Zum Inhalt der Seite

Enemy mine - geliebter Feind

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 6

„Jean, du... Ich hatte gehofft, die Lawine hätte dich für immer in Ötzi verwandelt“, knurrte Colt, den die Erinnerung zum Kochen brachte.

„Dann hast du vergessen, wer ich bin ... oder viel mehr, was.“ Jean-Claude schob die Kapuze zurück und gab sich klar zu erkennen. „Ich hätte es wissen müssen. Ihr Blechsterne könnt es einfach nicht lassen eure Nasen in alles reinzustecken. Wir hätten längst weiterziehen sollen.“

„Wie könnte ich das vergessen? So ein Stinktier wie du ist mir selten in meinem Leben untergekommen“, schnaubte der Scharfschütze zurück.

„Jean-Claude, ihr seid Outrider. Was sucht ihr in unserer Dimension?“, fragte der Schotte sachlich. Beth‘ Worte hallten in seinem Kopf wieder. Sollte sie ihn in diesem Moment belogen haben? War es ein Fehler ihr zu glauben? Er entschied sich, es herauszufinden. Jean-Claude würde ihn auslachen, sollte er sich irren. „Wovor seid ihr auf der Flucht? Vor euren eigenen Leuten oder vor eurem Gewissen?“

Der Gefragte lachte bitter auf. „Was glaubst du wohl? Was glaubst passiert, wenn man nach einer Mission zurückkehrt, die nicht erfolgreich war?“

„Nemesis kennt kein Erbarmen“, nickte Saber verstehend. Sie hatte also die Wahrheit gesagt. Warm breitete sich eine Welle der Erleichterung in ihm aus.

„Wir sind Soldaten. Wir haben Missionen zu erfüllen“, entgegnete der Outrider kühl und hob die Schultern. Großen Eindruck schien es nicht auf ihn zu machen.

„Das klingt für mich nicht nach Soldaten, sondern nach Werkzeugen, nach Sklaven.“ Der Schotte prüfte sein Gegenüber.

„Oh ja, darin seid ihr auch gut, auf alles herabzusehen, was nicht eurer Lebensweise entspricht. Beth mag ja naiv sein, aber sie ist nicht dumm und sie hat mir erzählt, worüber ihr euch so unterhalten habt.“ Beinahe lachte Jean-Claude, dann aber schüttelte er den Kopf. „So selbstherrlich“, meinte er, als täte es ihm leid.

„Selbstherrlich? Weshalb? Weil wir uns verteidigen? Oder weil wir in keiner fremden Dimension einfallen und deren Bewohner niedermetzeln?“ Der Recke fühlte sich angegriffen. Mehr noch, getroffen. Selbstherrlich war eine Bezeichnung, die er für sich und seine Freunde als vollkommen unpassend empfand. Er war von der Richtigkeit ihrer Missionen, ihrer Arbeit überzeugt. Sein Bild über Freund und Feind war ziemlich souverän und klar. Dass ausgerechnet Jean-Claude, der Feind, daran zu rütteln wagte, missfiel ihm in dem Moment, ganz besonders, da er es war, der ihm den Kontakt zu seiner faszinierenden Schwester Beth untersagen wollte.

Auch für Colt war klar, wer hier Freund und Feind war. Jean-Claude gehörte zu der letzteren Kategorie. Der Cowboy hatte die Ereignisse im Ski-Urlaub genauso wenig vergessen, wie Saber und es trieb seinen Puls wütend in die Höhe.

„Das sagt gerade der richtige! Du selbstgefälliges Arschloch hast unschuldige Kinder in den Krieg mit hineingezogen! Du hättest Pierre und April von einem Eiszapfen erschlagen lassen. Macht dir das Spaß, Frauen und Kinder zu traumatisieren?“, brummte er ihn düster an.

Ein dünnes, kühles Lächeln zog sich über Jean-Claudes Lippen. „Seht ihr, genau das meine ich mit selbstherrlich. Was ihr nicht versteht, ist, dass Systeme sich unterscheiden. Ein Benziner, ein Diesel, ein Hybrid oder ein Elektroauto - sie alle fahren, auf unterschiedliche Weise. Nur weil euch ein System nicht vertraut ist, muss es längst nicht ausschließlich schlecht sein. Aber natürlich machen wir alles nur zum Spaß. Wir wissen zwar nicht, was das ist, aber wen juckt das, wenn man so ein schönes Vorurteil hat. Nicht wahr?“ Ein gewisser Hohn in seiner Stimme war nicht zu leugnen.

„Eine Diktatur ist keine Demokratie und beide sind keine Monarchie. Auch bei uns Menschen gibt es unterschiedliche Systeme. Wir schaffen es dennoch, halbwegs friedlich miteinander zu leben. Das gelänge auch mit euch, wenn etwas mehr Diplomatie im Spiel wäre“, gab der Blonde darauf zurück.

„Wie kannst du nur so mit ihm reden, Saber? Als ob der irgendwas verstehen würde. Jean-Claude ist ein blinder Befehlsempfänger der Outrider! Es würde mich nicht wundern, wenn sie uns in eine Falle gelockt hätten“, knurrte Colt und presste die Zähne fest zusammen. Da war es ihm also beinahe wieder passiert. Er war schon einmal einem hübschen Phantomgesicht aufgesessen. Annabell hatte damals geschafft, ihn gegen seine Freunde aufzubringen. Geschickt hatte sie ihn manipuliert und jene Knöpfe gedrückt, bei denen er nur zu gut ansprang. Beschützer, Rebell, Unterstützer und Liebhaber – ehe er wusste wie ihm geschah, hatte er sich wiedergefunden, um ihren Finger gewickelt. Darin waren diese Frauen offensichtlich gut.

Snow war taff, hatte ihm das Gefühl gegeben, ein Mädchen zum Pferde stehlen getroffen zu haben. Sie war nicht so zielstrebig auf Körperkontakt aus gewesen, wie die rotmähnige Teufelin, aber das war wohl Teil der Strategie. Colt schnaubte getroffen.

