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Aus der Dunkelheit

von

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Gib alles, Tamaki!

Das Gebäude stand in Flammen. Fat hatte Recht, es war keine Zeit mehr, irgendwas vorzubereiten oder passende Verstärkung zu suchen. Das Kaufhaus musste evakuiert werden, und zwar jetzt.

„Die Feuerwehr ist unterwegs“, informierte Fatgum seine Praktikanten, „zwei bis fünf Minuten. Ein Held mit Wassermacke ist auch endlich auf dem Weg, aber der kommt vom anderen Ende der Stadt!“

„Was sollen wir tun?“ Tamaki fühlte sich überfordert. Er war erfahren genug um zu sehen, dass sie nicht die Richtigen waren für einen Job wie diesen. Fatgum war praktisch nutzlos ohne sein Fett, immer noch groß und stark, aber seine Macke konnte er so nicht verwenden. Kirishima war praktisch zu Stein erstarrt, er konnte vielleicht in das Gebäude rennen, ohne zu verbrennen, aber die Situation auf dem Dach…

„Da sind die Kinder!“, stellte der Erstklässler erschrocken fest und zeigte nach oben: Auf dem Dach des brennenden Gebäudes war die Kindergartengruppe zu sehen, deren Betreuerin gerade verzweifelt versuchte, sie gegen eine menschliche Fledermaus zu verteidigen. Die Situation, die bis eben noch nur bedrohlich war, musste genau in diesem Moment eskalieren; ungeachtet der beruhigenden Worte des Polizeipsychologen und vielleicht angestachelt vom Weinen ihrer Schützlinge geriet die Dame mit der Fledermausmacke so in Rage, dass sie ihre Kollegin nun körperlich angriff. Die junge Frau konnte ihr nichts entgegensetzen und wich zurück, und schon passierte, was alle befürchtet hatten: Ein Schlag mit den ausladenden Fledermausflügeln, und die ersten Kinder fielen vom Dach, vielleicht zehn oder fünfzehn Stockwerke in die Tiefe.

„Wirf mich hoch!“, befahl Tamaki, warf die schweren Taschen von seinem Kostüm ab und sprang auf Kirishimas Arm. Der Erstklässler wirkte verwirrt, zögerte aber nicht. Er war nicht so stark wie Mirio, dafür brauchte Tamaki sich keine Sorgen um seine Krallen machen; Kirishimas Arm fühlte sich an wie die Felsen der Trainingshalle, nur beweglich genug, ihm den nötigen Schwung nach oben zu geben.

Es war nicht wirklich genug, nicht so gut, wie er es mit Mirio geübt hatte, und Tamakis Flügelspitzen trafen den Boden noch mit schmerzhafter Härte. Aber der Aufschlag reichte, er kam weit genug hoch, noch einmal mit den Flügeln zu schlagen. Tamaki ignorierte die Schmerzen und kämpfte weiter, ein Flügelschlag nach dem anderen. Das hier war keine geschlossene Trainingshalle, hier konnte er höher aufsteigen, viel höher, und nichts würde ihn retten, wenn er fiel. Aber da waren drei kleine Kinder in der Luft, kaum vier oder fünf Jahre alt, die hatten niemanden außer ihm und kamen ihm viel zu schnell entgegen. Keine Zeit, nachzudenken. Seine Flügel brannten, wo sie den harten Beton getroffen hatten, und die Muskeln sträubten sich gegen die Anstrengung, aber Tamaki schaffte den Steilstart und schloss schnell zu den Kindern auf. Zwei konnte er mit seinen Händen erreichen, das dritte bekam er nur noch mit den Krallen eines Hühnerfußes zu fassen. Das Schwerste war damit erstmal geschafft, nun musste er irgendwie sicher zurück nach unten kommen… ohne hinzusehen, denn Tamaki wollte gar nicht wissen, wie hoch er gerade flog. Das Dach des Kaufhauses war näher als der Boden, aber hinunter war immer leichter… gerade mit dem zusätzlichen Gewicht der Kinder war die Schwerkraft ohnehin sehr bemüht, ihn wieder auf den Boden zu ringen, er sank also automatisch, obwohl er weiter dagegen ankämpfte. Mit fest geschlossenen Augen rang Tamaki um Beherrschung, da raste plötzlich die Fledermaus auf ihn zu. Im Gegensatz zu ihm konnte die alte Betreuerin richtig fliegen, und in ihrer Wut schien sie entschlossen, ihn aus der Luft zu holen. Tamaki zögerte nicht lange, manifestierte einen Rinderhuf an seinem freien Bein und trat der Frau direkt ins Gesicht. Der Schwung wirbelte ihn herum, und nun war es vorbei; er konnte den Boden unter sich sehen, viel, viel weiter weg als er sein sollte, und dort waren Fatgum und Red Riot, kaum größer als Ameisen. Tamaki spürte die Panik, die seinen Körper durchströmte und seine Flügel fühlten sich einen Moment taub an, gleichzeitig hörte er das Mädchen in seinem Arm schreien, als es sich ängstlich an seine Brust klammerte. Die Kinder brauchten ihn, und zwar jetzt! Keine Zeit, Panik zu schieben, das konnte er später machen. Tief durchatmen, einmal kräftig mit den Flügeln schlagen und dann langsam nach unten schrauben… wobei langsam sich immer noch anfühlte wie ein Ritt auf der Achterbahn. Auch die Luft selbst machte ihm Probleme; hier war er im Freien, hier gab es Wind und Thermik, die er aus der Halle nicht kannte. Er hätte mehr üben müssen, auch und gerade außerhalb der Halle, aber dafür war es jetzt zu spät und er musste es so schaffen.

