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Aus der Dunkelheit

von

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Mit etwas gutem Willen...

Nejire konnte es kaum noch aushalten. Das Training unter Herrn Aizawa hatte sie noch ganz gut abgelenkt, da hatte sie keine Zeit gehabt, ihre Freunde zu vermissen. Dass nun aber nicht nur Mirio, sondern auch Tamaki im Unterricht fehlte, fiel schon unangenehm auf. Erst recht danach, als es wieder in den Frontalunterricht ging… eine Doppelstunde Mathe, gefühlte sechs Stunden moderne Literatur, und am Abend noch, wie um sie zu quälen, zehntausend Jahre klassische Literatur. Nejire hatte bisher noch nie erlebt, dass man gleichzeitig so gelangweilt und so besorgt sein konnte. Still auf ihrem Platz zu sitzen bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen, der Unterrichtsstoff war zäh wie altes Leder, sie konnte sich nicht im Mindesten konzentrieren und zu allem Überfluss hatte noch irgendjemand was mit der Zeit angestellt, die heute auch so gar nicht voranschreiten wollte… es war wie verhext, der Minutenzeiger dieser alten Wanduhr brauchte locker eine Viertelstunde, um einen Strich weiter zu rutschen. Und mit jeder Stunde wurde er noch langsamer.

Der letzte Gong des Tages fühlte sich an wie eine Erlösung. Nejire sprang auf wie ein Tiger, dessen Käfig nach Monaten und Jahren chinesischer Literaturgeschichte zum ersten Mal offensteht. Sie konnte sich gerade noch so davon abhalten, den Sprint zurück zum Wohnhaus mit ihrer Twisterwelle zu beschleunigen. Aber auch nur zu Fuß tat es gut, sich endlich so schnell bewegen zu dürfen, endlich so schnell wie irgendwie möglich zu den Jungs zu rennen um zu sehen, ob sie nicht doch helfen konnte. Auf ihre Textnachricht hatte Mirio zwar geschrieben, dass alles okay war und sie sich keine Sorgen machen sollte, aber wer sowas glaubte der hielt auch den Weihnachtsmann noch für echt. Wenn es Tamaki wirklich gut ginge hätte er ihr auch selbst schreiben können.

Etwas außer Atem, aber immer noch angespannt erreichte sie endlich das Gebäude. Der Gemeinschaftsraum war praktisch ausgestorben, weil der Rest der Klasse natürlich weit hinter ihr zurückgeblieben war. Tamaki war nirgends zu sehen, aber Mirio fand sie nach kurzer Suche in der Küche. Er stand vor einem dampfenden Topf, das Handy am Ohr, in das er regelmäßig „Ja“, „Aha“ oder andere bestätigende Geräusche machte. Nejire bemerkte er trotzdem und begrüßte sie mit einem breiten Grinsen.

„Mirio!“, sie konnte sich gerade noch davon abhalten, ihm um den Hals zu fallen, „Was machst du gerade? Wie geht es Tamaki? Mit wem telefonierst du da?“ Es waren mal wieder zu viele Fragen auf einmal und keine Zeit für eine Antwort. Nejire biss sich auf die Zunge und hielt die Luft an, um den nervösen Wortschwall wieder in den Griff zu bekommen. Zuhören war anstrengend, gerade jetzt, aber Mirio reagierte zum Glück schnell.

„Ich versuche zu kochen, Tamaki schläft und das ist meine Mutter“, antwortete er schnell und hielt Nejire das Handy hin.