„Natürlich, Colt. Genau so muss es sein. Ich bin ein Outrider. Da bin ich zwangsläufig wie alle anderen sein und alle anderen sind wie ich. Ihr habt nicht die leiseste Ahnung, aber dafür die lauteste Meinung. Ihr sucht den Dialog ja auch nicht gerade. In meiner ganzen Dienstzeit habe ich nicht einen Gesandten eurer Seite getroffen, der es versucht hätte uns so zur Hölle zur schicken, dass wir uns auf die Reise freuen. Also, behaltet eure Vorwürfe. Sie passen ganz gut zu euch. Sie sind der Grund, warum ich meinen Schwestern verboten habe, sich mit Star Sheriffs einzulassen. Sie wollen nicht verstehen, sie argumentieren nur eloquenter.“ Jean-Claude blieb unbeeindruckt vom Ausbruch des Scouts. Kühl und gelassen musterte er die Star Sheriffs vor sich und versuchte abzuschätzen, in wie weit ihre Anwesenheit hier tatsächlich gefährlich für ihn und seine Schwestern war. Noch war er sich nicht hundertprozentig sicher.

„Commander Eagle selbst hat den Frieden mit den Outridern angestrebt, falls du das vergessen haben solltest, Jean-Claude. Aber vielleicht hast du das nur nicht mitbekommen, weil du in einer Phantomkammer von Nemesis deine Strafe abgesessen hast. Dein Oberindianer und Jesse Blue haben einen andauernden Frieden zwischen beiden Rassen vorerst verhindert. Die neuerlichen Überfälle auf unsere Dimension tragen nicht gerade dazu bei, dass wir euch freundlicher gesinnt sind oder die Verhandlungen fruchten werden. Mir ist durchaus bewusst, dass es auch unter den Outridern solche und solche gibt. Wir haben von Commander Eagle von den Mönchen erfahren, sie haben ihm geholfen. Aber du, oder Orat oder besonders Gattler - ihr habt versucht, unsere Dimension für Nemesis Untertan zu machen. Beweise mir, dass du dich geändert hast, dann bin ich gerne bereit, meine Meinung zu ändern. Deine Schwester ist die einzige, die von uns hier ohne Vorurteile ist, denn du bist mindestens so voll damit beladen, wie wir. Hör dir an, was deine naive Schwester zu sagen hat. Sie versucht die Welt, in der sie lebt zu verstehen, und nicht, sich in ihr zu verstecken und unterzutauchen, so wie du das machst“, entgegnete der Schotte entschieden und musterte den grünhaarigen Outrider mit der gleichen Aufmerksamkeit, die der ihm und dem Scharfschützen schenkte.

Der sah kurz zur Decke hinauf um sein Grinsen zu verbergen. Ein Teil der Worte des Recken waren schichtweg lächerlich vorurteilsbeladen. Dann richtete er seinen Blick wieder auf ihn und nickte langsam.

„Da bin ich dann doch fast gewillt, dir Recht zu geben. Bis auf ein zwei Kleinigkeiten. In Haft wird man nicht gerade auf den neuesten Stand gebracht über die politischen Entwicklungen und Befehle führt auch ihr aus. Verstecken und Untertauchen sichert uns gerade das Überleben oder was meinst du, wie es der Führung gefällt, wenn die eignen, hochrangigen Leute türmen? Außerdem ist mir sehr wohl bewusst, dass ich hier kein gern gesehener Gast bin. Es ist immer noch besser, als die Alternative. Was meine Schwester angeht, scheinst du tatsächlich zu glauben, ich hielte ihre Naivität für eine Schwäche.“ Er musste es sich verkneifen aufzulachen. „Da irrst du aber. Ich beneide sie darum.“ Damit trat er von der Tür weg und gab ihnen ein Zeichen zu gehen.

„Im übrigen ist es auch an euch, euch zu beweisen, falls ihr Ernst gemeint habt, was ihr meinen Schwestern sagtet“, fügte er dann an und nickte mit dem Kopf. Die stumme Aufforderung, dass es jetzt definitiv Zeit war, dass die beiden Land gewannen.

„Ich schließe aus deinen Worten, dass du selbst mit deiner Führung nicht einverstanden bist und beschlossen hast, für dich und deine Schwestern ein besseres, friedliches Leben zu schaffen“, antwortet Saber langsam und nachdenklich. Er musterte Jean-Claude von Kopf bis Fuß. „Es ist für einen Outrider nicht einfach in der menschlichen Dimension, nach allem, was in den letzten Jahren an Scharmützeln geliefert wurde, das ist wahr“, gestand er ihm zu und nahm Colt am Arm, dankbar dafür, dass dieser nur vor sich hin kochte, aber nichts mehr sagte. „Ich meine, was ich gesagt habe. Immer noch. Wir werden helfen, solange ihr uns nicht in den Rücken fallt und du ebenfalls ernst meinst, was du gesagt hast. Hilfesuchende werden im Neuen Grenzland nicht im Stich gelassen.“ Damit verließ er das Haus, Colt folgte ihm verhalten knurrend.

Jean-Claude sah ihnen nach, wie sie die Straße entlang liefen und auf den Pfad bogen, zwischen den Grundstücken, der zum Park führte.

Er wartete, bis seine Schwestern unter der Treppe hervorkamen und zu ihm eilten. Einen Moment lang musterte er die beiden.

Sie huschten in die Wohnung zurück. Er schloss die Tür.

„Was gibt es zu Essen?“ fragte er und ließ sich auf einen der Stühle am Esstisch fallen.
 

Der Weg zu Ramrod zurück war nicht lang genug, nicht lang genug um sich zu sortieren. Die Zeit, die ihnen das Taxi geschenkt hatte, brauchten sie nun, um ihren Besuch zu verarbeiten. Aber das war nicht so leicht.

In Colt waren alle bösen Erinnerungen aufgeflammt, die er lange verdrängt hatte. Annabell und Jean-Claude hatten sie geweckt und er konnte sie nicht wieder zum einschlafen bewegen. Nein, sie waren wach und lebendig als wären sie erst gestern geschehen.

