es etwas besser?“

Tamaki wollte nicht lügen, aber Mirio sah so besorgt aus, dass er auch nicht jammern wollte. Also ließ er sich einfach wortlos auf die Couch sinken und nahm die Schüssel entgegen, die Mirio ihm reichte. Die Suppe war klar, roch aber angenehm nach Hühnchen. Allein der wärmende Effekt der Schüssel in seinen Händen tat schon unglaublich gut, dazu die Anwesenheit seiner besten Freunde, die sich so um ihn sorgten… Tamaki murmelte ein Dankschön und nahm einen vorsichtigen Schluck. Wenn er ganz langsam aß schien sein Magen es sich immerhin gefallen zu lassen, und wenn er danach gleich wieder schlafen ging, würde es ihm schon gut gehen.

„Tut mir leid, dass ich euch Sorgen bereite“, murmelte er. Der Löffel zitterte in seiner Hand, aber auch das wurde langsam besser.

„Ist schon okay“, wehrte Mirio ab, „Dafür sind Freunde doch da.“

...wird alles wieder gut.

Mirios Plan hatte funktioniert, stellte Tamaki fest, als er vor seinem Spiegel stand. Er hatte es auch schon vorher gemerkt: nicht nur, dass er die Suppe tatsächlich bei sich behalten hatte, er hatte gespürt, wie seine Macke die Spuren des Hühnchens darin aufgegriffen hatte, obwohl kein eigentliches Fleisch mehr darin war. Nun, da er geschlafen hatte fühlte er sich auch stark genug, es zu versuchen. Die Flügel waren nicht groß, Hühnerflügel waren das nie, aber wenn er sie weit genug anhob, konnte er zumindest die Schwungfedern im Spiegel sehen. Es waren hübsche, weiße Flügel mit rötlichen Abzeichen, offenbar eine andere Rasse, als sie für Chicken Wings oder Yakitori verwendet wurde. In jedem Fall hob der Anblick der Flügel Tamakis Laune. Er war sicher noch nicht stark genug, allzu viel allzu lange zu reproduzieren, aber die Flügelchen konnte er halten. Nicht ewig, aber sicher lange genug, um Mirio und Nejire zu zeigen, dass sie sich keine Sorgen mehr machen mussten.

Er fand die beiden auch gleich im Gemeinschaftsraum, wo Mirio wie üblich im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit glänzte. Von den Schülern ihrer Klasse wussten inzwischen die meisten, warum Mirio beurlaubt war, und freuten sich einfach, ihn wenigstens nach dem Unterricht sehen zu können. Er war, auch ohne seine Macke, Vorbild und Ansporn für die anderen Schüler. Wie so oft war Mirio trotz der frühen Stunde schon hellwach und frisch geduscht, vermutlich hatte er seine erste Joggingrunde schon hinter sich, während der größere Teil der Klasse noch halbtot vor der Kaffeemaschine auf den Lebenssaft wartete. Weil er sich auch nach drei Jahren noch nicht wirklich traute, seinen besten Freund aus der Gruppe der inzwischen nicht mehr so fremden Mitschüler zu holen, musste Tamaki sich mit Gewalt dazu durchdringen, zumindest ein halblautes „Guten Morgen“, in seine Richtung zu schicken. Es kostete einige Anstrengung, nicht gleich in die übliche Ecke zu flüchten, aber er schaffte es, mit erhobenen Flügeln stehen zu bleiben, bis Mirio ihn sah.

„Ah, Guten Morgen Tamaki! Geht’s dir wieder besser?“, rief Mirio erfreut, sprang behände vom Tisch, auf dem er gesessen hatte und lief zu Tamaki herüber. Die anderen beschwerten sich nicht, viele blickten selbst neugierig herüber, bevor Yuyu sie wieder zur Ordnung rief und die vorherige Unterhaltung fortsetzte. Tamaki war ihr dankbar dafür, er fühlte sich unwohl ob der Tatsache, dass jeder seine albernen Hühnerflügel sah. Ganz abgesehen davon, dass er nur ein ärmelloses Top trug… unter dem Pulli, den er noch um die Hüfte gebunden hatte, hätte er die Flügel so gut verstecken können, dass es sich nicht lohnte, sie überhaupt zu halten. Weil es einfacher war, als an dem Kloß in seinem Hals vorbei eine Antwort zu verbalisieren flatterte Tamaki nur mit den Flügeln, um Mirios Frage zu beantworten, und zog seinen Freund in die Sofaecke.

„Ah, dann hat es funktioniert!“, freute sich Mirio, „Die Flügel sind hübsch! Sind die nicht sonst immer braun?“

Tamaki drückte die Flügel eng an seinen Rücken, Mirios Begeisterung dafür war ihm doch etwas unangenehm. „Da-das ist weil… die meisten Hühner braun sind…“, stammelte er dennoch.

„Oh, und das Huhn war weiß? Ich wusste nicht, dass es nach dem individuellen Tier geht“, erkundigte sich Nejire fröhlich und sprang auch auf die Couch. Tamaki fuhr erschrocken zusammen und drückte sich tiefer in die Ecke des Möbelstücks, er hatte das Mädchen gar nicht kommen gesehen. „Sorry“, meinte sie leicht hin, „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Sch…schon gut.“ Tamaki rang um Kontrolle und setzte sich wieder aufrecht hin. Er schaffte es sogar, die Flügel wieder etwas anzuheben, damit seine Freunde sie genauer ansehen konnten. „Die… meine Reproduktion beruht immer auf der DNS der Dinge, die ich gegessen habe. Tiere oder Pflanzen… wenn ich Hähnchenflügel oder so esse habe ich DNS von vielen Hühnern und kann die Flügel und Krallen nach dem Vorbild eines Durchschnittshuhns formen, aber im Moment hab ich nur dieses eine, und das war eben fast weiß.“ Wenn er so darüber sprach, war es ihm fast peinlich.

„Stimmt, aber es ist schonmal ein Anfang, oder?“, fand Mirio, „Und auch, wenn es immer noch dasselbe Huhn ist: Ich hab das Fleisch noch im Kühlschrank. Meinst du, du kannst schon wieder was essen, Tamaki? Wir haben das Hühnchen und Yuyu hat vorhin den Reiskocher für alle angemacht. Ich hol dir was, ja?“

„Danke, Mirio.“ Tamaki lächelte erleichtert. Nejire nutzte die Gelegenheit, nach seinen Flügeln zu greifen und er erlaubte ihr, halbwegs entspannt, die Federn zu streicheln.

„So weich!“, quietschte sie freudig und machte eifrig von dem selten gewährten Recht gebraucht, „Ich hab mir Federn immer steifer vorgestellt.“

„D-das sind Daunen…“, informierte Tamaki sie verstockt, peinlich berührt, als die Finger des Mädchens zwischen Flügel und Rücken schlüpften, um das flauschige Untergefieder zu kraulen. Er konnte die Berührung auf der nackten Haut seiner Schulterblätter spüren und das war ihm doch reichlich unangenehm, vor allem, als sie sich näher lehnte, um die Flügel besser erreichen zu können. Der Ausschnitt ihres Nachthemds war gefährlich tief und in seiner momentanen Position war es nicht leicht, daran vorbei zu schauen…

Mirio zwinkerte ihm verschmitzt zu. Gerade, als der große Junge aufstehen wollte, um in die Küche zu gehen, kam Hidoku auf die Gruppe zu, wie üblich mit strengem Gesicht und zweifelhafter Absicht. „Findest du es nicht ein bisschen Respektlos, vor Mirio so mit deiner Macke anzugeben?“, fuhr er Tamaki direkt an, der die Flügel sofort erschrocken verschwinden ließ. Nejire gab ein empörtes Geräusch von sich und ließ ihn los, um Hidoku den bösesten Blick zuzuwerfen, zu dem ihr hübsches Gesicht in der Lage war. Auch Mirio war stehen geblieben, sein Lächeln für den Moment verschwunden.

„Ich denke“, sagte er streng, „Dass ich da durchaus für mich selbst sprechen kann, danke.“

„Pah“, machte Hidoku nur, wich jedoch unter Mirios strengem Blick zurück und verzog sich wieder, „Du lässt dir zu viel gefallen.“

„Boah, dieser…“, empörte sich Nejire, als der unliebsame Klassenkamerad den Raum verlassen hatte, „Am liebsten würde ich-“

„Lass gut sein, Nejire“, beruhigte Mirio sie, „Das ist er nicht wert.“ Er bedeutete ihr mit einer winzigen Geste, sich lieber um Tamaki zu kümmern, und ging endlich den Reis holen. Auch wenn es ihm widerstrebte, jetzt von seinem Freund wegzugehen, er brauchte diese zehn Schritte hin und wieder zurück, um den Ärger aus seinem System zu bekommen. Hidoku mochte es so darstellen, als sei er um Miros Wohlergehen besorgt. Das hatte er beim letzten Mal auch schon getan. Aber eigentlich hatten seine Worte nur das Ziel, Tamaki zu verletzen, und das machte Mirio wahnsinnig wütend. Tief durchatmen, Reis in drei Schüsseln füllen und das Hühnchen darauf verteilen. Tamaki brauchte jetzt etwas Zuspruch, nur das war wichtig.

„Du hättest die Flügel ruhig dalassen können“, meinte er sanft, als er mit Schüsseln und Stäbchen in die Sofaecke zurückkam, „Ich hätte mir die Mühe mit der Suppe nicht gemacht, wenn ich es nicht gewollt hätte.“

Tamaki wich seinem Blick aus und murmelte was von wegen ‚war gestern abend‘ und ‚kann eh nicht ewig‘. Mirio drückte ihm lächelnd eine Schüssel in die Hand. „Dann iss. Aber mach nicht zu schnell, ja? Nicht, dass dir wieder schlecht wird.“

Nejire streichelte fürsorglich Tamakis Schultern. Er hatte inzwischen seinen Pullover übergestreift, ein sicheres Zeichen, dass er nicht plante, noch einmal Flügel hervorzubringen. Aber er nahm den Reis immerhin dankend an und begann vorsichtig zu essen. Auch Nejire bediente sich, und Mirio atmete erleichtert auf, bevor er selbst zu Essen begann.

„Vergiss, was Hidoku gesagt hat“, riet Mirio seinem Freund, „Es ist schlimm genug, wenn einer von uns seine Macke nicht benutzen kann, ja? Ich fühl mich nicht besser, nur weil es dir auch schlecht geht, im Gegenteil.“

„Siehst du?“, fügte Nejire hinzu, „Genau, wie ich gesagt habe. Mirio hat sich voll Mühe gegeben beim Kochen, natürlich wollte er deine Flügel sehen!“

Tamaki wurde ein wenig rot und sah angestrengt auf seinen Reis, aber er hatte sich wieder beruhigt und konnte tatsächlich essen. Das Fleisch war relativ trocken, ebenso der Reis, aber Soße wäre ihm vermutlich noch zu viel gewesen. Etwas mehr Salz hätte nicht geschadet, aber Tamaki behielt die Kritik lieber für sich. Mirio hatte sich Mühe gegeben… nur darum ging es. Trotz allem, was er selbst durchmachte, fand er immer noch die Kraft, sich für andere einzusetzen und zu helfen, wo es ging. Er war eben durch und durch ein Held, und Tamaki konnte sich glücklich schätzen, etwas von seinem strahlenden Licht abzubekommen. Der Schreck über Hidokus schneidende Bemerkung saß tief, aber Tamaki schaffte es, nicht mehr daran zu denken, als er Reishalme aus seinen Fingern sprießen ließ um Nejire damit zu amüsieren, die wie ein verspieltes Kätzchen nach den Ähren schlug und vergnügt kichernd über die Couch rollte dabei. Mirio hatte wieder sein typisches breites Grinsen im Gesicht und so war, zumindest für den Moment, die Welt wieder in Ordnung.

Was Helden ausmacht

Tamaki war wieder fit. Nicht super fit, aber es ging ihm so gut, wie es gerade gehen konnte – die Angst ließ ihn nie ganz los, aber im Moment hielt sie sich immerhin zurück. Auch seine Mitschüler waren geradezu verdächtig freundlich, was sicher an Mirio lag, der sich gerade sehr für ihn einsetzte. Sogar Herr Yamada hatte sich entschuldigt; er hatte im Eifer des Gefechts schlicht nicht gemerkt, in welche Situation er den ängstlichen Schüler gebracht hatte.

Das Theaterstück war leider noch nicht fertig vorgelesen, als Tamaki wieder im Unterricht zurück war, diesmal allerdings bemühte sich der Rest der Klasse, Yamada so mit Freiwilligen zu erschlagen, dass er gar nicht in die Verlegenheit kam, jemand zufälligen aufzurufen. Es war erstaunlich zu sehen, wie sich selbst die im Englischunterricht schwächelnden Schüler ins Zeug legen konnten, sobald es darum ging, jemanden zu beschützen. Die Heldenklasse der UA… hier zeigte sich eben auch in den normalen Fächern, wofür jeder dieser Schüler hier war.
 

Wenn man schließlich nach endlosen Stunden des Unterrichts wieder in die Freiheit des Schulgeländes entlassen wurde, zeigte sich auch das Wetter noch von seiner besten Seite. Es ging zwar in schnellen Schritten auf den Winter zu, aber noch war der Himmel klar und die Sonne stark genug, dem kalten Wind die Stirn zu bieten. Tamaki atmete tief durch und lehnte sich an den Stamm seines Lieblingsbaumes, wo Mirio ihn schon erwartete, um vor dem Abendessen noch ein wenig Zeit mit seinem besten Freund zu verbringen. Sein strahlendes Lächeln ließ die Wintersonne geradezu blass aussehen und Tamaki war froh, dass es endlich wieder aufrichtig wirkte. Trotzdem… Tamaki hing noch immer an Hidokus harschen Worten fest. Er fühlte sich nicht schuldig, wenn er vor Mirio seine Macke einsetzte, im Gegenteil. Aber dass Mirio unter der – hoffentlich nur temporären – Behinderung zu leiden hatte war ihm schmerzhaft bewusst. Er wollte etwas für seinen Freund tun, und heute hatte er endlich die nötigen Mittel in der Hand, diesen Plan in die Tat umzusetzen.

Er wusste, das Mirio hart trainierte, um zumindest körperlich fit zu bleiben, und dass er das Training mit den anderen vermisste… nur dachten alle, einschließlich Mirio selbst, dass er ohne seine Macke nicht mithalten konnte. Tamaki würde ihm gerne das Gegenteil beweisen, oder ihm zumindest die Chance geben zu sehen, wie stark er tatsächlich auch ohne seine Macke war, und er hatte einen guten Vorwand gefunden, ihn trotz des großen Kraftunterschiedes zu einem gemeinsamen Training einzuladen.

„Erinnerst du dich noch an diesen Schulausflug in der Mittelschule?“, begann er schließlich.

„Welchen meinst du?“, fragte Mirio arglos.

„Als unsere Lehrerin uns ins Sunshine Aquarium geschleift hat, nachdem wir den Mackentest hatten…“

„Ach, den. Meinst du den Teil, wo du mit Trompeten und Fanfahren durchgerasselt bist oder den Teil, als ich durch die Absperrung gefallen bin?“

Tamaki verzog das Gesicht, den Seitenhieb hätte Mirio sich klemmen können. „Letzteres.“

Mirio verschränkte die Arme, den Blick nachdenklich auf die nackten Zweige des Baumes über ihm gerichtet, als könnte er dahinter mehr als nur den Himmel sehen. „Wenn ich so darüber nachdenke… ich hab dich weder vorher noch nachher je fliegen gesehen.“

„Ich bin nicht geflogen“, Tamaki sah langsam etwas frustriert aus, „Ich hab nur wie ein kopfloses Hühnchen mit den Flügeln gerudert, um langsamer zu fallen.“ Normal hätte er jetzt schnell das Thema gewechselt, und die Versuchung, sich dem Gespräch zu entziehen, war groß. Aber er widerstand dem Drang, seine Stirn an den breiten Baumstamm zu lehnen, und auch wenn er den Blick fest am Boden hatte schaffte er es, seine Körperhaltung generell offen zu halten.

„Aber Hühnerflügel waren das nicht, oder?“, erinnerte sich Mirio, dem Tamakis Anstrengung wieder komplett zu entgehen schienen, „Die waren größer. Und schneeweiß! Du sahst aus wie ein Engel oder sowas!“

Das Kompliment versackte nutzlos wie immer, wenn man etwas Nettes zu Tamaki sagte, aber Mirio scherte sich nicht darum. Immerhin hatte sein Freund ihm damals das Leben gerettet, da sollte er sich gefälligst auch dafür loben lassen.

„Ich hab geheult, gebetet und mir fast in die Hosen gemacht“, grummelte Tamaki abwehrend. Er wirkte noch angespannter als sonst, aber Mirio wusste, dass er es nur schwerer für seinen Freund machte, wenn er darauf einging. Tamaki schaffte das schon, er war stark.

„Aber wir haben beide überlebt“, fuhr Mirio unbeirrt fort, „Und Fräulein Miko hat ihre Meinung über deine Note nochmal überdacht, also hast du den Mackentest auch bestanden. Ich fand es eh unfair, dich vor der ganzen Klasse auftreten zu lassen, wo sie doch genau wusste, dass dich das fertig macht. Aber jetzt sag schon, warum das Thema?“

Tamaki wandte sich ab und zog erstmal die Kapuze seines Fatgum-Hoodies ins Gesicht. „Naja…“, murmelte er, „Ich hab nachgedacht. Ich denke immer noch, dass ich zu schwer zum Fliegen bin, allein wegen der Knochen; aber seit ich an der UA bin, hab ich viel gelernt, und meine Macke ist viel stärker geworden. Und Lunch Rush hatte heute Gänsebraten… ich denke, Gänseflügel kann ich vielleicht groß genug machen… wenn ich wirklich fliegen könnte, zumindest ein bisschen, wär das schon echt praktisch.“ Er sah aus, als wäre die Verantwortung, die aus dem Potential erwuchs, auch wirklich alles, was Tamaki zum Fliegen nötigte. Dabei gab es auch in der heutigen, von Superkräften beherrschten Zeit noch genug Leute, die alles geben würden, um aus eigener Kraft in die Luft steigen zu können. „Ich hab Aizawa um Erlaubnis gebeten, heute in Eigenregie trainieren zu dürfen, und er hat mir gleich eine ganze Sporthalle gebucht.“ Tamaki sah aus, als sei ihm so viel Zustimmung seitens des Lehrers unangenehm, als hätte er eine unverdiente Sonderbehandlung bekommen. Dabei war Tamaki aktuell der Beste seines Jahrgangs, der stärkste Heldenkandidat an der ganzen UA. Er konnte bequem mit den meisten Profihelden mithalten. Jeder Lehrer, sogar der strenge Aizawa, hätte ihm den Antrag auf Hallennutzung unterschrieben, ohne hinzusehen.

„Ist doch cool“, meinte Mirio leichthin, „Und warum bin ich hier? Soll ich dich anfeuern?“

Tamaki verschränkte schützend die Arme vor der Brust. „Ich… brauche jemanden, der mir hilft.“ Um nicht vor Nervosität am Boden festzuwachsen setzte er sich in Bewegung, in Richtung der Sporthalle, die er für die nächsten zwei Stunden benutzen durfte. „Flügel, die mein Gewicht tragen können, sind zu groß, als dass ich aus dem Stand abheben könnte. Ich müsste irgendwo runterspringen, aber der Gedanke ruft unangenehme Erinnerungen wach…“ Mirio mochte in der Lage sein, locker über seinen Sturz zu sprechen, als wäre der Moment des näherrauschenden Todes etwas ganz Alltägliches. Tamaki dagegen hatte immer noch Albträume. Was ihn anging, waren die Helden an diesem Tag zu spät gekommen. Mirio sah das natürlich anders, für ihn war Tamaki Held genug. Engelsflügel… nur von einer Mastgans, danke. „Ich brauche jemanden, der mich hochwirft.“

„Wäre da nicht jemand mit einer Verstärkungsmacke sinnvoller?“, fragte Mirio besorgt, „Ich bin momentan ziemlich nutzlos.“

„Ich brauche in erster Linie jemanden, dem ich vertrauen kann“, entgegnete Tamaki und stieß seinen Freund kurzerhand in die Umkleide, „und die Liste ist nicht lang.“
 

Sporthalle Gamma war, wie so oft, vom letzten Unterricht her noch mit einigen von Zementos geschaffenen Felsen bestückt, was dem Raum optisch den Eindruck einer Felswüste gab, um die jemand vier Wände und ein Dach gebaut hatte. Tamaki seufzte tief, er hatte gehofft, die Halle ebenerdig vorzufinden. Mit den vielen Felsen war es schwieriger, genug Platz zum Fliegen zu finden. Aber daran konnte er jetzt nichts ändern, also nahm er es hin und suchte nach einer Stelle, an der die Felsen weiter auseinander standen.

„Also an Möglichkeiten zum Runterspringen würde es nicht fehlen“, stellte Mirio fest, „Ein paar dieser Felsen sind sicher hoch genug, ohne gleich gefährlich hoch zu sein.“ Tamaki warf seinem Freund einen genervten Blick zu und Mirio lachte gutmütig. „Schon gut, schon gut. Was soll ich machen?“

„Erstmal aufwärmen“, beschloss Tamaki, „zehn Minuten dürften reichen. Und dann stell dich hier hin.“, er kratzte ein X in den Boden, um die ausgewählte Stelle leicht wiederfinden zu können, zog Jacke und Schuhe aus, um seine Macke frei benutzen zu können und machte sich daran, erstmal ein paar Runden entlang der Hallenwand zu laufen. Mirio war beinahe sofort wieder an seiner Seite und joggte einfach mit. Er war gut in Form, denn obwohl er seit dem Overhaul-Vorfall nicht mehr am Unterricht teilnehmen konnte hatte Mirio sein eigenständiges Training nicht aufgegeben, sondern eher nochmal eine Schippe draufgelegt. Fünfzig Runden und einige Dehnungsübungen später standen die Jungs dann wieder an der markierten Stelle.

„Okay… breite die Arme aus“, wies Tamaki Mirio an, und kletterte auf dessen Schultern. Um besseren Halt zu haben manifestierte er Hühnerfüße; so konnte er mit den Zehen um Mirios Arme greifen um stabil zu stehen. „Gut… schaffst du es, mein Gewicht mit einem Arm zu heben?“

„Ich versuch‘s, aber wenn, sicher nicht allzu lang“, schätzte Mirio.

Tamaki machte einen vorsichtigen Schritt zur Seite, ein Bein und das meiste Gewicht noch auf Mirios Schultern, den anderen Fuß schon auf dessen Handgelenk. „Ich manifestiere jetzt die Flügel“, warnte er vor, „das macht mich nochmal schwerer. Sowie ich mein ganzes Gewicht auf dein Handgelenk lege, wirf mich hoch, soweit du kannst.“

Mirio nickte knapp. Wenn er ehrlich war, war ihm Tamakis Gewicht jetzt schon zu viel, aber um jetzt auszusteigen war er doch zu stolz. Kurz entschlossen stemmte er die freie Hand in die Hüfte, stellte die Beine weiter auseinander und lehnte sich zur Seite, sodass er den rechten Arm, und damit auch Tamaki, direkt über dem Schwerpunkt hatte. „Okay, kann losgehen!“

Eines musste man Tamaki lassen: Er verschwendete keine Zeit. Kaum hatte Mirio das Signal gegeben spürte er auch schon, wie Tamakis Gewicht seinen Arm herunterriss, nun mit beiden Füßen auf Mirios Unterarm, die riesigen, graubraunen Flügel hoch aufgerichtet und bereit zum Abschlag, sowie seine Entfernung zum Boden dafür ausreichte. Im selben Moment, da das Gewicht seines Freundes ihm den Arm beinahe zu Boden riss, warf Mirio ihn auch schon wieder mit aller Kraft nach oben – der Schwung reichte gerade so aus: Tamaki schlug die Flügel herunter und schaffte es, sich damit noch um so viel weiter hoch zu bewegen, dass nur die Spitzen seiner Schwungfedern den Boden streiften. Der Aufschwung allerdings misslang ihm, und so landete er, nicht unbedingt grazil, aber sicher, sofort wieder auf festem Grund.

„Das war ja megacool!“, jubelte Mirio dennoch, „Komm, nochmal!“

Tamaki lachte heiser, ließ sich aber gerne auf den zweiten Versuch ein. Zumindest Mirio sah motiviert aus… und er war stark. Tamaki kannte einige Schüler mit Verstärkungsmacke, die vor Beginn des UA-Trainings weniger Gewicht hätten stemmen können als Mirio es heute schaffte. Und das war der eigentliche Grund für das Training… Tamaki glaubte nicht wirklich daran, fliegen zu können. Aber wenn er so Mirios Moral so verbessern konnte, war er gerne bereit, ein paar hundert Mal abzustürzen.

„Hey, das waren ja schon mindestens sechs Meter!“, lobte Mirio knapp vier Versuche später. Tamaki blickte überrascht zu ihm zurück. Er hatte es selbst nicht gemerkt, aber tatsächlich: obwohl er immer noch nicht mehr als diesen ersten Abschlag hinbekam, musste die Kraft seiner Flügel soweit zugenommen haben, dass er mit jedem Versuch ein Stückchen weitergekommen war.

„Ist mir gar nicht aufgefallen…“, murmelte Tamaki, während er zu Mirio zurückging, der gerade die Schultern für den nächsten Versuch lockerte.

„Versuch mal, eher höher als weiter zu fliegen“, schlug Mirio vor, „Dann klappt es vielleicht auch mit dem zweiten Schritt, und du kommst im Ganzen noch weiter.“ Seine blauen Augen funkelten vor Begeisterung. Es war beinahe ansteckend.

„Ich versuch’s“, versprach Tamaki und sprang wieder auf. Mirio hatte sich geradezu erschreckend schnell an das Gewicht gewöhnt, selbst die schweren Flügel schienen ihm nichts mehr auszumachen. Tamaki konnte spüren, wie sich die großen Muskeln unter seinen Klauen bewegten – da konnte man schon mal ein bisschen neidisch werden, wenn man nicht wusste, wie viel Arbeit dahintersteckte. Mirio hatte sich jedes Bisschen seiner Kraft ehrlich verdient, und Tamaki würde dafür sorgen, dass nichts davon umsonst war.

„Okay, LOS!“, rief Mirio, und diesmal bemühte sich Tamaki bewusst, sich mit Kraft nach oben zu bewegen. Vorwand oder nicht, wenn Mirio sein Bestes gab, konnte er auch keine halben Sachen machen. Es funktionierte tatsächlich, er gewann mit dem ersten Abschlag genug Höhe, um nicht sofort landen zu müssen. Der Aufschwung war kritisch, denn nun musste Tamaki die Federn drehen, dass die die Luft vorbeiließen, und dann wieder schließen, um mit dem nächsten Abschlag die Luft wieder nach unten zu drücken. Es war wie Schwimmen, nur ohne Auftrieb; wenn er hier in der Luft aufhörte, sich zu bewegen, würde er ungebremst fallen. Und natürlich reichte allein der Gedanke, um ihn aus dem Rhythmus zu bringen – ein Blick nach unten, und die Angst erledigte den Rest.

„Hab dich!“ Tamaki hatte die Augen fest geschlossen, aber er hätte Mirios Ansage nicht gebraucht, um zu wissen, dass er sicher war. Einen Moment erlaubte er sich, das Gesicht in der Halsbeuge seines Freundes zu vergraben und sich wie ein kleines Kind an ihm festzuhalten, dann atmete er tief durch – er hatte gar nicht gemerkt, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte – und ließ sich wieder auf den Boden stellen. „Das war richtig gut!“ Tamaki sagt nichts, ihm steckte die Angst noch in den Knochen. Zu seiner Erleichterung hatte Mirio vollstes Verständnis, kündigte eine Pause an und lief kurz raus, um zwei Flaschen Wasser und ein Handtuch zu holen, damit Tamaki sich in Ruhe von seinem Schreck erholen konnte.

„Es war… unheimlich“, brachte Tamaki schließlich hervor, als die beiden am Rand der Halle ihre Pause machten.

„Aber du bist richtig geflogen!“, warf Mirio ein, „Nicht nur langsamer gefallen oder so, sondern aufwärts, stärker als die Schwerkraft. Mit ein bisschen Übung…“

„Du traust mir zu viel zu“, wehrte Tamaki ab.

„Ich kenn dich einfach schon zu lang“, meinte Mirio leichthin und nahm einen weiteren Schluck aus seiner Flasche. „Du hast Angst, abzustürzen, oder? Lass uns nachher Matten auslegen. Die Halle ist ja nicht so hoch, wenn man weich landet, kann da nichts passieren.“

Tamaki warf Mirio einen strengen Blick zu, aber es waren nicht seine Worte, die ihn irritierten. „Mirio… deine Arme…“ er fasste seinen Freund am Ärmel der UA-Trainingsjacke. Der Stoff war an mehreren Stellen zerrissen und blutig, die Arme darunter sahen sicher nicht besser aus.

„Oh“, meinte Mirio nur, „Ich schätze das ist wohl der Grund, warum Falkner Lederhandschuhe tragen, was?“, er lachte gutmütig und knuffte seinen Freund in die Seite. „Ist halb so wild, nur ein paar Kratzer.“

„Du hättest etwas sagen können.“

„Hab’s nicht gemerkt.“

Tamaki schwieg und beschäftigte sich wieder mit seinem Wasser. Die Flasche war inzwischen fast leer, er war ganz schön ins Schwitzen gekommen. „Lass uns…“, fing er schließlich an, „Lass uns doch die Matten auslegen. Ich denke, ich versuche diesmal von den Felsen aus zu starten. Du… passt auf mich auf, ja?“

„Immer. Ich fang dich, wenn du fällst. Also keine Angst.“ Mirio legte ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter.

