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Aus der Dunkelheit

von

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Wofür hat man denn Freunde

Es war einfach alles zu viel.

Tamaki hatte sich im Bad eingeschlossen, und nicht nur, um dem Rest der Klasse zu entkommen, vor der er jetzt eigentlich einen englischen Text hätte vorlesen sollen. Direkt neben Mr. Yamada, der ihn noch mit allem Elan eines geübten Radiomoderators angekündigt hatte, und vor den Augen von nicht weniger als achtzehn Mitschülern. ‚Stell sie dir einfach nackt vor, wenn das mit den Kartoffeln nicht klappt‘ – Nejire hatte ja leicht reden. Als ob es irgendwie leichter wäre, als Erster der Klasse vorne zu stehen und laut aus Romeo and Juliet vorzulesen, schön salbungsvoll und betont natürlich, wenn man vor einem unbekleideten Publikum steht… danke, aber ein paar seienr Mitschüler konnte Tamaki schon in Unterwäsche kaum ertragen, die wollte er sich gar nicht nackt vorstellen!

„Tamaki, ist alles in Ordnung?“ Nejire klopfte an der Tür des Männerklos und trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten wäre sie einfach hineingestürmt, um nach ihrem Freund zu sehen, aber Frau Kayama hatte sehr eindeutig klar gemacht, was ihr blühte, wenn sie noch einmal im falschen Klo erwischt würde. Einfach einen der anderen Jungs vorschicken? Damit würde sie Tamaki eventuell nur noch mehr unter Druck setzen. Männern war es immer so schrecklich peinlich, wenn man sie in einem Moment der Verwundbarkeit sah… Nur für die allerbesten Freunde konnte man da eventuell eine Ausnahme machen. Gut also, dass Mirio zumindest wieder auf dem Campus lebte. Er kam immer zu Tamaki durch, sie musste ihn nur anrufen und herbestellen. Keine fünf Minuten später war der Junge auch schon da, verschwitzt und etwas außer Atem, aber mit dem üblichen beruhigenden Lächeln auf den Lippen.

„Mirio~“ Nejire fiel ihrem großen Freund erleichtert um den Hals. „Gut, dass du da bist! Tamaki ist seit zwanzig Minuten da drin und ich glaube, er übergibt sich. Ich will rein und ihn trösten, aber…“

„Aber Frau Kayama gibt dir Mülldienst für den Rest des Schuljahres, wenn du nochmal im Männerklo erwischt wirst, ja. Keine Sorge, ich regle das.“ Mirio klopfte Nejire aufmunternd die Schultern und sie ließ ihn los, damit er ungehindert in die Toilette stürmen konnte. Zumindest die äußere Türe war kein Hindernis für ihn, nur hatte Tamaki sich in einer der Kabinen eingeschlossen. Es war nicht schwer zu sehen in welcher; zwei von drei Türen standen offen, also musste es die letzte sein.

„Oi, Tamaki! Alles okay bei dir?“ Mirio hätte am liebsten einfach den Kopf durch die Tür gesteckt, aber das ging ja nicht mehr. Stattdessen klopfte er einfach umso lauter gegen das dünne Holz, das ihm die Sicht und den Zugang versperrte. „Bitte sprich mit mir!“

Tamaki drückte sich nur noch leiser in die Ecke neben der Kloschüssel. Zumindest die Übelkeit wurde langsam besser, vermutlich, weil nichts mehr da war, was er noch hätte von sich geben können. Deswegen wohl konnte er auch nicht einfach Tentakel oder Ranken reproduzieren, um die Tür aus der sicheren Ecke zu erreichen; er müsste aufstehen um sie zu öffnen, und das schaffte er gerade einfach nicht. Er wollte nur weg und in Ruhe gelassen werden, bis seine Panikattacke vorbei war. Dann würde er einfach ins Bett kriechen und nie wieder rauskommen. Er wusste, dass diese Gedanken albern waren. Es war nur ein dummer Vorlesetext, es ging nicht um seine Note, und so schrecklich peinlich alles auch war würde sich morgen schon niemand mehr daran erinnern. Aber im Moment fühlte es sich einfach so an, als wäre sein Leben an dieser Stelle vorbei, als gäbe es keinen Ausweg mehr. Mirios Klopfen wurde lauter, die dünne Holztür gab immer mehr nach unter den kräftigen Schlägen, und auch das machte Tamaki Angst.