Annabell, die ihn an sah, einladend und lasziv. Sein Herz hatte zu rasen begonnen, damals vor Sehnsucht, heute vor Wut. Heute kam er sich wie ein dummer kleiner Junge vor, der es ihr allzu leicht gemachte hatte, Spielchen zu treiben. Er war eine so willige Marionette gewesen auf der Suche nach einer Beziehung. Nicht das diese lange gehalten hätten. Selbst die vielversprechendste, Robin, selbst das war zerbrochen. Am Job und, auch wenn er es eher spürte als benennen konnte, an den Beteiligten. Häufige Abwesenheit seinerseits und seine Erwartung, diese zu akzeptieren, waren das eine Problem. Fehlende Akzeptanz und die Haltung zu seinem Job war das Problem der anderen Seite. Immer wieder. Es schockierte ihn, was für ein leichtes Ziel er auf diese Weise abgab. Unabhängig zu sein war das eine, einsam war das andere. Das war schon vertrackt und schmerzhaft genug.

Dann war da noch Jean-Claude selbst. Nach ihrer Begegnung auf Pecos – und jetzt wunderte ihn nicht mehr, warum er mit seinen Schwestern aus dieser Gegend hier her gesiedelt waren, Pecos war vertrautes Terrain für ihn – hatte er gedacht, er würde ihn nie wieder sehen. Dummerweise fiel seine kleine Affäre mit Annabell in die Zwischenzeit. Colt selbst hatte sie in die Phantomzone geschickt, was Jean-Claude ihm übel genommen und an April und den kleinen Piere ausgelassen hatte. Dass er seine geschätzte Navigatorin und einen unbeteiligten dritten, ein Kind obendrein, in seine Rachepläne hineingezogen hatte, konnte Colt dem Outrider in seiner dominanten Wut nicht verzeihen. Dass der Auslöser in Annabells Mission lag, und zu wie viel Zuneigung ein Outrider gegenüber seiner Familie im Stande war, vermochte der Scout in seinem enttäuschten Zorn noch nicht zu erkennen.

Saber hingegen grübelte über die Worte des grünhaarigen Outrider-Kommandanten nach. Nemesis war also nicht gnädig mit seinen ﹰUntergebenen. Er strafte sie. Es war ﹰJean-Claude dennoch gelungen zu entkommen und mit seinen ﹰSchwestern zu fliehen. Annabell, so reimte er sich zusammen, war dabei umgekommen. Das deckte sich, auch wenn Beth den Namen ihrer Schwester nicht genannt hatte, mit ihren Worten. Das Bild war stimmig.

Hart waren die Vorwürfe, selbstherrlich, vorurteilsbeladen und uneinsichtig zu sein, den diplomatischen Weg nicht zu suchen. Alles in ihm weigerte sich, ihnen Raum zu geben. Er hatte Jean-Claude seine Meinung gesagt, doch im Augenblick war es ihm nicht möglich sich nicht auf die des Outriders einzulassen. Dazu wirkte seine persönliche Betroffenheit gerade noch zu stark. Um sich mit dem Gesagten kritisch auseinander zu setzen, musste er sich davon befreien. Im Moment war das gar nicht so einfach. Selten traf ihn etwas emotional so nachhaltig, wie die Situation, in der er sich gerade befand. Der Grund lag, er sprang ihm doch immer wieder ins Gedächtnis und unterbrach seine Gedanken, in jenen großen, fast schwarzen Augen eines weiblichen Geschöpfes, das faszinierender und anziehender war wie keines davor. Der Wunsch sie kennenzulernen, auf allen Ebenen auf denen man einen anderen nur kennen konnte, war beinahe furchterregend, vor allem angesichts der Erfahrung, die ihn eines besseren belehrte. Belehren sollte. Aber das tat sie nicht, nicht in der Form, dass er sich schleunigst aus dem Staub machte, war sie doch wahrscheinlich ein Engel der Finsternis. Er rannte nicht. Nein. Etwas in ihm hielt ihn davon ab. Waren es ihre Augen, ihr ganzes geschmeidiges und anmutiges Äußeres? War es ihr Wissenshunger und die Fragen, die weltfremden wie die forschenden, prüfenden? Oder war es die Tatsache, dass sie nicht erpicht darauf schien, ihn zu berühren, Gelegenheiten zu erzeugen und zu nutzen ihm körperlich nahe zu kommen, um ihm im nächsten Moment das Hirn wegzublasen, auf welche Weise auch immer? Lilly hatte das getan. Aber Beth? Nur einmal war eine Berührung von ihr aus gegangen und die war unverfänglich, fast unschuldig gewesen.
 

Mit solchen und ähnlichen Gedanken im Kopf fanden sie sich in Ramrods Küche wieder ohne das es ihnen bewusst wurde. Mechanisch setzte sich der grüblerische Schotte an den Tisch, während Colt noch aufgewühlt durch den Raum tigerte.

Überreste eines Eisbechers schmolzen still in Glasschälchen vor sich hin. Fireball und April saßen wortlos an dem großen schlichten Tisch. Ihr Gespräch war zum Erliegen gekommen, als die beiden eingetreten waren. Nun musterten sie schweigend und verwundert ihre Freunde. Vergessen waren die Pläne für den nächsten Tag. Vergessen waren die Pläne für den heutigen Abend. Wie Sabers und Colts Suche gelaufen war, konnten sie ziemlich sicher erahnen. Ihr Verhalten verriet es deutlich.

Aber keiner der beiden sprach. Keiner der beiden machte Anstalten dazu. Wollten April und Fireball also mehr erfahren und Genaueres wissen, blieb ihnen nur eines übrig. Sie mussten sie fragen.

„Wie lief's?“, erkundigte sich April behutsam.

„Wohl nicht so gut.“ Auch Fireballs Stimme klang vorsichtig.

„Blitzmerker“, knurrte Colt zwischen den Zähnen hervor, ließ sich aber auf die Bank fallen. Ein erster Schritt, dass er sich bald beruhigen würde. Saber dagegen schwieg grüblerisch.

„Wollt ihr uns einweihen?“, tastete sich der Rennfahrer vor.

Die Frage gelangte in das Bewusstsein des Schotten. Er sah auf, schaute, noch immer nachdenklich, zur Navigatorin und dem Rennfahrer.

„Wir haben sie gefunden. Und ihren Bruder: Jean-Claude“, erwiderte er tonlos.