Ikarus

Mirio hatte lange nicht mehr so viel Spaß am Training gehabt. Durch den – hoffentlich vorübergehenden – Verlust seiner Macke war er vom Unterricht freigestellt, hatte aber fleißig weiter seinen Körper trainiert, soweit es ihm allein eben möglich war. Joggen, Situps, Gewichte stemmen… er empfand es nicht als Arbeit, aber allein war es auf die Dauer doch langweilig. Trotzdem hätte er nie gewagt, Tamaki um Hilfe zu bitten, schließlich war er nur noch Zivilist und hatte einem echten Helden nichts entgegenzusetzen. Nun kam ihm der Gedanke albern vor.

Tamaki war sein Freund seit Grundschultagen. Sie waren zusammen an die UA gekommen und zusammen stark geworden; Mirio sollte seinen Freund gut genug kennen um zu wissen, dass er auch nur aus Spaß mit ihm trainieren würde, egal, wie sehr er sich zurücknehmen musste. Er hätte nur fragen müssen… stattdessen hatte er gewartet, bis Tamaki selbst eine halbgare Ausrede gefunden hatte, ein gemeinsames Training vorzuschlagen. Als ob der große Suneater wirklich Hilfe bräuchte… ihm fehlte es nur an Selbstvertrauen, den Rest konnte er eigentlich. Auch Fliegen, und wenn er es noch so sehr ‚Fallen mit Stil‘ nennen wollte.

„Klasse Tamaki! Bald ist die Halle zu klein für dich!“, jubelte Mirio begeistert. Sie waren kaum eine Stunde dabei und schon hatte Tamaki die Gänseflügel so gut im Griff, dass er einmal diagonal durch die ganze Halle fliegen konnte. Von einem erhöhten Standpunkt aus auf einen ebenso hohen Felsen in der anderen Ecke, obwohl er dazu weiteren Felsen ausweichen musste. Und ob Tamaki es hören wollte oder nicht, er sah richtig cool aus dabei; noch nicht ganz Hawks-mäßig cool, aber wenn er so weiter machte konnte der Held Nummer zwei sich schonmal warm anziehen. „Das war perfekt!“

„Es wird immer einfacher“, gab Tamaki verlegen zu.

„Wüsste nicht, wie man es noch viel schwieriger machen könnte. Du bist einfach zu gut!“, lobte Mirio.

Tamaki schwieg. Nachdenklich verschränkte er die Finger, dehnte die Arme nach vorne und streckte gleichzeitig die Flügel nach hinten und dann zur Seite weg, eher er sie sauber auf dem Rücken faltete. Es sah beeindruckend aus. „Ich wüsste da was“, meinte er schließlich.

„Lass mal hören.“

„Hier drin ist es… ziemlich sicher“, begann Tamaki und blickte dabei auf seine Füße, „Aber wenn ich draußen so fliege… dann wären da Schurken unterwegs.“

„Stimmt“, stimmte Mirio zu, „Die würden dich kaum einfach vorbeifliegen lassen, oder?“

„Genau. Egal, weswegen ich fliege, der Gegner würde mich aufhalten wollen, mich fangen oder mit etwas nach mir werfen, um mich abstürzen zu lassen…“

Mirio war klar, dass Tamaki wieder im Begriff war, sich in irgendwelche Worst-Case Szenarien hineinzusteigern. Um dem entgegenzuwirken klopfte er seinem Freund aufmunternd gegen die Schulter. „Hey, soll ich es versuchen? Ich kann nicht viel tun ohne meine Macke, aber wenn du niedrig genug fliegst kann ich versuchen dich zu packen.“ Irgendwo lagen sicher auch Tennisbälle rum, mit denen er notfalls werfen konnte, aber das ging später auch noch.

Er hatte damit gerechnet, dass Tamaki ablehnen würde, aber der nickte den Vorschlag tatsächlich ab, als hätte er genau das geplant. Mirio musste grinsen. Dieses Gefühl… das hier war richtiges Heldentraining. Er hatte es vermisst, so herausgefordert zu werden, und obwohl er wusste, dass er eigentlich keine Chance hatte, wollte er auf jeden Fall sein Bestes geben und es Tamaki so schwer wie möglich machen. Die Zeit der Ermutigungen war vorbei, jetzt galt es zu beweisen, dass Tamaki auch in widrigen Verhältnissen fliegen konnte. Das ging aber nur, wenn Tamaki ihn als Gegner ernst nahm, und dazu würde Mirio sich mächtig ins Zeug legen müssen.

Es dauerte nicht lange, bis er die Trainingsjacke ausziehen musste. Die Ärmel waren ohnehin nicht mehr zu retten; Tamakis Krallen hatten den dicken Stoff beinahe in Streifen gerissen. Die zugehörigen Kratzer in Mirios Armen waren nicht sehr tief, aber sein Schweiß brannte wie Feuer in den offenen Wunden. Das war Mirio nur recht, er nahm die Schmerzen als Ansporn, nicht nachzulassen. Und den brauchte er dringend, denn Tamaki schonte ihn nicht. Anfangs war er tatsächlich so tief geflogen wie seine großen Schwingen es erlaubten, und Mirio hatte ihn fast aus dem Stand greifen können – er musste ihn nichtmal zu Boden ziehen oder überhaupt erwischen, es hatte schon gereicht, ihm im Weg zu sein. Ein verpatzter Flügelschlag und Tamaki lag auf der Matte. Es war beinahe zu einfach, weshalb es auch nicht lange dauerte, bis Tamaki sich ernsthaft wehrte. Er flog zunehmend höher und schneller, lernte nach wenigen Versuchen, auch einen unvollständigen Flügelschlag auszugleichen, ohne landen zu müssen, und hatte bald eine gute Handvoll Manöver parat, sich einen bodengebundenen Gegner vom Leib zu halten. Notfalls auch mit Krallen und Hufen.

Mirio war nur im ersten Moment überrascht gewesen, dass Tamaki bedenkenlos seine Macke gegen ihn einsetzte. Im zweiten Moment war er froh: sein Freund nahm ihn ernst, auch als mackenloser Zivilist war er offenbar noch jemand, den man nicht schonen durfte, wenn man gewinnen wollte. Es fühlte sich gut an. Mirio war fit, auch ohne seine Macke schnell und stark genug, einen fliegenden Gegner aus der Luft zu greifen. Mehr als einmal gelang es ihm, Tamaki zu Boden zu reißen und in eine Rangelei zu verwickeln. Nur das mit dem Ausweichen musste er üben… Ein, zwei Hiebe konnte er abwehren, aber dann erwischte Tamaki ihn doch und war frei. Er hielt sich fairerweise auch kein bisschen zurück, ein paar Treffer saßen sogar so gut, dass es richtig wehtat. Mirio war begeistert. Er hatte dieses Gefühl vermisst… das Pochen von Blut in den Ohren, den Rausch des Adrenalins, die Geschwindigkeit eines richtigen Kampfes; keine Zeit, nachzudenken, dazu die Notwendigkeit, immer zwei Züge voraus planen zu müssen, um nicht zu verlieren. Tamaki sollte ihm aller Logik nach um Welten überlegen sein, trotzdem war Mirio sicher, eine Chance zu haben, wenn er es richtig anstellte. Das hier war kein reines Kraft- oder Ausdauertraining, hier musste er mitdenken, seinen Gegner richtig lesen, seine Bewegungen vorhersehen und schnell umdenken – und bei all der Denkerei das Ausweichen nicht vergessen. Das musste besser gehen, schneller, ohne nachzudenken. Aber in dem Moment, in dem er nicht ans Ausweichen dachte, hatte er schon wieder einen Huf im Gesicht, weil er unbewusst versuchte, seine Macke zu aktivieren, und dabei doch greifbar blieb. Mirio flog beinahe durch den halben Raum, bremste mit der Schulter auf einer Matte und schaffte es irgendwie zum Stillstand zu kommen, bevor er mit dem Kopf gegen den nächsten Felsen schlug. Tamaki landete erhöht in der Nähe und warf ihm einen so schuldbewusst-besorgten Blick zu, dass Mirio ihm sofort mit erhobenem Daumen signalisierte, dass alles okay war. „Nichts passiert!“, rief er laut, „Mir geht’s gut!“ Seine Schulter war anderer Meinung, aber das konnte er ignorieren. Der Arm bewegte sich ja noch.

Tamaki nickte knapp und schwang sich wieder in die Luft. Wenn er erhöht startete sah es beinahe aus, als könnte er es aus dem Stand; er musste nur einen Schritt nach vorne machen, um nach unten genug Platz für den Aufschlag zu haben. Und das nach nur wenig mehr als einer Stunde Training… Mirio musste breit Grinsen vor Stolz auf seinen Freund. Nun erstmal aufstehen und weiter im Text. Eine halbe Runde ließ er Tamaki noch unbehelligt fliegen, nur um zu sehen, wie elegant er im Gleitflug wenden konnte, dann sprang er auf, schlug die Fäuste gegeneinander und machte sich wieder bereit zum Angriff.

Die weichen Matten boten keinen guten Untergrund zum Springen, also kletterte Mirio erstmal einen der Felsen hoch. Dort positionierte er sich so, dass Tamaki ihn nicht gleich sehen würde, und passte den richtigen Moment ab, zu springen. Es funktionierte, zumindest sein Angriffstiming war nach wie vor perfekt. Tamaki flog gerade so tief, dass Mirio ihm praktisch in den Rücken springen konnte; einen Moment fühlte es sich an, als würde er einen riesigen Adler reiten, dann fand die Schwerkraft, dass der Auftrieb der Gänseflügel für das Gewicht beider Jungs doch nicht ganz ausreichte. Die Landung war erwartungsgemäß hart, trotz der dicken Matte, die sie empfing, aber Mirio hatte damit gerechnet und wusste den Schwung zu nutzen, um Tamaki in einen vielgeübten Haltegriff zu bekommen. Er konnte spüren, wie die kräftigen Flügel neben ihm schlugen, um ihn abzuwerfen; es war sinnlos, und schon waren sie bis auf die letzte Feder verschwunden. Stattdessen sprossen nun Äste aus seinem Rücken, die sich gegen Mirios Brust stemmten um ihn von Tamaki herunterzuhebeln. Mirio konnte sich nicht durchlangbar machen, also stemmte er sich einfach mit aller Kraft dagegen und drückte die Zweige zur Seite. Sein linker Arm protestierte heftig, während er Tamaki weiter in die Matte drückte, aber er war entschlossen, sich nicht abwerfen zu lassen, solange er noch die geringste Chance hatte, zumindest diese Runde zu gewinnen und seinem Trainingspartner die Handschellen anzulegen. Der erste Ring saß schon; er hatte es geschafft, Tamakis linken Arm auf dessen Rücken zu ziehen und musste jetzt nur noch die scharfen Hühnerkrallen ignorieren, während er versuchte, auch den rechten Arm zu erwischen. Das war allerdings aussichtslos, denn natürlich hatte Tamaki Tintenfischarme an seinen Fingern entstehen lassen und klebte nun mit den Saugnäpfen so fest am Boden vor der Matte, dass Mirio eher hoffen konnte, den halben Hallenbelag herauszureißen, als irgendwie diese Hand davon zu lösen. Er versuchte es dennoch, und plötzlich gelang es ihm; mit einem Rück war Tamakis Widerstand nicht nur gebrochen, sondern völlig weg. Keine Äste mehr, die ihm gegen Brust und Gesicht drückten, keine Krallen mehr in seinem Arm, und vor allem keine Tentakel mehr, die sich am Boden festsaugten. Es war plötzlich zu einfach, die Handschallen zu schließen. Viel zu einfach.

Und tatsächlich: Als Mirio den Blick hob sah er vor Tamaki auf dem Boden ein paar schrecklich vertrauter Stiefel. Schluckend ließ der den Blick höher wandern, den schwarzen Overall entlang und an den vielen Schlaufen des Fesselungstuchs vorbei bis in die glühend roten Augen von Herrn Aizawa, die, missbilligend und mit aktivierter Löschung, auf ihn zurückstarrten. Mirio grinste entschuldigend. Das erklärte natürlich, warum Tamakis Widerstand so plötzlich eingebrochen war… waren die zwei Stunden, die er die Halle nutzen durfte, etwa schon vorbei? Hinter Aizawa konnte Mirio eine Menge anderer Gestallten sehen, die Erstklässler, die er vor einer Weile kurz hatte kennen lernen dürfen. Sicher ging einfach nur deren Unterricht jetzt los, gute Chancen also, dass er sich doch keinen Ärger eingehandelt hatte.

„Was“, meinte Aizawa ohne zu blinzeln, „Ist hier los?“

„Training“, keuchte Tamaki. Mirio nahm sein Gewicht etwas zurück, damit der Schwarzhaarige auch Atmen konnte.

Aizawa wirkte wenig überzeugt, schloss aber endlich die Augen. Tamaki blieb trotzdem brav liegen. Jetzt, wo Mirio sich aufrichten wollte, fühlte er sich gar nicht mehr gut… sein linker Arm ließ sich kaum bewegen, und auch so tat ihm alles verdammt weh. Dazu war Aizawas Blick auch ohne die mackenlöschende Wirkung reichlich unangenehm.

„Aufstehen“, befahl der Lehrer, und Mirio gehorchte. Seine Beine fühlten sich in etwa so stabil an wie Wackelpudding und die weiche Matte war nicht der beste Untergrund für die Übung, aber er schaffte es irgendwie, von Tamaki herunterzuklettern und sich aufrecht auf den festen Boden zu stellen. Nun sah er deutlich die Erstklässler, die sich hinter ihrem Lehrer um eine gute Sicht bemühten, ohne unangenehm aufzufallen. Mirio fühlte sich ganz ohne Worte zurechtgewiesen, und das Gefühl besserte sich nicht, als ihm bewusst wurde, dass Tamaki liegen blieb. Immerhin aus den Handfesseln hatte er sich befreit, aber so blieb er einfach liegen.

„Nochmal“, knurrte Aizawa, nun leiser und bedrohlich, „Was. Ist. Hier. Los.“

„Training“, widerholte Tamaki, bevor Mirio auch nur Luft holen konnte, „Wie angekündigt.“ Seine Stimme war leise und zittrig, sicher tat es ihm auch nicht so gut, dass gerade zwanzig Paar fremde Augen auf ihn gerichtet waren.

„Das meine ich nicht“, erwiderte Aizawa, nun sanfter, „Kannst du aufstehen?“

Tamaki zögerte, und langsam wurde Mirio mulmig dabei. Aber als er einen Schritt zurück machen wollte, um seinem Freund zu Hilfe zu kommen, hielt Aizawa ihn auf. „Du bleibst zurück. Midoriya!“ Der Erstklässler fuhr erschrocken zusammen, sprang dann aber eilig an die Seite seines Lehrers. „Du nimmst Mirio mal mit da rüber“, er zeigte auf die andere Ecke der kurzen Hallenseite, noch immer in Blickweite der Tür, aber außer Hörweite. „Der Rest von euch verteilt sich im Raum und fängt mit dem Training an. Bewegung! Und wenn ich hier irgendwelche Augen oder Ohren sehe hagelt es Strafarbeiten!“

Die Klasse bewegte sich mit der unter Aizawa gewohnten Hektik, schön darauf bedacht, keinen unverdienten Ärger zu bekommen, und Mirio bemerkte eine deutliche Bevorzugung der türfernen Hallenseite, während er selbst sich nur zögerlich von Tamaki wegschieben ließ.

Aizawa blickte dem Jungen besorgt hinterher. Es war nicht unüblich, dass sich Schüler im Training verletzten, und Tamaki hatte in der Tat darum gebeten, die Halle für zwei Stunden in Eigenregie nutzen zu dürfen. Dennoch… dafür, dass Mirio seine Macke nicht nutzen konnte schien hier ziemlich hart gekämpft worden zu sein. Dazu die Gerüchte über Mobbing in der dritten Klasse… mehrere Schüler und Lehrer hatten sich besorgt über Tamakis Verfassung geäußert. Tamaki war aktuell der Stärkste seines Jahrgangs, wenn man von seiner wackeligen Psyche absah. Dass Mirio ihn besiegen könnte, ohne seine eigene Macke zu nutzen, dürfte nicht möglich sein. Und dass er Tamaki psychisch zusetzen würde um diesen Nachteil auszugleichen… es klang unglaubwürdig, aber Mirio litt sicher mehr unter seinem Zustand, als er zugeben wollte, also konnte er derartige Ausrutscher auch nicht ganz ausschließen. Und der Blonde war selbst übel zugerichtet; wenn er an die Freundschaft der beiden Jungs glauben wollte, mussten sie ihm erstmal diese Verletzungen erklären. Tamaki war nicht der Typ, der einen wehrlosen Zivilisten mit der vollen Kraft seiner Macke angreifen würde, und trotzdem sah Mirio aus, als hätte er sich mit einem halben Zoo geprügelt. Krallenspuren über beide Arme, Risswunden von Oktopussaugnäpfen am ganzen Oberkörper, Prellungen wie von schweren Huftritten und dazu noch eine Menge geringerer Kratzer… der linke Arm sah fast gebrochen aus. Stirnrunzelnd wandte sich Aizawa wieder Tamaki zu, der immer noch still auf dem Bauch lag und das Gesicht in die dicke Schaumstoffmatte drückte, als wollte er ganz darin versinken.

„Steh auf, es sieht keiner mehr zu“, versicherte ihm Aizawa. Es war sicher nicht ganz die Wahrheit; die 1-A hatte einige gute Aufklärer, die seine Anweisung, er wolle keine Augen und Ohren sehen, sicher richtig verstanden hatten und fleißig außer Sicht lauschten. Aber das musste der schüchterne Drittklässler ja nicht wissen. „Bist du verletzt?“

„Ich… weiß nicht“, nuschelte Tamaki und hob den Blick zumindest so weit, dass Aizawa zwischen Matte und Haaren tatsächlich die schmalen Augen des Jungen sehen konnte. „Es… ich… glaub nicht, dass ich aufstehen SOLLTE…“

„Die Wirbelsäule?“, vermutete Aizawa, „wie ist das passiert?“

Mirio hatte eben noch auf Tamakis Rücken gekniet und ihn trotz reichlich Gegenwehr zu Boden gerungen. Ob das reichte, ihn ernsthaft zu verletzen? Tamaki sah nicht unbedingt danach aus, wenn man ihn jetzt sah, aber er war stark…

„Nicht Mirios Schuld“, versicherte Tamaki ihm, als hätte er den Gedankengang hören können, „Ich bin gestürzt. Ich… ich hab mir eingebildet, ich könnte fliegen, und bin blöd zwischen zwei Matten gelandet. Hat im ersten Moment nicht weh getan, deshalb…“

„Du kannst fliegen?“, unterbrach Aizawa. Also hatte er sich doch nicht getäuscht, als er von draußen kurz den Schatten gefiederter Flügel gesehen hatte.

„Wie ein fetter Truthahn“, murrte Tamaki zerknirscht. Aizawa kniete sich vor ihn auf den Boden. „Also bist du gestürzt. Und hast danach einfach weitergemacht und bist nochmal gefallen?“

„Ein paar Mal. Aber nur noch auf die Matten.“

„Es hat erst weh getan, als Mirio eben…“, vermutete Aizawa.

„Nein. Als Sie uns gestoppt haben…“, Tamaki wandte den Blick ab, „Als ich eine Weile liegen geblieben bin. Schätze, das Adrenalin ist raus oder so… fühlt sich mies an.“

„Dann bleib liegen, sicher ist sicher“, meinte Aizawa und legte seinem älteren Schüler mitfühlend die Hand auf den Kopf. „Iida!“ rief er dann, laut, und binnen Sekunden stand der große Erstklässler dienstbereit neben ihm. „Hol Recovery Girl her“, befahl er, „Zwei Verletzte, einer schwer gestürzt mit Schmerzen im Rücken. Ab!“

Tamaki versank vor Scham wieder tiefer in seiner Matte, als der Erstklässler mit heulenden Motoren durch die Tür verschwand.

„Aber mal im Ernst“, meinte Aizawa und setzte sich neben ihn, „Diese Prügelei eben…“

„Wir haben uns nicht geprügelt“, murrte Tamaki trotzig, „das war Training.“

„Sah ziemlich ernst aus. Mirio ist auch übel verletzt…“

Tamaki vergrub wieder das Gesicht in der Matte. Mirio hatte härter gekämpft als erwartet, war so entschlossen, dass Tamaki teilweise richtig Angst bekommen hatte. Nicht wirklich so, als würde man gegen einen echten Schurken kämpfen, aber… „Mirio war… überzeugt, dass er mir nicht schaden könnte“, formulierte Tamaki schließlich, „er hat mich total überschätzt. Wenn ich nicht ernst gemacht hätte…“ Es wäre Mirio gegenüber beleidigend gewesen, sich zurückzuhalten. Und nicht nur das; mackenlos oder nicht, Mirio zu unterschätzen war lebensgefährlich. Permeation… diese Macke war nur zum Ausweichen gut und um sich schnell zu bewegen, Mirios Schlagkraft konnte sie nur insofern verbessern, als er beim Ausholen an Luftwiderstand einsparte. Er war auch ohne Macke stärker als die meisten Schurken mit.

Aizawa schwieg. Viel hätte er auch nicht mehr sagen können, denn schon kam das Geräusch von Iidas Motoren wieder näher. „Ich bin zurück!“, brüllte der Junge und setzte vorsichtig die alte Dame ab, die, einen dicken Arztkoffer im Griff, aus seinen kräftigen Armen sprang.

„Danke, Iida“, meinte Aizawa, „Geh zurück ans Training.“ Der Junge nickte und verschwand wieder in Richtung seiner Klassenkameraden. Wenigstens einer, um dessen Gehorsam er sich nicht sorgen musste… Ein Blick in den hinteren Teil der Halle bestätigte ihm, dass die anderen fleißig am Trainieren waren. Mirio stand auch brav in seiner Ecke, unterstützt von Midoriya, der bei der Gelegenheit mal üben konnte, ein gestresstes Opfer zu beruhigen. Sein Lächeln wirkte noch eher wackelig, aber wenn ihn da einer coachen konnte, war Mirio der beste Lehrer. Und er hatte wohl noch mehr Unterstützung, den Jiro hatte sich ganz in der Nähe aufgebaut und gab sicher jedes Wort wieder, das hier gesprochen wurde. Aizawa sollte sie zurechtweisen dafür, aber sie hatte den von seiner Seite aus sichtbaren Stecker in die Wand gestoßen und brachte den Felsen so zum Beben, dass es aussah, als würde sie tatsächlich nur trainieren. Er musste sich schon etwas verbiegen um den anderen Stecker zu sehen, der in den Boden ging… das konnte man schon durchgehen lassen.

„Du hattest nochmal Glück“, riss ihn Recovery Girl aus den Gedanken. Aizawa drehte sich um und konnte gerade noch sehen, wie Tamaki sich aufrappelte und vor Erschöpfung gleich wieder hinsetzte. „Hier, ein paar Gummibärchen.“ Die pensionierte Heldin drückte ihrem Patienten die Süßigkeiten in die Hand und wandte sich dann Aizawa zu. „War nur eine miese Prellung“, erklärte sie, „Aber trotzdem gut, dass er liegen geblieben ist, das hätte sonst übel ausgehen können. Ingenium war schon schlimm genug, ich will nicht noch einmal sehen, dass ein so vielversprechender junger Held seine Karriere beendet, bevor sie richtig angefangen hat.“ Sie warf Tamaki einen strengen Blick zu. „Komm nächstes Mal gleich zu mir und hüpf nicht noch rum mit so einer Verletzung!“ Wieder an Aizawa gewandt fuhr sie fort: „Du meintest was von zwei Verletzten?“

Aizawa wies mit dem Daumen in Mirios Richtung und die jugendfrische Heldin machte sich auf den Weg. „Du kommst mal mit mir“, raunte er Tamaki zu, der sich ergeben vor die Halle führen ließ.
 

Der Lehrer hasste es, solche Gespräche führen zu müssen, er hatte es lieber, wenn die Schüler solche Probleme unter sich klären konnten. Jeder hier an der Schule wollte ein Held sein, das sollte Mobbing ja von vorneherein ausschließen… könnte man meinen. Und trotzdem stand er nun hier, für ein Gespräch, dass er bei weitem nicht zum ersten Mal führen musste.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dir ginge es in letzter Zeit nicht so gut“, fing er an. Tamaki sah aus, als ob er sich am liebsten drücken wollte, und Aizawa teilte diesen Wunsch. Trotzdem ließ er den Jungen nicht aus den Augen.

„Ich… war nur etwas krank. Nicht so schlimm.“

„Recovery Girl meinte, die Übelkeit sei psychisch“, wandte Aizawa ein, „Das heißt, dass du so unter Druck standest, dass es dich körperlich krank gemacht hat.“ Tamaki wandte nur den Blick ab. „Und erzähl mir nicht, dass das normal wäre. Ja, deine psychische Verfassung ist ein Problem, an dem wir arbeiten müssen. Aber es war nie so, dass es dich krank gemacht hätte oder dass du deswegen dem Unterricht ferngeblieben wärst.“

„Tut mir leid…“

„Das will ich nicht hören.“ Aizawa blickte den Jungen streng an. Tamaki zeigte mal wieder den Mut eines Kaninchens, das nur deswegen nicht weglief, weil der Fuchs es sonst finden würde… aber diese Panik war bei ihm ein Dauerzustand, und das wussten auch alle, die mit ihm zu tun hatten. Trotzdem… „Recovery Girl glaubt, dass du Probleme hast, über die du nicht redest. Dass jemand, bewusst oder unbewusst, Druck auf dich ausübt. Da fiel das schöne Wort ‚Mobbing‘. Fällt dir dazu was ein?“

„N…nein?“ Schlecht gelogen. Aizawa blickte etwas strenger und Tamaki knickte prompt doch ein. „Ich… bin in der Grundschule gemobbt worden. Wegen meiner Macke, weil ich so albern aussehe, wenn mir Hufe und Federn wachsen. Ich hab die Schule gewechselt deswegen.“ Und weil sein Vater anderswo Arbeit gefunden hatte und mit der Familie umziehen musste.

„An der neuen Schule wurdest du nicht mehr gemobbt?“

Tamaki schüttelte den Kopf. „Da hab ich Mirio kennen gelernt… er hat sich um mich gekümmert.“

„Mirio hat im Moment selbst einiges um die Ohren.“ Aizawa bemühte sich um einen einfühlsamen Ton. „Gibt es jemanden, der das ausnutzt?“

Er wollte es nicht mit ansprechen, aber Recovery Girl war nicht die einzige, die sich besorgt an ihn gewandt hatte. Lunsh Rush war aufgefallen, dass Tamaki, der ohnehin schon einen gesunden Appetit aufwies, sein Essen in letzter Zeit in einer Menge und auf eine Weise herunterwürgte, dass man beinahe auf eine krankhafte Störung schließen musste, was in Zusammenhang mit der Übelkeit natürlich alle roten Flaggen hisste. Aber Mobbing war etwas, wogegen er als Lehrer nicht vorgehen durfte, ohne vom Opfer um Hilfe gebeten zu werden… es lag in der Natur der Sache, dass ein ungebetener Eingriff durch eine Respektsperson die Lage nur verschlimmern würde.

Aber Tamaki war wohl nicht zugänglich, er schüttelte nur den Kopf und spähte schon wieder nach Fluchtwegen. Und die Gelegenheit zur Flucht bot sich vielleicht bald, den offensichtlich war Recovery Girl fertig und Mirio stand schon in der Hallentür.

„Mirio selbst ist nicht das Problem, oder?“, versicherte er sich angespannt, „Wenn es so wäre…“

„Nein“, das zumindest war endlich eine deutliche Antwort, „Mirio ist okay. Wir sind Freunde.“

„Ihr habt euch eben sehr heftig geprügelt.“

„Wir haben trainiert. Wir hätten vorsichtiger sein müssen, ja, aber es war nur Training. Ich bin blöd gefallen, mehr nicht.“

Aizawa hatte lange genug als Held gearbeitet um zu wissen, wie Opfer von Gewalt reagierten. ‚Ich bin nur gefallen‘ war die Ausrede Nummer eins in Fällen häuslicher Gewalt… aber Tamaki wirkte anders auf ihn. Allein, dass er ihm in die Augen sehen konnte, kaum, dass es darum ging, seinen Freund zu beschützen… Der Junge war schon eine Marke für sich. Aizawa grinste in der Deckung seines Fesselungstuches und ließ zu, dass Mirio näher herantrat.

„Na, du auch wieder fit?“, erkundigte er sich, und es klang weniger streng als es sollte.

„Ja, alles gut“, meinte Mirio leichthin, „War nur gezerrt, nicht gebrochen.“ Er hob seinen Arm, der wieder beinahe unversehrt aussah. Aizawa nickte knapp, sein Blick desinteressiert wie immer. Hinter der Hallentür wurde es etwas lauter, nun, da gar niemand außer den Schülern mehr anwesend war.

„Ich muss da wohl wieder rein“, seufzte der Lehrer, „Bevor Bakugo jemanden angreift, der weniger stabil ist als Kirishima. Kann ich euch zwei allein lassen?“

„Klar, immer“, versicherte Mirio so schnell, dass Aizawa ihn zur Sicherheit nochmal scharf ansah, „Wir vertragen uns.“

„Recovery Girl hat euch frisch geheilt“, erinnerte Aizawa, „ihr geht heute nur noch ins Bett und sonst nirgendwohin, klar?“

Zu Mirios Erleichterung wartete er darauf keine Antwort ab, sondern verschwand in der Sporthalle. Durch die geschlossene Türe konnten sie ihn brüllen hören, offensichtlich hatten die Schüler den angenehmen Teil der Übungszeit nun hinter sich.

„Fühlt sich fast an, als wären wir schuld, dass die Erstklässler jetzt seine miese Laune abkriegen…“, murmelte Mirio betreten, „Geht’s dir wieder gut?“

Tamaki nickte. „War nicht so schlimm wie’s aussah. Sorry, dass ich dich erschreckt habe… und wegen dem Arm.“

„Ach, war nicht so schlimm“, versicherte Mirio ihm schnell und schwang den ehemals verletzten Arm bekräftigend herum, „Nur ein paar Kratzer, nichts Wildes. Dein Rücken auch wieder heil?“ Er schickte sich an, Tamaki den Arm um die Schultern zu legen, wartete aber, bis dieser nickte, und hielt sich auch dann noch zurück. Tamaki lehnte sich seufzend in die Berührung.