„Fatgum, hier!“ rief er, und der Held reagierte sofort. Schlank konnte er kaum als lebendes Sprungkissen dienen, aber er sprang Tamaki entgegen und fing den kleinen Jungen aus dessen Krallen im selben Moment, als Tamaki ihn loslassen musste um die Füße auf den Boden zu stellen. Der Jungheld sah komplett erledigt aus, völlig verschwitzt und bleich wie ein Gespenst, aber er schaffte es, die Kinder in seinem Arm sanft abzusetzen und rappelte sich sofort wieder auf. „Ich muss nochmal hoch, wo ist Red Riot?“

„Drinnen“, antwortete Fatgum und lotste die drei Kinder in Richtung der zivilen Ersthelfer, die sie weinend entgegennahmen, „Willst du nochmal hoch?“ Tamaki sah nicht so aus, aber er nickte entschlossen. „Spring auf, ich werf dich!“

Tamaki war relativ leicht für einen Teenager seiner Größe, und anders als sein Praktikant war Fat daran gewöhnt, auch mal erwachsenen Helden eine Starthilfe zu geben. Tamakis Krallen schnitten ihm unangenehm ins Fleisch, als er den Jungen hochwarf, aber das störte ihn kaum. Es war toll zu sehen, wie der sonst so ängstliche Junge sich ohne zu zögern in die Luft schwang, um die Kindergartenkinder vom Dach des brennenden Kaufhauses zu retten, und es fühlte sich gut an, zumindest einen kleinen Beitrag leisten zu können; eben hatte er noch gedacht, er bräuchte einen wie Hawks hier, nun konnte plötzlich sein eigener Schüler fliegen und sah dabei fast noch cooler aus als der Held Nummer Zwei. Fatgum konnte nicht anders, als breit zu grinsen, als er sich wieder den Schurken zuwandte, die das Feuer verursacht hatten.

Tamaki stieg derweil wieder auf. Fatgum hatte ihm ordentlich Schwung mitgegeben und seine Flügel wurden langsam warm, das machte es leichter. Trotzdem spürte er die Anstrengung, dass er diesmal den ganzen Weg fliegen musste, um auf dem Dach zu landen. Das Feuer reichte noch nicht bis ganz hier hoch, aber der Gang zum Treppenhaus war eingestürzt, das konnte er sofort sehen, als er neben dem kleinen Spielplatz landete. Er hätte gern etwas gerufen, sowas wie „Keine Angst“ oder „Ich bin hier“, aber sein Mund war viel zu trocken und es hätte ohnehin nicht sehr überzeugend geklungen.