An den Namen erinnerte sich die Blondine gut. So viel Vertrauen sie damals im Skiurlaub auch in ihre Freunde gesetzt hatte, wie sehr sie vor dem kleinen Pierre auch Stärke gezeigt hatte, die Lage, in der sie sich befunden hatte, hatte ihr doch das Herz verrutschen lassen. Einmal quer durch den Körper. Für den Bruchteil des Momentes, den es gedauert hatte, bis der Eiszapfen sich gelöst und Fireball sie und den Jungen darunter hervor gezogen hatte. In diesem Moment war nicht Vertrauen oder Stärke in ihr gewesen, sondern Todesangst. Ganz gleich wie allgegenwärtig ihr Job dieses Gefühl machte, so nah war sie bis dahin selten gewesen. Auch wenn sie mittlerweile mit einem Rückblick darauf damit umzugehen, bescherte es ihre immer noch zunächst einen kalten Schreckensschauer, ehe sie sich wieder gefasst hatte.

„Sicher?“ fragte sie, erschrocken, als das eisige Gefühl durch ihren Körper schoss.

„Ganz sicher! Die Visage erkenn ich doch wohl noch“, knurrte Colt bissig.

„Holla", entfuhr es ihr, dann war die Kälte verschwunden und gab ihr ihr Gelassenheit und Objektivität wieder.

„Er hat euch an einem Stück gelassen. Wie kommt's?“ Fireball runzelte die Stirn. Das passte nicht zu dem Jean-Claude, den er kennen gelernt hatte.

„Vorläufig“, presste der Schotte dunkel hervor. Er grübelte noch „Sie sind tatsächlich auf der Flucht.“

„Auf der Flucht?“ Die Informationen zu einem stimmenden Bild zusammen puzzelnd, kratze er sich am Kopf. „ Wovor?“

„Vor ihresgleichen“, schnaubte der Scharfschütze. „Wer's glaubt?“ Er konnte sich das nicht vorstellen. Zu wütend war er noch immer.

„Du schon mal nicht. Was ist mit dir, Saber. Hältst du es für möglich?“, versuchte April die beiden zu ruhigen, klaren Gedanken zu führen.

Eine Weile blieb es still. Niemand sprach. Colt starrte vor sich hin, die Miene noch immer finster. Die beiden, die auf Ramrod geblieben waren, schauten sie prüfend an. Saber grübelte, versuchte zu sortieren, was er an Wissen in der kurzen Zeit erlangt hatte.

„Nicht nur Beth hat es erzählt. Jean hat es bestätigt. Er hat von Haft in der Phantomzone gesprochen“, fasste er seine Gedanken schließlich in Worte.

„Und du glaubst einem hübschen Phantomgesicht? Wieder?“ Kaum hatte der Rennfahrer diese Fragen gestellt, spürte er Aprils Ellenbogen in seiner Seite. “Nein. Aber es klingt nicht abwegig. Ich werde das prüfen.“ Eine weitere Überlegung des Schotten, die er aussprach.

„Tu das“, riet ihm die Navigatorin und überlegte einen Augenblick lang. „aber ich denke, du glaubst ihr zu Recht. Hier werden keine Vorfälle gemeldet, die den Verdacht nahe legen, Outrider stecken dahinter.“

„Habt ihr das in der Zwischenzeit gecheckt?“ Saber hob den Kopf und sah sie halb fragend, halb verwundert an.

„Man hätte uns entweder keine Urlaub gegeben oder uns aus unserem zurück gerufen, so wie sonst immer auch. Außerdem sind wir hier nur zur Patrouille gerufen worden, nicht zu Ermittlungen, so wie sonst“, erklärte sie schlicht, wie sie auf ihre Gedanken kam. Er nickte nur. Das leuchtete ihm ein.

„Das ist trotzdem kein Beweis, dass die Outrider hier ihre Finger nicht im Spiel haben und Jean-Claudes Mitleidsgeschichte stimmt“, widersprach Colt heftig.

„Es beweist auch nicht das Gegenteil“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Fireball unterstützte sie darin.

„Es beweist de facto nichts. Lasst uns abwarten, vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, den Wahrheitsgehalt der Worte zu prüfen.“

„Da frag ich mich doch, wie du das anstellen willst?“ brummte Colt. Wie konnten sie nur so tun, als übersähe er etwas. Er wusste doch ganz genau wie das lief. Er hatte es selbst erlebt. Sie alle hatten es zu spüren bekommen, hatten es ausbaden müssen. Wie konnten sie nun so seelenruhig dasitzen und fragen, beinahe, wie es ihm vorkam, als ginge sie das Ganze nichts an, als wären sie nicht betroffen. Gut, sie waren nicht betroffen, nicht wie er, aber das rechtfertigte ihre Ruhe nicht. Fireball rieb sich die Nase, während er den Scout musterte. Das würde heute Abend noch andauern.

„Wenn etwas Ungewöhnliches passiert, reden die Menschen darüber. Sollten sich hier Outrider rumtreiben, kommt es uns sicher zu Ohren“, hielt er dagegen. “Menschen lassen sich täuschen“, parierte der Scharfschütze aufbrausend.

„Ja, weiß ich. Ich kenn da zwei Exemplare“, wollte der Wuschelkopf signalisieren, dass er im Bilde war und ihn verstand. Er war nur nicht sicher, ob diese Botschaft bei Colt auch so ankam. “Es bringt nichts, jetzt etwas übers Knie brechen zu wollen.“ Saber richtete sich auf und streckte sich. Noch hatte er all sein neues Wissen nicht verarbeiten können. Doch versuchte er krampfhaft die alten Erinnerungen zurück zu drängen und ihnen nicht zu gestatten, seine Gedanken zu vernebeln. Noch wollte er glauben, er hätte sich nicht gänzlich in Beth getäuscht, auch wenn sie ihm, und das stand fest, darüber im Unklaren gelassen hatte, wer sie war.

April konnte ihm gerade zustimmen als Ramrods Abtaster Alarm schlugen. Mit einem Satz war sie auf den Beinen und eilte zu ihrer Satteleinheit und prüfte die eingehenden Ergebnisse des Umfeldscans.

„Da ist deine Gelegenheit und mein Beweis, dass sie uns hinters Licht führen“, brummte Colt und folgte der Navigatorin auf die Brücke.

Fireball und Saber schlossen sich ihm an.

„Warte doch mal ab, oder weißt du, was da gerade los ist?“, rief der Pilot des Friedenswächters, als seine Schritte den Gang entlang hallten.