„Komm schon Mann, mach auf!“, brüllte Mirio, der nun mit beiden Fäusten gegen die Tür schlug, „lass mich wenigstens zu dir rein, wenn du schon nicht rauskommst! Wenn ich meine Macke nicht benutzen kann…“, er musste nun doch einen Moment abbrechen, um die Tränen zurückzuhalten, „Ich kann nicht einfach durch die Tür gehen, Tamaki! Ich mach mir Sorgen um dich, und kann nicht mal nachsehen, wie es dir geht! Diese lächerlich dünne Tür…“, er schlug noch einmal dagegen, nun mit beiden Unterarmen, und der Schlag hob das Sperrholz beinahe aus seiner Fassung, „Wegen so einer lächerlichen Tür kann ich dir nicht helfen!“

Tamaki schluckte heftig. So schlecht es ihm selbst gerade ging… er wollte auf keinen Fall, dass Mirio darunter zu leiden hatte. Er schämte sich direkt dafür, wegen so einer Kleinigkeit einen solchen Aufstand zu machen, während Mirio mit dem Verlust seiner Macke fertig werden musste. Seine Beine zitterten und die Übelkeit kam sofort zurück, als er sich an der Wand hochstemmte, aber er schaffte es in drei lächerlich kleinen Schritten zu Tür und konnte den Riegel zurückschieben. Dann sprang er sofort wieder zurück in die Ecke neben der Schüssel, um nicht von der schnell aufschwingenden Tür erwischt zu werden, und Mirio stolperte in den winzigen Raum. Tamaki kauerte sich in seine Ecke, den Blick auf den Boden gerichtet. Am liebsten wäre er einfach in einem Mauseloch verschwunden… Aber Mirio kam er so leicht nicht aus, der kniete schon direkt vor ihm ihm und fasste ihn entschlossen an den Schultern.

„Was ist denn los mit dir, Tamaki? Nejire meinte, du seist aus dem Klassenzimmer gestürmt… Irgendwas von wegen Shakespeare oder so, ich hab’s nicht ganz verstanden.“

Tamaki presste die Lippen zusammen und blickte angestrengt an Mirio vorbei auf den Boden. Ihm war bewusst, dass er sich trotzig und kindisch verhielt und dass seine Freunde sich nur Sorgen machten, aber er konnte auch nicht einfach einen Schalter umlegen und einen auf fröhlich machen, wie Mirio es immer tat.

„Hast du geweint?“ Mirios Frage kam so überraschend, dass Tamaki doch aufblickte. Mirios Gesicht war ernst und entschlossen. Tamaki hatte vorher an seinem Tonfall gehört, dass Mirio auch geweint hatte, und aus dieser Nähe konnte er auch sehen, dass seine Augen ein wenig feucht glänzten. Aber mehr eben nicht. Tamaki selbst brauchte keinen Spiegel um zu wissen, wie verheult er aussah. Beschämt wandte er den Blick wieder ab, rang sich aber zumindest zu einem knappen Nicken durch. Mirio fragte nicht weiter, sondern schloss seinen Freund einfach fest in die Arme. „Ist schon gut. Ich bin jetzt hier.“ Wieder nur ein Nicken zur Antwort, aber die Worte blieben nicht ohne Wirkung. Tamaki krallte sich geradezu haltsuchend in Mirios Pullover, vergrub sein Gesicht in dessen Schulter und fing wieder an zu weinen. Diesmal fühlte es sich befreiend an, und als Mirio ihm dazu noch sachte den Rücken streichelte, fing er sogar langsam an, sich wieder zu beruhigen.

„Besser?“, fragte Mirio hoffnungsvoll.

„Ein bisschen.“ Tamaki wischte sich etwas unbeholfen mit dem Ärmel über das Gesicht. Er fühlte sich schwach und zittrig, sicher eine Folge des heftigen Erbrechens vorher. Nervös war er eigentlich nicht mehr… er fühlte sich nur noch krank.

