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Aus der Dunkelheit

von

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Helden schlafen nicht

Als Aizawa seine abendliche Runde durch die Schülerschlafzimmer machte war er einigermaßen erschrocken, Mirios Bett leer vorzufinden. Was früher ein Hinweis darauf war, dass der Junge wieder ausversehen durch den Boden gefallen sein musste, konnte nun nur auf Absicht zurückzuführen sein, und Aizawa bekam es im ersten Moment richtig mit der Angst zu tun.

Ein Blick ins Zimmer nebenan brachte seine Atmung dann aber gleich wieder zur Ruhe. Mirio lag ausgebreitet auf Tamakis Bett, gerade so, als wollte er mehr Platz einnehmen, als die Matratze eigentlich zu bieten hatte. Tamaki selbst ließ sich davon jedoch nicht stören; er hatte es sich einfach auf Mirios Brust bequem gemacht wie eine große Katze. Wie immer trug er nur seine Boxershorts, eine Notwendigkeit, um nicht wegen jedes Albtraums seine Kleidung mit spontanen Manifestationen zu zerreißen. Im Sommer sah Aizawa darin kein Problem, bei den jetzigen Temperaturen allerdings war es ein Risiko, wenn die Decke wie jetzt nur noch halb auf dem Bett hing und kaum die Beine bedeckte. Die Arme hatte Tamaki immerhin wärmesuchend unter Mirios Flanellshirt geschoben, der größte Teil seines Körpers lag jedoch frei, sicher wegen der Hühnerflügel, die eifrig einen schnellen Flugrhythmus durchübten. Aizawa sah einen Moment zu, fasziniert von dem komplexen Bewegungsablauf, den Tamaki sich komplett selbst beigebracht haben musste, verstärkte dann jedoch seinen Blick und ließ die Flügel verschwinden. Der Junge sollte sich ausruhen, hatte Recovery Girl gesagt, nicht im Schlaf weiter üben. Zumindest der Streit mit Mirio schien wohl wirklich eine irrige Annahme gewesen zu sein, wenn man die beiden jetzt so sah… fürs erste würde er die Jungs trotzdem nur noch unter Aufsicht trainieren lassen.

Eigentlich sollte Aizawa sich als Lehrer dafür einsetzen, dass alle Schüler nach 22:00 Uhr nur noch in ihren eigenen Zimmern und idealerweise im eigenen Bett lagen, aber daran hielt sich eh kein Schwein und Mirio jetzt unter Tamaki herauszuziehen ohne einen der beiden zu wecken war ohnehin unmöglich. Also würde er für heute, wie schon so viele Male davor, einfach fünfe gerade sein lassen, um selbst zumindest auf einen Teil seiner sieben Stunden Schlaf zu kommen. Grummelig, aber nicht ganz ohne väterliche Gefühle hob er die Decke wieder aufs Bett, packte die Jungs sorgfältig ein, damit sie sich nicht erkälten würden, und schloss die Türe im Hinausgehen so leise wie möglich. Bis er auch mit der Kontrolle der übrigen Zimmer und Schülerwohnhäuser fertig war zeigte die Uhr im Lehrerwohnhaus dann auch schon wieder auf ein Uhr nachts… und je näher die Abschlussprüfungen rückten, desto weniger Schlaf ließ sich im Unterricht nachholen. Also lieber mal so tun, als hätte man den Erstklässler nicht gesehen, der schon wieder nachts Joggen ging, und ab ins Bett. Wenn er diese Liga des Bösen zu fassen bekäme… allein für die Notwendigkeit dieses Internatssystems würde er die Kerle bluten lassen.