„April, was hast du auf dem Schirm?“ Die Frage des Recken klang nüchtern, als wäre er in seinem gewohnten Dienstmodus, doch das täuschte. Tatsächlich hoffte er, dass Jean-Claude und seine Schwestern ihnen nicht gefolgt waren. Das würde nicht Gutes bedeuten. Es würde bedeuten, seine Hoffnung in jene großen, fast schwarzen Augen wären enttäuscht.

„Jung, hübsch, weiblich, seltsam“, vermeldete April. „Beth.“

„Nur Beth?“ hakte er nach.

„Jap. Sie ist allein. Sie steht bei der Rampe und wartet. Sonst ist nichts auf den Abtastern.“

„Öffne die Rampe, April. Ich gehe zu ihr.“

„Alles klar, Boss.“

Damit drückte sie den Knopf, der die Rampe herunter ließ.

Saber verließ die Brücke. Colt streckte den Arm nach ihn aus, um ihn zurück zu halten, doch Fireball legte ihm die Hand auf und schüttelte den Kopf.
 

Er war sich nicht sicher, was er von ihrem Erscheinen hier halten sollte. Nein, er wusste nicht, was sie hier wollte. Wie sie hierher kam war kein Geheimnis. Er konnte sich ausrechnen, dass Jean-Claude, als der Outrider den er kennen gelernt hatte, ihre Ankunft hier nicht verborgen geblieben war. Wer auf der Flucht war und tatsächlich am Schutz derer interessiert war, die ihn begleiteten, sicherte sich gegen mögliche Bedrohungen ab und war besonders empfänglich für Veränderungen an dem Ort, an dem er Zuflucht suchte. Es war ganz ohne Zweifel ratsam, mit einer gesunden Skepsis in dieses Treffen zu gehen. Während Saber die Rampe runter lief, fiel sein Blick auf die junge Frau, die an deren Ende wartete. Ihr schlanker Körper bewegte sich von einem Fuß auf den andern. Ihr blass lila Haar schwang leicht unter der Bewegung, sie strich sich eine Strähne davon hinters Ohr. Ihre großen Augen schauten umher, als suche sie was, oder wüsste nicht, worauf sie ihren Blick richten sollte. Als sie ihn bemerkte, richteten sie ihn wartend auf ihn, hielten ihn fest und folgten jedem seiner Schritte zu ihr. Es wäre gelogen, sich nicht einzugestehen, dass ihm diese Art angesehen zu werden, nicht ein warmes Gefühl bescherte und er sich nicht zu ihr hingezogen fühlt. Doch dafür war jetzt kein Platz. „Hallo, Beth“, begrüßte er sie in einem höflich-sachlichem Ton.

„Hallo Saber.“ Sie blieb stehen und nickte leicht.

„Weiß Jean-Claude, dass du hier bist?“, erkundigte er sich.

„Ja, er hat mich geschickt.“ Wieder ein leichtes Nicken. Ihre Augen prüften ihn.

„Oh, hat er? Weshalb?“ Das überraschte ihn. Der Anlass ihres Besuches war also ihr Bruder. Sie war nicht von sich aus gekommen? Oder hatte sie ihm angeboten, für ihn was auch immer zu überbringen? Warum hatte Jean-Claude sie gesandt? Welchen Plan verfolgte er damit?

„Einen Beweis erbringen, nannte er es“, beantwortete sie die Fragen, die ihm durch den Kopf schossen.

„Ich bin gespannt auf den Beweis“, murmelte er, während sie in ihrer Tasche kramte und schließlich fand.

„Es ist reicht immer nicht. Job oder nicht. Manchmal ... ist ...“ Sie wog die passenden Worte ab. „eure Definition von ‚recht‘ und ‚unrecht‘ nicht einzuhalten.“ Dann hielt sie ihm einige Geldscheine hin. Einen Fünfziger, einen zwei Zehner und genauso viele Fünfer, so weit Saber das sehen konnte.

„Ich verstehe nicht.“ Er schaute auf die Scheine, nahm sie aber nicht an.

„Das gehört dir“, erwiderte sie und kam einen Schritt auf ihn zu. „Nimm es zurück.“

Jetzt ging ihm ein Licht auf. Die erste Begegnung mit ihr an seinem ersten Urlaubstag. Es war demnach Snows weißer Schopf gewesen, dem er und Fireball gefolgt waren. Sie hatte seine Brieftasche an sich genommen, wahrscheinlich aber fallen gelassen, als sie bemerkt hatte wem sie gehörte – bis auf die Scheine, die hatte sie behalten.

Er wäre unter anderen Umstände wäre er wohl gekränkt und verärgert, aber er hatte gesehen, wie sie lebte und das machte ihm den Diebstahl nachvollziehbar. Anderen hätte er eine Predigt über die Konsequenzen gehalten, doch da sie hier war und den entwendeten Betrag zurück gab, gänzlich aufrichtig war, ersparte er sich das. Stattdessen schloss er ihre Finger um die Scheine.

„Behalt es“, sagte er rau.

„Nein. Es gehört uns nicht. Nimm es wieder zurück“, beharrte sie und entzog ihre Hand seinen Fingern, eher er sie ganz um das Geld schließen konnte. Stattdessen hielt sie es zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger und schüttelte es kurz und energisch um anzuzeigen, dass sie darauf bestand, dass er es zurücknahm.

„Nimm es, bitte. Als Zeichen des guten Willens. Ihr könnt es brauchen“, bestand er seinerseits darauf, sanfter als zuvor.

Sie setzte an ihm zu widersprechen, doch dann schaute sie ihn verwundert an. „Als Zeichen des guten Willens?“ echote sie blinzelnd.

„Ihr habt einen Schritt auf uns zu gemacht, indem ihr uns das Geld zurück geben wolltet. Wir machen einen auf euch zu, in dem wir euch mit dem Geld helfen. Ich weiß nicht, was dir Jean-Claude von unserem Gespräch erzählt hat, aber für mich ist klar: Solange ihr uns keinen Grund gebt, an euren Absichten zu zweifeln, werden wir euch helfen“, erklärte der Schotte schlicht.