„Es war nur eine Prellung. Ich hab Panik bekommen…“

„Du hättest gleich was sagen sollen. Ich hätte dich direkt zu Recovery Girl bringen können, bevor es so schlimm wurde.“

Tamaki brummte nur.

„Lass uns wirklich gleich ins Bett gehen, ja?“, schlug Mirio vor, „Ich bin hundemüde und dir geht es sicher auch nicht besser.“

„Ich…“ begann Tamaki, brach dann aber einfach ab.

„Ja?“

„Tut… mir Leid, dass es so gelaufen ist. Du hast Recht, ich hätte aufhören sollen, als ich zum ersten Mal blöd abgestürzt bin.“

„Von aufhören hab ich nichts gesagt“, wandte Mirio ein, „nur unterbrechen. Ansonsten war das Training doch super, oder? Ich hatte jedenfalls echt Spaß, und wir haben beide ne Menge gelernt. Du kannst echt toll fliegen und ich weiß jetzt, dass ich vor allem das Ausweichen üben muss. Ich hab eigentlich nur deswegen so viele Treffer kassiert, weil ich intuitiv immer noch meine Macke aktivieren will, anstatt mich einfach zu ducken.“

„Du bist zwischendurch schon ziemlich gut ausgewichen“, meinte Tamaki, „Sonst hätte ich mich mehr zurückgehalten… ich dachte, du hättest genug Zeit, um wegzukommen.“

„Hatte ich auch. Nur hab ich die Hälfte davon blöd in die Luft geguckt und dann war’s zu spät. Hätte aber nicht gedacht, dass ich sonst so gut mithalten kann…“

„Ich hab mich nicht zurückgehalten, falls du das denkst.“

Mirio lachte herzlich. „Das weiß ich zu schätzen, danke. Lass uns das mal wiederholen, ja? Aber dann etwas vorsichtiger.“

„Fürs erste lässt Aizawa uns doch eh nicht mehr allein trainieren…“

„Stimmt, er sah echt besorgt aus eben. Was hat er gerade mit dir besprochen?“

„Nichts wichtiges“, murmelte Tamaki. Mirios Arm lag schwer auf seinen Schultern, sonst hätte er sich vermutlich aus dem Staub gemacht. Aber Mirio hakte nicht weiter nach.

„Verstehe“, meinte er nur, und beließ es dabei.

Helden schlafen nicht

Als Aizawa seine abendliche Runde durch die Schülerschlafzimmer machte war er einigermaßen erschrocken, Mirios Bett leer vorzufinden. Was früher ein Hinweis darauf war, dass der Junge wieder ausversehen durch den Boden gefallen sein musste, konnte nun nur auf Absicht zurückzuführen sein, und Aizawa bekam es im ersten Moment richtig mit der Angst zu tun.

Ein Blick ins Zimmer nebenan brachte seine Atmung dann aber gleich wieder zur Ruhe. Mirio lag ausgebreitet auf Tamakis Bett, gerade so, als wollte er mehr Platz einnehmen, als die Matratze eigentlich zu bieten hatte. Tamaki selbst ließ sich davon jedoch nicht stören; er hatte es sich einfach auf Mirios Brust bequem gemacht wie eine große Katze. Wie immer trug er nur seine Boxershorts, eine Notwendigkeit, um nicht wegen jedes Albtraums seine Kleidung mit spontanen Manifestationen zu zerreißen. Im Sommer sah Aizawa darin kein Problem, bei den jetzigen Temperaturen allerdings war es ein Risiko, wenn die Decke wie jetzt nur noch halb auf dem Bett hing und kaum die Beine bedeckte. Die Arme hatte Tamaki immerhin wärmesuchend unter Mirios Flanellshirt geschoben, der größte Teil seines Körpers lag jedoch frei, sicher wegen der Hühnerflügel, die eifrig einen schnellen Flugrhythmus durchübten. Aizawa sah einen Moment zu, fasziniert von dem komplexen Bewegungsablauf, den Tamaki sich komplett selbst beigebracht haben musste, verstärkte dann jedoch seinen Blick und ließ die Flügel verschwinden. Der Junge sollte sich ausruhen, hatte Recovery Girl gesagt, nicht im Schlaf weiter üben. Zumindest der Streit mit Mirio schien wohl wirklich eine irrige Annahme gewesen zu sein, wenn man die beiden jetzt so sah… fürs erste würde er die Jungs trotzdem nur noch unter Aufsicht trainieren lassen.

Eigentlich sollte Aizawa sich als Lehrer dafür einsetzen, dass alle Schüler nach 22:00 Uhr nur noch in ihren eigenen Zimmern und idealerweise im eigenen Bett lagen, aber daran hielt sich eh kein Schwein und Mirio jetzt unter Tamaki herauszuziehen ohne einen der beiden zu wecken war ohnehin unmöglich. Also würde er für heute, wie schon so viele Male davor, einfach fünfe gerade sein lassen, um selbst zumindest auf einen Teil seiner sieben Stunden Schlaf zu kommen. Grummelig, aber nicht ganz ohne väterliche Gefühle hob er die Decke wieder aufs Bett, packte die Jungs sorgfältig ein, damit sie sich nicht erkälten würden, und schloss die Türe im Hinausgehen so leise wie möglich. Bis er auch mit der Kontrolle der übrigen Zimmer und Schülerwohnhäuser fertig war zeigte die Uhr im Lehrerwohnhaus dann auch schon wieder auf ein Uhr nachts… und je näher die Abschlussprüfungen rückten, desto weniger Schlaf ließ sich im Unterricht nachholen. Also lieber mal so tun, als hätte man den Erstklässler nicht gesehen, der schon wieder nachts Joggen ging, und ab ins Bett. Wenn er diese Liga des Bösen zu fassen bekäme… allein für die Notwendigkeit dieses Internatssystems würde er die Kerle bluten lassen.

Endlich einfach mal wieder nach Unterrichtsschluss Ruhe haben… endlich wieder die Kinder heimschicken und anständig durchschlafen können. Alltäglicher Luxus, den er nie wirklich wertschätzen konnte, bis er seine Schüler 24/7 unter Aufsicht hatte. Seufzend, und ohne sich groß umzuziehen, ließ der überarbeitete Vollzeit-Lehrer sich in sein weiches Bett fallen. Vielleicht würde er morgen einfach einen spontanen Theorietest raushauen. Einfach neunzig Minuten Schweigen, nur gebrochen vom Kritzeln der Stifte und dem stillen Schrei purer Verzweiflung. Ein schöner Gedanke, bei dem Aizawa schnell friedlich einschlief. Gleich morgen Früh hatte er eine Doppelstunde Heldologie in der 2-B. Und einen Testvordruck in seiner Tasche, den er nur noch kopieren müsste… gut, da war vielleicht eine Frage dabei, deren Antwort er noch nicht behandelt hatte, aber als Profiheld muss man ja auch Situationen bestehen, auf die man nicht vorbereitet sein kann. Vielleicht würde er ihnen großzügig erlauben, noch bis in die Pause weiterzuarbeiten. Yamada würde ihn dann schon wecken, wenn die dritte Stunde losging. Dann wäre er zwar etwas spät dran für die 1-A, aber Iida würde schon dafür sorgen, dass keiner seine Abwesenheit ausnutzte. Und falls nicht… die 1-A konnte immer ein paar Strafaufgaben vertragen. Er war da kreativ.

Sehr kreativ… und es lohnte sich, die Klasse einmal warten zu lassen. Er war sonst immer pünktlich, darauf verließen sie sich vielleicht schon zu sehr. Wenn es wirklich einen Notfall gäbe… es schadete sicher nicht, sie schon einmal grundlos mit der Möglichkeit zu konfrontieren, dass der Lehrer nicht gleich in den Klassenraum kam. Ein paar Schülern mochte das vielleicht die Hoffnung geben, sie kämen mit einer Verspätung davon, die würde er dann wohl öfter dabei erwischen, wie sie nach ihm eintrafen… eine schöne Falle, wenn man es so sah. Und die zwei Stunden vorher konnte er friedlich schlafen… keiner in der 2-B würde es wagen, bei einem Test zu schummeln, egal, wie tief Herr Aizawa schlafen mochte. Sie fürchteten ihn so sehr, dass sie ihm sicher zutrauten, jeden Versuch einer Mogelei selbst im Schlaf zu erahnen. Natürlich würden sie ihn nicht am Ende der zweiten Stunde wecken, er würde erst aufwachen, wenn Yamada, laut wie eh und je, die Tür aufstieß und seine Anwesenheit mit einem ohrenbetäubenden ‚Good Morning, Class!‘ in den Raum hinein brüllte. Dann würde Aizawa in seinem Schlafsack hochschießen, ‚Stifte runter, Blätter nach vorn!‘ rufen und sich wortlos auf den Weg in die 1-A machen. Eine angenehme Aussicht. Er würde seine Unterlagen durchgehen müssen, aber vielleicht hatte er auch für die Erstklässler noch einen passenden Test…
 

„Ähm…“ Yamadas Stimme. Nicht gut. Aizawa runzelte im Schlaf die Stirn. Er lag noch in seinem Bett im Lehrerwohnhaus, nicht in seinem Schlafsack im Klassenzimmer. Außer seinem Wecker sollte hier niemand ein Geräusch machen…

„Es… tut mir fürchterlich leid, aber…“ Definitiv Yamada. Das konnte nichts Gutes bedeuten. „Ich… will nicht schreien, aber könntest du bitte aufwachen…?“

„…Wie spät?“ Aizawas Stimme war nicht mehr als ein Krächzen, gedämpft durch das dicke Kissen unter seinem bärtigen Gesicht. Hizashi Yamada schluckte heftig. Er selbst kam morgens schnell auf die Beine, selbst vor seiner üblichen Zeit, aber Shota zu wecken, bevor der Wecker es tat, war keine ungefährliche Aufgabe. Ob er ihm die Uhrzeit nennen sollte? Nein, das Risiko konnte er nicht eingehen. „Früh“, wich er daher aus, „Aber in der 1-A scheint es Probleme zu geben… einer deiner Schüler steht unten und hat nach dir gefragt.“

Endlich hob Shota den Kopf aus dem Kissen, aber der Anblick seiner glühend roten Augen ließ die Freude darüber schnell vergehen. So viel Hass und Wut… ganz zu schweigen davon, dass der Einsatz seiner Macke Hizashi geradezu unterstellte, er sei unerhört laut. Dabei hatte er wirklich nur ganz leise gesprochen, beinahe geflüstert. „Wer…?“, krächzte Aizawa, und der Tonfall machte unmissverständlich klar, dass derjenige dem baldigen Tod entgegensah.

„Midoriya. Er sagte, es sei wichtig.“

Aizawa knurrte und stemmte sich hoch. Immerhin anziehen würde er sich nicht müssen, er trug noch immer die Kleidung vom Vortag… Hizashi fragte sich insgeheim, ob der Mann überhaupt einen Schlafanzug besaß, oder ob auch das für ihn unnötig erschien. Irgendwann würde Hizashi den ehemaligen Klassenkammeraden auch wieder auf die Notwendigkeit einer Dusche ansprechen müssen, aber dafür hatte er gerade heute eher nicht den Mut. Er trat lieber schnell beiseite und hielt folgsam den Mund, als der schwarzhaarige sich aufrichtete um, leise vor sich hin fluchend, aus dem Zimmer zu schlurfen. Hizashi wartete, bis er die Schritte seines Freundes nicht mehr hören konnte, und öffnete dann fürsorglich das Fenster, um zumindest zu lüften.
 

Auch Hounddog war nicht glücklich darüber, dass ein Erstklässler um fünf Uhr morgens an die Tür des Lehrerwohnhauses klopfte. Midoriya zitterte, und nicht nur wegen der Kälte, die durch den dünnen Stoff seines Schlafanzugs zog, weil der Lehrer ihn nicht über die Schwelle treten ließ. Midoriya war beinahe erleichtert, als endlich Aizawa in den Eingangsbereich schlurfte, aber der Anblick seines Klassenlehrers trieb ihm nur noch mehr den Schweiß aus den Poren. Er wusste, dass Aizawa schon die letzten Tage wenig Schlaf außerhalb des Unterrichts bekommen hatte, und man sah es dem Lehrer auch an: seine Haare waren zerwühlt, seine blutunterlaufenen Augen blickten trüb aus schattigen Höhlen, der stoppelige Bart hatte inzwischen die stolze Länge von fünf Tagen erreicht; die Schüler schlossen bereits Wetten ab, wann er sich wieder rasieren würde. Oder zumindest mal duschen. Midoriya schauderte unter dem hasserfüllten Blick seines Klassenlehrers und hielt die Hände schützend vor sich.

Aizawa runzelte die Stirn, als er in den Händen des Jungen eine durchsichtige Plastiktüte erkannte. Ein Beweismittel? Er griff danach, und Midoriya atmete beinahe erleichtert auf. Der Junge war mutiger geworden seit seiner Einschulung, aber seine Schweiß- und Tränendrüsen arbeiteten noch immer unter Hochdruck, wann immer sich die Gelegenheit bot. Aber gut… Tüte. Standard-Beweismitteltüte aus dem Polizeigebrauch, extrastabil und Säurefest, wie sie seit dem Aufkommen der Macken häufig in Gebrauch waren. Ein kleines Logo in der unteren Ecke wies die Tüte als ‚Made by Momo‘ aus. Nicht überraschend, also zum Inhalt. Ein Stück Wandfliese, dem Muster nach aus einem der Badezimmer, offenbar mit einer starken Säure aus der Wand gelöst. Aizawa konnte spuren schlanker Mädchenfinger daran erkennen, Minas Werk. An der Vorderseite der Fliese hing eine violette Haarkugel. Auch deren Ursprung war Aiazawa nur zu gut bekannt. Das eigentliche Corpus Delikti allerdings klebte in der Haarkugel: Eine winzige Kamera, kaum größer als Aizawas Daumen. Die Linse sah aus, als hätte jemand einen Audiostecker hineingerammt, und das mit Kraft.

„Wo wurde was gefunden?“, fragte Aizawa heiser.

„Im Badezimmer der Mädchen“, antwortete Midoriya wie aus der Pistole geschossen.

„Wer hat sie gefunden?“

„Äh… Mina hat sie rausgebracht“, diesmal klang es nicht ganz so sicher, „Aber gefunden haben sie wohl Jiro und Hagakure. Die anderen hatten alle Schlafanzüge an, aber die beiden waren nur im Handtuch…“ Er schluckte heftig. „Jiro hat geschrien, aber danach hat sie nur noch geweint, genau wie Hagakure.“

Aizawa sah den Jungen an, der mit großen Augen zurückblickte. Dann sah er wieder die Kamera an. Es war eines der Modelle, die die Bilder nicht speicherten, sondern direkt an ein Tablet oder ins Internet sendeten. Die Mädchen hatten das sicher auch erkannt. „Geh voraus“, wies er Midoriya an, „Ich komme.“

Das Ganze war wirklich zum aus der Haut fahren. Mobbing in den dritten Klassen, Sexuelle Belästigung in der Ersten… und das waren nur die Heldenklassen. Dieses Internatssystem machte nur Probleme, die er sicher nicht hätte, wenn die Kinder abends einfach heim gehen könnten. Einmal, nur ein einziges Mal wollte er nachts schlafen können! Und zwar durchgehend, nicht stundenweise! Das konnte doch nicht so schwer sein!

Immerhin wurde er im Gemeinschaftsraum der 1-A gleich mit einer vollen Tasse Kaffee begrüßt. Es war nicht einmal halb sechs, trotzdem war fast die ganze Klasse angezogen im Gemeinschaftsbereich versammelt. Fünfzehn… sechzehn… Hagakure war auch da… mit Midoriya waren es achtzehn Schüler.

„Minoru kommt nicht aus seinem Zimmer“, informierte Tenya, der Klassensprecher, dienstfertig, „Bakugo hat sich nochmal hingelegt um weiterzuschlafen. Der Rest von uns ist vollzählig hier.“

Aizawa seufzte und kippte den Kaffee auf Ex herunter. „Mehr“, befahl er, und drückte Tenya die Tasse in die Hand. Der machte sich sofort an dem luxuriösen Kaffeeautomaten zu schaffen, der fast die Hälfte der Küchenarbeitsfläche einnahm. ‚Made by Momo‘ sagte das Logo. Es gab eine Menge Knöpfe, Kaffee, Espresso, Cappuccino und vieles mehr in vier Stärkegraden: Mild, Normal, Stark und ‚Montagmorgen‘. Aizawa war vielleicht ein bisschen neidisch.

Die Kinder hatten zum Glück nicht gewagt, derweil Lärm zu machen. Jiro und Hagakure saßen in der Sofaecke. Sie schienen im Begriff, sich zu beruhigen, aber er konnte sehen, dass sie reichlich geweint hatten. Die anderen Mädchen saßen bei ihnen, spendeten Trost und Taschentücher und sprachen leise mit ein paar der mitfühlenderen Jungs, unter anderem Kirishima. Andere hatten sich der Situation soweit gefügt, dass sie ihr Frühstück vorgezogen hatten, und saßen nun an den Esstischen, teilweise noch mit aufgeschlagenen Büchern neben den Kaffeetassen. Shoto war einer von ihnen, aber auch Sato und Yuuga. Koda saß abseits und sprach beruhigend auf sein Kaninchen ein, Sero und Denki saßen an den Esstischen und blickten immer wieder zu den Mädchen herüber. Tenya stand weiter in der Küche bei Midoriya, sicher hatte er bis eben versucht, für Ordnung zu sorgen.

Zwei doppelte Montagmorgen Espressos später war Aizawa wach genug, in Aktion zu treten. „Midoriya“, befahl er, „Du holst Mineta. Setz deine Macke ein, wenn es nötig ist, aber bring ihn hierher.“ Gut, dass er schon vorher über Strafarbeiten nachgedacht hatte… Minoru Mineta würde heute nicht am Unterricht teilnehmen, dafür würde er wohl dieses Wohnhaus putzen. Bis auf das letzte Staubkorn… dazu ein paar klassische Strafarbeiten, und eine ganz besondere Aufgabe, für die er mit seiner Macke zufällig wie geschaffen schien. Er hatte Mineta viel durchgehen lassen bisher, hauptsächlich, weil es für die Mädchen eine gute Möglichkeit war, fürs spätere Leben zu lernen. Für weibliche Helden war es leider noch viel zu normal, von geretteten Opfern oder sogar männlichen Kollegen begrapscht und wie aus Versehen befummelt zu werden, da war es gut, wenn sie zeitnah lernten, damit umzugehen. Aber es gab auch Grenzen, und Aizawa würde sicher gehen, dass Mineta diese kennen lernte.

vs. Grape Juice

Aizawa gähnte ungeniert. Er hätte den frühen Schulschluss heute gerne für ein Nickerchen genutzt, aber die Arbeit eines Lehrers war mit dem Gong leider nicht beendet. Und so durfte er sich nun extra Zeit nehmen, Mirio in die leere Trainingshalle Gamma zu bestellen. Granitos hatte aufgeräumt, nun gab es her keine störenden Felsen mehr. Nur viel Platz, um Schüler zu ärgern.

„Tamaki hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass du gern wieder am Unterricht teilnehmen würdest.“ Das waren nicht exakt Tamakis Worte, aber Aizawa hielt sich nicht mit Wortklaubereien auf. Er hatte die Jungs kämpfen sehen, und wenn Mirio fit genug war, es mit dem Klassenbesten aufzunehmen… „Du müsstest dazu allerdings deine Klassenkammeraden wissen lassen, dass du deine Macke im Moment nicht benutzen kannst.“

„Das ist weniger das Problem“, meinte Mirio leichthin, „Die meisten wissen es eh schon. Ich mach mir mehr Sorgen, wie ich das Training ohne Macke schaffen soll.“

Aizawa grinste. „Fällt dir nichts ein, was du vielleicht üben solltest?“

„Ausweichen“, kam die prompte Antwort, „Das geht nicht automatisch genug dafür, dass ich mich nichtmehr durchlangbar machen kann. Tamaki hat mich ein paar Mal recht heftig getroffen, weil ich gepatzt habe…“

„Hab ich gesehen, ja. Deswegen werde ich dich auch erstmal prüfen, bevor ich deine Mitschüler auf dich loslasse.“ Aizawas Grinsen ließ nichts Gutes verheißen. Mirio wurde mit einem Mal unangenehm warm in seinem Trainingsanzug, und er wusste nicht ob ihm der Schweiß aus Angst oder vor Aufregung ausbrach, als sein Lehrer einen sehr kleinen Jungen durch die Tür der Trainingshalle kommen ließ. Der kleine Kerl trug ein auffällig violettes Heldenkostüm und blickte, als hätte man ihn direkt in die Hölle bestellt. „Minoru Mineta“, stellte Aizawa vor, „Einer meiner Schüler aus der 1-A. Er wirft seine Gegner mit Haarkugeln ab.“ Aizawas Grinsen wurde breiter. „Das Zeug ist schlimmer als Sekundenkleber, also solltest du dich besser nicht treffen lassen.“
 

Während die Jungs sich taxierten, Mirio mit seinem üblichen selbstbewussten Lächeln, Minoru mit schockweiten Augen, zog Aizawa eine Sprühdose aus der Tasche und malte Ein O auf den Boden. Dann ging er sorgfältig bemessenen Schrittes etwa fünfzig Meter in die Halle hinein und sprühte dort ein X auf. „Mineta, du stellst dich in den Kreis und wirfst von dort aus deine Kugeln. Mirio, du startest auf dem Kreuz, läufst auf Mineta zu und haust ihm eine rein. Wenn du es nicht schaffst, hab ich hier Terpentin und Eisspray, um dich wieder loszubekommen, ist aber unangenehm.“

Die Jungs begaben sich auf Position. Die Sache mit dem Terpentin klang nicht sehr ermutigend… der Erstklässler machte keinen sehr kräftigen Eindruck, aber das hieß nicht, dass er nicht gefährlich war.

„Übrigens“, fuhr Aizawa fort, während er aus der Schussbahn lief, „Mineta hat sich diese Extra-Stunde verdient, weil er eine Kamera im Mädchenbad angeklebt hat. Brauchst dich also nicht zurückhalten, er hat jeden Schlag verdient, den du landen kannst.“

Die Ansage hätte Aizawa sich echt sparen können, fand Minoru, der noch lebhaft in Erinnerung hatte, wie Mirio erst vor wenigen Monaten seine ganze Klasse aufgemischt hatte. Wenn er sich damals zurückgehalten hatte… Minoru tat jetzt noch der Bauch weh, wenn er daran dachte. Alles nur wegen der Kamera… wenn es nicht ausgerechnet Toru und Kyoka gewesen wären, die als erstes ins Bad kamen, und wenn Kyoka die Kamera nicht sofort gefunden hätte, dann hätte er jetzt wenigstens Bilder von Brüsten gehabt. Aber so war es einfach nur UNFAIR, dass Aizawa ihn gleich von einem Drittklässler verprügeln ließ! Selbst ohne seine Macke… Mirio war doppelt so groß wie Mineta und locker viermal so breit. Der schlug in doch zu Brei! Zitternd griff sich der kleine Heldenlehrling in die Haare. Er würde einfach so schnell es ging so viele Kugeln wie möglich verschießen und den Kampf beenden, bevor es gefährlich wurde.

Aizawa packte derweil seinen Schlafsack aus, suchte sich ein sicheres Plätzchen außerhalb der Schusslinie und machte sich bereit für ein wohlverdientes Nickerchen. „Ihr habt neunzig Minuten“, rief er den Jungs noch zu. Dann schloss er geräuschvoll den Reißverschluss. Das Klicken des Schiffchens gegen den Stopper hallte wie ein Startschuss in der fast leeren Trainingshalle, und Aizawa konnte förmlich spüren, wie seine ungleichen Schüler sich in Bewegung setzten.

Der Kampf war hart und schnell entschieden. Minorus großer Plan, Mirio schlicht mit einer Welle an Klebekugeln stillzulegen, war aus zwei Gründen zum Scheitern verdammt: Erstens konnte er die Angriffswelle nur für fünf Minuten aufrechterhalten, bis seine Kopfhaut zu bluten begann und die nachwachsenden Haarkugeln immer länger brauchten; nach zwanzig Minuten war es mit neuer Munition praktisch vorbei. Zweitens war Mirio zu schnell und zu klug, sich komplett festkleben zu lassen. Er konnte den Kugeln nicht sofort perfekt ausweichen und war schnell fixiert, hatte aber keine Hemmungen, einfach aus seiner Kleidung zu schlüpfen. So klebten seine Jacke und seine Schuhe zwar hoffnungslos fest, er selbst aber war frei und hatte aus seinen anfänglichen Fehlern genug gelernt, um dem schnell versiegenden Kugelhagel geschickt auszuweichen und dabei noch eine recht imposante Figur zu machen.

Während Mirio also immer besser und geschickter auswich ging Mineta schlicht die Kraft aus. Mirio überwand die fünfzig Meter immer schneller und sicherer, auch und gerade wenn er Minoru gerade erst wieder eine großzügige Pause erlaubt hatte, und der Erstklässler musste nicht nur die Faustschläge einstecken, sondern auch mit der Tatsache ins Reine kommen, dass dieser unanständig gutaussehende Kerl, dem die Frauen sicher ohnehin zuflogen, auch ohne Macke noch um ein tausendfaches stärker und cooler war als er, den ohnehin schon niemand ernst nahm. Was nur war so falsch daran, sich zumindest ein paar schöne Videos gönnen zu wollen? Sicher, die versteckte Kamera anzubringen war nicht gerade heldenhaft gewesen, aber konnte man es ihm wirklich übelnehmen? Er war eben nicht so cool oder gutaussehend war wie beispielsweise Shoto, deshalb musste er doch zu solchen Mitteln greifen, oder? Er hatte Mitleid verdient, stattdessen bezog er hier Prügel!

„Alles okay? Sag ruhig, wenn du genug hast“, ermutigte ihn Mirio, „Deine Haare scheinen gar nicht mehr nachzuwachsen…“

Minoru ließ sich weinend zu Boden sinken. Dieses arglose Mitleid… so jemand konnte gar nicht verstehen, wie schwer er es hatte. All das harte Training, um mit den anderen mithalten zu können, deren Macken so viel cooler waren als seine. All die Stunden, die er sich die Haare ausgerissen hatte, um seine Macke zu stärken, damit die Kugeln schneller nachwuchsen und seine Kopfhaut nicht gleich zu bluten begann… und dann war es nach zwanzig Minuten vorbei und der muskulöse Schönling stand immer noch. Es war erniedrigend.

„Soll ich dich lieber zu Recovery Girl bringen?“ Mirio fühlte sich doch etwas schlecht. Vielleicht hatte er den kleinen Kerl doch zu hart rangenommen? Er hatte ja von Anfang an nicht so mutig gewirkt, aber diese Klebe-Macke war schon ziemlich stark. Hätte ihn eine dieser Kugeln auf die bloße Haut getroffen hätte er sicher festgehangen oder zumindest ein ganzes Stück Haut gelassen, um freizukommen. Die Jacke konnte er jedenfalls vergessen, die ging wohl wirklich nur noch mit Terpentin ab. Andererseits konnte Aizawa den Kleber sicher auch mit seiner Macke löschen. Eigentlich könnte Mirio also ziemlich stolz auf seine Leistung sein. Insgesamt hatte er sicher so dreißig Treffer landen können. Allerdings war es gegen Ende vor allem deshalb leichter geworden, weil sein Gegner extrem nachgelassen hatte, und das gab dem Erfolg doch irgendwie eine bittere Note. Er hatte den Erstklässler ja nicht gleich komplett demoralisieren wollen… andererseits, wer hängte bitte eine Kamera ins Mädchenbad? Wie kam man überhaupt auf so eine Idee? Wenn er daran dachte, wie die armen Mädchen sich gefühlt haben mussten… Er selbst hatte, allein der Erfahrung wegen, kein Problem damit, wenn ihn jemand nackt sah, aber wenn er sich vorstellte, dass Tamaki so eine versteckte Kamera im Bad fand… sowas ging gar nicht. Wenn er daran dachte, wie sich die armen Mädchen gefühlt haben mochten, tat ihm der kleine Möchtegernheld plötzlich doch nicht mehr so leid. „Willst du aufhören oder brauchst du nur ne Pause? Wir können Herrn Aizawa gerne wecken, wenn du für heute genug hast“, schlug er vor, nicht unfreundlich, aber doch weniger einfühlsam als üblich. Minoru fing nur zu weinen an, aber das reichte ihm als Antwort.

„Herr Aizawa?“, rief er in Richtung des gelben Schlafsacks, „Ich glaub, wir sind hier fertig. Der Erstklässler ist durch.“

Er hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, aber tatsächlich regte sich der Schlafsack sofort. Erst hob er sich in der Mitte wie eine Raupe in Bewegung, dann öffnete sich der Reisverschluss und Herr Aizawa entstieg dem Kokon… naja, nicht gerade wie ein Schmetterling. Vielleicht eine Motte, aber eigentlich sah er immer noch aus wie ein ziemlich zerknitterter Lehrer mit Bartstoppeln und struppigen Haaren.