Endlich einfach mal wieder nach Unterrichtsschluss Ruhe haben… endlich wieder die Kinder heimschicken und anständig durchschlafen können. Alltäglicher Luxus, den er nie wirklich wertschätzen konnte, bis er seine Schüler 24/7 unter Aufsicht hatte. Seufzend, und ohne sich groß umzuziehen, ließ der überarbeitete Vollzeit-Lehrer sich in sein weiches Bett fallen. Vielleicht würde er morgen einfach einen spontanen Theorietest raushauen. Einfach neunzig Minuten Schweigen, nur gebrochen vom Kritzeln der Stifte und dem stillen Schrei purer Verzweiflung. Ein schöner Gedanke, bei dem Aizawa schnell friedlich einschlief. Gleich morgen Früh hatte er eine Doppelstunde Heldologie in der 2-B. Und einen Testvordruck in seiner Tasche, den er nur noch kopieren müsste… gut, da war vielleicht eine Frage dabei, deren Antwort er noch nicht behandelt hatte, aber als Profiheld muss man ja auch Situationen bestehen, auf die man nicht vorbereitet sein kann. Vielleicht würde er ihnen großzügig erlauben, noch bis in die Pause weiterzuarbeiten. Yamada würde ihn dann schon wecken, wenn die dritte Stunde losging. Dann wäre er zwar etwas spät dran für die 1-A, aber Iida würde schon dafür sorgen, dass keiner seine Abwesenheit ausnutzte. Und falls nicht… die 1-A konnte immer ein paar Strafaufgaben vertragen. Er war da kreativ.

Sehr kreativ… und es lohnte sich, die Klasse einmal warten zu lassen. Er war sonst immer pünktlich, darauf verließen sie sich vielleicht schon zu sehr. Wenn es wirklich einen Notfall gäbe… es schadete sicher nicht, sie schon einmal grundlos mit der Möglichkeit zu konfrontieren, dass der Lehrer nicht gleich in den Klassenraum kam. Ein paar Schülern mochte das vielleicht die Hoffnung geben, sie kämen mit einer Verspätung davon, die würde er dann wohl öfter dabei erwischen, wie sie nach ihm eintrafen… eine schöne Falle, wenn man es so sah. Und die zwei Stunden vorher konnte er friedlich schlafen… keiner in der 2-B würde es wagen, bei einem Test zu schummeln, egal, wie tief Herr Aizawa schlafen mochte. Sie fürchteten ihn so sehr, dass sie ihm sicher zutrauten, jeden Versuch einer Mogelei selbst im Schlaf zu erahnen. Natürlich würden sie ihn nicht am Ende der zweiten Stunde wecken, er würde erst aufwachen, wenn Yamada, laut wie eh und je, die Tür aufstieß und seine Anwesenheit mit einem ohrenbetäubenden ‚Good Morning, Class!‘ in den Raum hinein brüllte. Dann würde Aizawa in seinem Schlafsack hochschießen, ‚Stifte runter, Blätter nach vorn!‘ rufen und sich wortlos auf den Weg in die 1-A machen. Eine angenehme Aussicht. Er würde seine Unterlagen durchgehen müssen, aber vielleicht hatte er auch für die Erstklässler noch einen passenden Test…
 

„Ähm…“ Yamadas Stimme. Nicht gut. Aizawa runzelte im Schlaf die Stirn. Er lag noch in seinem Bett im Lehrerwohnhaus, nicht in seinem Schlafsack im Klassenzimmer. Außer seinem Wecker sollte hier niemand ein Geräusch machen…

„Es… tut mir fürchterlich leid, aber…“ Definitiv Yamada. Das konnte nichts Gutes bedeuten. „Ich… will nicht schreien, aber könntest du bitte aufwachen…?“

„…Wie spät?“ Aizawas Stimme war nicht mehr als ein Krächzen, gedämpft durch das dicke Kissen unter seinem bärtigen Gesicht. Hizashi Yamada schluckte heftig. Er selbst kam morgens schnell auf die Beine, selbst vor seiner üblichen Zeit, aber Shota zu wecken, bevor der Wecker es tat, war keine ungefährliche Aufgabe. Ob er ihm die Uhrzeit nennen sollte? Nein, das Risiko konnte er nicht eingehen. „Früh“, wich er daher aus, „Aber in der 1-A scheint es Probleme zu geben… einer deiner Schüler steht unten und hat nach dir gefragt.“

Endlich hob Shota den Kopf aus dem Kissen, aber der Anblick seiner glühend roten Augen ließ die Freude darüber schnell vergehen. So viel Hass und Wut… ganz zu schweigen davon, dass der Einsatz seiner Macke Hizashi geradezu unterstellte, er sei unerhört laut. Dabei hatte er wirklich nur ganz leise gesprochen, beinahe geflüstert. „Wer…?“, krächzte Aizawa, und der Tonfall machte unmissverständlich klar, dass derjenige dem baldigen Tod entgegensah.