„Lass uns raus gehen, Nejire macht sich auch Sorgen. Sie hat mich angerufen, weil sie dir nicht alleine hinterher durfte… ihre Schilderung der Lage war allerdings eher verwirrend, ich hab nur so viel verstanden, dass sie total verzweifelt war und nicht an dich ran kam, obwohl du Hilfe brauchtest.“

„Als sie das letzte Mal ins Jungenklo kam, hat sich einer der Zweitklässler beschwert“, erinnerte sich Tamaki, „Danach hat Frau Kayama dafür gesorgt, dass sie die Beschilderung ernst nimmt.“

„Ganz Unrecht hat sie ja auch nicht. Stell dir vor du stehst an nem Pissoir und plötzlich kommt ein Mädchen rein…“

„Deswegen geh ich immer in die Kabinen.“

Mirio lachte herzlich und führte Tamaki mit einem Arm um dessen Schultern zurück auf den Gang, wo ihre Freundin schon wartete. Auch Nejire hatte inzwischen Tränen in den Augen vor Sorge und fiel ihren beiden Jungs um den Hals, kaum, dass diese aus der Türe waren.

„Entschuldige bitte…“, murmelte Tamaki und erwiderte die Umarmung zögerlich, obwohl er am liebsten vor der unerwarteten Berührung geflüchtet wäre.

„Ach schon gut“, winkte Nejire fröhlich ab, „Geht’s dir denn wieder besser?“

„Ein... ein bisschen, denke ich.“

„Du siehst blass aus, musstest du dich übergeben? Soll ich Yamada sagen, dass du krank bist?“

„Ich…“

„Mirio kann dich zu Recovery Girl bringen, das machst du doch, oder, Mirio? Damit er nicht mehr in den Unterricht muss? Wenn Yamada ihn nochmal drannimmt, wird es bestimmt nur schlimmer.“

„Klar“, antwortete Mirio sofort, „Was genau hat-“

„Dann sag ich im Unterricht Bescheid, auch bei Aizawa später. So blass wie du bist lässt er dich bestimmt eh nicht trainieren. Werd‘ schnell wieder gesund, ja?“ Und bevor einer der beiden noch irgendetwas sagen konnte war Nejire auch schon wieder weg.

„Sie ist wirklich…“ begann Tamaki überrumpelt.

„Munter?“, half Mirio aus.

„Ich glaub, so könnte man es auch nennen.“

Mirio lächelte und legte Tamaki wieder den Arm um die Schultern. „Lass uns erstmal zu Recovery Girl gehen. Lass dir ne Krankschreibung geben, zumindest für heute, und vielleicht was gegen die Übelkeit. Aber jetzt erzähl erst mal, was hat Herr Yamada denn von dir verlangt?“

„Versprichst du, dass du mich nicht auslachst?“

„Du kennst mich, Tamaki.“

Tamaki seufzte tief, ließ sich aber ergeben auf die Krankenstation führen. Normal konnte er sich da immerhin auf die Süßigkeiten freuen, aber heute brachte schon der Gedanke an Gummibärchen reinen Magen zum Rebellieren. Aber wenn sein Magen nichts annahm konnte er kaum seine Macke verwenden… Nejire hatte Recht, in seinem Zustand konnte er sicher nicht am Training teilnehmen. Ohne etwas im Magen war er generell komplett nutzlos. Der Gedanke half nicht gerade dabei, seine Stimmung zu bessern. Immerhin war Mirio da. Und der hörte zu, ohne zu lachen, als Tamaki ihm in knappen Worten beschrieb, wie es ihm eben ergangen war. Er verurteilte ihn nicht und spielte seine Angst nicht herab, gab nur in umsichtigen Worten zu bedenken, dass Herr Yamada es vielleicht nett gemeint hatte; jeder an der Schule wusste, dass Tamaki nicht vor der Klasse sprechen konnte, aber eben auch, dass er genau daran arbeiten musste und wollte. Herr Yamada war einfach einer dieser lauten, extrovertierten Menschen, vermutlich hatte er gedacht, ein Sprung ins kalte Wasser würde Tamaki auf einen Schlag heilen. Oder dass es für ihn einfacher wäre, vor der eigenen Klasse zu sprechen, weil er seine Mitschüler ja nun schon seit fast drei Jahren kannte.

Eindeutig klar war dennoch: Mirio würde sich den Englischlehrer zur Brust nehmen. Ohne seine Macke konnte er vielleicht nicht am Heldentraining teilnehmen oder im Praktikum auf Patrouille gehen, aber davon, sich für seine Freunde einzusetzen, würde ihn nichts aufhalten.

Er musste sich nur noch ein bisschen daran gewöhnen, dass er nun nicht mehr einfach Kopf voran durch die Wand gehen konnte… aber mit ein bisschen Schwung würde er auch so irgendwie durchkommen. Notfalls auch durch eine verschlossene Tür, ein zweites Mal würde er sich jedenfalls nicht von einem bisschen Sperrholz aufhalten lassen.



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