„Hallo Mama Togata“, grüßte Nejire fröhlich, „Ich bin Nejire.“

Mirio schaltete auf laut und legte das Handy ab, sodass seine Mutter mit Nejire reden konnte, während er nochmal nach dem Topf sah. Er hielt sich nicht gerade für einen guten Koch, genau genommen hatte er es vorher noch nie ernsthaft versucht, weil er immer bei Tamaki schnorren konnte. Aber nun war Tamaki krank und so hatte Mirio kurzerhand seine Mutter angerufen, um sich einen guten Rat zu holen, und die leitete ihn nun dabei an, eine einfache Hühnersuppe zuzubereiten. Im Moment stand er allerdings nur vor einem Topf voll leicht gesalzenem Wasser, in dem ein nacktes Hühnchen schwamm, das er danach wieder herausholen sollte… das Wasser würde sich dadurch irgendwie in Suppe verwandeln, die möglicherweise noch genug Hühnchensaft enthielt, dass Tamaki seine Macke nutzen konnte, dabei aber auch bei Übelkeit gut verträglich sein. Mirio vertraute seiner Mutter und gab sich entsprechend zuversichtlich, trotzdem war er natürlich nervös ob der ungewohnten Herausforderung.

„Woran erkenne ich, dass das Huhn durch ist?“, fragte er in die angeregte Unterhaltung der Damen hinein und Nejire hielt ihm das Handy so hin, dass er die Antwort trotz des brodelnden Wassers gut verstehen konnte.

„Tamaki geht es doch nicht so gut, oder?“, fragte Nejire schließlich, „Ist ihm immer noch schlecht?“

„Er hat sich beruhigt und schläft gerade“, meint Mirio, „Aber ja, ihm geht es nicht so toll. Ohne was im Magen kann er seine Macke nicht nutzen, das macht ihn echt fertig. Aber er hat seit heute Morgen nichts mehr gegessen, was er auch bei sich behalten hätte… deswegen mache ich jetzt Hühnersuppe.“ Er warf einen besorgten Blick in Richtung des Topfes, der noch immer verdächtig vor sich hin blubberte. Mirio hatte keine Ahnung, ob das normal war und wie lange sowas dauerte, deswegen war er froh, dass seine Mutter sich die Zeit nahm, am Telefon dabei zu bleiben.

„Was hat Recovery Girl denn gesagt?” Da. Nur eine Frage auf einmal. Nejire war direkt stolz auf sich.

„Sie konnte keine körperliche Ursache finden und denkt, es liegt einfach am Stress. Er soll einen Gang runterschalten und sich erholen, deswegen hat sie ihn krankgeschrieben. Er war ganz froh, dass er ins Bett durfte, denke ich.“

„Kann ich verstehen. Er hatte echt Angst da vorne… Ich meine, stell dir mal vor, da steht einer wie Present Mic und kündigt ihn an wie den Stargast einer Radioshow. Und dann auch noch mit einem Textabschnitt aus Romeo und Julia, den er schön salbungsvoll vortragen muss…“, Nejire seufzte tief. „Er wäre fast gestorben da vorne. Dabei hat wirklich keiner gelacht, die meisten von uns haben extra ganz angestrengt woanders hingeschaut.“

„Das wird Tamaki nur leider schon nicht mehr gemerkt haben“, vermutete Mirio, „Der macht da dicht und sieht nichts mehr. Kann gut sein, dass ihm das an Stress gereicht hat, aber so heftig hat er eigentlich noch nie reagiert.“
 

Nejire hätte sich gerne direkt überzeugt, dass Tamaki sich beruhigt hatte, aber sie wollte ihn auch nicht wecken. Also stand sie stattdessen Mirio bei, bis das Hühnchen durch und die Suppe fertig war.

„Das Huhn selbst könnt ihr aufheben“, riet Frau Togata über das Telefon, „Im Kühlschrank hält sich das wunderbar, und mit weißem Reis zusammen ist es auch noch sehr magenschonend. Wenn Tamaki die Suppe gut verträgt, könnt ihr ihm das Fleisch vielleicht schon morgen zum Frühstück geben.“

„Danke Mama, du bist die Beste!“ Mirio seufzte erleichtert, als er das Handy endlich ausschalten konnte. Der Akku war auf karge 2% runter, und um Mirios Geduld stand es auch nicht viel besser. Aber er hatte jetzt einen großen Topf warmer Hühnerbrühe, die Tamaki hoffentlich bei sich behalten konnte. Der Gemeinschaftsraum war inzwischen gut gefüllt, aber die meisten Mitschüler scharten sich um die Esstische, sodass Tamakis Rückzugsort in der Sofaecke für ihn frei war.