„Er hat gesagt, dass du so etwas sagen würdest. Dass du uns das Geld geben würdest, um uns zu helfen. Ich habe ihn gefragt, was ich dann tun soll. Er hat gesagt: ‚Gib es ihm zurück. Sie sollen nicht glauben, wir wollten sie ausnutzen.‘ Ich denke, er hat Recht damit. Also nimm es zurück.“

„Würde ich das denken, hätte ich dir das Geld nicht zurückgegeben. Ich will euch wirklich helfen. Ich werde es nicht zurück nehmen.“

„Na, schön.“ Statt die Scheine in ihrer Tasche zu verwahren, ließ sie sie fallen und trat von ihm zurück, wandte sich schon zum gehen, als ihr etwas in den Sinn kam. Sie schaute ihn prüfend an.

„Das ist keine Hilfe. Wenn wir das Geld behalten sollen, hilft das nicht. Nicht richtig. Das ist nicht ... wie sagt ihr: Gib einem Mann einen Fisch und er ist für einen Tag satt. Lehre ihn zu fischen und er ... hat jeden Tag etwas zu essen. oder so ähnlich. Jedenfalls ist das keine Hilfe. Ich weiß nicht, wie ihr das nennt, aber Hilfe ist es nicht.“

Es überraschte ihn mehr als angenehm, dass sie Hilfe so definierte und danach handelte. Sein Geld lag auf dem Beton des Parkplatzes, der am Rande Bay Backs lag, eigentlich noch ungenutztes Land war.

„Das Geld soll auch nur ein erster Schritt sein. Es soll die dringlichsten Bedürfnisse fürs erste decken. Ich meinte nicht: Nimm das Geld und geh. Ich gemeinte: Nehmt es für den Anfang. Dann können wir uns - du hast das mit dem Fischen schön erfasst – um das mit dem Fischen lernen kümmern.“

„Nein, das werdet ihr nicht. Nicht nach allem, was passiert ist.“

„Beth“, begann er sacht, konnte ihre Worte so nicht stehen lassen. Nein, er wollte sie so nicht stehen lassen. Er brachte es nicht fertig. „Wir lernen aus unseren Fehler und wir sind in der Lage zu verzeihen. Dem einen fällt es leichter, dem anderen nicht. Colt und Jean-Claude hatten schon oft miteinander zu tun, wie du weißt. Es steht viel zwischen ihnen, aber auch Colt ist in der Lage zu verzeihen.“

Langsam nickte sie. „Was denkst du, tun wir? Können wir lernen? Können wir verzeihen? Oder glaubst du, wir haben nicht die Fähigkeiten dazu?“, wollte sie wissen.

„Ich weiß zu wenig über euch. Unsere Erfahrungen mit Outridern haben wir im Krieg gesammelt, der höchst selten die besten Eigenschaften in einem hervorbringt. Aber wir wissen von den Mönchen, die Commander Eagle geholfen haben und ich habe einmal eine Outriderin kennen gelernt, die zu menschlichen Gefühlen fähig war“ Dass diese schmerzhafte Erinnerung ihm helfen konnte, ging ihm erst in diesem Moment auf. Er drängte diesen Schmerz zurück und nickte Beth zu. „Also ja, ich denke, auch ihr könnt verzeihen und nach vorne blicken.“

„Das hört sich nicht schlecht an.“

„Das ist nur logisch. Es gibt immer mindestens zwei Seiten und ich denke, in jedem steckt weit mehr, als man auf den ersten Blick zu erkennen vermag.“

„Tatsächlich. Dann lass mich wissen, was denkst du steckt in Snow, Jean-Claude und mir?“, bat sie sofort. Ihr Gesicht überzog Neugier auf die Antwort. Sie wollte seine Gedanken dazu erfahren. Einerseits interessierte sie, welche Wertungen er welchen Eindrücken und Erkenntnissen zu schrieb, andererseits war ihr – auch wenn sie nicht so recht verstand, weshalb – wichtig zu hören, dass er nicht negativ von ihr, Beth, dachte. Wie sie es vermutet hatte, nahm sich der Recke ein, zwei Momente Zeit ehe er antwortete. Als er es tat, sprach er langsam, als prüfe er seine ausgesprochenen Gedanken. „Als wir uns als Feinde gegenüberstanden, hat Jean-Claude viele Menschen in Lebensgefahr gebracht, aber er hat auch versucht, seine Schwester zu rächen. Nun versucht er, dich und Snow zu beschützen. Wir sind alte Feinde, also womöglich auch vor uns. Es ist immer schwer, alte Muster aufzubrechen und alte Erfahrungen hinter sich zu lassen. Snow scheint auf den ersten Blick jemand zu sein, der seinen Weg gehen wird. Sie hat einen ausgeprägten Sinn für die Familie, scheint mir. Und du? Du bist wissbegierig, möchtest lernen und verstehen. Ich bin neugierig auf die Person, die vor mir steht.“

„Das ist wahr. Aber wir kennen uns auch noch nicht lange. Deine Ansicht über Snow und Jean-Claude ist auch nicht sehr fundiert.“

Saber machte einen Schritt auf sie zu. „Wie sollte sie auch fundiert sein? Dafür waren die Begegnungen zu wenige, mit jedem von euch. Ich möchte euch kennen lernen und meine Meinung ändern.“

„Das muss sehr aufwändig sein, seine Meinung zu ändern. Man muss sehr viele neue Informationen sammeln, sie sorgfältig auswerten, evaluieren und dann in die vorhanden Schemata eingliedern“, nickte sie, als verstünde sie.

„Das ist sehr technisch, aber ja. Es erfordert Mut.“

„Inwiefern? Daran ist nichts bedrohliches?“ Ihre Frage war noch immer weltfremd. Für Outrider war es schwer, menschliches Verhalten zu begreifen. Es musste verwirrend sein für sie.

„Es erfordert Mut, denn wenn man zu dem Schluss kommt, dass die vorher gefasste Meinung falsch ist, muss man einen Fehler eingestehen. Kein Mensch gibt gerne zu, wenn er sich geirrt hat.“

„Weil es als Schwäche gewertet wird und mit der Empfindung von Bloßstellung einhergeht?“

„Mitunter kann es einer Bloßstellung gleich kommen. Deswegen geben Menschen ihre Fehler nicht gerne zu.“

„Ist das der Grund für deine Zurückhaltung? Dass du dich bloß gestellt fühlst? Oder dass du dich gerade noch in der Schemataerweiterung befindest?“

Wieder zeigten ihm ihre Fragen, wie sehr sie an ihrer Umwelt interessiert war und versuchte, diese zu begreifen. Er spürte einmal mehr, wie es ihn anzog.