Die Kinder, es waren noch sechzehn, und ihre junge Betreuerin weinten vor Angst. Sie hatten sich im Sandkasten zusammengekauert, jedes der Kinder bemüht, ein wenig Platz in den Armen der Ersatzmutter zu finden, die der Gefahr doch ebenso hilflos gegenüberstand wie ihre Schützlinge. Tamaki schluckte und sprang auf die Gruppe zu. „Ich bringe euch hier runter“, versprach er, und es klang immerhin selbstbewusster als er sich fühlte, „Immer drei auf einmal.“ Er wusste, dass er Blickkontakt suchen und aufmunternd lächeln sollte, aber momentan war es für ihn schon viel, nicht wieder die Kapuze ins Gesicht zu ziehen. Nur mit viel Kraft gelang es ihm, der jungen Frau in die Augen zu sehen, und ihm fehlten die Worte, sein Anliegen zu formulieren. Er schämte sich für seine soziale Hilflosigkeit und dafür, dass sein Blick die verängstigte Frau geradezu um Hilfe anflehte. Aber die Betreuerin war stark, und sie verstand. „Honda, Yuki, Hanako“, bestimmte sie, „wollt ihr zuerst mit dem Helden fliegen gehen?“

Sie hatte zielsicher die mutigsten Kinder ausgewählt, und der kleine Yuki verstand sofort. „Jaaa!“, rief er, rannte begeistert auf Tamaki zu und zog sich an ihm hoch, „Ich will als Erster!“ Der Kleine trug ein auffälliges T-Shirt im Hawks-Design und wedelte mit einer passenden Actionfigur, und seine großen Augen funkelten, als Tamaki die Flügel hob, um seine Federn zu sortieren. Yukis Begeisterung schwappte auf seine Kindergartenfreunde über, und viele von ihnen sahen mit leuchtenden Augen zu, wie ihr Anführer auf Tamakis Schultern kletterte, während dieser den kleinen Honda und die süße Hanako auf seine Arme hob. „Schön anschnallen“, murmelte Tamaki und ließ Sojaranken sprießen, um die Kinder zu sichern, gerade Yuki, den er nicht selbst festhalten konnte, „Und los!“

Achterbahn, dachte er bei sich, stell dir einfach vor, es wäre wie auf der Achterbahn, dann ist es nicht so gruselig… Die Kinder zumindest kreischten vergnügt, als Tamaki sich im Gleitflug nach unten schraubte. Seine Flügel zitterten im Wind, immer wieder musste er heftig rudern, um sich nicht von einem plötzlichen Zug aus der Bahn werfen zu lassen oder in ein Luftloch zu fallen. Mit zitternden Knien landete er wieder auf dem Beton, für den Moment hocherfreut, festen Boden unter sich zu wissen, und mehr als willig darauf zusammenzubrechen und liegen zu bleiben. „Nochmal, nochmal“, kreischte Yuki begeistert, als ein Feuerwehrmann ihn von Tamakis Schultern hob um ihn und die anderen zur Versorgungsstation zu bringen. Tamaki raffte sich auf. Seine Beine zitterten, seine Flügel schmerzten, und kalter Schweiß rann ihm aus allen Poren den Körper herab. Er wandte sich wieder dem Gebäude zu, neben dem die Feuerwehrleute gerade ein großes Sprungkissen aufbauten, aber darauf konnte er noch nicht zählen. Inzwischen schlug das Feuer schon aus mehreren Fenstern, vorranging um den zehnten Stock herum.

„Suneater!“ Fatgum war gleich bei ihm. Er sah abgekämpft aus und besorgt. „Alles okay?“

„Ich muss nochmal hoch!“, antwortete Tamaki mit überraschend fester Stimme. Auf die eigentliche Frage ging er lieber nicht ein.