Nejire lief los, um ihn zu holen, als wäre Mirios Erlaubnis dazu sowas wie ein Startschuss gewesen. Sie fand Tamaki eingerollt unter seiner Bettdecke. Er reagierte nicht auf ihr Klopfen, aber die Tür war unverschlossen und er hatte die Augen geöffnet.

„Geht es dir wieder ein bisschen besser?“, fragt Nejire leise und kniete sich vor das Bett. Tamaki antwortete nicht direkt, sondern schloss nur wieder die Augen. Er sah müde und blass aus, schwer zu glauben, dass er nicht wirklich krank, sondern nur gestresst sein sollte. „Mirio hat Suppe gemacht“, informierte sie leise, „willst du runterkommen und es versuchen? Er hat sich richtig Mühe gegeben.“

Tamaki seufzte und wühlte sich tiefer in die Laken. Er fühlte sich kraftlos und zittrig, und der Gedanke ans Essen machte ihn gerade nicht glücklich. Sein Magen war so leer, dass es wehtat, aber das letzte, was er gegessen hatte, hatte er sofort wiedergesehen. Trotzdem… Nejire kauerte immer noch neben dem Bett, die großen, strahlend blauen Augen fest auf ihn gerichtet. Der Welpenblick wirkte, Tamaki hatte keine Chance. „Gib mir einen Moment“, murmelte er, „Nur was anziehen…“

„Okay, dann dreh ich mich kurz um!“ Zur Sicherheit legte sie sogar die Hände auf die Augen. Tamaki war ihr dankbar dafür. Er war nicht nackt, bei weitem nicht, und dank Mirio waren die Mädels aus ihrer Klasse auch schon einiges gewohnt, trotzdem fühlte Tamaki sich unwohl, wenn man ihn nur in Boxershorts und T-Shirt sah. Er ließ seine Schuluniform links liegen und griff sich lieber eine Jogginghose und einen dicken Pullover. Nicht das coolste Outfit, aber außerhalb seines Decken-kokons war ihm fürchterlich kalt. Er klopfte Nejire auf die Schulter zum Zeichen, dass sie die Augen wieder öffnen durfte. Sie strahlte ihn an, dass er sich fast geblendet fühlte, und führte ihn zurück in den Gemeinschaftsraum. Die anderen blickten maximal kurz von ihren Büchern und Tellern auf, waren aber so nett, ihn nicht anzusprechen und schnell wieder wegzusehen. Tamaki war ihnen dankbar für die Rücksichtnahme.

Mirio begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und einem Teller warmer Suppe. „Hoffe, dir geht es etwas besser?“

Tamaki wollte nicht lügen, aber Mirio sah so besorgt aus, dass er auch nicht jammern wollte. Also ließ er sich einfach wortlos auf die Couch sinken und nahm die Schüssel entgegen, die Mirio ihm reichte. Die Suppe war klar, roch aber angenehm nach Hühnchen. Allein der wärmende Effekt der Schüssel in seinen Händen tat schon unglaublich gut, dazu die Anwesenheit seiner besten Freunde, die sich so um ihn sorgten… Tamaki murmelte ein Dankschön und nahm einen vorsichtigen Schluck. Wenn er ganz langsam aß schien sein Magen es sich immerhin gefallen zu lassen, und wenn er danach gleich wieder schlafen ging, würde es ihm schon gut gehen.

„Tut mir leid, dass ich euch Sorgen bereite“, murmelte er. Der Löffel zitterte in seiner Hand, aber auch das wurde langsam besser.

„Ist schon okay“, wehrte Mirio ab, „Dafür sind Freunde doch da.“



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