„Midoriya. Er sagte, es sei wichtig.“

Aizawa knurrte und stemmte sich hoch. Immerhin anziehen würde er sich nicht müssen, er trug noch immer die Kleidung vom Vortag… Hizashi fragte sich insgeheim, ob der Mann überhaupt einen Schlafanzug besaß, oder ob auch das für ihn unnötig erschien. Irgendwann würde Hizashi den ehemaligen Klassenkammeraden auch wieder auf die Notwendigkeit einer Dusche ansprechen müssen, aber dafür hatte er gerade heute eher nicht den Mut. Er trat lieber schnell beiseite und hielt folgsam den Mund, als der schwarzhaarige sich aufrichtete um, leise vor sich hin fluchend, aus dem Zimmer zu schlurfen. Hizashi wartete, bis er die Schritte seines Freundes nicht mehr hören konnte, und öffnete dann fürsorglich das Fenster, um zumindest zu lüften.
 

Auch Hounddog war nicht glücklich darüber, dass ein Erstklässler um fünf Uhr morgens an die Tür des Lehrerwohnhauses klopfte. Midoriya zitterte, und nicht nur wegen der Kälte, die durch den dünnen Stoff seines Schlafanzugs zog, weil der Lehrer ihn nicht über die Schwelle treten ließ. Midoriya war beinahe erleichtert, als endlich Aizawa in den Eingangsbereich schlurfte, aber der Anblick seines Klassenlehrers trieb ihm nur noch mehr den Schweiß aus den Poren. Er wusste, dass Aizawa schon die letzten Tage wenig Schlaf außerhalb des Unterrichts bekommen hatte, und man sah es dem Lehrer auch an: seine Haare waren zerwühlt, seine blutunterlaufenen Augen blickten trüb aus schattigen Höhlen, der stoppelige Bart hatte inzwischen die stolze Länge von fünf Tagen erreicht; die Schüler schlossen bereits Wetten ab, wann er sich wieder rasieren würde. Oder zumindest mal duschen. Midoriya schauderte unter dem hasserfüllten Blick seines Klassenlehrers und hielt die Hände schützend vor sich.

Aizawa runzelte die Stirn, als er in den Händen des Jungen eine durchsichtige Plastiktüte erkannte. Ein Beweismittel? Er griff danach, und Midoriya atmete beinahe erleichtert auf. Der Junge war mutiger geworden seit seiner Einschulung, aber seine Schweiß- und Tränendrüsen arbeiteten noch immer unter Hochdruck, wann immer sich die Gelegenheit bot. Aber gut… Tüte. Standard-Beweismitteltüte aus dem Polizeigebrauch, extrastabil und Säurefest, wie sie seit dem Aufkommen der Macken häufig in Gebrauch waren. Ein kleines Logo in der unteren Ecke wies die Tüte als ‚Made by Momo‘ aus. Nicht überraschend, also zum Inhalt. Ein Stück Wandfliese, dem Muster nach aus einem der Badezimmer, offenbar mit einer starken Säure aus der Wand gelöst. Aizawa konnte spuren schlanker Mädchenfinger daran erkennen, Minas Werk. An der Vorderseite der Fliese hing eine violette Haarkugel. Auch deren Ursprung war Aiazawa nur zu gut bekannt. Das eigentliche Corpus Delikti allerdings klebte in der Haarkugel: Eine winzige Kamera, kaum größer als Aizawas Daumen. Die Linse sah aus, als hätte jemand einen Audiostecker hineingerammt, und das mit Kraft.

„Wo wurde was gefunden?“, fragte Aizawa heiser.

„Im Badezimmer der Mädchen“, antwortete Midoriya wie aus der Pistole geschossen.