„Gut, komm her!“

Fat warf ihn hoch, fast noch sicherer und schwungvoller als vorher, und Tamaki war wieder in der Luft. Seine Flügel brannten vor Anstrengung, aber er spürte es kaum noch. Solange noch Kinder dort oben waren musste er weitermachen, zusammenbrechen konnte er hinterher. „Okay, die nächsten!“, rief er, kaum, dass er wieder auf dem Geländer saß. Diesmal wurde er sofort von drei Kindern angesprungen, die Betreuerin musste die Zeit genutzt haben, ihre Klasse zu sortieren und einen Plan zu machen, der ihr und den Kindern Sicherheit gab. Sie verließ sich auf ihn. Tamaki ging in die Hocke, um das größte Kind aufspringen zu lassen, nahm die beiden kleineren unter die Arme und sprang wieder ab. Ein Stück fallen lassen, dann gleiten. Mit der Übung wurde es einfacher, die Kinder hielten es für einen Spaß, und er hatte beide Füße frei, um für die Landung kräftige Hufe wachsen zu lassen. Das Sprungkissen war inzwischen ganz entfaltet, ein mächtiger Motor arbeitete daran, es aufzublasen. Tamakis Beine schmerzten vom wiederholten Aufprall, aber mit etwas Glück konnte er sich bei seiner nächsten Landung in das Kissen fallen lassen. Noch zehn Kinder und die Frau, erinnerte er sich, fast geschafft.
 

Fatgum stand schon bereit. Es war erst das dritte Mal, aber er warf ihn schon routinierter als Mirio es nach zwei Stunden Übung getan hatte. Die Kraft eines Profis… Tamaki durfte seinen Chef nicht enttäuschen. Seine Flügel schmerzten nicht mehr, überhaupt tat ihm kaum noch etwas weh, und die Strecke bis zum Dach erschien ihm auch etwas kürzer, obwohl er nun den Flammen aus den Fenstern und dem Wasser aus den Schläuchen ausweichen musste. Seine Hühnerkrallen griffen routiniert nach dem Geländer um den Schwung zu bremsen, dann sprang er leichtfüßig aufs Dach und nahm die nächsten Kinder entgegen, diesmal alles Mädchen, von denen eines bitterlich weinte vor Angst. „Ist gleich vorbei“, murmelte Tamaki leise und ließ eine Sonnenblume in seiner Hand wachsen, „Halt die fest, bis wir unten sind, ja? Dann kann dir nichts passieren.“ Es war eine blanke Lüge, natürlich, aber das Kind beruhigte sich trotzdem sofort und ließ sich auf den Arm nehmen. Tamaki flog wieder herunter, und tatsächlich, die Feuerwehr hatte ihr Kissen aufgeblasen und wank ihm, dort zu landen. Es war nicht gerade weich, aber um ein Vielfaches besser als der Beton, und eines der Mädchen quietschte vor Vergnügen, als er in den Falten des dicken Stoffes einsank wie in Fatgums Körper. Tamaki ließ die Mädchen los, damit sie selbst aus dem Kissen klettern konnten, und krabbelte auf allen vieren herunter und wieder Richtung seines Chefs.

Noch sieben Kinder. Langsam wurde es anstrengend. Die angenehme Taubheit vom letzten Flug wich einer schleichenden Erschöpfung, die durch die nächste Landung im Sprungkissen und den nächsten kraftzehrenden Steilstart nicht besser wurde. Noch vier Kinder. Noch eines. Tamaki war am Ende seiner Kräfte, lang würde er die Flügel nicht mehr halten können. Er hoffte, es würde noch reichen; es war nur noch dieses eine, etwas dickere Kind und die Betreuerin, die sicher auch keine fünfzig Kilo wog. Nur noch einmal… aber kaum, dass er das Dach erreicht hatte, musste er die Flügel verschwinden lassen. Es ging nicht mehr, die Zeit war um, das winzige Stück trockene Gänsefleisch zu gut verdaut. Er dachte an die Taschen mit Proviant, die unten am Boden lagen, weil sie ihn zu schwer gemacht hätten. Aber Gänsefleisch war darin ohnehin keines mehr, nur Hühnchen. „Alles okay? Geht es Ihnen gut, Herr Held?“ die Betreuerin hatte sich über ihn gebeugt, den rundlichen Jungen hielt sie an der Hand. Sie sah besorgt aus und Tamaki konnte nur den Blick abwenden. „Tut mir leid“, murmelte er und hatte sofort wieder die Stimme des Prüfers im Ohr, der ihm diese Worte verboten hatte, „Ich bin nicht Hawks. Meine Flügel halten nicht ewig…“

„Ist schon okay“, versicherte ihm die Betreuerin, „Du bist jung, nicht wahr? Wie heißt du?“

„S…suneater.“

„Ein cooler Name, findest du nicht auch, Genta?“ Der dicke Junge nickte schüchtern. Dann gab es plötzlich einen Ruck, als würde der Boden nachgeben. Das Feuer musste etwas Wichtiges beschädigt haben, das Gebäude kam in Schieflage. Nicht mehr lang und es würde einstürzen.