„Zwanzig Minuten“, stellte er mit einem Blick auf die Uhr fest, „Das ging schon mal besser, Grape Juice.“ Das lila Häufchen Elend wimmerte traurig. Aizawa seufzte und reichte ihm einen Krankenschein. „Ab zu Recovery Girl mit dir, aber denk nicht, du wärst vom Haken! Ich erwarte bis morgen einen dreiseitigen Report, wie du gegen Schurken kämpfen willst, wenn du gegen einen mackenlosen Teenager verlierst, und einen ernstgemeinten Entschuldigungsbrief an Hagakure und Jiro, den ich persönlich durchlesen werde, bevor du ihn abgibst. Danach sehen wir, ob du wieder am Unterricht teilnehmen darfst oder weiter Mülldienst schiebst. Haben wir uns verstanden?“ Minoru wimmerte nur und nahm zitternd seinen Krankenzettel entgegen, bevor er elendig von dannen kroch. Aizawa wandte sich Mirio zu und seine geröteten Augen verengten sich. „Mal wieder halbnackt, wie ich sehe. Was ist deine Ausrede?“

Mirio grinste verlegen. „Klebt da hinten“, erklärte er und wies auf seine Jacke, „Er hat am Anfang echt gut vorgelegt, ich hatte Glück, dass ich nur mit der Kleidung festhing. Ich weiß nicht, ob ich wirklich besser geworden bin mit der Zeit, die Angriffe sind ziemlich bald immer langsamer gekommen.“

Aizawa seufzte. „Minetas Ausdauer ist ein echtes Problem“, murrte er, „ich hatte gehofft, er wäre klug genug, das zu berücksichtigen.“

„Tja…“

„Trotzdem. Seine Macke ist nicht übel, und du hast dich gut behauptet. Dem Gegner Angst zu machen, dass er sich vorschnell verausgabt, und daraus einen Vorteil zu ziehen, ist auch eine gute Taktik in deiner Situation. Überleg dir, ob du dich vor der Klasse outen willst, was deine Macke angeht, aber wenn du damit kein Problem hast, komm morgen ins Training. Ich hab nen hübschen kleinen Anschlag auf deine Klasse vor und kann dich gut gebrauchen.“

Die schrecklichen Drei

Ein kalter Wind pfiff durch die verwinkelten Gänge des nachgebauten Hafengeländes. Riesige Container, Schiffe, Kräne und rostige Lagerhallen, dazwischen Kisten, Tonnen und verwinkelte Gassen. Es war einer von Mirios liebsten Trainingsplätzen gewesen, als er seine Macke noch hatte; in diesem unüberwindlichen Durcheinander hatte er einen unschlagbaren Vorteil darin gehabt, einfach durch alles hindurchgehen zu können. Diesen Vorteil hatte er nun nicht mehr, aber er kannte das Gelände immer noch besser als die meisten seiner Kameraden und konnte dieses Wissen sicher gut einsetzen. Im Moment genoss er einfach nur das Gefühl, wie der Wind den Umhang seines Heldenkostüms erfasste. Es war nicht das Original, sondern ein neues Kostüm aus normalem Stoff, aber es fühlte sich dennoch großartig an. Lemillion war wieder zurück.

Suneater neben ihm blickte der kommenden Übung weit weniger optimistisch entgegen. Er hatte die Kapuze seines Umhangs so tief ins Gesicht gezogen, dass sie mit dem Kragen abschloss, und gab sich Mühe, so unauffällig auszusehen wie es nur ging, wenn man neben seinem Lehrer vor der Klasse stand; schön erhöht und im Gegenlicht der aufgehenden Sonne, wie auf dem Präsentierteller. Lemillion rechts neben ihm strahlte mit der Sonne um die Wette und gewann auch noch, Nejire-chan zu seiner Linken sprang auf und ab wie ein kleines Kind auf dem Weg nach Disneyland. Andere mochten ihre Aufregung als ansteckend empfinden, aber Tamaki wäre lieber im Boden versunken. Er war sich einigermaßen bewusst, dass die Jungheldin eifrig am Plaudern war, konnte sich aber beim besten Willen nicht auf den Inhalt ihres aufgeregten Monologs konzentrieren. Endlich trat Aizawa hinter den dreien nach vorn und brachte die ganze Klasse zum Verstummen.

„Gut, die Plauderstunde ist vorbei. Ich sehe Grund, es zu bezweifeln, aber ich hoffe dennoch, ihr seid euch einigermaßen bewusst, dass dieses letzte Schuljahr sich dem Ende entgegen neigt.“ Die angespannte Stille wurde mit einem Schlag noch intensiver, als würde selbst der Wind nun vor Schreck die Luft anhalten. „Die heutige Übung könnt ihr bereits als Training für eure praktische Abschlussprüfung sehen. Ich erwarte, dass ihr euch entsprechend Mühe gebt.“

Er machte eine theatralische Pause. Die Stille war nun so intensiv, dass man beinahe die klopfenden Herzen der Schüler hören konnte. Keiner wagte zu atmen. Aizawa ließ den Blick über seine Abschlussklasse schweifen. Jeder einzelne dieser Schüler hatte sich im Lauf der letzten drei Jahre um Welten verbessert. Keiner hier war mehr der unnütze Möchtegern, als der er eingeschult wurde, und trotzdem… wirklich zufrieden war er mit keinem von ihnen, nicht mal mit den dreien, die neben ihm vorne standen. Auf die Big Three war er zurecht stolz, aber auch da war noch Luft nach oben.

„Diese drei hier“, er wies auf Lemillion, Suneater und Nejire-chan, „Sind dem Rest von euch um ein gutes Stück voraus. Sie werden heute Schurken spielen, die unabhängig voneinander hier im Hafen Unfrieden stiften. Was ihr dagegen tun wollt, überlasse ich euch; schließt euch zusammen, teilt Euch auf, für mich zählt nur das Ergebnis. Ihr habt nur die Informationen, die die drei euch gleich geben. Beratet euch, bis die drei auf Position sind oder noch länger, aber irgendwann will ich auch Taten sehen. Enttäuscht mich nicht!“

Mit diesen Worten sprang Aizawa von der Bühne aus Schrott und rollte in einem Wachhäuschen seinen Schlafsack aus. Die Monitore darin waren funktionstüchtig und zeigten vermutlich den ganzen Übungsplatz aus allen erdenklichen Winkeln; die Fernbedienung verschwand mit den Händen des Lehrers im Schlafsack, als dieser sich mit Blick auf die Bildschirme auf ein abgewetztes Sofa fallen ließ.
 

„Okay, dann fange ich mal an“, beschloss Mirio und trat einen Schritt vor, „Ich kann ja im Moment meine Macke nicht benutzen. Das macht mich vermutlich zum einfachsten Gegner, deswegen hab ich kurz bei den Supportern reingeschaut und mir ein paar“ er wirkte tatsächlich etwas verlegen bei dem Wort, „‘Babys‘ mitgeben lassen. Ich weiß nicht, wie gut dieses Zeug ist, kann gut sein, dass etwas oder alles davon spontan explodiert. Also dachte ich mir, ich bin ein mackenloser, verrückter Wissenschaftler, der hier sein geheimes Versteck hat und eifrig an gefährlichen Robotern schraubt. Wenn ihr mich nicht aufhaltet, kann es gut sein, dass ich mich selbst oder sogar den ganzen Hafen in die Luft jage, also gebt euch Mühe, mich rechtzeitig zu stellen und meine Geräte zu entschärfen. Ich werde es euch natürlich so schwer wie möglich machen.“ Mirio grinste, stieß Tamaki aufmunternd in die Seite und sprang davon, seinen Posten als Mr. Roboto zu beziehen. Er hoffte natürlich, dass die Geräte nicht wirklich hochgingen… aber diese Erstklässlerin war auf ihre Weise schon echt zum Fürchten gewesen.
 

Tamaki stand nun also ganz vorne und blickte zitternd auf seine übrigen Klassenkameraden herunter. Er schluckte heftig, wünschte sich ganz dringend heim und dass die anderen ihn nicht so direkt ansahen. Ein paar von ihnen waren tatsächlich so nett, auffällig zur Seite oder in die Luft zu schauen. „I…ich bin… ich…“

„Hey, Tamaki“, Nejires hilfreiches Flüstern lenkte ihn zusätzlich ab, „Hey, soll ich es ihnen sagen? Ich kann deine Vorstellung auch übernehmen, wenn du willst.“

Er würde ihr gerne sagen, dass sie es gerade nicht leichter machte, aber es war schwer genug, die lang geübte Selbstvorstellung herauszustottern: „Ich… bin König Chimera. I-ich halte mich nicht für einen Bösen, ich esse nur sehr viel, und ich hab mich hier in ein Versteck… Lager… bin hier in eine Lagerhalle eingebrochen und fresse mich durch die Waren. We-we-wenn mi- mich jemand stört, also… ich will nur meine Ruhe…“ Letzteres stimmte sogar.

„König Chimera ist wie ein wildes Tier“, half Nejire doch aus, „Er hat sich hier im Hafen verkrochen und will nur in Ruhe futtern, aber natürlich gehört ihm das Essen nicht und wenn man ihn aufscheucht, wird er wütend. Der Besitzer der Supermarktkette, der das Lager gehört, hat euch Helden um Hilfe gebeten, weil die Mitarbeiter alle die Hosen voll haben. War das so richtig?“ Tamaki nickte. Er wartete noch einen kurzen Moment ab, ob Rückfragen kamen, und ergriff dann eilig die Flucht ins Versteck des Chimerakönigs. Hoffentlich fand ihn da niemand… wenn es nach ihm ging, war er mit so einer Ansprache vor der Klasse für den Rest des Tages bedient.
 

„Zuletzt ich“, zog Nejire die Aufmerksamkeit der anderen wieder auf sich und weg von ihrem flüchtenden Freund, „Ich hab lang überlegt, wer ich sein will, und dachte mir, ich bin im Moment vielleicht gar keine direkte Bedrohung, sondern plane nur still die Weltherrschaft oder so. Ich mach so direkt und selbst nichts Schlimmes, dafür hab ich Handlanger, die mich ihre Böse Königin nennen. Ein paar von denen haben ausgepackt und jetzt wisst ihr, wo ihr mich findet. Ich kontrolliere den Handel mit Drogen und illegalen Supportitems wie denen von Mr. Roboto. Wenn ihr mich stoppen könnt wäre das also ziemlich gut für euch, ja? Wenn nicht… nun, dann plane ich weiter die Weltherrschaft und unterwerfe euch alle meinem bösen Plan.“ Im Gegensatz zu Mirio hatte Nejire tatsächlich eine fiese Lache eingeübt. Es klang überzeugend genug, dass einigen der anderen Schüler der Schweiß ausbrach. „Okay, ihr findet mich in dem hohen Turm da, ja? Man sieht sich!“

Nejire schwang sich mit ihrer Twisterwelle in die Luft und flog in Richtung des Leuchtturmes davon, wo sie sich dramatisch in Szene setzen würde. Das große Licht hinter der Lehne ihres Thrones, der eigentlich ein alter Klappstuhl war. Sie war gespannt, was die anderen sich würden einfallen lassen, und wollte die Böse Königin bis zuletzt so überzeugend spielen, wie sie konnte.
 

Aizawa grinste derweil in seinen Schlafsack. Die drei hatten sich wirklich passende Rollen überlegt, und nun waren die siebzehn anderen eifrig dabei zu diskutieren, wie sie die drei Bedrohungen ausschalten sollten. Aufteilen, um alle gleichzeitig zu bekämpfen? Lieber geschlossen als Team vorgehen und die Schurken nacheinander angreifen? Letzteres mochte gefährlich sein, denn Nejire hatte angedeutet, dass Mr. Roboto und die Böse Königin zusammenarbeiteten, sie konnte ihm also zu Hilfe kommen, wenn sie ihn zuerst hochnahmen, was wegen der Explosionsgefahr dringend nötig erschien. Gleichzeitig fraß sich der Chimerakönig durch die Waren der Supermarktkette; auch dem sollte man möglichst schnell Einhalt gebieten. Trotzdem schienen die Schüler abgeneigt, sich aufzuteilen, denn der Abstand zu den drei Klassenbesten war in ihren Augen noch größer als Aizawa ihn einschätzte. Wenn sie es klug anstellten und Teams mit passenden Macken bildeten, sollten vier oder fünf von ihnen durchaus mit einem der Big Three klarkommen können. Mirio war dazu ein Zivilist, der sich nur ungenügend auf seine technischen Hilfsmittel stützen konnte; er war stark durch seine Vorsehung, was durch die explosiv unzuverlässigen Supportitems eher boykottiert wurde… trotzdem schätzten die anderen ihn als Gefahr ein. Nicht unklug, er hätte sie rügen müssen, hätten sie einen Gegner unterschätzt, nur weil er mackenlos war. Auch vor Tamaki hatten sie zurecht Respekt, der leider fast an Angst grenzte. Der Junge hatte sich große Essensvorräte zugelegt, teils selbst eingekauft, teils von Lunsh Rush aus der Cafeteria, was seine Macke heute ausgesprochen stark und vielseitig machen dürfte. Nejire schließlich hatte auf dem Leuchtturm einen erhöhten Standpunkt. Gegen fliegende Feinde konnte sie ihre Wellen und Winde nutzen, alle anderen mussten die Treppen hoch und erreichten die Böse Königin entsprechend erschöpft und durch ein Nadelöhr. Zudem hatte sie auch Zugriff auf das Überwachungssystem und konnte die Jungs, ihre Handlanger, beobachten und im Notfall unterstützen, sollten die Helden sich nicht aufteilen.

Aizawa war gespannt zu sehen, wie diese Mission ausging.

vs. King Chimera

Tamaki fühlte sich schrecklich. Nein, das war untertrieben; ihm war nicht weniger als hundeelend. Und das lag nicht an der Übung. Tamaki hatte kein Problem damit, einen Schurken zu spielen, und er war sich auch sicher, dass er es notfalls auch mit mehreren seiner Klassenkammeraden auf einmal aufnehmen konnte. Gut, siebzehn gegen einen war schon pervers unfair, aber er hatte hier genug Essen gebunkert, um es notfalls mit einer Armee aufzunehmen. Immerhin hatte er gestern eine Ausgangsgenehmigung bekommen und diese zum Stressshoppen genutzt. Sein Vorrat an Lebensmitteln war breit aufgestellt, mit den eher gewöhnlichen Speisen von Lunsh Rush zusammen auch groß genug, einen beträchtlichen Teil des Lagerraumes zu füllen. Sogar die Kühlkammer hinter seinem Versteck war gut bestückt. Er konnte seine Macke voll ausreizen und fühlte sich stark, das war also nicht das Problem.

Nein, das Problem war, wie immer, seine psychische Verfassung. Es war eine Sache, gegen Schurken zu kämpfen; wenn es irgendwelche dummen Drogendealer oder Halunken waren, war Tamaki recht egal, was die von ihm dachten. Fatgum sagte immer, man solle den Kampfgeist der Schurken brechen… das ging schnell, wenn man wie ein groteskes Monster aussah. Von seinen Klassenkameraden wollte er aber nicht unbedingt als solches gesehen werden… natürlich war es kaum zu vermeiden. Nach drei Jahren gemeinsamem Training kannten sie ihn und seine Macke natürlich und hatten sich daran gewöhnt, dass ihm Klauen, Hufe und Tentakel wuchsen, es hatte in all der Zeit auch nie jemand darüber gelacht oder ihn gehänselt. Nicht offen, jedenfalls. Aber die Angst davor begleitete ihn schon seit seiner frühesten Kindheit und war auch durch den Umzug und Schulwechsel nicht einfach verschwunden. Es hatte ihn nur niemand mehr aktiv ausgelacht, all die Jahre nicht.

Bis vor kurzem… Herr Aizawa hatte recht, es war wieder losgegangen. Schon kurz nach der Mission um Eris Befreiung, wenn er so darüber nachdachte… als Hidoku Wind davon bekommen hatte, wie Tamaki diese drei Handlanger besiegen konnte. Dass er einen Teil seines Gegners geschluckt hatte, um dessen Kristalle gegen ihn verwenden zu können. Tamaki hatte in dem Moment nicht darüber nachgedacht, aber diese Kristalle waren Teil eines Menschen gewesen. Menschliche DNS. Hidoku hatte sofort das Wort Kanibalismus ins Gespräch gebracht. Seitdem ließ er keine Gelegenheit aus, Tamaki als Schurken hinzustellen. Als jemanden, der andere Menschen fressen würde, um deren Fähigkeiten zu stehlen. Jemand, der die Freundschaft seiner Gegner gegen sie verwenden und miese Tricks nutzen würde. Hidoku war sicher, dass Tamaki mehr wie ein Schurke als wie ein Held dachte, und niemand widersprach ihm.

Um sich Abzulenken riss Tamaki einen weiteren Fetzen Fleisch von der Schweinekeule in seiner Hand. Essen half, sich von den finsteren Gedanken abzulenken. Es war zu viel, Lunsh Rush machte sich Sorgen, das Wort ‚Essstörung‘ stand im Raum und als ob das alles nicht schlimm genug wäre hatte er noch ein paar Mädchen sagen hören, er würde bald selbst wie Fatgum aussehen, wenn er so weitermachte. Unsinn, natürlich, denn die Energie, um Sachen mit seiner Macke zu reproduzieren, kam ja nicht von ungefähr; er verbrannte damit eine Menge Kalorien, die er sich erstmal wieder anfuttern musste. Und so sehr der BMI-Held Tamaki mit seiner guten Laune schikanierte, er mochte Fatgum. Der Profiheld war einer von denen, die sich immer für Schwächere einsetzten, und nach all der Zeit, die er in seinem Büro arbeiten durfte… Fatgum gefiel ihm am besten, wenn er rund und glücklich war. Es lag in der Natur seiner Macke, dass jedes Gramm Fett ihn stärker machte, und je breiter er war, desto besser konnte man sich hinter ihm verstecken. Dennoch tat es weh, dick und unattraktiv genannt zu werden. Es war nicht nett, schon gar nicht mit dem Zusatz, dass Nejire sich doch lieber einen anderen Freund suchen sollte. Dabei waren sie gar nicht zusammen… entsprechend verwirrt hatte Nejire dann auch reagiert.

Frustriert kaute Tamaki auf seinem Schweineknochen herum und versuchte, etwas positiver zu denken. Wenn er nun im Praktikum war war meistens auch Kirishima dabei. Der Erstklässler wurde nicht müde, Tamaki so mit ehrlicher Bewunderung zu überschütten, dass einem schwindlig werden konnte davon. Der Junge machte ihm Mut und sah zu ihm auf, verteidigte ihn sogar lautstark gegen die Beleidigungen der Schurken. Kirishima war auch einer dieser strahlend fröhlichen Menschen… vielleicht sollte er ihm eine Nachricht schicken, um sich etwas abzulenken, bis die Helden kamen.

Ein Blick auf die Uhr half nicht gerade, dass Tamaki sich besser fühlte… er saß schon seit gut einer halben Stunde in diesem Versteck, so lange würden die Besprechungen kaum dauern, oder? Klar, vielleicht nahmen sie sich Mirio und Nejire zuerst vor, weil diese als Schurken mehr Unheil stifteten? Er hatte die Maschinen gesehen, die Mirio von dieser unheimlichen Supporter-Kandidatin aufgedrängt bekommen hatte, und die sollten schon zügig entschärft werden… Nejire hatte als Unterweltkönigin sicher auch eine höhere Priorität als ein menschenscheues Monster, dass lediglich Vorräte auffraß und nur auf Provokation hin angriff. Sie war außerdem bestimmt stark genug, um einen großen Teil der Gegner zu binden… vermutlich lag es daran. Immerhin waren auch seine Klassenkammeraden auf dem besten Weg, Helden zu werden, sie würden kaum vor Angst kneifen, oder?
 

Endlich waren in der Nähe Schritte zu hören. Tamaki warf den abgenagten Knochen zielgenau in eine der Mülltonnen und konzentrierte sich auf seine Macke. Vollgefressen wie er war – und ein wenig schämte er sich dafür – hatte er so einiges, worauf er zugreifen konnte. Und als Bösewicht ging es weniger um Effizienz als darum, die Helden einzuschüchtern und einen Kampf direkt zu vermeiden… er musste nicht gut aussehen, das war ein Vorteil. Je grotesker und massiger, desto besser. Kuhhörner waren gut, schön lang und spitz, auch wenn er dafür die Kapuze abnehmen musste. Eberzähne, Rinderfüße… oder nur einen Huf und dafür ein Hühnerbein, das sah durch den Mangel an Symmetrie noch erschreckender aus. Tintenfischgreifarme an den Fingern, weil er damit gut umgehen konnte und sich wohl fühlte, links eine Krabbenschere. Vielleicht noch Hühnerflügel, um den Umriss zu vergrößern. Etwas unstet vor Übelkeit stemmte er sich auf die ungleichen Beine und wandte sich der der Tür zu, die in den Gang führte. Um besser hören zu können manifestierte er Hasenohren über seinen eigenen. Es sah albern aus und die Mädchen würden ihn sicher hassen dafür, dass er Hasenbraten aß, aber die langen Ohrmuscheln waren schön groß und fingen die Geräusche gut ein, die leise durch die verwinkelten Gänge hallten. Schritte von drei Personen und nervöses Geflüster… und das weniger verhaltene Zischen von Hidoku, der seine Mitstreiter mit Horrorgeschichten ängstigte.

Tamaki wimmerte. Hätte er mal auf die Ohren verzichtet… aber es war nur eine Geschichte, er war der Böse in dieser Übung. Sicher ging es nur darum. Sicher wussten alle, dass er nicht wirklich ein Monster war… trotzdem vermied Tamaki es, in den rostigen Spiegel zu sehen, als er auf die Tür zu schlurfte. Es war besser, wenn er gar nicht wusste, wie er gerade aussah… er würde den anderen entgegenkommen, schön im Schatten der Container, die das Lagerhaus umstellten, einmal ‚Buh‘ rufen und dann direkt angreifen. Wie ein wildes Tier, das seine Höhle verteidigte. Wegen der Eberzähne konnte er den Mund nicht richtig schließen und hatte Schwierigkeiten, nicht zu sabbern wie ein tollwütiger Hund… er wollte den Kampf beenden, bevor es peinlich wurde.

Wenn er richtig hörte, hatte er es mit nicht mehr als drei Gegnern zu tun, vermutlich Hidoku und seine zwei besten Freunde. Keine große Herausforderung, wenn er die Panik halbwegs in den Griff bekam. Den Schritten nach kamen sie näher, er konnte nun auch deutlich hören, wie bildreich Hidoku den anderen beschrieb, dass Tamaki keine Hemmungen hatte, anderen Menschen ganze Körperteile auszureißen, um seinen Hunger zu stillen… Tamaki schluckte gegen die aufkommende Übelkeit und drückte sich flach an die Wand. Jetzt ganz leise… der fensterlose Gang lag beinahe ganz im Dunkeln. Staub glitzerte im wenigen Licht, das durch die Lüftungsgitter auf den Boden fiel, die letzte schwache Neonröhre flackerte und erlosch. Tamaki löste sich von der Wand. Zwei Schritte in die Mitte des Ganges, so leise, wie es ihm auf Huf und Klauen möglich war. Breitbeinig stellte er sich auf, gebeugt, die Hühnerflügel unter dem Mantel erhoben, um seine Silhouette so groß wie möglich zu machen. Die Neonröhre summte und flackerte noch einmal auf, gerade in dem Moment, als Tamaki den Kopf hob, um seine Gegner ins Auge zu fassen. Seine Stimme versagte ihm, dafür schrien Hidoku und seine Begleiter nur umso lauter. Es sah wenig heldenhaft aus, wie sie, panisch übereinander stolpernd, den ungeordneten Rückzug antraten. Zurück blieb ein leichter Geruch nach Ammoniak und Schweiß, der Tamakis Übelkeit nicht gerade besserte. Der Junge schauderte und ließ die Manifestationen verschwinden, bevor er sich in seine Ecke zurückschlich. Dem Spiegel warf er im Vorbeigehen einen strengen Blick zu, sah aber nichts als das übliche Elend. Hatte er wirklich so erschreckend ausgesehen? Besser nicht darüber nachdenken. Vielleicht war noch was von dem Himbeereis da. Himbeeren waren immer gut, schöne dornige Ranken… und süß waren sie auch. Vielleicht half das ja ein wenig gegen die aufschießenden Tränen.

King and Queen of Evil

Die Stunden tickten vorbei und Tamaki war am Verzweifeln. Immer wieder hatten es kleinere Gruppen an Helden geschafft, in die Tiefen der Lagerhalle einzudringen, und immer wieder waren sie beinahe kampflos geflohen. Es war bei weitem nicht so, dass er sich nach deren Gesellschaft sehnte; im Gegenteil, je weiter Tamaki in seinen dunklen Gedanken versumpfte, desto dringender wollte er seine Ruhe haben, desto mehr erschienen ihm die eigentlich bekannten Klassenkameraden als feindselige Eindringlinge, die er sich dringend vom Hals halten musste. Er konnte sie flüstern hören, wusste, wie sie über ihn dachten, wie sehr sie ihn fürchteten, und je schlimmer die Vorhaltungen wurden desto mehr entsprach er ihnen. Er war hungrig, obwohl er sich völlig überfressen hatte, und so brachte er immer mehr, immer stärkere Manifestationen hervor, um die Energie zu nutzen. Dazu kamen die Panikattacken, das dringende Bedürfnis, um sein Leben zu kämpfen, die Sicherheit seines Verstecks mit Klauen und Hörnern zu verteidigen. Das Lager, die Gänge, alles verschwamm im flackernden Neonlicht der sterbenden Lampen, was sicher auch an den Ziegenaugen lag, die er über seinen eigenen reproduziert hatte. Die waagrechten Pupillen erweiterten sein Blickfeld und machten es leichter, Bewegungen in den Schatten zu erspähen, dafür war das Bild verschwommen und farblich verzerrt. Es war irreal, psychedelisch. Tamaki war sich nicht mehr sicher, ob er noch ganz bei Verstand war. Das Ticken der alten Wanduhr war unnatürlich laut und er musste sich an die Löffel fassen um zu begreifen, dass es noch die Hasenohren waren. Hatte er seine Macke überhaupt noch unter Kontrolle? Er war nun seit knapp zwei Stunden allein hier drin. Was machten die anderen? Er wollte kämpfen, seiner Panik Luft machen, aber keiner der Gegner, die ihn hier aufsuchten, machte mit. Wenn sie nicht gleich bei seinem Anblick die Flucht ergriffen rannten sich spätestens vor dem ersten Angriff davon.

Tamaki sprang wieder auf. Er hatte Schritte im Gang gehört, er musste hinaus und den Gegner von seinem Versteck fernhalten. Bewegung… er musste sich bewegen. Es half ein wenig gegen die Übelkeit, inzwischen machte es ihm auch nichts mehr aus, dass seine Beine zwei verschiedene Bewegungsabläufe brauchten, er konnte fast normal laufen, obwohl die Gelenke des Hühner- und des Rinderbeines an ganz unterschiedlichen Stellen saßen. Der Schwindel und die Übelkeit ließen etwas nach, sicher, weil wirklich beides der Angst geschuldet war. Jetzt, wo er selbst aktiv wurde, wurde es etwas besser… er konnte sich konzentrieren, seinem Instinkt erlauben, in all der Panik nach der echten Gefahr zu suchen. Leise Schritte von weichen Sohlen, nur ein einziger Gegner dieses Mal. Seltsam, wo sich die Eindringlinge zuletzt in immer größeren Gruppen zusammengeschlossen hatten, um ihm entgegenzutreten. Dass jetzt einer allein herein kam… sicher ein Späher, der nach einer Schwachstelle suchte. Die Schritte kamen zügig näher, hörbar, aber so leise, dass derjenige sicher auch ihn hören würde. Jemand mit einer Spionagemacke? Tamaki versuchte sich zu erinnern, was seine Klassenkameraden für Macken hatten, aber sein Gehirn machte dicht. Sein Herz schlug so laut, dass er an nichts anderes denken konnte. Scheiß Panikattacke… in seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Instinktiv kauerte Tamaki sich zusammen. Er war wie ein Tier, das verletzt und in die Ecke gedrängt war, nur klüger und stärker. Gebückt wandte er sich in Richtung der Schritte, so nah am Boden, dass die zu Krabbenbeinen geformten Finger seiner linken Hand über das Linoleum strichen. Speichel tropfte von seinem Kinn auf den billigen Bodenbelag, aber Tamaki störte sich nicht daran. Es war egal, wie er aussah, die anderen hassten ihn ohnehin. Es ging nur noch darum, zu überleben. Er würde den Eindringlich verscheuchen, und wenn der kämpfen wollte anstatt zu fliehen, umso besser. Da war so viel Kraft, so viel Wut und Schmerz… er wollte kämpfen, wollte seinen Gefühlen Luft machen, und mehr noch… nicht töten, das war es nicht. Er wollte etwas von seinem Gegner, er wusste nur das Wort nicht mehr.

Der Eindringling war nun so nah, dass Tamaki ihn riechen konnte. Aber es war nicht die übliche Mischung aus Schweiß und Angst, sondern etwas süßes, wie Blumen. Ein Parfüm? Es kam ihm vertraut vor, aber er kam nicht mehr darauf, woher. Gerade als er den Gang erreichte, in dem er den Angreifer vermutete, flackerte über ihm eine der halbtoten Neonröhren auf. Tamaki brüllte, halbblind, und konnte nur noch sehen wie der Schatten einer Person erschrocken kreischend die Flucht ergriff. Frustriert spuckte er auf den Boden. Die Lampe flackerte wieder, erlosch kurz, bemühte sich dann aber doch, den Gang zumindest mit halber Kraft zu erleuchten. Tamaki wollte sich schon abwenden um wieder in sein Versteck zu schlurfen, als plötzlich jemand lautstark zu kichern begann. Verwirrt blickte er in den schmalen Gang, in den der Schatten des Eindringlings geflüchtet war, und tatsächlich: Hinter den umgestürzten Obstkisten saß jemand und kicherte vergnügt. Es war… völlig fehl am Platz und so seltsam, dass er einfach nachsehen musste.