„Wer hat sie gefunden?“

„Äh… Mina hat sie rausgebracht“, diesmal klang es nicht ganz so sicher, „Aber gefunden haben sie wohl Jiro und Hagakure. Die anderen hatten alle Schlafanzüge an, aber die beiden waren nur im Handtuch…“ Er schluckte heftig. „Jiro hat geschrien, aber danach hat sie nur noch geweint, genau wie Hagakure.“

Aizawa sah den Jungen an, der mit großen Augen zurückblickte. Dann sah er wieder die Kamera an. Es war eines der Modelle, die die Bilder nicht speicherten, sondern direkt an ein Tablet oder ins Internet sendeten. Die Mädchen hatten das sicher auch erkannt. „Geh voraus“, wies er Midoriya an, „Ich komme.“

Das Ganze war wirklich zum aus der Haut fahren. Mobbing in den dritten Klassen, Sexuelle Belästigung in der Ersten… und das waren nur die Heldenklassen. Dieses Internatssystem machte nur Probleme, die er sicher nicht hätte, wenn die Kinder abends einfach heim gehen könnten. Einmal, nur ein einziges Mal wollte er nachts schlafen können! Und zwar durchgehend, nicht stundenweise! Das konnte doch nicht so schwer sein!

Immerhin wurde er im Gemeinschaftsraum der 1-A gleich mit einer vollen Tasse Kaffee begrüßt. Es war nicht einmal halb sechs, trotzdem war fast die ganze Klasse angezogen im Gemeinschaftsbereich versammelt. Fünfzehn… sechzehn… Hagakure war auch da… mit Midoriya waren es achtzehn Schüler.

„Minoru kommt nicht aus seinem Zimmer“, informierte Tenya, der Klassensprecher, dienstfertig, „Bakugo hat sich nochmal hingelegt um weiterzuschlafen. Der Rest von uns ist vollzählig hier.“

Aizawa seufzte und kippte den Kaffee auf Ex herunter. „Mehr“, befahl er, und drückte Tenya die Tasse in die Hand. Der machte sich sofort an dem luxuriösen Kaffeeautomaten zu schaffen, der fast die Hälfte der Küchenarbeitsfläche einnahm. ‚Made by Momo‘ sagte das Logo. Es gab eine Menge Knöpfe, Kaffee, Espresso, Cappuccino und vieles mehr in vier Stärkegraden: Mild, Normal, Stark und ‚Montagmorgen‘. Aizawa war vielleicht ein bisschen neidisch.

Die Kinder hatten zum Glück nicht gewagt, derweil Lärm zu machen. Jiro und Hagakure saßen in der Sofaecke. Sie schienen im Begriff, sich zu beruhigen, aber er konnte sehen, dass sie reichlich geweint hatten. Die anderen Mädchen saßen bei ihnen, spendeten Trost und Taschentücher und sprachen leise mit ein paar der mitfühlenderen Jungs, unter anderem Kirishima. Andere hatten sich der Situation soweit gefügt, dass sie ihr Frühstück vorgezogen hatten, und saßen nun an den Esstischen, teilweise noch mit aufgeschlagenen Büchern neben den Kaffeetassen. Shoto war einer von ihnen, aber auch Sato und Yuuga. Koda saß abseits und sprach beruhigend auf sein Kaninchen ein, Sero und Denki saßen an den Esstischen und blickten immer wieder zu den Mädchen herüber. Tenya stand weiter in der Küche bei Midoriya, sicher hatte er bis eben versucht, für Ordnung zu sorgen.

Zwei doppelte Montagmorgen Espressos später war Aizawa wach genug, in Aktion zu treten. „Midoriya“, befahl er, „Du holst Mineta. Setz deine Macke ein, wenn es nötig ist, aber bring ihn hierher.“ Gut, dass er schon vorher über Strafarbeiten nachgedacht hatte… Minoru Mineta würde heute nicht am Unterricht teilnehmen, dafür würde er wohl dieses Wohnhaus putzen. Bis auf das letzte Staubkorn… dazu ein paar klassische Strafarbeiten, und eine ganz besondere Aufgabe, für die er mit seiner Macke zufällig wie geschaffen schien. Er hatte Mineta viel durchgehen lassen bisher, hauptsächlich, weil es für die Mädchen eine gute Möglichkeit war, fürs spätere Leben zu lernen. Für weibliche Helden war es leider noch viel zu normal, von geretteten Opfern oder sogar männlichen Kollegen begrapscht und wie aus Versehen befummelt zu werden, da war es gut, wenn sie zeitnah lernten, damit umzugehen. Aber es gab auch Grenzen, und Aizawa würde sicher gehen, dass Mineta diese kennen lernte.



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