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Aus der Dunkelheit

von

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...wird alles wieder gut.

Mirios Plan hatte funktioniert, stellte Tamaki fest, als er vor seinem Spiegel stand. Er hatte es auch schon vorher gemerkt: nicht nur, dass er die Suppe tatsächlich bei sich behalten hatte, er hatte gespürt, wie seine Macke die Spuren des Hühnchens darin aufgegriffen hatte, obwohl kein eigentliches Fleisch mehr darin war. Nun, da er geschlafen hatte fühlte er sich auch stark genug, es zu versuchen. Die Flügel waren nicht groß, Hühnerflügel waren das nie, aber wenn er sie weit genug anhob, konnte er zumindest die Schwungfedern im Spiegel sehen. Es waren hübsche, weiße Flügel mit rötlichen Abzeichen, offenbar eine andere Rasse, als sie für Chicken Wings oder Yakitori verwendet wurde. In jedem Fall hob der Anblick der Flügel Tamakis Laune. Er war sicher noch nicht stark genug, allzu viel allzu lange zu reproduzieren, aber die Flügelchen konnte er halten. Nicht ewig, aber sicher lange genug, um Mirio und Nejire zu zeigen, dass sie sich keine Sorgen mehr machen mussten.

Er fand die beiden auch gleich im Gemeinschaftsraum, wo Mirio wie üblich im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit glänzte. Von den Schülern ihrer Klasse wussten inzwischen die meisten, warum Mirio beurlaubt war, und freuten sich einfach, ihn wenigstens nach dem Unterricht sehen zu können. Er war, auch ohne seine Macke, Vorbild und Ansporn für die anderen Schüler. Wie so oft war Mirio trotz der frühen Stunde schon hellwach und frisch geduscht, vermutlich hatte er seine erste Joggingrunde schon hinter sich, während der größere Teil der Klasse noch halbtot vor der Kaffeemaschine auf den Lebenssaft wartete. Weil er sich auch nach drei Jahren noch nicht wirklich traute, seinen besten Freund aus der Gruppe der inzwischen nicht mehr so fremden Mitschüler zu holen, musste Tamaki sich mit Gewalt dazu durchdringen, zumindest ein halblautes „Guten Morgen“, in seine Richtung zu schicken. Es kostete einige Anstrengung, nicht gleich in die übliche Ecke zu flüchten, aber er schaffte es, mit erhobenen Flügeln stehen zu bleiben, bis Mirio ihn sah.

„Ah, Guten Morgen Tamaki! Geht’s dir wieder besser?“, rief Mirio erfreut, sprang behände vom Tisch, auf dem er gesessen hatte und lief zu Tamaki herüber. Die anderen beschwerten sich nicht, viele blickten selbst neugierig herüber, bevor Yuyu sie wieder zur Ordnung rief und die vorherige Unterhaltung fortsetzte. Tamaki war ihr dankbar dafür, er fühlte sich unwohl ob der Tatsache, dass jeder seine albernen Hühnerflügel sah. Ganz abgesehen davon, dass er nur ein ärmelloses Top trug… unter dem Pulli, den er noch um die Hüfte gebunden hatte, hätte er die Flügel so gut verstecken können, dass es sich nicht lohnte, sie überhaupt zu halten. Weil es einfacher war, als an dem Kloß in seinem Hals vorbei eine Antwort zu verbalisieren flatterte Tamaki nur mit den Flügeln, um Mirios Frage zu beantworten, und zog seinen Freund in die Sofaecke.

„Ah, dann hat es funktioniert!“, freute sich Mirio, „Die Flügel sind hübsch! Sind die nicht sonst immer braun?“

Tamaki drückte die Flügel eng an seinen Rücken, Mirios Begeisterung dafür war ihm doch etwas unangenehm. „Da-das ist weil… die meisten Hühner braun sind…“, stammelte er dennoch.

„Oh, und das Huhn war weiß? Ich wusste nicht, dass es nach dem individuellen Tier geht“, erkundigte sich Nejire fröhlich und sprang auch auf die Couch. Tamaki fuhr erschrocken zusammen und drückte sich tiefer in die Ecke des Möbelstücks, er hatte das Mädchen gar nicht kommen gesehen. „Sorry“, meinte sie leicht hin, „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Sch…schon gut.“ Tamaki rang um Kontrolle und setzte sich wieder aufrecht hin. Er schaffte es sogar, die Flügel wieder etwas anzuheben, damit seine Freunde sie genauer ansehen konnten. „Die… meine Reproduktion beruht immer auf der DNS der Dinge, die ich gegessen habe. Tiere oder Pflanzen… wenn ich Hähnchenflügel oder so esse habe ich DNS von vielen Hühnern und kann die Flügel und Krallen nach dem Vorbild eines Durchschnittshuhns formen, aber im Moment hab ich nur dieses eine, und das war eben fast weiß.“ Wenn er so darüber sprach, war es ihm fast peinlich.

„Stimmt, aber es ist schonmal ein Anfang, oder?“, fand Mirio, „Und auch, wenn es immer noch dasselbe Huhn ist: Ich hab das Fleisch noch im Kühlschrank. Meinst du, du kannst schon wieder was essen, Tamaki? Wir haben das Hühnchen und Yuyu hat vorhin den Reiskocher für alle angemacht. Ich hol dir was, ja?“

„Danke, Mirio.“ Tamaki lächelte erleichtert. Nejire nutzte die Gelegenheit, nach seinen Flügeln zu greifen und er erlaubte ihr, halbwegs entspannt, die Federn zu streicheln.