„Ich bringe euch hier runter“, versprach Tamaki entschlossen.

„Ohne die Flügel?“

„Ja. Vertraut mir.“ Es klang selbstbewusst, Tamaki war beinahe selbst überrascht. Trotzdem hob er sich den kleinen Genta auf den linken Arm und wies die Betreuerin an, auf seinen Rücken zu klettern, bevor er beide mit den Sojaranken sicherte. „Es wird etwas langsamer und nicht so lustig, aber ich bringe euch in Sicherheit. Wie heißen Sie?“

„Der Junge heißt Genta“, wiederholte die Frau, „Ich bin Fräulein Hanami.“

„Ein schöner Name.“ Smalltalk. Tamaki war immer schon schlecht gewesen in sowas. Aber zumindest die Namen auszutauschen war wichtig, es gab den Menschen Sicherheit, wenn sie merkten, dass sie dem Helden wichtig waren. Auch, wenn Tamaki sich gerade wenig heldenhaft fühlte… er war nicht Hawks, er war selbst mit Flügeln alles andere als cool, aber so wie jetzt, wenn er mit Oktopustentakeln an Händen und Füßen die Wand hinunterkletterte… er war wie ein schleimiger Kopffüßler, der senkrecht die Wand entlangwanderte. Aber er fühlte sich sicherer so, die Tentakel waren ihm vertraut, er benutzte sie seit Jahren beinahe täglich, weil es bei Fatgum durchgehend Takoyaki zu essen gab. Die Saugnäpfe nacheinander an die Wand zu pappen und wieder zu lösen, um sie ein Stück weiter erneut aufzusetzen… der Bewegungsablauf war nicht weniger komplex als ein Flügelschlag, aber er beherrschte ihn im Schlaf und musste sich nicht um Wind und Thermik scheren.

Das Gebäude brach immer weiter ein und geriet stark in Schieflage, aber auch das war kein Problem, wenn man fest an der Wand klebte. Die Schwerkraft konnte ihm so gar nichts, dafür waren die Saugnäpfe zu stark, und wenn doch einmal ein Stück Wand unter ihm wegbrach musste er nur eine Hand oder einen Fuß neu aufsetzen, während die anderen Glieder noch fest am Rest des Gebäudes hingen. Es war langsamer als zu fliegen, aber dafür sicher. Selbst, wenn er doch mal springen musste, konnte er die Tentakel einfach verlängern, um schnell wieder an den stabilen Teil der Wand zurückzukommen, und die Landung war auch nicht mehr als ein einfacher Schritt zurück auf den waagrechten Boden. Trotzdem zitterten Tamaki die Beine, als er, in gebührendem Abstand vom Gebäude, seine Passagiere losließ, damit sie den winkenden Feuerwehrleuten entgegen in die sichere Rettungsstation laufen konnten. Fräulein Hanami nahm ihn überraschend an der Hand und half ihm, selbst außer Reichweite der Flammen zu kommen, damit er sicher im Schatten des Feuerwehrlöschzugs zusammenbrechen konnte, wo es keiner sah. Sie drückte ihm sogar noch ermutigend die Schulter, ehe sie zu ihren Kindern zurücklief um mit ihnen, laut jubelnd, die gelungene Rettung zu feiern. Diese Kinder hatten wirklich Glück… ihre Betreuerin war die wirkliche Heldin hier. Tamaki war einfach nur fertig mit der Welt… trotzdem war er nicht ganz unglücklich, als Fatgum auf ihn zueilte, um ihn vom Boden hoch und in seine Arme zu zerren. „Suneater, mein Junge! Du warst großartig!“

Tamaki sagt nichts darauf. Großartig war nicht das Wort, dass er für seine Leistung verwenden würde… es war eher sowas wie ‚gerade noch geschafft‘ oder ‚mit Mindestpunktzahl bestanden‘. Aber er war erleichtert, dass er sich endlich ausruhen konnte, und ließ den Kopf auf Fatgums Schulter sinken. „Wie geht es Red Riot?“, fragte er noch.