Weil die Ziegenaugen nicht mit dem Wechsel der Helligkeit klar kamen ließ er sie wieder verschwinden, um besser zu sehen, und stellte stattdessen die Ohren auf. Das Kichern verstummte. Tamaki hielt still, hob nur leise die Hand mit den Krabbenbeinen. Vorsichtig… sowie der Angreifer wieder hervorkam… die Gestalt lugte über den Rand der Kisten hervor und Tamaki machte im selben Moment einen Schritt nach vorne, ein Geräusch auf den Lippen, dass halb Knurren, halb Bellen war und eigentlich eine artikulierte Frage hätte werden sollen, würde sein Gehirn sich nur lange genug von der Panik lösen. Der Ausbruch erntete erneut einen spitzen Schrei, und diesmal erkannte er Nejire, die eilig hinter dem nächsten Regal verschwand und sich dort versteckte. Tamaki zitterte am ganzen Leib, als ihm die Situation bewusst wurde. Nejire… Nejire war seine Freundin, und nun hatte selbst sie Angst vor ihm. Kein Wunder, wirklich, er sah ja auch zum Fürchten aus. Ein Monster, das nur eine Mutter lieben konnte… und das war nur eine der Beschreibungen, die er heute aus dem Flüstern seiner Gegner herausgehört hatte. Die Wut wich einer ohnmächtigen Trauer, und Tamaki ließ die reproduzierten Körperteile verschwinden. Er sollte sich zurückziehen… vielleicht etwas schlafen. Er wusste nicht mal mehr genau, wofür er überhaupt hier war. Das alles hier fühlte sich so falsch, so irreal an, dass er-

„Hey, mach das nochmal!“

Die fröhliche Stimme riss ihn aus den Gedanken. Nejire stand plötzlich direkt vor ihm, ihre großen Augen viel zu nah an seinem Gesicht, und lächelte ihn breit an. „Was ist? Komm schon, Tamaki, das war lustig!“

Tamaki stand nur da und blinzelte verwirrt. „W…was?“

„Erschreck mich nochmal! Das hat Spaß gemacht. Oder willst du nicht mehr? Bist du müde? Ist es anstrengend, so viele Tiere auf einmal zu machen? Das sah voll cool aus! Ich mochte die Hörner, was waren das für welche? Gibt es ein Tier, das vier Hörner hat? Oder war das von zwei Tieren? Darf ich raten? Kuh und Ziege, richtig? Und die Augen, war das auch Ziege? Kann man Ziegen essen? Die sehen aus als wären sie total zäh und so. Und die Ohren waren süß! Sind Hasenohren immer weiß mit Punkten oder kommt das auf den Hasen an, den du gegessen hast? Schmeckt Hasenbraten wirklich wie Hühnchen oder…“

„N.. nejire…“ Tamaki wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Selbst, wenn Nejire ihm mal die Zeit lassen würde, das waren so viele Fragen…

„Ich versteh nicht, warum die anderen sich so anstellen“, meinte Nejire schließlich, „ich meine, die schicken extra mich rein, weil du angeblich richtig echt böse geworden bist und hier nicht mehr raus willst, aber das ist doch lächerlich. Ich meine, ja, es ist lustig, sich ein bisschen erschrecken zu lassen, aber das hier ist Training, oder? Bei der Abschlussprüfung rennen die ja hoffentlich auch nicht gleich weg, nur weil der Schurke ‚Buh‘ macht, wie peinlich wäre das denn?“

„Du bist eben auch weggerannt“, warf Tamaki ein.

„Ich bin aber immer noch hier, oder?“, entgegnete Nejire sofort, „Beim ersten Mal hast du mich auch richtig erschreckt, ich hab dich gar nicht gesehen und dann warst du auf einmal direkt vor mir.“

„Ich wollte dich nicht erschrecken…“

„Ach, warum nicht? Ich fand’s lustig.“

Tamaki wandte nur den Blick ab. „Ich… seh furchtbar aus, oder?“

Nejire legte den Kopf schief und sah ihren Freund genauer an. Sie hätte beinahe ‚ja‘ gesagt, sich aber gerade noch gefangen, weil er es nur falsch verstehen würde. Gerade jetzt, wo er seine Macke nicht aktiviert hatte, sah man deutlich wie blass und krank Tamaki wirkte. Dazu die tiefen Ringe unter seinen geröteten Augen… „Hast du geweint?“ Der Junge zuckte ertappt zusammen. Es war furchtbar, ihn so zu sehen. „Sag mal…“, versuchte sie es, nun sanfter, „Dass die anderen weggelaufen sind… glaubst du, die wollten dich damit ärgern? Hidoku hat wieder seine blöden Lügen erzählt, aber…“

„Aber er hat doch recht!“, warf Tamaki ein, und Nejire konnte nicht sicher sagen ob es Wut oder Verzweiflung war, was sie in seiner Stimme hörte, „Sieh mich doch an! Ich bin ein Monster! Und es stimmt, dass ich die Macken von anderen Leuten reproduzieren kann, wenn ich einen Teil ihrer DNS esse! Ich hab es schon getan! Ich hab die Kristalle von diesem Yakuzi gegessen um sie gegen ihn anwenden zu können!“

„Oh, wie schmecken denn so Kristalle? Wie Fleisch, oder…?“ Es war eine Ablenkung, und sie brachte Tamaki tatsächlich aus dem Takt.

„Nein, eher… sandig. Wie Stein. Hab nicht so drauf geachtet, weil die Typen gerade dabei waren, mich umzubringen.“

Nejire kicherte, der sarkastische Tonfall gefiel ihr doch etwas besser, als wenn Tamaki sich verheult anhörte. „Kannst du jede Macke so kopieren? Meine auch?“

Diesmal wartete sie tatsächlich, damit Tamaki Zeit zum Antworten hatte. Die brauchte er auch, um sie erstmal genervt anzusehen. Gerade so als wäre die Frage so dämlich, dass ihm keine Antwort einfiel… „Du… hast schon zugehört, oder? Du kennst meine Macke? Ich muss Dinge ESSEN, um sie reproduzieren zu können.“

„Schon, aber nicht so viel, oder? Es recht, wenn ein bisschen DNS in deinem Magen ist, wie bei der Hühnersuppe.“

„Und…?“

„Und was? Wenn die Polizisten im Fernsehen DNS wollen, fahren sie einem mit einem Wattestäbchen durch den Mund, ja? Im Speichel selbst ist zwar keine, aber wenn man innen die Wange entlangstreicht bekommt man ziemlich sicher genug DNS für einen Gentest. Also müsste ein Kuss ausreichen, nicht wahr?“

Tamaki war sprachlos. Dieses Mädchen war echt zu viel… er wusste nicht, ob sie es ernst meinte oder einfach nur absolut nicht nachdachte, aber allein der Vorschlag war doch zum Schreien. Und dann dieses Funkeln in ihren Augen…

„O…kay…“, begann er, ohne wirklich zu wissen, was er sagen wollte.

„Ja? Was ist, willst du es ausprobieren?“

Tamaki seufzte tief, so würde Nejire es nicht verstehen. Er aktivierte seine Macke wieder, bemühte sich, wieder so auszusehen, wie er es vorhin getan hatte. Ein Rinderhuf, ein Hühnerbein, Tentakel, Krabbenbeine, Hauer und Hörner… die Hasenohren bekam er nicht mehr hin, aber Schaf vom Lammbraten ging auch. Kleine Federflügel und die unheimlichen gelben Ziegenaugen… selbst im Licht musste er so abstoßend genug aussehen, damit sie verstand, wie die anderen ihn sahen. Aber diesmal rannte Nejire nicht weg, im Gegenteil, sie lehnte sich sogar noch näher heran.

„Die Augen sind echt abgedreht“, fand sie, nun so knapp vor seinem Gesicht, dass er ihren Atem spüren konnte, „Und die Oni-Zähne erst! Das solltest du öfter machen. Kannst du auch einen Schwanz? Ein Drachenschwanz wäre cool, von einer Eidechse oder so? Geht das?“

Tamaki antwortete nicht, ließ sich aber einen Kuhschwanz wachsen. Nejire quiekte begeistert und schnappte nach dem buschigen Ende. Er zog den Schwanz eilig weg, aber das führte nur dazu, dass sie versuchte, ihn zu fangen. Dass sie auch nichts ernst nehmen konnte! Ihr Verhalten war einfach unmöglich!

„Das ist soooo cool, Tamaki! Du siehst wirklich wie ein Chimerakönig aus!“ Sie kicherte wieder und schmiegte sich an seine Brust, was ihn ausreichend ablenkte, dass sie den buschigen Kuhschwanz zu fassen bekam. „Hihi, das fühlt sich lustig an! Die Haare sind ja richtig dick und stark, nicht weich. Meinst du, eine echte Kuh würde sich auch so anfassen lassen?“

„Ich glaube, eine echte Kuh würde dich treten“, meinte Tamaki. Er stand wortwörtlich mit dem Rücken zur Wand und hatte keine Chance mehr, irgendwie auszuweichen.

„Sag, Tamaki, willst du es nicht versuchen? Das mit dem Küssen, meine ich? Wäre doch voll lustig, wenn du meine Twister-Welle einsetzen könntest, nicht wahr?“

„Sollten… wir nicht irgendwas anderes machen?“, wimmerte Tamaki ausweichend. Die Eberzähne sperrten unangenehm in seinem Mund, er fing schon wieder an zu sabbern deswegen, und durch die Ziegenaugen war seine optische Wahrnehmung total verzerrt… er musste völlig albern aussehen, und Nejire sprach immer noch davon, ihn zu küssen! „Hatten wir nicht irgendwie Unterricht oder so?“

„Achso, ja. Stimmt, die Übung ist noch gar nicht vorbei, weil dich ja noch keiner besiegt hat. Du bist eben einfach zu stark, Tamaki!“

„Bin ich gar nicht!“ Nun reichte es Tamaki wirklich. „Es hat nur keiner versucht, das ist alles! Ich sitze hier seit Stunden, und jeder, der hier reinkommt, lauft weg, sobald er mich sieht! Ich bin ein Monster, ein menschenfressendes Ungeheuer!“ Jetzt, wo er es endlich aussprach, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Traurigkeit, die er schon den ganzen Vormittag hinter Wut, Schmerz und Panik versteckte und mit immer mehr Essen zu ersticken versuchte, brach sich endlich eine Bahn. Hilflos griffen seine Krallen in die Betonwand hinter ihm. Er wollte Nejire nicht angreifen. Er wollte nicht kämpfen, niemanden verletzen. Er wollte einfach nur mit jemandem reden, der ihm sagte, es sei in Ordnung. Dass er kein Monster war, sondern ein Mensch. Ein Freund. Nejire sah ihn einen Moment schweigend an, dann schmiegte sie sich wieder an in und umarmte ihn, so fest sie konnte.

„Das bist du nicht“, sagte sie leise, „Du bist kein Monster. Schau doch, ich bin hier, ja? Und ich hab keine Angst, ich hab dich lieb.“ Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte oder was sie sonst tun konnte. Tamaki litt fürchterlich, und nicht erst seit heute. All diese fiesen Dinge, die Hidoku erzählte… Gerüchte, die er seit Wochen gesät hatte, die ihre ganze Klasse vergiftet hatten. Sicher nicht so sehr, dass sie ihm wirklich glaubten, aber die Zweifel, die Unsicherheit waren groß genug, um mit ein paar einfachen Tricks zu erreichen, dass zumindest Tamaki glaubte, von allen gehasst und gefürchtet zu werden. „Ich glaube, ich weiß, was passiert ist“, meinte sie schließlich, als der Junge sich wieder halbwegs gefangen hatte, „Warum alle weglaufen. Es ist mies, aber… nicht so schlimm, wie du denkst.“

„Ach ja?“

„Ja. Du bist der Stärkste in der Klasse, und das mit einigem Abstand. Fatgum hat dir beigebracht, den Kampfeswillen deiner Gegner zu brechen ja? Und das machst du inzwischen schon instinktiv. Außerdem hast du gut gegessen, das macht dich noch viel stärker, und diese Kraft sieht man dir an.“ Sie zog bekräftigend an einem der süßen Schäfchenohren. „So viele Sachen von so vielen Tieren! Und schau mal, die Kratzer in der Wand da, das warst du auch gerade.“ Tamaki zog ertappt die Krallen aus dem Beton. „Die anderen haben keine Chance und das wissen sie auch. Da braucht es in jeder Gruppe nur einen, der absichtlich Panik schürt und bei erster Gelegenheit wegrennt, dann laufen die anderen automatisch hinterher, weil sie allein keine Chance haben und den Rückhalt der Gruppe nicht verlieren wollten, deren Plan gerade in den Rückzug übergegangen ist. Für dich sieht das dann natürlich aus, als hätten alle die Hosen voll, dabei laufen die meisten einfach nur mit, verstehst du?“

„Ich… denke schon.“

„Also, was machen wir dagegen? Hidoku hat sicher nicht damit gerechnet, dass Aizawa mich allein reinschickt. Immerhin hat er vorher lang und breit geschildert, wie du da drinnen wahnsinnig geworden bist, und dass es echt gefährlich ist, weil du ja komplett außer Kontrolle wärst. Aizawa hat ihm aber nicht geglaubt, oder er war einfach sicher, dass ich stark genug bin, es mit dir aufzunehmen.“

„Vielleicht hat er auch einfach nur darauf gesetzt, dass ich dich nicht angreifen würde, weil wir Freunde sind?“

„Oder dass ich zu erfahren und mutig bin, um wie ein blöder Idiot davonzulaufen, nur weil einer ‚Buh‘ ruft.“ Nejire kicherte wieder. „Vermutlich war gerade das mein Vorteil, dass ich allein rein bin, so konnte mich niemand beeinflussen. Hidoku hat noch versucht, mich zu überreden, dass er mit rein geht, aber ich dachte mir schon, dass ich allein besser dran bin.“

„Weil ich dich mag und ihn nicht?“

„Auch, und weil er solche Angst vor dir hatte, dass ich mich nicht auf ihn hätte verlassen können. Außerdem wollte ich mit dir reden und selbst sehen, ob an seinem Gelaber was dran ist. Was es nicht ist, aber das war eigentlich eh klar. Aber weißt du was?“

„…was?“

„Wir zahlen es ihm heim. Als ich vorhin die Böse Königin gespielt habe, hat Yuyus Team mich mit der Kraft der Liebe zum Guten bekehrt. Besiegt haben sie mich nämlich gar nicht, nur überredet! Ich geh da jetzt raus und sag ihnen, dass der Chimerakönig wirklich und echt unbesiegbar ist, und dass mich das total überzeugt hat. Und wenn die Kraft der Liebe wirklich die größte Macht auf der Welt ist, dann sind wir beide, der mächtige König der Chimären und die Königin des Bösen, gemeinsam unbesiegbar! Mit meiner Intelligenz und deiner unbändigen Kraft wird die Welt uns gehören, und die Helden werden weinen vor Angst! Mua ha ha ha!“ Ihr böses Lachen hallte von den Betonwänden wieder und verschlimmerte sich noch durch das Echo. Tamaki drückte sich eingeschüchtert gegen die Wand und auch die Neonleuchte ergab sich mit einem leisen Summen und erlosch. „Ach Mist. Jetzt seh ich nichts mehr.“

Tamaki lachte. Es ging ihm noch nicht gut, bei weitem nicht, aber dank Nejires Unterstützung fühlte er sich immerhin besser. Er führte sie in sein Versteck, wo sie die Freisprechanlage nutzte, um ihre große Ansprache zu halten, und während die Helden draußen sich sicher schwitzend berieten, wie sie mit dieser schrecklichen Wendung umgehen sollten, ließ Tamaki ein paar Blumen und Ranken entstehen, die er in Nejires Haare einflechten und zu einer hübschen Krone binden konnte. Mit Sonnenblumen und Apfelblüten im Haar sah sie wirklich wie eine Königin aus, und so hell, wie sie strahlte, konnte Tamaki auch gut auf die trüben Lampen verzichten.
 

Die wenigen Helden, die sich nach Nejires Ansprache herein trauten, ergriffen ebenso schnell die Flucht wie die, die sich Tamaki alleine entgegengestellt hatten. Eher flüchteten sie noch schneller in Anbetracht der Tatsache, dass Nejire ihnen, elegant-überlegen auf Tamakis Schultern sitzend, ihre Energiestrahlen entgegenschoss, während er nichts weiter tun musste, als gruselig mit den Hufen zu scharren. Nejire war schwer, gerade auf Dauer, aber sie lachte ihn nicht aus, wenn er deswegen strauchelte oder vor Anstrengung und wegen der großen Dämonenzähne zu sabbern anfing. Es war traurig zu sehen, wie leicht sich die Helden in die Flucht schlagen ließen, aber er sah auch, dass Nejire Recht hatte: Es gab immer einen in der Gruppe, der die Flucht provozierte, und letzten Endes war die Flucht berechtigt, weil das böse Königspaar einfach zu überlegen war, als dass die verbleibenden Helden eine Festnahme realisieren konnten.
 

Am Ende kam, was die beiden gehofft hatten: Aizawa verlor die Geduld und schickte Mirio rein.

Der letzte echte Held

Mirio war sich nicht sicher, was ausgerechnet er in dieser Situation ausrichten können sollte. Sein kurzer Einsatz als Fiesling Mr. Roboto hatte deutlich gezeigt, wie lang und hart er würde trainieren müssen, um es, selbst mit dem Rückhalt der Supporter-Fakultät, mit den Macken seiner Klassenkameraden aufnehmen zu können. Gut, er hatte mit Tamaki trainiert und sich ganz anständig gehalten, aber da hatte Tamaki sich vorranging aufs Fliegen konzentriert und sich obendrein zurückgehalten. Er würde Mirio nie absichtlich verletzen und Nejire sicher auch nicht, aber absichtlich gewinnen lassen würden die beiden ihn sicher ebenso wenig wie die anderen aus der Klasse.

Andererseits war diese ganze Szene sowieso seltsam. Klar, Tamaki war stark, es war leicht zu glauben, dass er einfach übermächtig war. Mirio zweifelte auch nicht daran, dass Tamaki im Notfall den ganzen Rest der Klasse hochnehmen konnte. Auch gegen Nejire hatte er gute Chancen, wenn sie ihm allein gegenüberstand. Aber tatsächlich sah es nicht so aus, als hätte er überhaupt gekämpft. Recovery Girl war nicht auf dem Feld, und trotzdem war niemand verletzt außer denen, die den explosiven Mechas in die Quere gekommen waren, also ihm selbst und dem dreiköpfigen vs. Roboto-Team, dass ihn gestellt und festgenommen hatte. Der Kampf war heftig gewesen… von den fünf Schülern, die die Königin des Bösen gestellt hatten, war keiner wirklich verletzt; Yuyu hatte das Problem mit Diplomatie gelöst, was jetzt anscheinend nach hinten losgegangen war. Hatte Nejire spontan beschlossen, dass sie doch kämpfen wollte? Aber dann hätte sie auch gegen Tamaki kämpfen können, der war auch alleine eine schöne Herausforderung für sie. Nein, da steckte mehr dahinter.

Mirio hielt sich nicht für übermäßig klug, aber er war auch nicht dumm. Er hatte durchaus gemerkt, dass es seinem Freund nicht gut ging. Tamaki verhielt sich seltsam, er aß übermäßig viel, zog sich noch mehr zurück und sah generell mies aus. Aber dass er, wie Hidoku behauptete, tatsächlich den Verstand verlieren und zu einem menschenfressenden Ungeheuer mutiert sein sollte? Albern. Wenn Tamaki einen der anderen Schüler hätte fressen wollte, hätte er das auch geschafft. Mindestens ein paar Bisswunden hätte er bei so einer Geschichte schon erwartet, aber die Schüler, die in Tamakis Lagerhalle geschlichen waren, sahen komplett unversehrt aus, nur eben wahlweise verängstigt oder frustriert. Man hatte ihn mit Warnungen und Strategieanweisungen überschüttet und Mirio hatte alles davon in den Wind geschlagen.

Ja, er war mackenlos, kaum besser dran als ein Zivilist, der sich als Held verkleidet. Aber er war gut in Form und hatte Vertrauen in seine Freunde; wenn sie wirklich nur auf einen fairen Kampf aus waren würde er kämpfen und verlieren, aber er würde seinen Klassenkameraden ein Vorbild sein und einfach sein Bestes geben. Was zählte war, was Aizawa ihm gesagt hatte: „Da drin wird ein echter Held gebraucht.“ Ohne seine Macke war Mirio nicht mehr unverwundbar, aber was einen Helden ausmachte, war nicht Kraft allein. Sir hatte ihn nicht zu sich geholt, weil er damals schon stark gewesen wäre, sondern weil er in ihm das Potential gesehen hatte, so zu sein wie All Might. Einer, der den Menschen Mut macht, einen, der Licht an Orte bringt, wo nie die Sonne scheint. Orte wie diese finstere Lagerhalle, in der nicht mal die Hälfte der Neonröhren noch ihren Job machten, und auch das nur schwach und flackernd. Wenn man sich hier darauf einließ, zu schleichen und sich zu verstecken, auf der Jagd nach etwas, was man ein Monster nannte, war es nur natürlich, dass man der gruseligen Stimmung zum Opfer fiel. Mirio ließ sich nicht darauf ein. Er trug endlich wieder sein Heldenkostüm, komplett mit wehendem Umhang, er hatte schlicht keine Lust, im Staub zu kriechen. Nein, er lief aufrecht und mit stolzgeschwellter Brust durch die Gänge der Lagerhalle und gab sich keine Mühe, das Geräusch seiner Schritte zu verbergen. Das war immer noch das Beste, was ein mackenloser Held tun konnte: Bluffen. Zeig dem Gegner, dass du keine Angst kennst, und er wird denken, du hättest nichts zu fürchten. Seine Vorsehung war nicht so gut wie die von Sir, aber er hatte vom Besten gelernt und kannte seine Gegner. Wenn es zum Kampf kam, konnte er sich sicher lange genug halten, um hinterher die anderen zu motivieren.

„Mutig von dir, hier einfach hereinzuspazieren, oh Held.“ Nejires Stimme. Er hatte sie nicht kommen gehört, aber er war nicht überrascht, als sie vor ihm in den Schein einer der besseren Röhren trat. Stolz und schön wie eine Königin, auch wenn die Sonnenblumen in ihrem Haar mehr nach einer guten Fee aussahen als nach irgendetwas Bösem.

„Man sagte mir, ein Held wie ich würde hier gebraucht“, entgegnete Mirio leichthin, „hier bin ich nun.“

Hinter sich konnte er Schritte hören. Der Klang war unregelmäßig, ein schwerer Tritt wie von einem Huf, dann ein Scharren wie von Krallen. Tamaki hatte ihm erklärt, dass die Chimära ein griechisches Fabelwesen war, das aus vielen verschiedenen Tieren bestand. Mirio fand, dass passte gut zu Tamakis Macke, und insgeheim freute er sich, dass Tamaki offenbar mit dem Thema spielte. Zwei unterschiedliche Tierbeine machten das Laufen sicher schwierig, aber Tamaki schien damit kein Problem zu haben. Megacool wie immer eben.

„Wir brauchen keinen Helden“, wehrte Nejire ab, „Du kannst wieder gehen.“

Mirio fiel auf, dass sie an ihm vorbei blickte. Er wollte sich nicht umdrehen; er wusste auch so, dass Tamaki nur wenige Meter hinter ihm stand, was bei dessen Reichweite eindeutig unangenehm war. Er durfte jetzt auf keinen Fall Schwäche zeigen, also blickte er weiter geradeaus, direkt in Nejires Augen. Das Mädchen sah entschlossen aus, bereit zu kämpfen, wenn es sein musste, aber sie schien auch auf Bestätigung von Tamaki zu warten, der hartnäckig schwieg.

„Ein Held geht erst, wenn seine Arbeit getan ist“, improvisierte Mirio, „Und ich denke, das ist sie noch nicht.“

Nejire schwieg und blickte weiter intensiv an Mirio vorbei. „Was…“, meinte sie schließlich, „Denkst du denn, dass du hier tun sollst?“

Böse Fangfrage. Die Antwort schien zu offensichtlich: Die Böse Königin und ihren Handlanger aufhalten, bevor diese die Weltherrschaft an sich rissen. Aber Mirio ahnte, dass mehr dahintersteckte, und Nejires Frage bestätigte ihn nur. Was also antworten? Das Offensichtliche? Oder die richtige Antwort, für die er noch keine Worte fand? Mirio kam langsam ins Schwitzen vor Nervosität.

„Zwei Dinge“, sagte er schließlich, entschlossen, „Zum einen sagte man mir, dass hier Schurken ihr Unwesen trieben, denen es das Handwerk zu legen gilt.“ Keine Reaktion. Das Szenario des Spiels war allen bekannt. „Zum anderen“, und hier lehnte er sich eventuell ziemlich weit aus dem Fenster, „bin ich in Sorge um einen Freund.“

Nejire sagte nichts darauf, aber ihre Haltung verriet Mirio deutlich, dass er den Kern der Sache getroffen hatte. Tamaki konnte er nicht sehen, aber er spürte und hörte die Bewegung hinter sich. Angespannt, beherrscht. Keine Spur von dem Monster, das Hidoku beschrieben hatte. Er war nicht überrascht. „Ich bin hier um zu helfen“, versicherte er. Diesmal war die Reaktion heftig. Nejire stiegen die Tränen in die Augen, und hinter sich konnte Mirio Schritte hören, erst das unstete Klappern und Scharren, dann den regelmäßigen Klang menschlicher Füße. Tamaki warf sich ihm praktisch in den Rücken, umarmte Mirio und vergrub schluchzend das Gesicht in dessen Mantel. Mirio tätschelte seinem Freund etwas hilflos die Arme. Er hatte… mit vielem gerechnet, aber die Lage schien doch schlimmer zu sein, als er befürchtet hatte.

„Ist schon gut“, versicherte er dennoch, „Lass uns erstmal reden, ja?“ Tamaki nickte und riss sich wieder zusammen. „Entschuldige bitte…“

„Schon gut, dafür sind Freunde ja da.“

Tamaki ließ es sich dennoch nicht nehmen, erstmal Mirios Umhang glattzustreichen, bevor der die Gruppe in den Lagerraum führte, den er zu seinem Versteck gemacht hatte. Es war ein wenig gemütlicher hier als im Rest des Plattenbaus, was vor allem an den Sitzkissen, der ausreichenden Beleuchtung und der großen Menge leckeren Essens lag, mit dem Tamaki sich hier eingerichtet hatte. An einer Wand tickte eine alte Uhr, deren Zeiger sich allmählich dem Ende des Unterrichts näherten.

„Hübsch hast du‘s hier“, fand Mirio, „Ich hatte bloß eine leere Garage voller Maschinen, von denen die Hälfte spontan explodiert ist…“

„Ich hatte ja auch Zeit“, wehrte Tamaki ab, „Bin schon den ganzen Tag hier…“

„Muss ätzend sein, so lange warten zu müssen“, fand Mirio, „Mich haben sie ziemlich sofort angegriffen, vermutlich, damit ich nicht die ganze Anlage sprenge. Dabei waren ein paar von den Teilen echt gut! Mit ein bisschen mehr Zeit und Training hätte ich da echt eine Chance gehabt, gerade die Kampfhandschuhe und Stiefel waren klasse.“

„Das hätte ich echt gern gesehen!“, schwärmte Nejire.

Tamaki ließ sich auf eines der Sitzkissen sinken und angelte geistesabwesend nach einer Packung Reisbällchen. Seinetwegen musste Mirio nichts weiter tun, als hier zu sein und mit Nejire herumzualbern, dann ging es ihm schon besser. Inzwischen hatte auch Kirishima zurückgeschrieben und sich für die Verzögerung entschuldigt; der Erstklässler verlor gerade den Kampf gegen die Grauen der Mathematik. Doppelstunde Stochastik, eindeutig ein Kampf auf verlorenem Posten, nach kurzer Pause direkt gefolgt von vier Stunden klassischer Literatur – auf Chinesisch. Tamaki hatte eine Ermutigung zurückgeschickt und dem Jungen versichert, dass er zu seiner Beerdigung kommen würde, sollte Mathe ihn tatsächlich ins Grab bringen. Es war irgendwie süß… und seltsam beruhigend, jemandem helfen zu können, der zu einem aufsah, selbst, wenn es nur ein paar nette Worte und die Aussicht auf Nachhilfe war.

„Bleibt die Frage, was wir jetzt machen“, meinte Mirio plötzlich, „Ich meine, ich kann mich euch auch anschließen und wir setzen den Boykott fort, bis jemand die Eier hat, zu kämpfen, oder einen der Profis reinschickt, aber letzteres wäre schon peinlich.“

„Und potenziell gefährlich“, wandte Nejire ein, „Tamaki und ich kommen sicher klar gegen die Lehrer, aber um dich mach ich mir schon Sorgen, Mirio.“

„Naja, es kommt auf den Lehrer an, oder? Aizawa kann seine Macke gegen mich nicht einsetzen, das macht den Kampf wieder ziemlich fair. Ich glaube schon, dass ich ihn besiegen könnte. Ecto vielleicht auch, er ist nicht stärker als ein normaler Mensch, nur mehr… naja, zu mehreren halt. Aber wenn jemand mit einer starken Angriffsmacke kommt, wäre das schon ein Problem. Stellt euch vor, die schicken Hound Dog hier rein…“

„Ach, dem hetzen wir Tamaki auf den Hals. Der ist locker genauso stark!“

Tamaki presste die Lippen aufeinander. Hound Dog war von allen Lehrern der gruseligste… aber Nejire hatte recht, er selbst sah ja auch zum Fürchten aus und konnte dem Lehrer durchaus die Stirn bieten, wenn er sich anstrengte. „Ich… fände es trotzdem peinlich, wenn die Lehrer uns hier rausholen müssen,“ gab er zu bedenken, „Am Ende bekommen wir dann noch richtig Ärger…“

„Es löst vor allem auch das Problem nicht“, fand Mirio, „Hidoku macht dich vor der ganzen Klasse schlecht, und die machen, bewusst oder unbewusst, auch noch mit. So geht es definitiv nicht weiter.“

Tamaki seufzte tief. „Dagegen kann man aber nichts machen, Mirio.“

„Sag das nicht. Wir sind alle hier, um Helden zu werden! Schlimm genug, dass es an einer Schule wie der UA Mobbing gibt, was wären wir denn für Helden, wenn wir nichts dagegen machen würden?“

„Du weißt schon, was du machen wirst, oder, Mirio?“, fragte Nejire.