„Tja“ Er horchte in sich hinein. „Zum einen ja, ich bin unschlüssig. Zum anderen aber auch nein, es liegt auch daran, dass ich dir nicht zu nahe treten möchte.“

Sie schaute auf den Boden zwischen seinen und ihren Füßen, dann sah sie ihn wieder an. „Du stehst sechsundsiebzig Komma acht Zentimeter von mir entfernt“, stellte sie irritiert fest.

„Beth.“ Er trat noch einen Schritt näher. „Nein, nicht wörtlich genommen. Ich meinte, ich weiß nicht, ob du mich in deiner Nähe haben möchtest. Du weißt sicher das ein oder andere über uns. Es kann doch sein, dass du Angst vor mir hast.“

„Was an dem, was ich wohl über dich weiß, könnte mir bedrohlich erscheinen? Und hätte ich nicht früher schon Angst vor dir haben sollen?“

„Da ist was Wahres dran. Obwohl ich bis dato nicht von mir angenommen hätte, ich könnte ein furchteinflößendes Auftreten haben.“ Ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen und vertrieb die Skepsis an der jungen Frau, die da vor ihm stand. Ihre Fragen signalisierten unverfälschtes Interesse und da es ihm galt, wie er einmal mehr erkannte, begann sein Herz etwas energischer zu schlagen.

Sie schüttelte den Kopf. Nein, ein furchteinflößendes Auftreten hatte er nicht. „Nun, du bist bis dato jedenfalls nicht darauf gekommen, dass ich von Anfang an Zeichen des – wie hast du es genannt – guten Willens gesandt habe. Abgesehen davon, dass ich dir nicht gesagt habe, wer ich bin, was daran liegt, dass es bisher als taktisch unklug erwiesen hat, sich als Outrider und Schwester von Jean-Claude erkennen zu geben.“

Perplex blinzelte er sie an. „Du hast...?“ Aber doch, es ergab Sinn von ihrem Standpunkt aus. Jede Frage, jede Antwort, die er als eben jenes Interesse an ihm gewertet hatte, war ihrerseits ein Signal jenes guten Willens gewesen. „Nein, bin ich tatsächlich nicht. Aber deine Zeichen sind sehr unauffällig, ich habe wohl auf etwas handfesteres gewartet. Entschuldige dafür, Beth.“ Er war nicht einmal mehr enttäuscht, darüber, dass sie ihn über ihre Herkunft im Unklaren gelassen hatte. Es war mehr als einleuchtend, so wie sie es ihm erläuterte. „Ich verstehe, was du meinst. Als Outrider in der Menschendimension ist es nicht ungefährlich.“

„Ja, ist es. Nur eins verstehe ich nicht. Was an den Zeichen war nicht verständlich? Oder hast du sie nicht beachtet, weil du dachtest, sei ein Mensch?“

„Sie waren sehr dezent. Ich war mir nicht sicher. Es gab immer wieder Momente, in denen du mich an einen Outrider erinnert hast, aber ich war mir bis zuletzt hatte ich keine Gewissheit.“

„Also war ich ehrlich“, stellte sie einen Fakt fest. Kurz presste sie die Lippen zusammen. „Ich nahm bisher an, das sei gut, um Menschen kennen zu lernen. Es war so faszinierender dich kennen zu lernen, so viel spannender als sonst.“ Ihre großen Augen waren unverwandt auf ihn gerichtet. Ernst war ihr Blick. „Aber na ja, ... dann ...“ Ihre Worte verloren sich. Langsam wandte sie sich zum gehen und senkte den Kopf. Ein seltsames Ziehen durchfuhr ihre Brust, wie in dem Moment, als Snow sie von ihm weggeschleift hatte. Leise nur, aber beständig war es.

„Ja, du warst ehrlich.“ Rasch legte er ihr seine Hand auf die Schulter. Es war eher ein Impuls, doch in diesem Moment wurde ihm klar, dass er sie so nicht einfach gehen lassen wollte und konnte. Viele Zweifel hatte sie entkräftet und so seine Gefühle für sie bestärkt. Er wollte, dass sie ihn an sah. Er wollte ihre Augen sehen. „Ebenso ehrlich, wie ich es war. Ich habe jeden Moment genossen. Es war erfrischend und ich hatte schon lange keine so schöne Gesellschaft mehr.“ Mit sanfter Bestimmtheit zog er sie zu sich herum und hoffte inständig, sie würde ihn ansehen. Jetzt. Bitte. „Wir beide sind uns einig, dass wir die Gesellschaft des anderen schätzen, nicht wahr? Weshalb versuchen wir dann nicht, das, was uns trennt, zu überbrücken?“

Zögerlich hob sie den Kopf. Ihr Blick blieb an seiner Schulter und der Beuge seines Halses hängen. „Wie stellst du dir das vor?“, fragte sie leise. Seltsam war ihr. Etwas erfüllte ihren Magen mit unbekanntem Leben. Es war verwirrend.

„Indem wir uns noch besser kennen lernen. Du und ich.“ Seine Finger strichen über ihre Wange, fuhren über die weiche, glatte Haut zu ihrem Kinn hinab. Behutsam hob er ihren Kopf an.

Beth Körper spielte verrückt, wie es schien. Das Ziehen in der Brust war verschwunden, nun hämmerte ihr Herz. Das Pulsieren in ihrer Magengegend verstärkte sich. Sie kannte diese körperlichen Reaktionen nicht, weder in ihrer Ursache noch in ihrer Bedeutung. Sie hatte, bis sie ihm begegnet war, nie derartige Symptome gehabt.

„Mir ist nicht gut, glaub ich ...“, brachte sie hervor und legte eine Hand auf ihre Brust, als könne sie das vergehende Ziehen mildern und das Herzklopfen verlangsamen. Die andere Hand legte sie auf ihren Bauch. „Mein Bauch... so komisch“, murmelte sie irritiert.

„Ist alles in Ordnung?“ Besorgt legte er einen Arm um sie. „Möchtest du dich setzen?“ Als sie nickte, ließ er sich an Ort und Stelle nieder. Er fand sich in eine halt sitzende, halb kniende Position ein und zog sie vorsichtig zu sich. Auch sie setzte sich und legte ihre Beine seitlich von sich.