„Alles Prima. Er ist bei den Sanis, hat aber nur ein paar leichte Verbrennungen. Sieht aus wie Sonnenbrand, eigentlich harmlos, wenn man bedenkt, dass er mitten durchs Feuer gelaufen ist um einen brennenden Gastank zu löschen... Ihr Kids seid echt der Hammer. Komm, lass du dich auch mal anschauen. Bist du verletzt?“

„Nur müde“, meinte Tamaki, ließ aber zu, dass Fat ihn hochhob und wie ein kleines Kind auf dem Arm trug. Er fand es übertrieben, dass die Notärztin sich extra Zeit für ihn nahm, und hörte kaum hin, als sie über seinen Zustand meckerte. Knöchel verstaucht, Zerrungen hier und da und dort, überlastet… „Zwei Tage ausruhen“ verstand er allerdings, und das klang doch sehr attraktiv im Moment. Kirishima neben ihm grinste wie ein Idiot. Er sah unverletzt aus bis auf die Rötungen an seinen Armen, die jemand dick mit Salbe beschmiert hatte.

„Ich hab dich fliegen gesehen, Mann“, raunte er Tamaki zu, kaum, dass die Ärztin verschwunden war, „Das war ja Megacool!“

„Ich hab nur mit den Flügeln gepaddelt wie ein Ertrinkender“, wehrte Tamaki verlegen ab.

„Sag sowas nicht. Du sahst toll aus! Ich war total überrascht, ich wusste gar nicht, dass du fliegen kannst! War es das, was du neulich mit Mirio geübt hast? Deine Macke ist echt sowas von vielseitig! Gibt es überhaupt irgendwas, was du nicht kannst?“

„Ähm… vor fremden Menschen sprechen?“, bot Tamaki an. Kirishima lachte herzlich. Dieser Junge… der konnte noch im Rettungswagen sitzend so aussehen, als hätte er keine Sorge auf der Welt. „Du warst auch ziemlich cool“, meinte Tamaki ehrlich, „Einfach in ein brennendes Haus zu rennen…“

„Klar, was sonst?“, kam die lockere Antwort, „Meine Macke kann nicht viel, aber was sie kann, macht sie gut. Mir tut so schnell nichts weh.“ Es hätte überzeugender geklungen, wenn er nicht vor Schmerz gezuckt hätte, als er bekräftigend den verbrannten Arm hob.

„So Jungs, alles gut?“ Erkundigte sich Fatgum, „Lässt die Ärztin euch laufen?“

„Ich soll mich zwei Tage ausruhen“, gab Tamaki zu, „Und den rechten Knöchel schonen.“ Er wies auf den dicken Verband, den man ihm angelegt hatte. „Aber sonst geht’s mir gut.“

„Bei mir ist alles flott, muss nur die Verbrennungen eincremen und viel trinken“, ergänzte Kirishima.

„Ich hab Hunger“, erklärte Fatgum zu niemandes Überraschung, „Kommt ihr mit zu MacKing?“ Die beiden Praktikanten jubelten. Natürlich kamen sie mit, wer sagte schon nein zu Burgern? Fat jedenfalls nicht. Er hatte sich während des Kampfes ein paar Dosen aus Suneaters Vorratstaschen gemopst, aber das waren Konserven mit speziellem Fleisch, Obst und Gemüse für dessen Macke, nicht gerade die Kalorienbomben, die Fatgum für seine brauchte. Es hatte gereicht, der Not die Spitze zu nehmen, aber mehr dann auch nicht. Er brauchte Burger, Takoyaki, Mayo und irgendwas Frittiertes, was vor Fett triefte und einem direkt auf die Hüften ging. Da war nämlich gerade gar nichts, nur stinknormale Muskeln und Haut. Er hasste es, sich bei seiner Arbeit auf die Praktikanten verlassen zu müssen, während er selbst nutzlos danebenstand. Die Jungs waren gut, keine Frage, aber sie waren noch so jung… in dem Alter sollte man so einen Einsatz nicht allein stemmen müssen. „Ihr wart echt klasse heute“, lobte Fat daher überschwänglich, „Ich lad euch ein, also esst, soviel ihr wollt, ja? Das habt ihr euch verdient.“