„Ja. Wir gehen da jetzt raus, ich halte dem feigen Sauhaufen da draußen eine Ansprache, und entweder, die entschuldigen sich, oder sie kämpfen. Nejire, kannst du mit deiner Twisterwelle dafür sorgen, dass keiner wegrennen kann?“

„Aber sicher!“

„Tamaki, du hältst mir den Rücken frei, ja?“

Tamaki nickte. Er fühlte sich nicht in der Lage, zu kämpfen, aber er würde sicher nicht zulassen, dass irgendjemand Mirios Situation ausnutzte, um ihn zu verletzen. Lemillion war unverwundbar, und wenn nicht durch seine Macke, dann eben durch seinen Freund. Wenn Mirio kämpfen wollte würde Tamaki dafür sorgen, dass er auch gewann. Allein der Entschluss reichte, um seine Macke wieder zu aktivieren… er hatte sich eindeutig überfressen, und die Energie musste raus. Zumindest vor Mirio und Nejire brauchte er sich nicht zu schämen dafür, wie er aussah. Es war ihm unangenehm, sicher, und er hatte ein wenig Angst, aber die beiden lachten nicht über ihn. Nejire hatte ihn so schon gesehen heute, sie achtete kaum auf Tamaki, sondern blickte zu Mirio hoch, der den Chimerakönig noch nicht in ganzer Pracht gesehen hatte. Auch Tamaki hob zögerlich den Blick, gebückt und unterwürfig wie ein grotesker Hund, der ängstlich zu seinem Meister aufsieht. Mirio lächelte und legte seinem Freund beruhigend die Hand auf die Schulter. Er brauchte nichts zu sagen; er hatte schon vor der Aufnahmeprüfung mit Tamaki zusammen trainiert, kannte Tamaki und dessen Macke schon seit der Grundschule. Diese spezielle Form war neu, aber Mirio war nicht überrascht, weil er das Potential dazu längst kannte.

„Gehen wir“, beschloss Mirio. Er blickte nicht zurück; die anderen beiden folgten ihm ohne zu zögern. Und dieses Mal beunruhigte es ihn nicht, Tamaki hinter sich zu wissen, im Gegenteil, der solide Rhythmus der ungleichen Beine gab ihm Sicherheit. Tamaki war ein fürchterlicher Gegner, er war froh, ihn nun wieder auf seiner Seite zu haben. Der Schatten, den er vorauswarf, wann immer sie eine der besseren Lampen hinter sich ließen, hatte etwas von einem Dämon, und Mirio konnte sich lebhaft vorstellen, wie diese Silhouette einen das Fürchten lehrte, wenn sie unvermittelt über einem auftauchte… genau deswegen war Schleichen immer eine dumme Idee, wenn man gegen ein angebliches oder echtes Monster kämpfte. Ein Held ging aufrecht und ohne Furcht, selbst, wenn er dem Teufel persönlich entgegenblickte. Dafür trugen sie grelle Kostüme und wehende Umhänge; sie waren Symbole im Kampf für das Gute.

Der Weg aus der alten Lagerhalle war nicht weit, wenn man in normalem Tempo ging. Die Nachmittagssonne blendete trotz des getönten Visiers seines Helmes, sodass Mirio die Hand vors Gesicht halten musste, als er aus dem Tor trat. Tamaki zischte hinter ihm, wandte den Blick ab und blieb zögernd im Schatten stehen. Ziegenaugen brauchten zu lange, sich an das grelle Licht zu gewöhnen, aber wenn er sie zurückzog, bis seine menschlichen Augen sich umgestellt haben, und dann neu reproduzierte… lieber hätte er einfach die Kapuze ins Gesicht gezogen, aber da standen ihm die Hörner im Weg. Geblendet, wie er war, konnte er doch immer noch sehen, wie die anderen Schüler zurückwichen, konnte durch die großen Schafsohren deutlich hören, wie sie ängstlich miteinander tuschelten. Ob Mirio nun auch übergewechselt war, ob er schlicht nicht merkte, wer oder was da hinter ihm stand… die größte Angst schien wohl zu sein, dass es nun zu einem Kampf gegen die kompletten Big Three kommen würde. Tamaki atmete tief durch, ließ neue Ziegenaugen erscheinen und trat aus dem Schatten, so aufrecht, wie seine momentane Form es erlaubte. Nejire lächelte und feuerte ihre Twistwelle gen Boden, um sich in die Luft zu erheben. Von dort hatte sie die Gegner gut im Blick und würde jeden, der flüchtete, sofort zurückschicken können. Tamaki bezog derweil knapp hinter Mirio seinen Posten, ein wenig zu seiner linken, außer Mirios direktem Angriffsradius und doch nahe genug, um ihn jederzeit decken zu können.

Ein paar der anderen blickten hilflos zu Aizawa, der seinen Schlafsack inzwischen verlassen hatte. Der Lehrer seufzte genervt und trat Mirio entgegen. „Sag mir bitte, dass du nicht auch wieder den Schurken spielen willst“, brummte er.

Mirio blinzelte einmal. „Keiner von uns spielt mehr den Schurken, Herr Aizawa“, entgegnete er, „Das Spiel war vorbei, noch bevor Nejire in die Halle geschickt wurde. Das hier ist ernst… treten sie bitte zur Seite.“

Aizawa hielt Mirios Blick stand, ohne zu blinzeln. Normal schlug ihn niemand in diesem Spiel, nicht einmal seine Katze konnte den Reflex zu blinzeln so lange unterdrücken wie Eraserhead, dessen Leben so oft von dieser Fähigkeit abhing. Aber der Held war auch kein Trottel, der nur aus stolz seine ohnehin schon geschädigten Augen unnötig strapazieren würde. Mirio sah entschlossen aus, er wusste, was er tat. Und er hatte recht, hier war etwas faul. Deshalb gerade hatte er Nejire allein in die Halle geschickt… und wie Tamaki nun hier stand, ohne eine Spur von Aggression, war Beweis genug, dass er Recht gehabt hatte. Der Junge wurde gemobbt, und seine Freunde ließen diese Übung weiter eskalieren, um einen Ausweg für ihn zu schaffen. Aizawa kniff die Augen zusammen und rieb sich möglichst genervt das Gesicht, bevor er mit einer desinteressierten Handgeste das Feld räumte. „Macht doch, was ihr wollt“, knurrte er. Wenn die Schüler das unter sich regeln konnten, immer besser für ihn, oder? Immerhin war da ein Schlafsack, der auf ihn wartete.

Die Unruhe der Klasse verstärkte sich nur, als der Lehrer das Feld räumte. Mirio hatte während der gesamten Auseinandersetzung nicht einmal gezuckt, er stand weiter aufrecht, den Blick klar nach vorne gerichtet. Jetzt, wo Aizawa aus dem Weg war, blinzelte er immerhin wieder, dafür fasste er einen Schüler nach dem anderen ins Auge. Yuyu schluckte, versuchte aber, dem Blick stand zu halten. Sie fühlte sich mies… hier ging es um Tamaki, so viel war klar. Ob er gehört hatte, was Hidoku für wilde Geschichten erzählt hatte? Mit diesen Ohren sicher. Yuyu war klar, dass sie alleine nicht hätte kämpfen können, aber sie hatte auch sonst nichts getan, um die Situation zu entschärfen. Dabei war sie so stolz gewesen auf ihre Idee, die Böse Königin mit Diplomatie zu besiegen… das hätte sie auch gegen den Chimerakönig versuchen müssen. Ein wildes Tier, das nur in Ruhe fressen will… Tamaki hatte in seiner Selbstvorstellung sogar gesagt, dass er kein Böser wäre. Yuyu war drei Mal mit in die Halle gegangen, sie hatte gesehen, dass der Chimerakönig rein passiv agierte. Ein einziges Mal hatte er tatsächlich angegriffen, und das nur auf Provokation. Einen Kampf zu vermeiden war sicher richtig gewesen, aber wegzulaufen? Ganz sicher nicht. Im Licht betrachtet sah Tamaki auch gar nicht so unheimlich aus… gefährlich? Ja. Ungewohnt? Auch. Aber er war immer noch ein Mensch, und er war ein Freund. Yuyu ballte entschlossen die Hände zu Fäusten, den Blick auf den Boden gerichtet, jetzt, wo Mirio mit ihr fertig war. Sie atmete tief durch, wartete ab, bis er mit dem letzten von ihnen fertig war, und trat dann vor. „Ich möchte mich entschuldigen“, sagte sie, noch bevor der große Junge den Mund öffnen konnte, „Mir hätte auffallen müssen, was hier passiert, und dennoch… ich habe mich heute nicht gerade wie ein Held benommen.“ Sie richtete ihren Blick auf Tamaki, der instinktiv hinter Mirio in Deckung ging. „Tamaki… verzeih mir, bitte. Du weißt, dass ich im Kampf keine Chance gegen dich habe… trotzdem hätte ich nicht sinnlos weglaufen dürfen. Ich möchte, dass du weißt, dass ich keine Angst vor dir habe… ich wusste nur nicht, was ich hätte tun sollen.“ Sie lachte bitter. „Dabei wäre es vermutlich nicht mal schwer gewesen. Ich hab Nejire nur mit Worten besiegt… das hätte bei dir auch funktioniert, nicht wahr? Ich bin nur nicht auf die Idee gekommen…“

Tamaki murmelte etwas Unverständliches, aber Mirio schien die Worte ausmachen zu können. „Schon gut, Yuyu“, übersetzte er in eine hörbare Frequenz, „Danke, dass du dich entschuldigst.“

„Und du hast absolut Recht“, stimmt Nejire von oben zu, „Diplomatie hätte bestimmt funktioniert.“

„Noch jemand hier, der sich entschuldigen will?“, fragte Mirio in die Runde, „Wenn ihr nicht wisst, wofür, kann ich es euch gerne erklären.“

Nejire winkte Yuyu zur Seite, raus aus der Gruppe, in der nun halblautes Gemurmel aufbrandete. Einzelne Schüler sahen aus, als wollten sie direkt vortreten und sich ebenfalls entschuldigen, andere schienen noch unsicher, was sie falsch gemacht hatten. Bevor jedoch noch einer etwas sagen konnte, ergriff ausgerechnet Hidoku das Wort: „Spiel dich nicht so auf, Mann!“ die Gruppe verstummte augenblicklich. „Ich wüsste nicht, wofür ich mich entschuldigen sollte. Ihr drei wart die Schurken in dieser Übung, und Tamaki ist eindeutig zu gut in der Rolle aufgegangen! Sieh in dir doch an!“ Tamaki wich unter den Blicken der anderen zurück. Nur einen halben Schritt, bevor er sich wieder fing; er musste an Mirios Seite bleiben, er würde nicht wieder zurück in den Schatten kriechen. Nicht jetzt, wo Mirio für ihn kämpfte.

„Ich weiß, wie Tamaki aussieht“, entgegnete Mirio ruhig, „Jeder hier weiß das, wir trainieren seit Jahren zusammen. Es sagt nichts Gutes über dich, dass du trotzdem solche Angst vor ihm hast… Oder war es die Dunkelheit in der Halle? Wenn du dich so leicht einschüchtern lässt, solltest du solche Missionen als Held besser nicht annehmen. Keiner von euch ist verletzt, ihr habt nicht mal gekämpft. Das Team, das gegen mich und die Roboter angetreten ist, hat weit mehr Schaden genommen, und von denen ist keiner heulend weggerannt. Nur weil du Angst hast, in einer dunklen Lagerhalle zu kämpfen…“

„Halt dein Maul, du…“ Hidoku hatte genug davon, sich von jemandem vorführen zu lassen, der nichtmal eine Macke hatte, um zu kämpfen. Außer sich vor Wut materialisierte er eine externe Kopie seines Skeletts, die er wie eine Rüstung um sein Kostüm legte. Jahre harten Trainings und viel frische Milch hatten diese Rüstung gestärkt, dass sie hart wie ein Panzer wurde, und Mirio hatte tatsächlich den Nerv, sich dem unbewaffnet zu stellen? Er war lange genug der Stärkste des Jahrgangs gewesen, aber nun war er nur noch ein aufgeblasener Normalo! Dem würde er zeigen, was es hieß, seine Gegner zu fürchten-

Krack.

Früher hatte Mirio einfach durch Hidokus Rüstung hindurch in dessen Gesicht schlagen können, diesen Vorteil hatte er nun nicht mehr. Aber er war auch nicht unbewaffnet… Die Kampfhandschuhe waren besser gewesen, bevor die filigrane Technik dem Praxistest zum Opfer fiel, aber die simplen Schlagringe, die Aizawa ihm als Backup zugesteckt hatte, waren schlicht und effektiv. Hidoku hatte wohl Glück, dass sein echter Schädel nicht genauso entzweibrach wie die gestärkte Kopie, die er als Helm trug, doch die Wucht von Mirios Faustschlag war genug, ihm mindestens eine leichte Gehirnerschütterung zu bescheren. Hidoku taumelte ein paar Schritte rückwärts, schockiert und vollkommen bloßgestellt, dann kippte er hintüber und musste von den Hilfsrobotern zu Recoverygirl gebracht werden. Die anderen Schüler blickten ihm schweigend nach, diesmal traute sich keiner, ein Wort zu sagen, bis der nächste Mitschüler den Mut fand, sich ernsthaft zu entschuldigen. Auf einen wirklichen Kampf legte es keiner mehr an; mackenlos oder nicht, wenn Mirio entschlossen war, zu kämpfen, ging lieber keiner ein Risiko ein.

Tamaki war sich nicht sicher, wie viel sich nur aus der Not heraus entschuldigten, aber einige nahmen sich ein Beispiel an Yuyu und brachten ausführliche Erklärungen vor, war sie ihrer Meinung nach falsch gemacht hatten, und dass sie sich dafür schämten, kampflos geflohen zu sein. Es klang aufrichtig… und es stimmt mit dem überein, was Nejire vermutet hatte. Hidoku hatte Angst geschürt und die anderen waren ihm soweit auf den Leim gegangen, dass sie mitgespielt hatten, ohne das eigentliche Ziel zu kennen. Es war nur Hidoku… und vielleicht ein paar seiner engeren Freunde. Nur diese wenigen hatten gewusst, worum es wirklich ging, und ernsthaft versucht, Tamaki psychisch zuzusetzen, um ihn vor allen als Monster darzustellen. Grundlos, nur weil sie ihn nicht mochten. Nejire legte sachte die Hand auf Tamakis Schulter. „Ist schon gut“, meinte sie leise, „jetzt ist es vorbei. Gehen wir heim?“

Tamaki nickte nur.

„Du musst dich nicht sofort besser fühlen“, versicherte ihm Mirio, bevor Tamaki sich für seine Niedergeschlagenheit entschuldigen konnte, „Lass das erstmal auf dich wirken, ja? Die meisten haben sich ehrlich entschuldigt, und die anderen sind jetzt egal. Immerhin wissen wir jetzt, dass die meisten wirklich keine Ahnung hatten, was hier gespielt wird, und die werden jetzt darauf achten, dass sie Hidoku nicht nochmal auf den Leim gehen.“

„Und wenn doch sag uns Bescheid, ja?“, pflichtete Nejire bei, „Wir sind schließlich deine Freunde.“

Wozu Flügel gut sind

Der Shinkansen flog geradezu über die Gleise, und während sich Touristen und Familien begeistert an die Fenster drückten, um die schnell vorbeirauschende Landschaft zu bewundern, saßen Geschäftsleute und Pendler schlafend in ihren Sitzen oder beugten sich desinteressiert über Laptops und Tablets, um noch schnell eine Präsentation oder einen Bericht fertig zu schreiben. Auch Eijiro Kirishima, bisher einer von denen, die sich die Nasen am Fenster plattdrückten, gehörte diesmal zur zweiten Gruppe. Nicht, weil er die Strecke zu seinem Praktikumsplatz in Osaka inzwischen gut genug kannte, als dass seine Bewunderung für den Schnellzug und die Landschaft nachlassen würde. Aber Ektoplasma hatte mit einem hart benoteten Mathetest am Tag nach der Praktikumswoche gedroht, und Amajiki-Senpai hatte angeboten, ihm während der Fahrt Nachhilfe zu geben. Da der ältere Schüler sonst kaum davon abzubringen war, die ganze Fahrt zu verschlafen, nahm Kirishima das Angebot natürlich mit aller gebotenen Dankbarkeit an, auch wenn ihm schon nach wenigen Minuten der Kopf rauchte.

„Wenn du also zwei Türen hast, und hinter einer davon ist die Geisel, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass du auf Anhieb die richtige Tür öffnest?“ Versuchte Amajiki es gerade mit einem möglichst einfachen Beispiel.

Kirishima blickte ihn aus großen Augen an. „Äh… fünfzig zu fünfzig?“

„Ganz genau. 50:50, oder 50%.“ Tamaki Amajiki atmete erleichtert auf, da ging ja doch etwas. „Versuchen wir es mit drei Türen. Wie sind da die Chancen, auf Anhieb die Geisel zu finden?“

Kirishima überlegte. Es sah nach harter Arbeit aus, und der Kampf verlief nicht gerade zu seinen Gunsten. „Hinter den anderen Türen sind tödliche Fallen?“, fragte er nochmal nach, „Das ist nicht gut, oder?“

„Es geht nur um die Chancen, Kirishima. Wie hoch ist die Chance, dass du Glück hast und die richtige Tür erwischst?“

„Nicht so gut, glaub ich. Wenn zwei von drei falsch sind, dann ist das eine, ähm…“

„Eine von dreien ist richtig. Wenn du wissen willst, wie viel Prozent das sind, musst du rechnen. Drei Türen sind Hundert Prozent, also ist eine Tür hundert durch drei, oder?“

„Das… geht aber nicht auf“, stellt Kirishima fest. Er schwitzte.

„Du kannst das Ergebnis auch runden“, lenkte Tamaki ein, „oder wir nehmen vier Türen, dann ist es leichter.“

„Aber dann sind die Chancen ja noch schlechter, dass es die richtige Tür ist!“

„Genau! Du hast es verstanden!“ Tamaki war ehrlich erleichtert. Sie saßen schon seit eineinhalb Stunden in dem Zug, der sie bis kurz vor Fatgums Büro in der Kansai-Region bringen würde, und endlich sah es so aus, als würde sich Kirishimas Gehirn einen Spalt breit öffnen, um das Prinzip der Wahrscheinlichkeitsrechnung hinein zu lassen. Und das war dringend nötig, wenn der Erstklässler den angedrohten Test überleben wollte.

„Bei vier Türen sind es fünfundzwanzig Prozent“, stellte Kirishima mit einem Blick auf seinen Taschenrechner fest, „also ein Viertel? Und bei drei Türen ist es ein Drittel, da haut der Rechner mir nur dreier raus.“

„Das liest sich dreiunddreißig Komma Periode drei“, wusste Tamaki, „aber Ekto dreht dir sicher keinen Strick draus, wenn du 33% oder 1/3tel schreibst.“

„Oh, das Komma hab ich gar nicht gesehen…“

„Verlass dich bitte nicht nur auf den Taschenrechner, da vertippt man sich zu leicht. Zahlen unter hundert solltest du schon im Kopf rechnen können…“

„So klug bin ich leider nicht.“

„Das hat mit Klugheit nichts zu tun, das ist nur Übung“, rügte Tamaki, „Also red dich nicht raus, sowas kannst du.“ Er war es gewohnt, Mathe in einfachen Worten erklären zu müssen, Mirio stellte sich oft keinen Deut besser an als Kirishima. Immerhin war es heute kein neuer Stoff, den er Idiotengerecht erklären musste, sondern der von vor zwei Jahren, was die Sache erheblich einfacher machte. „Du bist nicht dumm, Kirishima. Also stell dich nicht so an, sondern versuch es wenigstens.“

Auf einer Heldenakademie wie der UA wegen Mathe durchzufallen war nicht einfach, aber extrem peinlich für jeden, der es dennoch schaffte. Tamaki würde sein Möglichstes tun, damit Kirishima nicht nur die kommende Prüfung schaffte, sondern auch die am Jahresende. Wahrscheinlichkeitsrechnung war nun wirklich nicht so schwer, wie sie sich manchmal anhörte...

„Nehmen wir doch mal ein Beispiel mit mehr Optionen“, schlug er vor, „Du hast wieder vier Türen, hinter einer ist die Geisel, die du retten willst. Zwei bergen tödliche Fallen, und hinter der letzten ist der Schurke, der die Geisel entführt hat. Wie stehen jeweils die Chancen?“

Endlich war das bekannte Funkeln in Kirishimas Augen zurück. „25%, dass ich die Geisel gleich finde. 50% für den sicheren Tod in einer Falle, und nochmal 25%, dass ich den Schurken treffe, richtig?“

„Perfekt!“

„Damit hab ich wieder eine 50:50 Chance, dass ich es lebend raus schaffe!“

„Auch richtig, vorausgesetzt, der Schurke ist so schwach, dass du ihn mit hundertprozentiger Sicherheit besiegst.“

„Ui. Stimmt ja, da kann man auch Chancen ausrechnen. Wenn der Schurke ungefähr so stark wäre wie ich, dann hab ich eine fünfzig Prozentige Chance, ihn zu besiegen, oder? Kann ich das mit einrechnen?“

„Ja. Das wäre die Hälfte von den 25%, mit denen du ihm begegnest. Das sind 12,5%. Die teilst du auf, einmal zu den 25%, dass du gleich die Geisel findest, und einmal zu den 50%, in den Fallen zu sterben.“

„Also überlebe ich zu 37,5%, und sterbe mit einer Wahrscheinlichkeit von 62,5%. Irgendwie glaub ich, ich sollte da lieber mit Verstärkung reingehen.“

„Dann wird die Rechnung aber noch komplizierter“, warnte Tamaki.

„Ja, so wie die im Buch…“ Kirishima hob das Lehrwerk, in dem eine Textaufgabe markiert war. Es war eine ziemlich lange Aufgabe mit vielen Möglichkeiten, und der arme Schüler sollte anhand der errechneten Wahrscheinlichkeiten die sinnvollste Strategie unter den drei Antworten auswählen.

„Das bekommen wir schon hin“, meinte Tamaki zuversichtlich, „Gehen wir mal Schritt für Schritt vor.“
 

Als der Zug fast eine Stunde später sein Ziel erreichte, hatte Kirishima immerhin die erste Beispielaufgabe des Buches erfolgreich gelöst. Es war noch nicht viel, aber ein Fortschritt, mit dem er sich eine Pause verdient hatte.

Fatgum erwartete seine Praktikanten am Bahnhof mit einem breiten Grinsen. Er sah erschreckend schlank aus und schien überglücklich, die beiden Jungen zu sehen. „Gut, dass ihr da seid!“, rief er, „Ihr seht es sicher schon, ich hatte heute Morgen einen heftigen Kampf mit einem Schurken und bin ganz ausgebrannt, dabei hab ich gleich den nächsten Auftrag…“

„Worum geht es?“, fragte Tamaki, die Hand fest am Koffer, in dem sein Heldenkostüm lag.

„Eine Geiselnahme in einem Kaufhaus. Zieht euch schnell um, ich geb euch die Details unterwegs.“

Also nichts mit erstmal gemütlich Essen gehen und die Schurken durch Präsenz abschrecken, wie sie es sonst immer taten, wenn sie frisch hier ankamen. Fatgum sah abgemagert aus, er musste sein komplettes Fett in Energie verwandelt haben, um seinen letzten Kampf zu gewinnen. Normal brauchte er mindestens eine Woche, um sich wieder so viel Gewicht anzufuttern, dass er seine Fattadsorbtionsmacke sinnvoll einsetzen konnte.

Tamaki und Kirishima zogen sich gleich im Bahnhofsklo um, warfen die Koffer mit ihren Zivilklamotten in Fatgums Kofferraum und ließen sich an den Ort des Geschehens fahren.

„Eine Kindergartenbetreuerin ist ausgerastet“, erklärte der Profiheld unterwegs, „sie hat eine Fledermaus-macke, die ungewöhnlich stark ist, hatte damit aber nie Probleme. Kann sein, dass sie ein Burnout hat oder einfach nur einmal zu oft ‚alte Fledermaus‘ genannt wurde, jedenfalls hat sie ihre junge Kollegin und die Kinder angegriffen. Keine Verletzten soweit, aber sie hält die Gruppe auf dem Dach eines Kaufhauses fest und lässt sich nicht beruhigen. Die Polizei ist vor Ort, will zur Sicherheit aber auch Helden dabeihaben.“

„Gegen eine einzelne Frau kommst du doch aber auch so klar, oder?“, fragte Kirishima nicht zu Unrecht. Selbst, wenn er seine Mache nicht nutzen konnte, Fat war zweieinhalb Meter hoch und muskulös genug, alltäglich an die dreihundert Kilo Fett mit sich herumzuschleppen. Er war auch schlank noch eine bedrohliche Erscheinung.

„Wenn es nur das wäre, ja“, stimmte Fatgum zu, „Nur hab ich gerade die Nachricht reinbekommen, dass eine Handvoll Rowdys die Gelegenheit genutzt haben, Chaos zu stiften, als alle von der Szene auf dem Dach abgelenkt waren. Sie haben im Kaufhaus Feuer gelegt, um mit der Kasse eines Juweliers durchzubrennen, und das Feuer greift vom neunten Stock aufwärts um sich. Die Evakuierung läuft und noch ist die Geiselnahme auf dem Dach unter Kontrolle, aber ich fühle mich nicht gerade wohl dabei, wenn ein flugfähiger Schurke in luftiger Höhe kleine Kinder bedroht.“

„Natürlich“, stimmte Kirishima zu, „du kannst auf uns zählen!“

Fat grinste und gab noch mehr Gas. Sein Privatauto hatte kein Blaulicht und keine Sonderrechte, aber die Leute kannten ihn und ließen ihn trotzdem durch. Einen Helden auf Mission belangte auch niemand mit einem Rotlicht- oder Tempoverstoß. In seinem jetzigen Zustand konnte er nicht viel ausrichten und auch nicht als Sprungkissen dienen, aber nun hatte er die Jungs von der UA. Die Kleinen waren gut, mit ihnen zusammen würde er die Lage schon in den Griff bekommen.

Kirishima zumindest sah wie immer motiviert aus, und Tamaki… naja, der drückte sich ängstlich in seinen Sitz und kaute auf einem Fetzen Trockenfleisch herum, aber das war normal. Wenn es darauf ankam, würde er nicht zögern, und der Junge hatte einiges auf Lager. Ob es reichen würde, eine Geiselnahme auf einem Kaufhausdach unter Kontrolle zu bringen? Hoffentlich. Er wollte es möglichst vermeiden, dass die Teenager sehen mussten, was bei so einem Vorfall Schlimmes passierte, wenn die Helden versagten. Er konnte nur hoffen, dass seine Jungs gut genug waren zu bestehen, bis ein Held mit passenderen Fähigkeiten ankam, aber im Moment war er selbst leider der einzige Profi, der frei und in der Nähe war.

Gib alles, Tamaki!

Das Gebäude stand in Flammen. Fat hatte Recht, es war keine Zeit mehr, irgendwas vorzubereiten oder passende Verstärkung zu suchen. Das Kaufhaus musste evakuiert werden, und zwar jetzt.

„Die Feuerwehr ist unterwegs“, informierte Fatgum seine Praktikanten, „zwei bis fünf Minuten. Ein Held mit Wassermacke ist auch endlich auf dem Weg, aber der kommt vom anderen Ende der Stadt!“

„Was sollen wir tun?“ Tamaki fühlte sich überfordert. Er war erfahren genug um zu sehen, dass sie nicht die Richtigen waren für einen Job wie diesen. Fatgum war praktisch nutzlos ohne sein Fett, immer noch groß und stark, aber seine Macke konnte er so nicht verwenden. Kirishima war praktisch zu Stein erstarrt, er konnte vielleicht in das Gebäude rennen, ohne zu verbrennen, aber die Situation auf dem Dach…

„Da sind die Kinder!“, stellte der Erstklässler erschrocken fest und zeigte nach oben: Auf dem Dach des brennenden Gebäudes war die Kindergartengruppe zu sehen, deren Betreuerin gerade verzweifelt versuchte, sie gegen eine menschliche Fledermaus zu verteidigen. Die Situation, die bis eben noch nur bedrohlich war, musste genau in diesem Moment eskalieren; ungeachtet der beruhigenden Worte des Polizeipsychologen und vielleicht angestachelt vom Weinen ihrer Schützlinge geriet die Dame mit der Fledermausmacke so in Rage, dass sie ihre Kollegin nun körperlich angriff. Die junge Frau konnte ihr nichts entgegensetzen und wich zurück, und schon passierte, was alle befürchtet hatten: Ein Schlag mit den ausladenden Fledermausflügeln, und die ersten Kinder fielen vom Dach, vielleicht zehn oder fünfzehn Stockwerke in die Tiefe.

„Wirf mich hoch!“, befahl Tamaki, warf die schweren Taschen von seinem Kostüm ab und sprang auf Kirishimas Arm. Der Erstklässler wirkte verwirrt, zögerte aber nicht. Er war nicht so stark wie Mirio, dafür brauchte Tamaki sich keine Sorgen um seine Krallen machen; Kirishimas Arm fühlte sich an wie die Felsen der Trainingshalle, nur beweglich genug, ihm den nötigen Schwung nach oben zu geben.