„So weich!“, quietschte sie freudig und machte eifrig von dem selten gewährten Recht gebraucht, „Ich hab mir Federn immer steifer vorgestellt.“

„D-das sind Daunen…“, informierte Tamaki sie verstockt, peinlich berührt, als die Finger des Mädchens zwischen Flügel und Rücken schlüpften, um das flauschige Untergefieder zu kraulen. Er konnte die Berührung auf der nackten Haut seiner Schulterblätter spüren und das war ihm doch reichlich unangenehm, vor allem, als sie sich näher lehnte, um die Flügel besser erreichen zu können. Der Ausschnitt ihres Nachthemds war gefährlich tief und in seiner momentanen Position war es nicht leicht, daran vorbei zu schauen…

Mirio zwinkerte ihm verschmitzt zu. Gerade, als der große Junge aufstehen wollte, um in die Küche zu gehen, kam Hidoku auf die Gruppe zu, wie üblich mit strengem Gesicht und zweifelhafter Absicht. „Findest du es nicht ein bisschen Respektlos, vor Mirio so mit deiner Macke anzugeben?“, fuhr er Tamaki direkt an, der die Flügel sofort erschrocken verschwinden ließ. Nejire gab ein empörtes Geräusch von sich und ließ ihn los, um Hidoku den bösesten Blick zuzuwerfen, zu dem ihr hübsches Gesicht in der Lage war. Auch Mirio war stehen geblieben, sein Lächeln für den Moment verschwunden.

„Ich denke“, sagte er streng, „Dass ich da durchaus für mich selbst sprechen kann, danke.“

„Pah“, machte Hidoku nur, wich jedoch unter Mirios strengem Blick zurück und verzog sich wieder, „Du lässt dir zu viel gefallen.“

„Boah, dieser…“, empörte sich Nejire, als der unliebsame Klassenkamerad den Raum verlassen hatte, „Am liebsten würde ich-“

„Lass gut sein, Nejire“, beruhigte Mirio sie, „Das ist er nicht wert.“ Er bedeutete ihr mit einer winzigen Geste, sich lieber um Tamaki zu kümmern, und ging endlich den Reis holen. Auch wenn es ihm widerstrebte, jetzt von seinem Freund wegzugehen, er brauchte diese zehn Schritte hin und wieder zurück, um den Ärger aus seinem System zu bekommen. Hidoku mochte es so darstellen, als sei er um Miros Wohlergehen besorgt. Das hatte er beim letzten Mal auch schon getan. Aber eigentlich hatten seine Worte nur das Ziel, Tamaki zu verletzen, und das machte Mirio wahnsinnig wütend. Tief durchatmen, Reis in drei Schüsseln füllen und das Hühnchen darauf verteilen. Tamaki brauchte jetzt etwas Zuspruch, nur das war wichtig.

„Du hättest die Flügel ruhig dalassen können“, meinte er sanft, als er mit Schüsseln und Stäbchen in die Sofaecke zurückkam, „Ich hätte mir die Mühe mit der Suppe nicht gemacht, wenn ich es nicht gewollt hätte.“

Tamaki wich seinem Blick aus und murmelte was von wegen ‚war gestern abend‘ und ‚kann eh nicht ewig‘. Mirio drückte ihm lächelnd eine Schüssel in die Hand. „Dann iss. Aber mach nicht zu schnell, ja? Nicht, dass dir wieder schlecht wird.“

Nejire streichelte fürsorglich Tamakis Schultern. Er hatte inzwischen seinen Pullover übergestreift, ein sicheres Zeichen, dass er nicht plante, noch einmal Flügel hervorzubringen. Aber er nahm den Reis immerhin dankend an und begann vorsichtig zu essen. Auch Nejire bediente sich, und Mirio atmete erleichtert auf, bevor er selbst zu Essen begann.

„Vergiss, was Hidoku gesagt hat“, riet Mirio seinem Freund, „Es ist schlimm genug, wenn einer von uns seine Macke nicht benutzen kann, ja? Ich fühl mich nicht besser, nur weil es dir auch schlecht geht, im Gegenteil.“

„Siehst du?“, fügte Nejire hinzu, „Genau, wie ich gesagt habe. Mirio hat sich voll Mühe gegeben beim Kochen, natürlich wollte er deine Flügel sehen!“

Tamaki wurde ein wenig rot und sah angestrengt auf seinen Reis, aber er hatte sich wieder beruhigt und konnte tatsächlich essen. Das Fleisch war relativ trocken, ebenso der Reis, aber Soße wäre ihm vermutlich noch zu viel gewesen. Etwas mehr Salz hätte nicht geschadet, aber Tamaki behielt die Kritik lieber für sich. Mirio hatte sich Mühe gegeben… nur darum ging es. Trotz allem, was er selbst durchmachte, fand er immer noch die Kraft, sich für andere einzusetzen und zu helfen, wo es ging. Er war eben durch und durch ein Held, und Tamaki konnte sich glücklich schätzen, etwas von seinem strahlenden Licht abzubekommen. Der Schreck über Hidokus schneidende Bemerkung saß tief, aber Tamaki schaffte es, nicht mehr daran zu denken, als er Reishalme aus seinen Fingern sprießen ließ um Nejire damit zu amüsieren, die wie ein verspieltes Kätzchen nach den Ähren schlug und vergnügt kichernd über die Couch rollte dabei. Mirio hatte wieder sein typisches breites Grinsen im Gesicht und so war, zumindest für den Moment, die Welt wieder in Ordnung.



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