Die Nachbesprechung des Einsatzes würde er dann einfach bei Tisch führen, wenn er wieder etwas im Magen hatte und die Kurzen von ihren Adrenalin-High runter waren. Zum Glück war die Filiale des Burgermagnaten gleich um die Ecke. Man kannte ihn dort und würde ihm ohne lange Fragen alles auf den Tisch stellen, was der Laden zu bieten hatte. Und so saßen die drei Helden nur wenige Minuten später um einen runden Tisch, auf dem sich ein ganzer Berg leckerer Sachen stapelte. Während Fatgum einfach in sich hineinschaufelte, was er am schnellsten zu fassen bekam, war Tamaki wie immer sorgsam bemüht, von allem etwas zu erwischen, und wenn er graben musste, um in der Menge an Rinderhack einen einzelnen Fischburger zu finden.

„Frag doch einfach, wenn du was Besonderes suchst“, riet Kirishima, „Die Bedienung kommt doch eh alle fünf Minuten vorbei.“

Tamaki warf ihm einen vielsagenden Blick zu und zog kommentarlos eine Schachtel Nuggets zu sich. Der Jüngere zuckte nur die Schultern und wandte sich wieder seinem Burger zu. Er musste nicht wie blöd Fressen, um seine Macke nutzen zu können, aber auch er konnte gut mithalten, wenn es ums Essen ging. Leute aus einem brennenden Kaufhaus zu retten machte durchaus hungrig. Er machte seinen älteren Kollegen keine Konkurrenz, aber das störte ihn nicht. Er hatte gutes Essen, gute Gesellschafft, und es war schön zu sehen, wie Fatgum und Suneater mit jedem Bissen wieder an Farbe gewannen. Die beiden waren beeindruckend, und Kirishima war stolz, mit so großartigen Helden zusammenarbeiten zu dürfen.

„Ich bin echt froh“, meinte Fat, als er endlich genug gegessen hatte, um zwischen zwei Burgern mal Luft zu holen, „Dass ihr heute hier wart.“

„Danke, dass wir hier sein dürfen!“, entgegnete Kirishima sofort, während Tamaki sich gezielt mit seiner Cola beschäftigte. Fat lachte.

„Ich meins ernst, Kurzer. Nach dem Einsatz heute früh… ich hab alles verbrannt, was ich hatte, ich konnte heute nur dumm dastehen. Meine Kraft hat gerade so gereicht, um den Halunken eine Standpauke zu halten, aber das war’s dann auch schon. Die Menschen in dem Gebäude, und vor allem diese kleinen Kinder… ich konnte nur zusehen.“

Er hatte nichts tun können, als die durchgedrehte Fledermaus die Kinder vom Dach geworfen hatte. Wenn Tamaki nicht so schnell reagiert hätte… „Ein Glück, dass wir unseren Suneater hatten. Hättest ruhig früher mal verraten können, dass du fliegen kannst! Obwohl, wenn du das beim Sportfest schon gezeigt hättest, hätte Hawks dich mir noch weggeschnappt. Der greift sich alles, was Federn hat…“

„Er… hat es versucht…“ murmelte Tamaki in seinen Becher.

„Echt jetzt? Der Held Nummer zwei hat dich angeworben, und trotzdem kommst du zu mir?“

Tamaki nuschelte irgendwas von ‚Hawks ist gruselig‘ und machte sich so klein wie irgendwie möglich. Kirishima lachte herzlich. Es war richtig ansteckend.

„Ne, im Ernst, ich find’s toll, dass du hier bist, Tamaki. Nicht nur heute, du bist der beste Praktikant, den ich je hatte, und die anderen waren auch nicht gerade schlecht! Ich kanns kaum erwarten, dass du als Sidekick bei mir anfängst, die Leute sind immer so verwundert, wenn ich ihnen erklären muss, dass du noch zur Schule gehst. Ist ja zum Glück nicht mehr lang.“

„Sprich bitte nicht von der Abschlussprüfung…“, wimmerte Tamaki leise.