Es war nicht wirklich genug, nicht so gut, wie er es mit Mirio geübt hatte, und Tamakis Flügelspitzen trafen den Boden noch mit schmerzhafter Härte. Aber der Aufschlag reichte, er kam weit genug hoch, noch einmal mit den Flügeln zu schlagen. Tamaki ignorierte die Schmerzen und kämpfte weiter, ein Flügelschlag nach dem anderen. Das hier war keine geschlossene Trainingshalle, hier konnte er höher aufsteigen, viel höher, und nichts würde ihn retten, wenn er fiel. Aber da waren drei kleine Kinder in der Luft, kaum vier oder fünf Jahre alt, die hatten niemanden außer ihm und kamen ihm viel zu schnell entgegen. Keine Zeit, nachzudenken. Seine Flügel brannten, wo sie den harten Beton getroffen hatten, und die Muskeln sträubten sich gegen die Anstrengung, aber Tamaki schaffte den Steilstart und schloss schnell zu den Kindern auf. Zwei konnte er mit seinen Händen erreichen, das dritte bekam er nur noch mit den Krallen eines Hühnerfußes zu fassen. Das Schwerste war damit erstmal geschafft, nun musste er irgendwie sicher zurück nach unten kommen… ohne hinzusehen, denn Tamaki wollte gar nicht wissen, wie hoch er gerade flog. Das Dach des Kaufhauses war näher als der Boden, aber hinunter war immer leichter… gerade mit dem zusätzlichen Gewicht der Kinder war die Schwerkraft ohnehin sehr bemüht, ihn wieder auf den Boden zu ringen, er sank also automatisch, obwohl er weiter dagegen ankämpfte. Mit fest geschlossenen Augen rang Tamaki um Beherrschung, da raste plötzlich die Fledermaus auf ihn zu. Im Gegensatz zu ihm konnte die alte Betreuerin richtig fliegen, und in ihrer Wut schien sie entschlossen, ihn aus der Luft zu holen. Tamaki zögerte nicht lange, manifestierte einen Rinderhuf an seinem freien Bein und trat der Frau direkt ins Gesicht. Der Schwung wirbelte ihn herum, und nun war es vorbei; er konnte den Boden unter sich sehen, viel, viel weiter weg als er sein sollte, und dort waren Fatgum und Red Riot, kaum größer als Ameisen. Tamaki spürte die Panik, die seinen Körper durchströmte und seine Flügel fühlten sich einen Moment taub an, gleichzeitig hörte er das Mädchen in seinem Arm schreien, als es sich ängstlich an seine Brust klammerte. Die Kinder brauchten ihn, und zwar jetzt! Keine Zeit, Panik zu schieben, das konnte er später machen. Tief durchatmen, einmal kräftig mit den Flügeln schlagen und dann langsam nach unten schrauben… wobei langsam sich immer noch anfühlte wie ein Ritt auf der Achterbahn. Auch die Luft selbst machte ihm Probleme; hier war er im Freien, hier gab es Wind und Thermik, die er aus der Halle nicht kannte. Er hätte mehr üben müssen, auch und gerade außerhalb der Halle, aber dafür war es jetzt zu spät und er musste es so schaffen.

„Fatgum, hier!“ rief er, und der Held reagierte sofort. Schlank konnte er kaum als lebendes Sprungkissen dienen, aber er sprang Tamaki entgegen und fing den kleinen Jungen aus dessen Krallen im selben Moment, als Tamaki ihn loslassen musste um die Füße auf den Boden zu stellen. Der Jungheld sah komplett erledigt aus, völlig verschwitzt und bleich wie ein Gespenst, aber er schaffte es, die Kinder in seinem Arm sanft abzusetzen und rappelte sich sofort wieder auf. „Ich muss nochmal hoch, wo ist Red Riot?“

„Drinnen“, antwortete Fatgum und lotste die drei Kinder in Richtung der zivilen Ersthelfer, die sie weinend entgegennahmen, „Willst du nochmal hoch?“ Tamaki sah nicht so aus, aber er nickte entschlossen. „Spring auf, ich werf dich!“

Tamaki war relativ leicht für einen Teenager seiner Größe, und anders als sein Praktikant war Fat daran gewöhnt, auch mal erwachsenen Helden eine Starthilfe zu geben. Tamakis Krallen schnitten ihm unangenehm ins Fleisch, als er den Jungen hochwarf, aber das störte ihn kaum. Es war toll zu sehen, wie der sonst so ängstliche Junge sich ohne zu zögern in die Luft schwang, um die Kindergartenkinder vom Dach des brennenden Kaufhauses zu retten, und es fühlte sich gut an, zumindest einen kleinen Beitrag leisten zu können; eben hatte er noch gedacht, er bräuchte einen wie Hawks hier, nun konnte plötzlich sein eigener Schüler fliegen und sah dabei fast noch cooler aus als der Held Nummer Zwei. Fatgum konnte nicht anders, als breit zu grinsen, als er sich wieder den Schurken zuwandte, die das Feuer verursacht hatten.

Tamaki stieg derweil wieder auf. Fatgum hatte ihm ordentlich Schwung mitgegeben und seine Flügel wurden langsam warm, das machte es leichter. Trotzdem spürte er die Anstrengung, dass er diesmal den ganzen Weg fliegen musste, um auf dem Dach zu landen. Das Feuer reichte noch nicht bis ganz hier hoch, aber der Gang zum Treppenhaus war eingestürzt, das konnte er sofort sehen, als er neben dem kleinen Spielplatz landete. Er hätte gern etwas gerufen, sowas wie „Keine Angst“ oder „Ich bin hier“, aber sein Mund war viel zu trocken und es hätte ohnehin nicht sehr überzeugend geklungen.

Die Kinder, es waren noch sechzehn, und ihre junge Betreuerin weinten vor Angst. Sie hatten sich im Sandkasten zusammengekauert, jedes der Kinder bemüht, ein wenig Platz in den Armen der Ersatzmutter zu finden, die der Gefahr doch ebenso hilflos gegenüberstand wie ihre Schützlinge. Tamaki schluckte und sprang auf die Gruppe zu. „Ich bringe euch hier runter“, versprach er, und es klang immerhin selbstbewusster als er sich fühlte, „Immer drei auf einmal.“ Er wusste, dass er Blickkontakt suchen und aufmunternd lächeln sollte, aber momentan war es für ihn schon viel, nicht wieder die Kapuze ins Gesicht zu ziehen. Nur mit viel Kraft gelang es ihm, der jungen Frau in die Augen zu sehen, und ihm fehlten die Worte, sein Anliegen zu formulieren. Er schämte sich für seine soziale Hilflosigkeit und dafür, dass sein Blick die verängstigte Frau geradezu um Hilfe anflehte. Aber die Betreuerin war stark, und sie verstand. „Honda, Yuki, Hanako“, bestimmte sie, „wollt ihr zuerst mit dem Helden fliegen gehen?“

Sie hatte zielsicher die mutigsten Kinder ausgewählt, und der kleine Yuki verstand sofort. „Jaaa!“, rief er, rannte begeistert auf Tamaki zu und zog sich an ihm hoch, „Ich will als Erster!“ Der Kleine trug ein auffälliges T-Shirt im Hawks-Design und wedelte mit einer passenden Actionfigur, und seine großen Augen funkelten, als Tamaki die Flügel hob, um seine Federn zu sortieren. Yukis Begeisterung schwappte auf seine Kindergartenfreunde über, und viele von ihnen sahen mit leuchtenden Augen zu, wie ihr Anführer auf Tamakis Schultern kletterte, während dieser den kleinen Honda und die süße Hanako auf seine Arme hob. „Schön anschnallen“, murmelte Tamaki und ließ Sojaranken sprießen, um die Kinder zu sichern, gerade Yuki, den er nicht selbst festhalten konnte, „Und los!“

Achterbahn, dachte er bei sich, stell dir einfach vor, es wäre wie auf der Achterbahn, dann ist es nicht so gruselig… Die Kinder zumindest kreischten vergnügt, als Tamaki sich im Gleitflug nach unten schraubte. Seine Flügel zitterten im Wind, immer wieder musste er heftig rudern, um sich nicht von einem plötzlichen Zug aus der Bahn werfen zu lassen oder in ein Luftloch zu fallen. Mit zitternden Knien landete er wieder auf dem Beton, für den Moment hocherfreut, festen Boden unter sich zu wissen, und mehr als willig darauf zusammenzubrechen und liegen zu bleiben. „Nochmal, nochmal“, kreischte Yuki begeistert, als ein Feuerwehrmann ihn von Tamakis Schultern hob um ihn und die anderen zur Versorgungsstation zu bringen. Tamaki raffte sich auf. Seine Beine zitterten, seine Flügel schmerzten, und kalter Schweiß rann ihm aus allen Poren den Körper herab. Er wandte sich wieder dem Gebäude zu, neben dem die Feuerwehrleute gerade ein großes Sprungkissen aufbauten, aber darauf konnte er noch nicht zählen. Inzwischen schlug das Feuer schon aus mehreren Fenstern, vorranging um den zehnten Stock herum.

„Suneater!“ Fatgum war gleich bei ihm. Er sah abgekämpft aus und besorgt. „Alles okay?“

„Ich muss nochmal hoch!“, antwortete Tamaki mit überraschend fester Stimme. Auf die eigentliche Frage ging er lieber nicht ein.

„Gut, komm her!“

Fat warf ihn hoch, fast noch sicherer und schwungvoller als vorher, und Tamaki war wieder in der Luft. Seine Flügel brannten vor Anstrengung, aber er spürte es kaum noch. Solange noch Kinder dort oben waren musste er weitermachen, zusammenbrechen konnte er hinterher. „Okay, die nächsten!“, rief er, kaum, dass er wieder auf dem Geländer saß. Diesmal wurde er sofort von drei Kindern angesprungen, die Betreuerin musste die Zeit genutzt haben, ihre Klasse zu sortieren und einen Plan zu machen, der ihr und den Kindern Sicherheit gab. Sie verließ sich auf ihn. Tamaki ging in die Hocke, um das größte Kind aufspringen zu lassen, nahm die beiden kleineren unter die Arme und sprang wieder ab. Ein Stück fallen lassen, dann gleiten. Mit der Übung wurde es einfacher, die Kinder hielten es für einen Spaß, und er hatte beide Füße frei, um für die Landung kräftige Hufe wachsen zu lassen. Das Sprungkissen war inzwischen ganz entfaltet, ein mächtiger Motor arbeitete daran, es aufzublasen. Tamakis Beine schmerzten vom wiederholten Aufprall, aber mit etwas Glück konnte er sich bei seiner nächsten Landung in das Kissen fallen lassen. Noch zehn Kinder und die Frau, erinnerte er sich, fast geschafft.
 

Fatgum stand schon bereit. Es war erst das dritte Mal, aber er warf ihn schon routinierter als Mirio es nach zwei Stunden Übung getan hatte. Die Kraft eines Profis… Tamaki durfte seinen Chef nicht enttäuschen. Seine Flügel schmerzten nicht mehr, überhaupt tat ihm kaum noch etwas weh, und die Strecke bis zum Dach erschien ihm auch etwas kürzer, obwohl er nun den Flammen aus den Fenstern und dem Wasser aus den Schläuchen ausweichen musste. Seine Hühnerkrallen griffen routiniert nach dem Geländer um den Schwung zu bremsen, dann sprang er leichtfüßig aufs Dach und nahm die nächsten Kinder entgegen, diesmal alles Mädchen, von denen eines bitterlich weinte vor Angst. „Ist gleich vorbei“, murmelte Tamaki leise und ließ eine Sonnenblume in seiner Hand wachsen, „Halt die fest, bis wir unten sind, ja? Dann kann dir nichts passieren.“ Es war eine blanke Lüge, natürlich, aber das Kind beruhigte sich trotzdem sofort und ließ sich auf den Arm nehmen. Tamaki flog wieder herunter, und tatsächlich, die Feuerwehr hatte ihr Kissen aufgeblasen und wank ihm, dort zu landen. Es war nicht gerade weich, aber um ein Vielfaches besser als der Beton, und eines der Mädchen quietschte vor Vergnügen, als er in den Falten des dicken Stoffes einsank wie in Fatgums Körper. Tamaki ließ die Mädchen los, damit sie selbst aus dem Kissen klettern konnten, und krabbelte auf allen vieren herunter und wieder Richtung seines Chefs.

Noch sieben Kinder. Langsam wurde es anstrengend. Die angenehme Taubheit vom letzten Flug wich einer schleichenden Erschöpfung, die durch die nächste Landung im Sprungkissen und den nächsten kraftzehrenden Steilstart nicht besser wurde. Noch vier Kinder. Noch eines. Tamaki war am Ende seiner Kräfte, lang würde er die Flügel nicht mehr halten können. Er hoffte, es würde noch reichen; es war nur noch dieses eine, etwas dickere Kind und die Betreuerin, die sicher auch keine fünfzig Kilo wog. Nur noch einmal… aber kaum, dass er das Dach erreicht hatte, musste er die Flügel verschwinden lassen. Es ging nicht mehr, die Zeit war um, das winzige Stück trockene Gänsefleisch zu gut verdaut. Er dachte an die Taschen mit Proviant, die unten am Boden lagen, weil sie ihn zu schwer gemacht hätten. Aber Gänsefleisch war darin ohnehin keines mehr, nur Hühnchen. „Alles okay? Geht es Ihnen gut, Herr Held?“ die Betreuerin hatte sich über ihn gebeugt, den rundlichen Jungen hielt sie an der Hand. Sie sah besorgt aus und Tamaki konnte nur den Blick abwenden. „Tut mir leid“, murmelte er und hatte sofort wieder die Stimme des Prüfers im Ohr, der ihm diese Worte verboten hatte, „Ich bin nicht Hawks. Meine Flügel halten nicht ewig…“

„Ist schon okay“, versicherte ihm die Betreuerin, „Du bist jung, nicht wahr? Wie heißt du?“

„S…suneater.“

„Ein cooler Name, findest du nicht auch, Genta?“ Der dicke Junge nickte schüchtern. Dann gab es plötzlich einen Ruck, als würde der Boden nachgeben. Das Feuer musste etwas Wichtiges beschädigt haben, das Gebäude kam in Schieflage. Nicht mehr lang und es würde einstürzen.

„Ich bringe euch hier runter“, versprach Tamaki entschlossen.

„Ohne die Flügel?“

„Ja. Vertraut mir.“ Es klang selbstbewusst, Tamaki war beinahe selbst überrascht. Trotzdem hob er sich den kleinen Genta auf den linken Arm und wies die Betreuerin an, auf seinen Rücken zu klettern, bevor er beide mit den Sojaranken sicherte. „Es wird etwas langsamer und nicht so lustig, aber ich bringe euch in Sicherheit. Wie heißen Sie?“

„Der Junge heißt Genta“, wiederholte die Frau, „Ich bin Fräulein Hanami.“

„Ein schöner Name.“ Smalltalk. Tamaki war immer schon schlecht gewesen in sowas. Aber zumindest die Namen auszutauschen war wichtig, es gab den Menschen Sicherheit, wenn sie merkten, dass sie dem Helden wichtig waren. Auch, wenn Tamaki sich gerade wenig heldenhaft fühlte… er war nicht Hawks, er war selbst mit Flügeln alles andere als cool, aber so wie jetzt, wenn er mit Oktopustentakeln an Händen und Füßen die Wand hinunterkletterte… er war wie ein schleimiger Kopffüßler, der senkrecht die Wand entlangwanderte. Aber er fühlte sich sicherer so, die Tentakel waren ihm vertraut, er benutzte sie seit Jahren beinahe täglich, weil es bei Fatgum durchgehend Takoyaki zu essen gab. Die Saugnäpfe nacheinander an die Wand zu pappen und wieder zu lösen, um sie ein Stück weiter erneut aufzusetzen… der Bewegungsablauf war nicht weniger komplex als ein Flügelschlag, aber er beherrschte ihn im Schlaf und musste sich nicht um Wind und Thermik scheren.

Das Gebäude brach immer weiter ein und geriet stark in Schieflage, aber auch das war kein Problem, wenn man fest an der Wand klebte. Die Schwerkraft konnte ihm so gar nichts, dafür waren die Saugnäpfe zu stark, und wenn doch einmal ein Stück Wand unter ihm wegbrach musste er nur eine Hand oder einen Fuß neu aufsetzen, während die anderen Glieder noch fest am Rest des Gebäudes hingen. Es war langsamer als zu fliegen, aber dafür sicher. Selbst, wenn er doch mal springen musste, konnte er die Tentakel einfach verlängern, um schnell wieder an den stabilen Teil der Wand zurückzukommen, und die Landung war auch nicht mehr als ein einfacher Schritt zurück auf den waagrechten Boden. Trotzdem zitterten Tamaki die Beine, als er, in gebührendem Abstand vom Gebäude, seine Passagiere losließ, damit sie den winkenden Feuerwehrleuten entgegen in die sichere Rettungsstation laufen konnten. Fräulein Hanami nahm ihn überraschend an der Hand und half ihm, selbst außer Reichweite der Flammen zu kommen, damit er sicher im Schatten des Feuerwehrlöschzugs zusammenbrechen konnte, wo es keiner sah. Sie drückte ihm sogar noch ermutigend die Schulter, ehe sie zu ihren Kindern zurücklief um mit ihnen, laut jubelnd, die gelungene Rettung zu feiern. Diese Kinder hatten wirklich Glück… ihre Betreuerin war die wirkliche Heldin hier. Tamaki war einfach nur fertig mit der Welt… trotzdem war er nicht ganz unglücklich, als Fatgum auf ihn zueilte, um ihn vom Boden hoch und in seine Arme zu zerren. „Suneater, mein Junge! Du warst großartig!“

Tamaki sagt nichts darauf. Großartig war nicht das Wort, dass er für seine Leistung verwenden würde… es war eher sowas wie ‚gerade noch geschafft‘ oder ‚mit Mindestpunktzahl bestanden‘. Aber er war erleichtert, dass er sich endlich ausruhen konnte, und ließ den Kopf auf Fatgums Schulter sinken. „Wie geht es Red Riot?“, fragte er noch.

„Alles Prima. Er ist bei den Sanis, hat aber nur ein paar leichte Verbrennungen. Sieht aus wie Sonnenbrand, eigentlich harmlos, wenn man bedenkt, dass er mitten durchs Feuer gelaufen ist um einen brennenden Gastank zu löschen... Ihr Kids seid echt der Hammer. Komm, lass du dich auch mal anschauen. Bist du verletzt?“

„Nur müde“, meinte Tamaki, ließ aber zu, dass Fat ihn hochhob und wie ein kleines Kind auf dem Arm trug. Er fand es übertrieben, dass die Notärztin sich extra Zeit für ihn nahm, und hörte kaum hin, als sie über seinen Zustand meckerte. Knöchel verstaucht, Zerrungen hier und da und dort, überlastet… „Zwei Tage ausruhen“ verstand er allerdings, und das klang doch sehr attraktiv im Moment. Kirishima neben ihm grinste wie ein Idiot. Er sah unverletzt aus bis auf die Rötungen an seinen Armen, die jemand dick mit Salbe beschmiert hatte.

„Ich hab dich fliegen gesehen, Mann“, raunte er Tamaki zu, kaum, dass die Ärztin verschwunden war, „Das war ja Megacool!“

„Ich hab nur mit den Flügeln gepaddelt wie ein Ertrinkender“, wehrte Tamaki verlegen ab.

„Sag sowas nicht. Du sahst toll aus! Ich war total überrascht, ich wusste gar nicht, dass du fliegen kannst! War es das, was du neulich mit Mirio geübt hast? Deine Macke ist echt sowas von vielseitig! Gibt es überhaupt irgendwas, was du nicht kannst?“

„Ähm… vor fremden Menschen sprechen?“, bot Tamaki an. Kirishima lachte herzlich. Dieser Junge… der konnte noch im Rettungswagen sitzend so aussehen, als hätte er keine Sorge auf der Welt. „Du warst auch ziemlich cool“, meinte Tamaki ehrlich, „Einfach in ein brennendes Haus zu rennen…“

„Klar, was sonst?“, kam die lockere Antwort, „Meine Macke kann nicht viel, aber was sie kann, macht sie gut. Mir tut so schnell nichts weh.“ Es hätte überzeugender geklungen, wenn er nicht vor Schmerz gezuckt hätte, als er bekräftigend den verbrannten Arm hob.

„So Jungs, alles gut?“ Erkundigte sich Fatgum, „Lässt die Ärztin euch laufen?“

„Ich soll mich zwei Tage ausruhen“, gab Tamaki zu, „Und den rechten Knöchel schonen.“ Er wies auf den dicken Verband, den man ihm angelegt hatte. „Aber sonst geht’s mir gut.“

„Bei mir ist alles flott, muss nur die Verbrennungen eincremen und viel trinken“, ergänzte Kirishima.

„Ich hab Hunger“, erklärte Fatgum zu niemandes Überraschung, „Kommt ihr mit zu MacKing?“ Die beiden Praktikanten jubelten. Natürlich kamen sie mit, wer sagte schon nein zu Burgern? Fat jedenfalls nicht. Er hatte sich während des Kampfes ein paar Dosen aus Suneaters Vorratstaschen gemopst, aber das waren Konserven mit speziellem Fleisch, Obst und Gemüse für dessen Macke, nicht gerade die Kalorienbomben, die Fatgum für seine brauchte. Es hatte gereicht, der Not die Spitze zu nehmen, aber mehr dann auch nicht. Er brauchte Burger, Takoyaki, Mayo und irgendwas Frittiertes, was vor Fett triefte und einem direkt auf die Hüften ging. Da war nämlich gerade gar nichts, nur stinknormale Muskeln und Haut. Er hasste es, sich bei seiner Arbeit auf die Praktikanten verlassen zu müssen, während er selbst nutzlos danebenstand. Die Jungs waren gut, keine Frage, aber sie waren noch so jung… in dem Alter sollte man so einen Einsatz nicht allein stemmen müssen. „Ihr wart echt klasse heute“, lobte Fat daher überschwänglich, „Ich lad euch ein, also esst, soviel ihr wollt, ja? Das habt ihr euch verdient.“

Die Nachbesprechung des Einsatzes würde er dann einfach bei Tisch führen, wenn er wieder etwas im Magen hatte und die Kurzen von ihren Adrenalin-High runter waren. Zum Glück war die Filiale des Burgermagnaten gleich um die Ecke. Man kannte ihn dort und würde ihm ohne lange Fragen alles auf den Tisch stellen, was der Laden zu bieten hatte. Und so saßen die drei Helden nur wenige Minuten später um einen runden Tisch, auf dem sich ein ganzer Berg leckerer Sachen stapelte. Während Fatgum einfach in sich hineinschaufelte, was er am schnellsten zu fassen bekam, war Tamaki wie immer sorgsam bemüht, von allem etwas zu erwischen, und wenn er graben musste, um in der Menge an Rinderhack einen einzelnen Fischburger zu finden.

„Frag doch einfach, wenn du was Besonderes suchst“, riet Kirishima, „Die Bedienung kommt doch eh alle fünf Minuten vorbei.“

Tamaki warf ihm einen vielsagenden Blick zu und zog kommentarlos eine Schachtel Nuggets zu sich. Der Jüngere zuckte nur die Schultern und wandte sich wieder seinem Burger zu. Er musste nicht wie blöd Fressen, um seine Macke nutzen zu können, aber auch er konnte gut mithalten, wenn es ums Essen ging. Leute aus einem brennenden Kaufhaus zu retten machte durchaus hungrig. Er machte seinen älteren Kollegen keine Konkurrenz, aber das störte ihn nicht. Er hatte gutes Essen, gute Gesellschafft, und es war schön zu sehen, wie Fatgum und Suneater mit jedem Bissen wieder an Farbe gewannen. Die beiden waren beeindruckend, und Kirishima war stolz, mit so großartigen Helden zusammenarbeiten zu dürfen.

„Ich bin echt froh“, meinte Fat, als er endlich genug gegessen hatte, um zwischen zwei Burgern mal Luft zu holen, „Dass ihr heute hier wart.“

„Danke, dass wir hier sein dürfen!“, entgegnete Kirishima sofort, während Tamaki sich gezielt mit seiner Cola beschäftigte. Fat lachte.

„Ich meins ernst, Kurzer. Nach dem Einsatz heute früh… ich hab alles verbrannt, was ich hatte, ich konnte heute nur dumm dastehen. Meine Kraft hat gerade so gereicht, um den Halunken eine Standpauke zu halten, aber das war’s dann auch schon. Die Menschen in dem Gebäude, und vor allem diese kleinen Kinder… ich konnte nur zusehen.“

Er hatte nichts tun können, als die durchgedrehte Fledermaus die Kinder vom Dach geworfen hatte. Wenn Tamaki nicht so schnell reagiert hätte… „Ein Glück, dass wir unseren Suneater hatten. Hättest ruhig früher mal verraten können, dass du fliegen kannst! Obwohl, wenn du das beim Sportfest schon gezeigt hättest, hätte Hawks dich mir noch weggeschnappt. Der greift sich alles, was Federn hat…“

„Er… hat es versucht…“ murmelte Tamaki in seinen Becher.

„Echt jetzt? Der Held Nummer zwei hat dich angeworben, und trotzdem kommst du zu mir?“

Tamaki nuschelte irgendwas von ‚Hawks ist gruselig‘ und machte sich so klein wie irgendwie möglich. Kirishima lachte herzlich. Es war richtig ansteckend.

„Ne, im Ernst, ich find’s toll, dass du hier bist, Tamaki. Nicht nur heute, du bist der beste Praktikant, den ich je hatte, und die anderen waren auch nicht gerade schlecht! Ich kanns kaum erwarten, dass du als Sidekick bei mir anfängst, die Leute sind immer so verwundert, wenn ich ihnen erklären muss, dass du noch zur Schule gehst. Ist ja zum Glück nicht mehr lang.“

„Sprich bitte nicht von der Abschlussprüfung…“, wimmerte Tamaki leise.

„Wieso? Die packst du doch mit links.“ Tamaki sah nicht so überzeugt aus, und auch Kirishima war ein bisschen blass geworden. Fat seufzte. „Die UA ist echt hart, was? Macht euch nichts draus, ich glaub jedenfalls an euch. Nichts, was die euch da antun, ist schlimmer als die Realität. Und Prüfungen kann man immer nachholen, wenn's mal nicht klappt.“

„Hilft nur nicht viel, wenn man zu blöd zum Rechnen ist…“, murmelte Kirishima, gedanklich wieder bei Ektoplasma und seinem Test.

„Die Wahrscheinlichkeitsrechnung kann ich dir auf dem Heimweg nochmal erklären, wenn du willst“, bot Tamaki an, „Deswegen lassen die einen normal nicht durchfallen.“

„Danke, damit rettest du mir echt das Leben!“

„Ist doch nur Mathe…“, wehrte Tamaki ab.

„Unser Suneater ist eben durch und durch ein Held, was?“, strahlte Fatgum. „Oh, das erinnert mich an was. Nachdem du ja bald fest bei mir anfängst, hat meine Merchandise Abteilung mal ein paar Vorschläge gemacht. Die wollen Pullis und Actionfiguren von dir rausbringen, sobald du deine Lizenz hast, ist doch cool, oder?“ Tamaki sah eher schockiert als erfreut aus, aber Fatgum ließ sich davon nicht stören. „Ich hab schon ein paar Hoodies im Büro liegen, die kannst du deinen Freunden mitbringen. Ein Plüschie für Nejire gibt’s auch, weil sie drum gebettelt hat. Nach dem Vorfall heute werden die Merchandise-Leute aber sicher an Sondereditionen mit Flügeln arbeiten, soviel ist sicher!“

„Ich wüsste nicht, wer sowas kaufen würde…“, nuschelte Tamaki und beschäftigte sich konzentriert mit seinem nächsten Burger.

„Also die Plüshies weniger, aber so ne Actionfigur hätte ich schon gerne“, überlegte Kirishima, „Wär doch voll cool, gerade, wenn man Flügel und Krallen montieren könnte, wie bei den Figuren, die ein paar verschiedene Hände haben.“

Tamakis Blick war im besten Falle skeptisch, aber Kirishima störte sich nicht daran. Actionfiguren von Profihelden waren super. Als Kind hatte er jeden Tag damit gespielt, aber auch heute kaufte er manchmal noch welche von Helden, die er besonders cool fand. Suneater kam definitiv auf die Liste, da würde er auf dem Regal zuhause schon Platz schaffen.

„Die Kinder, die du heute gerettet hast, werden ihre Eltern sicher auch dazu bringen, ihnen eine Puppe oder eine Actionfigur zu kaufen“, stimmte Fatgum zu, „Ich kenne jedenfalls keine Mutter, die nein sagen würde, wenn ihr Kind eine Puppe von dem Helden will, der es gerettet hat. Die meisten würden sich eher selbst noch ein Poster dazu kaufen. Immerhin kommt das Geld, dass wir mit dem Merchandise verdienen, auch wieder unserem Büro zugute, damit wir unbesorgt Leben retten können. Und es ist doch toll, dass die Leute uns so ihre Dankbarkeit und Unterstützung zeigen können, oder?“

Tamaki schwieg. Was sollte er auch sagen? Er war selbst eines dieser Kinder, die massenhaft Merchandise von großartigen Helden horteten. Er tat sich nur schwer damit zu glauben, dass er nun selbst einer dieser Helden sein sollte, den andere bewunderten und als Actionfigur gegen gefährliche Plastikdinos kämpfen und gewinnen ließen. Aber es war, wie Aizawa ihm am ersten Tag an der UA gesagt hatte: Wenn er mit diesem Teil des Heldendaseins nicht klarkam, sollte er gehen. Und Tamaki war geblieben.

Mehr als nur ein Bluff

Mann, fühlte es sich gut an, wieder an der frischen Luft zu sein! Mirio war begeistert. Er hatte sine Macke nicht zurück, noch nicht, aber er war wieder im Rennen. Er liebte den Unterricht nicht gerade, aber es tat gut, wieder als Teil der Klasse dabei sein zu dürfen. Und es war nicht nur der Frontalunterricht; er durfte auch wieder im Training mitmachen! Zugegeben, er war von der Topposition auf den letzten Platz gerutscht, aber er war wieder dabei und gut genug, das Klassenziel mit hängen und würgen zu erreichen. Er hatte erwartet, seine Praktikumswoche dennoch im Büro vertrödeln zu müssen, aber tatsächlich hatte Centipeder ihm erlaubt, auf Patrouille zu gehen.