„Wieso? Die packst du doch mit links.“ Tamaki sah nicht so überzeugt aus, und auch Kirishima war ein bisschen blass geworden. Fat seufzte. „Die UA ist echt hart, was? Macht euch nichts draus, ich glaub jedenfalls an euch. Nichts, was die euch da antun, ist schlimmer als die Realität. Und Prüfungen kann man immer nachholen, wenn's mal nicht klappt.“

„Hilft nur nicht viel, wenn man zu blöd zum Rechnen ist…“, murmelte Kirishima, gedanklich wieder bei Ektoplasma und seinem Test.

„Die Wahrscheinlichkeitsrechnung kann ich dir auf dem Heimweg nochmal erklären, wenn du willst“, bot Tamaki an, „Deswegen lassen die einen normal nicht durchfallen.“

„Danke, damit rettest du mir echt das Leben!“

„Ist doch nur Mathe…“, wehrte Tamaki ab.

„Unser Suneater ist eben durch und durch ein Held, was?“, strahlte Fatgum. „Oh, das erinnert mich an was. Nachdem du ja bald fest bei mir anfängst, hat meine Merchandise Abteilung mal ein paar Vorschläge gemacht. Die wollen Pullis und Actionfiguren von dir rausbringen, sobald du deine Lizenz hast, ist doch cool, oder?“ Tamaki sah eher schockiert als erfreut aus, aber Fatgum ließ sich davon nicht stören. „Ich hab schon ein paar Hoodies im Büro liegen, die kannst du deinen Freunden mitbringen. Ein Plüschie für Nejire gibt’s auch, weil sie drum gebettelt hat. Nach dem Vorfall heute werden die Merchandise-Leute aber sicher an Sondereditionen mit Flügeln arbeiten, soviel ist sicher!“

„Ich wüsste nicht, wer sowas kaufen würde…“, nuschelte Tamaki und beschäftigte sich konzentriert mit seinem nächsten Burger.

„Also die Plüshies weniger, aber so ne Actionfigur hätte ich schon gerne“, überlegte Kirishima, „Wär doch voll cool, gerade, wenn man Flügel und Krallen montieren könnte, wie bei den Figuren, die ein paar verschiedene Hände haben.“

Tamakis Blick war im besten Falle skeptisch, aber Kirishima störte sich nicht daran. Actionfiguren von Profihelden waren super. Als Kind hatte er jeden Tag damit gespielt, aber auch heute kaufte er manchmal noch welche von Helden, die er besonders cool fand. Suneater kam definitiv auf die Liste, da würde er auf dem Regal zuhause schon Platz schaffen.

„Die Kinder, die du heute gerettet hast, werden ihre Eltern sicher auch dazu bringen, ihnen eine Puppe oder eine Actionfigur zu kaufen“, stimmte Fatgum zu, „Ich kenne jedenfalls keine Mutter, die nein sagen würde, wenn ihr Kind eine Puppe von dem Helden will, der es gerettet hat. Die meisten würden sich eher selbst noch ein Poster dazu kaufen. Immerhin kommt das Geld, dass wir mit dem Merchandise verdienen, auch wieder unserem Büro zugute, damit wir unbesorgt Leben retten können. Und es ist doch toll, dass die Leute uns so ihre Dankbarkeit und Unterstützung zeigen können, oder?“

Tamaki schwieg. Was sollte er auch sagen? Er war selbst eines dieser Kinder, die massenhaft Merchandise von großartigen Helden horteten. Er tat sich nur schwer damit zu glauben, dass er nun selbst einer dieser Helden sein sollte, den andere bewunderten und als Actionfigur gegen gefährliche Plastikdinos kämpfen und gewinnen ließen. Aber es war, wie Aizawa ihm am ersten Tag an der UA gesagt hatte: Wenn er mit diesem Teil des Heldendaseins nicht klarkam, sollte er gehen. Und Tamaki war geblieben.



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