„Ein Bluff“, hatte der neue Chef von Sir Nighteyes Agentur beschlossen, „Da draußen weiß niemand, dass du mackenlos bist. Die sehen nur einen kräftigen jungen Kerl im Heldenkostüm und denken sich ihren Teil dazu. Deku hat eine klassische Verstärkungsmacke, wenn du als sein Aufpasser mit ihm unterwegs bist, und bei deiner Muskulatur, liegt die Annahme nicht fern, dass du ähnlich aufgestellt bist. Halt dich zurück, lass den Kurzen machen und pfeif ihn, wo nötig, noch zurück. Er sieht zu dir auf, das macht es noch leichter, anzunehmen, dass du ihm weit überlegen bist.“

„Außerdem haben Centipeder und ich genug zu tun, wenn wir nicht auf den Erstklässler aufpassen müssen“, fügte Bubblegirl hinzu, „Nicht, dass er Probleme machen würde, aber er weiß halt noch nicht viel.“ Sie zwinkerte Deku zu, der ermutigend zu Mirio hochsah. „Es wäre mir eine Ehre, mit dir auf Patrouille gehen zu dürfen, Senpai.“

„Na wenn das so ist“, meinte Mirio und rückte stolz seinen Helm zurecht, „Dann wollen wir uns da draußen mal sehen lassen. Lächeln nicht vergessen, Deku! Und setz die Mütze auf.“
 

Und schon waren sie unterwegs. Gut, das Wetter hätte besser sein können, aber der Regen war nicht stark und die Kostüme wasserfest. Dazu verlief die Patrouille relativ ruhig; ein paar Banden von Kleinkriminellen und Yakuza rangelte aktuell um die von der Acht-Silas Gesellschaft freigegebenen Vormacht im Unterweltgeschäft, aber von denen war keiner so stark, dass Deku die Schlägereien nicht alleine auflösen könnte. Der Junge hatte eine immense Power, und dass Mirio ihn allein kämpfen ließ erweckte den Eindruck der Überlegenheit. Gestandene Übeltäter wurden zu Lehrbeispielen für einen Fünfzehnjährigen degradiert und konnten doch nichts tun, um ihre Ehre zu verteidigen… Deku war einfach zu schnell und zu stark, obwohl er nicht danach aussah.

Ein einziger Schurke hatte es tatsächlich geschafft, an Deku vorbei auf Mirio loszugehen. Mit einem lauten: „Das gibt auf die Fresse, Angeber!“, hatte sich der aufgepumpte Waffenschieber auf ihn gestürzt, die Muskeln durch die Kraft seiner Macke auf das Doppelte vergrößert, und einen Moment hatte es ausgesehen, als wäre der Bluff vorbei. Mirio konnte nicht ausweichen und sich nicht durchlangbar machen, also tat er das einzige, was in der Situation Sinn machte: Er schlug mit voller Kraft zurück. Sein Arm war um ein paar Zentimeter länger als der des Gegners und er hatte es noch geschafft, sich so zur Seite zu drehen, dass dessen Schlag ins Leere ging, während seine eigene Faust dem Schurken die Nase brach. Mirio schaffte es gerade so, seine Überraschung zu verbergen. Deku tat sich etwas schwerer, entschuldigte sich aber so vehement dafür, den Kerl übersehen zu haben, dass Mirio es aussehen lassen konnte, als wäre der Kleine nur wegen des eigenen Patzers so aufgelöst.

„Ist schon okay“, meinte er abschließend, „Dafür bin ich ja dabei. Die nächste Gruppe schaffst du bestimmt wieder allein, ja?“ Er zwinkerte, und Deku lächelte wieder. Auch darin wurde der Erstklässler langsam immer besser.

Der protzige Schurke jammerte etwas über die mangelnde Fairness. Seine Verstärkungsmacke galt wohl nur der Angriffskraft, oder er hatte schlicht nie gelernt, sie defensiv einzusetzen. In jedem Fall war er wohl zu stolz, um überhaupt auf die Idee zu kommen, dass Mirios Schlag nicht ebenfalls von einer Verstärkungsmacke profitiert hatte… Centipeder hatte recht, der Bluff ging auf. Gegen seine Mitschüler an der UA hatte Mirio keine Chance, aber gegen diese weit weniger geübten Schurken… eine Macke zu haben oder nicht machte allein keinen Unterschied. Mirio lernte schnell, seine Kraft einzuschätzen, und fand einige Schurken, die er tatsächlich besiegen konnte, ohne ins Schwitzen zu kommen. Deku war immer in der Nähe, griff ihm aber nur so weit unter die Arme, wie es nötig war, den Schein zu wahren, und machte sich nicht unnötig Sorgen.

„Ich hab meine Macke lange nicht im Griff gehabt“, erklärte der Erstklässler, als die Beiden gegen Abend wieder im sicheren Büro saßen, „Ich konnte sie gar nicht benutzen, ohne meine eigenen Knochen zu brechen, nicht, bis ich bei Gran Torino lernen durfte. Deswegen… deswegen weiß ich, wie es ist, ohne Macke gegen Gegner zu kämpfen, die welche haben.“ Er sah aus, als wäre da noch viel, viel mehr dahinter, aber Mirio bohrte nicht nach. Wenn Izuku sich ihm anvertrauen wollte, würde er es tun, da war er sich sicher. „Es war toll, dich heute kämpfen zu sehen. Du bist wirklich unglaublich stark, Mirio.“

„Danke, das Kompliment kann ich gleich zurückgeben“, entgegnete Mirio, „Diese Schurken haben dich ja kaum kommen sehen!“

„Ich muss noch viel lernen“, meinte Izuku nachdenklich, „Das heute… diese Typen waren zum Glück alle nicht so stark. Ich kann immer noch kaum 20% meiner Kraft nutzen… sobald ich weiter gehe, zerreißt es mich fast. Das muss besser werden…“

„Mach dir nicht zu viele Sorgen“, unterbrach Mirio das Gemurmel, „Zwanzig Prozent sind doch gut! Das ist immerhin ein ganzes fünftel, oder? Für die Schurken heute hat es bequem gereicht, und gegen größere Gegner solltest du in deinem Alter sowieso noch nicht allein kämpfen müssen. Als ich in deinem Alter war, war ich froh, wenn ich mich nicht komplett blamiert hab.“

Izuku holte tief Luft und hörte mit dem Gemurmel auf, als es gerade an der Tür klopfte. „Ich geh schon!“, rief er und sprang sofort auf, etwas schneller, als eigentlich menschenmöglich sein sollte. Es war Aizawa, der in der Tür stand, und er war nicht allein.

„Eri!“ Mirio sprang sofort auf, um das Mädchen aus Aizawas Armen zu heben, und drückte sich die Kleine direkt an die Brust. „Was machst du denn hier?“

„Dich besuchen!“ entgegnete Eri fröhlich und erwiderte die Umarmung, „Du hast dein Heldenkostüm an, wie cool! Und Deku auch!“ Mirio setzte das Mädchen auf den Boden, damit sie auf den jüngeren Helden zurennen und auch ihn begrüßen konnte.

„Wollte sichergehen, dass du klarkommst“, meinte Aizawa, als er ins Büro trat, „Und Eri vermisst dich ein wenig, seit du wieder am Unterricht teilnimmst.“

„Klar komme ich klar“, meinte Mirio leichthin und ließ Aizawa eintreten. Der schien tatsächlich frisch geduscht zu sein, wenn auch wie üblich unrasiert. Die Haare sahen allerdings auch etwas besser aus, Mirio entdeckte ein paar sorgfältig geflochtene Zöpfe und mehrere bunte Haarspangen in den dichten schwarzen Locken. Es wirkte falsch in Kombination mit dem dunklen Heldenkostüm, und Mirio musste etwas schmunzeln.

„Hab gehört, du warst auf Patrouille?“

„Mit Deku, ja.“

„Die Schurken?“

„Nichts Wildes. Deku hatte alles im Griff, für mich sind nur die ganz Schwachen übriggeblieben.“

Aizawa sah ihn durchdringend an, aber Mirio hielt dem Blick lächelnd stand. Wenn man von vorne herein keine Macke hatte, war Eraserhead kein Held, den man fürchten musste… er war nur ein einfacher Mensch. Gut trainiert, klug, und seine Technik konnte einen das Fürchten lehren, aber auf dem Level konnte Mirio bequem mithalten. Er fühlte sich stark.

Der Lehrer seufzte. „Ich muss nachher noch nach Osaka“, beschwerte er sich, „Hast du das mit Tamaki mitbekommen?“

„Nein, was war denn?“ Nun machte Mirio sich plötzlich Sorgen.

„Nichts Wildes“, lenkte Aizawa schnell dagegen, während Izuku schon sein Handy zückte, um die Schlagzeile vorzulesen:

„Hochhausbrand in Osaka, Junghelden in Aktion“. Mirio beeilte sich, einen guten Blick auf das Handy zu werfen, aber Deku hatte das Video schon geladen und warf die Übertragung auf den großen Fernseher, bevor irgendwer ihn aufhalten konnte. Es war nur ein Zusammenschnitt der Liveübertragung vom Vormittag, trotzdem blieb Mirio vor Schreck fast das Herz stehen, als er sah, wie sein bester Freund sich auf unsteten Flügeln in die Luft schwang, um drei kleine Kinder vor dem sicheren Tod zu retten. Er erinnerte sich daran, wie sehr sich Tamaki schon in der Halle davor gefürchtet hatte, zu fallen, und da waren es nur wenige Meter gewesen. Das dort waren etliche Stockwerke, und trotzdem flog er wieder und wieder hoch, um noch mehr Kinder vom Dach zu holen und in Sicherheit zu bringen.

„Wie lange hat er dafür geübt?“, fragte Aizawa direkt.

„Nur die zwei Stunden in der Halle“, gab Mirio erstickt zurück. Er hatte sich aufs Sofa sinken lassen und nahm Eri in den Arm, die zu ihm gekommen war, um ihn zu trösten. Sie konnte spüren, wie Mirio zitterte, seine großen Muskeln waren fürchterlich angespannt. Es war schlimm, ihn so zu sehen, aber sie wollte helfen… also passte sie auf, dass Eraserhead auch sicher in ihre Richtung sah und umarmte den großen Jungen, wie Deku damals sie umarmt hatte. Mirio weinte beinahe, als er die Umarmung erwiderte.

„Ist er vorher schonmal geflogen?“, fragte Aizawa weiter. Der Fernseher zeigte nun, wie der junge Red Riot mehrere Erwachsene aus der Vordertür des brennenden Kaufhauses lotste, sicher hatte er ihnen dazu den Weg frei geräumt.

„Nur einmal“, antwortete Mirio, als die Kamera wieder auf Suneater umschaltete, der immer schneller und immer sicherer flog, „In der Mittelschule. Ich bin von einem Hochhaus gestürzt und er ist hinterhergesprungen.“ Und mehr als das; nicht nur, dass Tamaki sich bei der Landung so ziemlich jeden Beinmuskel gezerrt hatte, den es gab, er hatte auch die Flügel so lange behalten, bis jemand Mirio eine Decke gebracht hatte. Tamaki hatte vor Schmerzen und Angst geweint und trotzdem war er die ganze Zeit stehen geblieben und hatte seinen splitternackten Freund mit den Flügeln vor neugierigen Blicken und Fotografen geschützt. „Damals hat er nur den Fall gebremst. Richtig geflogen ist er unter freiem Himmel nie…“

Der Fernseher zeigte nun auch noch in Zeitlupe, wie Tamakis Flügel so nah an die aus dem Gebäude schießenden Flammen kam, dass die grauen Schwungfedern Feuer fingen. Die Flammen griffen nicht weit über und erstickten binnen zweier Flügelschläge, aber für den Moment bekam der Held ordentlich Schlagseite und musste neue Federn generieren, um wieder stabil zu fliegen. Mirio konnte nur hilflos zusehen und sich von Eri trösten lassen, während er mit großen Augen auf den Bildschirm starrte.

„Alles gut.“ Deku legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Der Einsatz war heute Vormittag schon. Es sind längst alle in Sicherheit. Suneater geht es gut.“

„D…danke…“ Mirio bemühte sich, die Information anzunehmen. Aber mit diesem Wissen… „Er… ist echt stark, was?“

Mirio hatte es als Kind geliebt, solche Berichte über die Einsätze echter Helden zu verfolgen. Wieso war es jetzt, da er die Helden kannte, nur so schwer? Deku schien weniger Probleme damit zu haben, er war schon wieder fleißig dabei, sich Notizen zu machen. Der Stift fuhr so schnell über die Seiten des Notizbuches dass Mirio glaubte, er könne Rauch aufsteigen sehen… für Deku war Suneater längst einer dieser echten Helden, die man im Fernsehen bewundern konnte, und wegen deren Sicherheit man sich keine Sorgen machte. Ein so cooler Held war in den Augen eines Kindes unbesiegbar… Und je länger Mirio selbst wieder hinsah, desto mehr spürte auch er diese uneingeschränkte Bewunderung. Suneater wurde immer besser, bald flog er, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Und er sah gut aus dabei. Die großen Flügel, der weiße Umhang, dessen Kapuze ihm längst nicht mehr ins Gesicht hing… Irgendwann war Suneater zu einem der Helden geworden, die Mirio als Kind bewundert hatte. Und wenn er sich auch Sorgen um seinen Freund machte lag das nur daran, dass er inzwischen wusste, dass auch Helden sterben konnten, und gewiss nicht an einem Mangel an Vertrauen. Suneater war so cool…

„Frau Amajiki war fassungslos“, grummelte Aizawa, „dass ein Profi wie Fatgum seine Praktikanten so einen Einsatz machen lässt, während er selbst kaum eingreift.“

„In der Form kann er auch nicht mehr als ich jetzt“, stellte Mirio fest, als die Kamera den sonst so dicken Profi zeigte, der gerade einen tieffliegenden Fledermausschurken – oder war es eine Schurkin? – aus der Luft holte. Der Sprung war beeindruckend, wie zu erwarten von jemandem, der mit 300 Kilo auf den Rippen noch sprang wie ein normalschwerer Mensch. Die Fledermaus wurde von Polizisten entgegengenommen, und nun erkannte man sie deutlich als Frau mittleren Alters. Sie hatte Fledermausflügel, große Ohren und eindeutig die Spur eines Huftritts im Gesicht. Vermutlich war sie nur so tief geflogen, weil Suneater sie erwischt hatte. Nicht übel.

„Ich hab ihr erklärt, dass die Kinder das können“, fuhr Aizawa fort, „Tamaki steht kurz davor, als Klassenbester seinen Abschluss zu machen, und sieh in dir an! Der ist jetzt schon besser als die Profis. Und kann fliegen, und dass nach zwei Stunden Hallentraining und einem Ernstfall!“

„Tamaki geht es gut, oder?“, erkundigte Mirio sich nochmal.

„Nur ein verstauchter Fußknöchel, soweit ich informiert bin“, winkte Aizawa ab, „Und Kirishima hat ein paar Verbrennungen, weil er sich mit einem explosiven Gastank angelegt hat. Sowas kommt vor, aber erklär das mal einer Mutter. Die will, dass ich nach Osaka fahre und mich überzeuge, dass Fatgum die Sache im Griff hat.“

Eri kuschelte sich in Miros Arme, froh, dass der große Junge sich wieder beruhigt hatte. Mirio strich dem Mädchen dafür liebevoll durch die Haare und zog sie noch etwas näher an sich. Er hatte es vermisst, mit der kleinen zusammen fernzusehen… auch, wenn es immer nur Magical Girl Serien gewesen waren. Die ‚Preyure 10‘ Mädels waren cool und Mirio war ihnen dankbar dafür, dass sie Sir zu Eri geführt hatten, aber es war nur ein Anime für kleine Mädchen. Suneater war real, und er war richtig stark geworden. Mirio platzte fast vor Stolz auf seinen Freund, erst recht, als der im Anschluss auf den Zusammenschnitt des Einsatzes sogar noch ein halbwegs kohärentes Statement vor der Presse abgab! Gut, er stand halb versteckt hinter Fat und verdrückte sich sofort wieder, aber er hatte immerhin zwei Sätze beigetragen ohne wegzulaufen. Fortschritt! Sicher lag es auch ein wenig am Einfluss des mutigen Erstklässlers, der den Reportern mit stolzgeschwellter Brust Rede und Antwort stand. Zumindest während des Interviews sah es so aus, als hätte Fatgum seine Praktikanten gut im Griff. Tamaki fühlte sich sicher hinter ihm, und Kirishima sah auch immer wieder zu dem großen Profihelden auf, um sich rückzuversichern. Mirio zumindest machte sich keine Sorgen.

„Ich ruf daheim an“, versprach er, „Mama bekommt Frau Amajiki eigentlich immer in die Spur. Aber Osaka ist schon cool, Eri hat sicher Spaß, wenn sie mit ihr dahinfahren. Vielleicht könnt ihr euch von Tamaki ein bisschen rumführen lassen, wenn er am Abend frei hat? Das wäre doch prima.“

Aizawa seufzte. „Mir geht es mehr um die Fahrzeit… aber ja, wenn du anrufen könntest wäre das toll. Machen wir einfach das Beste daraus, was, Eri?“

Eri nickte bestätigend. Sie konnte sich unter Osaka nicht viel vorstellen, aber Tamaki kannte sie. Er war der Held im weißen Mantel, der Lemillion und Erazerhead aus dem zerstörten Unterschlupf gezogen hatte, und ein guter Freund. Er war zwar ein bisschen schüchtern und redete nicht so viel, aber er war lieb zu ihr und brachte nach einer Praktikumswoche immer etwas zu Essen aus der anderen Stadt mit. Er hatte erzählt, dass er Schmetterlinge mochte, und weil Eri nicht wusste, was das war, hatte er ihr Bilder gezeigt. Sie erinnerte sich, wie seine Augen geleuchtet hatten dabei… Tamaki war jemand, in dessen Nähe man sich sicher fühlen konnte, soviel wusste Eri. „Ich will Tamaki besuchen gehen und die Stadt sehen, aus der er immer Takoyaki mitbringt“, entschied sie, „Das wird bestimmt schön.“

Mirio lächelte. „Da freut sich Tamaki bestimmt“, sagte er, „Und heute freu ich mich, weil ihr mich besucht.“ Und er freute sich wirklich. Es war in jedem Fall ein guter Tag, und so konnte es gerne weitergehen.

Am Ende gewinnen die Guten

Tamaki war sofort in sein Zimmer geflüchtet, ohne die anderen auch nur zu grüßen.

Aber das war okay, seine Mitschüler kannten ihn inzwischen zu gut, als dass sie etwas anderes erwartet hätten. Tamaki war nicht der Typ, der sich nach einem gelungenen Einsatz feiern ließ, also feierten seine Freunde ihn einfach ohne ihn. Tamaki hatte die Jubelrufe gehört und die Banner gesehen, zumindest die Idee war also sicher angekommen. Sollte er sich also ruhig unter seiner Decke verkriechen, bis er es verstand; Nejire und Mirio würden ihn schon auf den richtigen Gedankengang bringen. Und die beiden standen nun auch dem Rest der Klasse Rede und Antwort, soweit sie konnten.

„Die Flügel sind nicht neu“, gab Mirio bereitwillig Auskunft, „Aber Gänsefleisch ist nicht so leicht zu bekommen, und Tamaki hat sich nach dem ersten Mal auch nicht mehr wirklich getraut, zu fliegen.“

„Höhenangst?“

„Nein, das nicht. Aber es ist wohl was anderes, sich im 30sten Stock über die Brüstung zu lehnen, als ohne Sicherung in der Luft zu sein…“

„Das stimmt“, warf Nejire ein, „Ich hatte auch nie Höhenangst, aber als ich das erste Mal frei in der Luft geschwebt bin, bin ich auch voll erschrocken. Und meine Mama erst! Die hat heute noch Panik, wenn sie mich fliegen sieht.“

„Das macht es irgendwie nicht weniger cool“, überlegte einer der Jungs, „Ich meine, wenn man Hawks fliegen sieht, okay. Sieht super leicht aus, weil der Kerl eh alles kann. Aber Tamaki… der hat sich richtig angestrengt. Ich meine, man hat direkt gesehen, wie er kämpfen muss, wie viel Kraft es eigentlich braucht, in der Luft zu bleiben bei Wind auf der einen und Feuer auf der anderen Seite, von fallenden Trümmerteilen ganz zu schweigen. Aber er ist einfach drangeblieben und hat weitergemacht, bis alle Kinder in Sicherheit waren! Das spornt einen irgendwie viel mehr an als jemanden zu sehen, dem eh alles gelingt.“

„Tamaki ist eben nicht umsonst der stärkste unseres Jahrgangs“, stimmte eines der Mädchen zu, „Er ist schon mächtig cool, wenn er mal loslegt.“

Die Jungs in der Runde sahen allesamt etwas geknickt aus. Sie fanden sich selbst eigentlich auch ziemlich cool… wenn man ihnen vor drei Jahren gesagt hätte, wie sehr sie ausgerechnet gegen den schüchternen, weinerlichen Tamaki verlieren würden… aber inzwischen hatten sie ihn oft genug in Aktion erlebt um zu wissen, dass das eine Niederlage war, für die sie sich nicht schämen mussten, wenn sie sich wenigstens anstrengen.

Nicht so wie beim Training im Hafengelände… Mirio hatte ihnen allen eine mächtige Standpauke gehalten, weil sie sich von Hidokus übler Nachrede hatten einschüchtern lassen. Nicht nur, dass sie sich komplett blamiert hatten mit ihrer unbegründeten Angst; gegen einen echten Schurken wäre diese sinnlose Panik tödlich gewesen, sie hatten Glück, dass Tamaki ihnen nie gefolgt war und keine echte Bedrohung darstellte. Sie hatten Hidoku auch komplett in die Hände gespielt bei seinem Plan, Tamaki fertig zu machen, und die Prügel, die Mirio dafür ausgeteilt hatte, waren so wohlverdient, dass sich keiner ernsthaft gewehrt hatte. Außer Hidoku selbst, denn der hatte sich im Recht gefühlt und daher schmerzhaft erfahren müssen, dass seine Knochenrüstung auch ohne Permeation gegen Mirios Schläge abstank. Der Treffer in die ungeschützte Magengrube hatte dann erst recht gesessen.

Es war… ein gruseliger Kampf gewesen. Yuyu und die meisten anderen stärkeren Schüler hatten sich sofort entschuldigt, nicht, um der Rache zu entgehen, sondern aus tiefstem Herzen. Der Rest hatte seine Entschuldigung dann eher zerknirscht vorgebracht, die Arme über den schmerzenden Bauch verschränkt. Mirio war ohne seine Macke längst nicht mehr der stärkste in seiner Klasse, eher im Gegenteil. Aber er war schnell und stark, furchtlos im Angesicht der starken Macken seiner Gegner, und mit Nejire-chan und Suneater in seinem Rücken war er auch ohne Macke unangreifbar.

Als der Tag langsam in den Abend überging schlich Tamaki dann doch wieder in die Küche. Er hatte gehofft, dass die meisten anderen schon im Bett wären, daher blieb er zögernd im Türrahmen stehen als er sah, dass es nicht so war. Er wollte nur eine Kleinigkeit zu essen holen…

„Ah, Tamaki!“ Mirio hatte ihn natürlich sofort gesehen. „Willst du Kuchen? Wir haben dir was übriggelassen.“

Tamaki blickte zerknirscht zu Boden, am liebsten hätte er sich sofort wieder verkrochen. Aber Mirio hielt ihm schon einen Teller hin, und ihm blieb nichts anderes übrig, als die wenigen Meter zum Tisch zu gehen und das Angebot anzunehmen. Mirio zog ihm sogar noch einen Stuhl heraus und legte ihm gleich den Arm um die Schultern, um einer erneuten Flucht sanft vorzubeugen. Der Kuchen zumindest sah gut aus, das Stück war auch groß genug, um sich eine Weile ausgiebig damit zu beschäftigen. Immerhin machte keiner eine blöde Bemerkung.

„Schön, dass du da bist, Tamaki“, meinte Nejire vergnügt.

Tamaki verzog nur den Mund und kümmerte sich um seinen Kuchen. „Ich versteh nicht, warum ihr plötzlich alle wieder so nett zu mir seid…“ Seine Worte waren leise und mehr an den Kuchen gerichtet, trotzdem folgte ihnen eine peinliche Stille.

„Es ist nicht so, dass sie vorher absichtlich nicht nett zu dir gewesen wären“, meinte Mirio schließlich und erntete zustimmendes Gemurmel dafür. „Es waren nur ein, zwei Leute“, er blickte in die Runde und sah weder Hidoku noch die anderen beiden Lästermäuler. „die ernsthaft gegen dich gewettert haben. Und das so geschickt, dass beim ersten Mal nicht mal mir was dazu eingefallen ist, und du dazu noch jedes Wort hören konntest. Ich war total überrumpelt, und richtig sauer auf mich selbst, als mir hinterher klar geworden ist, wie das für dich aussehen musste. Den anderen ging es bestimmt nicht anders.“ Zustimmendes Kopfnicken in der ganzen Runde.

„Und was er dann im Training abgezogen hat war ja der Gipfel der Unverschämtheit“, stimmte Nejire zu, „Er hat alle vorgeführt, nur, um dir weh zu tun!“

Tamaki verkrampfte sich in seinem Stuhl, den Blick immer noch auf sein halbgegessenes Stück Kuchen geheftet. „Aber warum… was hab ich ihm getan…?“

„Er ist eifersüchtig“, meinte Yuyu in die entstandene Stille. Tamaki sah nicht aus, als könnte er nachvollziehen, warum man ausgerechnet auf einen wie ihn eifersüchtig sein sollte, daher fuhr sie schnell fort: „Ich meine, sieh dich an: Du bist cool! Vielleicht nicht jetzt in diesem Moment, aber dann sieh dir diese Schlagzeilen an.“ Sie wies auf ihr Handy, wo unter der Schlagzeile von gestern ein Foto zu sehen war, wie Suneater sich mit ausgebreiteten Flügeln und wehendem Cape von Fatgums Arm abstieß. „Du hast Einsätze gemeistert, an denen manche Profis gescheitert wären. Du hast ein Praktikum bei einem superbeliebten Profihelden, der sich auf dich verlässt und dich als Sidekick übernehmen will. Du bist offiziell der stärkste Schüler, der aktuell auf die UA geht.“ Einheitliches Nicken ringsum.

„Nur, weil Mirio…“, begann Tamaki, aber Yuyu winkte nur ab.

„Mirio spielt in seiner eigenen Liga“, meinte sie leichthin, „selbst, wenn er nicht aus dem Rennen wäre, bist du immer noch einer der Big Three. Und was, zumindest für Hidoku, am schlimmsten ist: Nejire, die offiziell zum hübschesten Mädchen der Schule gewählt wurde, ebenfalls eine der drei Besten dieser Schule, ist durchgehend nett zu dir. Hidoku denkt, ihr geht miteinander.“

Nun machte auch Nejire ein ungläubiges Gesicht.

„Das ist doch total albern…“, murrte Tamaki errötend.

„Genau!“, stimmte Nejire zu, „Ich trainiere und lerne den ganzen Tag, um so gut zu sein, und will auch als Profi groß rauskommen! Als ob ich da für eine Beziehung Zeit hätte…“ Eine Weile herrschte peinliche Stille, bis Nejires Gedanken zu ihren Worten aufschlossen. „Oh, aber wenn ich die Zeit hätte, wärst du natürlich eine gute Wahl, Tamaki. Ich find dich süß.“

Die restlichen Jungs am Tisch blickten reichlich deprimiert zu Boden.

„Keine unsinnige Annahme, dass das hübscheste Mädchen auch mit dem stärksten Jungen geht“, stimmte einer aus der Runde niedergeschlagen zu.

„Schon ziemlich oberflächlich, oder?“, meinte Nejire beleidigt. „Also echt.“

„Aber wenn du die Zeit hättest, mit einem zu gehen, stünde die Wahl zwischen Tamaki und Mirio, oder?“, vermutete eines der Mädchen.

„Stimmt schon“, gab Nejire zu, „Aber jetzt im Moment ist Mirio nicht sehr stark, oder? Ich meine, er ist immer noch gut, aber ohne seine Macke könnte er keinen von euch so leicht besiegen.“

„Genau“, stimmte Mirio zu, „Laut dem letzten Trainingsergebnis bin ich tatsächlich wieder ganz unten auf der Liste.“

„Ich mag dich trotzdem noch“, versicherte Nejire ihrem Freund.

„Ist ja nicht falsch“, meinte Yuyu, „Sich jemanden zu suchen, der einen notfalls beschützen kann. Ich würde auch nur einen Jungen wollen, der sich auch anstrengt, mit mir mitzuhalten.“

„Ach, ein netter Hausmann wäre auch okay“, überlegte Nejire ernsthaft, „Wenn man nach einem harten Arbeitstag heimkommt und gleich ein leckeres Essen auf dem Tisch steht… klingt nicht schlecht, oder? Aber mit seinem Partner zusammen gegen Schurken zu kämpfen wäre natürlich auch super.“ Sie überlegte noch eine Weile angestrengt. „Ach, aber das hat alles später noch Zeit, ich bin je erst siebzehn. Und muss für die Abschlussprüfung lernen und noch ganz schön hart trainieren, damit ich Ryuko nachher keine Schande mache. Die Erstklässler, die mit mir ins Praktikum gehen, sind super motiviert, das macht einem total Lust, sich anzustrengen, nicht wahr? Tamaki, Mirio, ihr habt auch superstarke Erstklässler bei euch, ja? Und Mirio! Du warst auch wieder auf Patrouille diese Woche, richtig? Erzähl doch mal, erzähl! Wie war es?“

Es dauerte noch eine Weile, bis Mirio tatsächlich zu Wort kam, um die Frage zu beantworten, aber der Themenwechsel hatte den gewünschten Effekt. Die Aufmerksamkeit lag plötzlich wieder ganz bei Mirio, der begeistert erzählte, wie er ganz ohne seine Macke gegen Kleinganoven und Waffenschieber gekämpft und gewonnen hatte, wie extrem cool sein Kohei Deku war, wenn es um die stärkeren Gegner ging, und was für Supportitems er bei der verrückten Erstklässlerin aus der Supporterfakultät in Auftrag geben wollte, um noch effektiver zu werden. In seinem Schatten konnte sich Tamaki entspannen, und er genoss es ein wenig, Teil dieser lauten, fröhlichen Gruppe zu sein, ohne gleich zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu haben.
 

Er war direkt etwas enttäuscht, als Aizawa um 22 Uhr hereinplatzte und die Party für beendet erklärte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Angelique
2020-05-20T19:04:55+00:00 20.05.2020 21:04
Sorry ich meinte Mirio
Von:  Angelique
2020-05-20T19:02:15+00:00 20.05.2020 21:02
Bis jetzt klingt die Geschichte sehr interessant. Mirko gehörte zu meinen Liebling Charaktere. Ich werde die Geschichte auf jeden Fall weiter lesen.


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