„Es ist so seltsam. Mein Herz hämmert ... und es fühlt sich an, als … als… fliege … etwas durch meinen Magen.“ Selbst das Aussprechen, das Benennen der fremden Symptome half ihr nicht weiter, schuf keine Klarheit, weckte keine neue Erkenntnis.

Saber runzelte die Stirn, als sie ihren Zustand beschrieb. Was konnte sie nur haben? So plötzlich? Er ließ sich ihre benannten Symptome durch den Kopf gehen und kam schließlich nur auf zwei Erklärungen. „Entweder hast du gerade einen Herzinfarkt oder du hast Schmetterlinge im Bauch.“ Konnte das sein? Hatte sie sich in ihn verliebt? Ihre körperliche Reaktion schien sie zu verwirren, als hätte sie derartige Empfindungen noch nie gespürt. Sein Herz überschlug sich erfreut, als ihm klar wurde, dass es so unwahrscheinlich nicht war.

Tatsächlich war ihr fremd, was mit ihr passierte und seine Antwort verhalf ihr nicht zur Erkenntnis. „Was? Wie ... wie kommen denn Schmetterlinge in meinen Bauch?“, fragte sie erschrocken.

„Nein, nein, du hast nicht wirklich Schmetterlinge im Bauch. Das sagen Menschen so, wenn ein anderer Mensch in uns starke, positive Gefühle weckt, wenn er den anderen sehr gern hat, in ihn verliebt ist“, beeilte er sich, sie zu beruhigen.

„... aber ich bin ein Outrider ...“

„Ein sehr menschlicher Outrider. Ihr seid uns vielleicht ähnlicher, als wir bis dato angenommen haben“, erkannte er.

„Was mach ich jetzt dagegen?“

„Da gibt es jetzt nur zwei Möglichkeiten: Du versuchst, für diesen Menschen negative Gefühle zu entwickeln, oder du findest heraus, was passiert, wenn der Mensch, für den du diese Gefühle hast, auch so empfindet.“

Beth‘ Gedanken überschlugen sich. Ihr Körper reagierte in seiner Gegenwart so seltsam und beim Gedanken daran von ihm getrennt zu sein oder zu werden, negative Gefühle hervorzurufen, verschlimmerten sich diese Reaktionen. „Wie mach ich das …?“ Ihre Stimme verlor sich für einen Moment verunsichert. „Was passiert, wenn der Mensch auch so empfindet?“

Er hatte gehofft, dass sie das fragen würde. „Das.“ Er legte eine Hand an ihren Hinterkopf und zog sie bestimmt zu sich. Da sie sich nicht sträubte, es geschehen ließ, gab er dem Wunsch nach, der ihn oft genug in seinen Gedanken an sie begleitet hatte. Er presste seine Lippen auf ihre, fühlte ihre weichen auf seinen.

Überrascht hielt sie still und blinzelte. Die unruhigen Reaktionen ihres Körpers verschwanden. Wärme breitete sich in ihr aus. Eine unbekannte Wärme, die sie beruhigte.

„Mir ist so seltsam warm ...“, murmelte sie, als er ihre Lippen für einen Moment wieder frei gab.

„Wenn es dir nicht gefällt, höre ich auf“, bot er der Form halber an, erwartete aber nicht wirklich, dass sie sich zurück zog. Er breitete die Arme aus und empfing sie, als sie ihr Gesicht seinem wieder näher brachte. Ihr „Nein“ war kaum mehr als ein Hauch.

Saber schloss seine Arme um sie und zog sie näher. Er empfing ihren Mund zärtlich und nur so lange beherrscht, wie es dauerte, sich ihrer Wärme und Weichheit bewusst zu werden. Dann gab er seinem Wunsch nach und intensivierte den Kuss, je mehr je forschender und neugieriger sie ihm antwortete.

Er spürte ihre Hände an seinen Oberarmen. Sie griff nach ihm, als suche sie Halt.

Selten hatte ihn ein einfacher Kuss so berauscht, so betört, wie dieser nun. Er ließ sich davon leiten, öffnete seinen Mund und strich fragend mit der Zungenspitze über ihre Lippen. Als sie ihm Einlass gewährte, glitt seine Zunge ihrer entgegen. Neugierig ließ sie sich auf ihn und seine Hingabe ein, erprobte das Spiel ihrer Münder und entfachte so seine Leidenschaft weiter. Die Wärme in ihr breitete sich aus, erfüllte jede Faser ihres Körpers. So angenehm und neu, dass sie nicht das Bedürfnis hatte, den Kuss zu brechen. Sie wollte, im Gegenteil, ihn so lange wie möglich aufrecht erhalten.
 

Den Wartenden auf der Brücke wurde die Zeit lang. Während Colt die Theorie aufstellte, der Schotte wäre mittlerweile zu den Jenseitigen gewechselt, hielt April es für ein gutes Zeichen, sprachen die beiden wohl offensichtlich ausführlicher mit einander. Sie hoffte, dass dadurch Licht und Klarheit in die wirre, von miesen Vorerfahrungen überschattete Situation kam. Das Ganze sollte immerhin ihr Urlaub sein, doch der zweite von den fünf gewährten Tagen fühlte sich nun in seiner letzten Hälfte wie Ermittlungsarbeit an.

Fireball trauerte der ruhigen Zeit ebenfalls ein bisschen nach. Sie waren gestern entspannt einkaufen gegangen und hatten ihre Seele im Freibad baumeln lassen. Das Tennismatsch am Vormittag war eine nette Abwechslung gewesen und inzwischen hatte er sich mit seiner Niederlage ausgesöhnt, hatte er seinen Boss doch noch nie so verknallt erlebt wie heute. Das war schon etwas wert, es war nämlich ausgesprochen selten. Einen Dämpfer hatte das alles bekommen, als Snow ihre Schwester mit sich fortgeschleift und den Recken mit mehr Fragen als Antworten zurückgelassen hatte. Natürlich wollten er, und auch Colt, diesen Fragen auf den Grund gehen und waren also den Damen gefolgt. Das war nachvollziehbar und hatte zu einem kleinen Rundritt mit April und mit einem anschließenden Eisbecher hier an Bord geendet, so schön gemütlich. Aber damit war es nun wieder vorbei. Sabers und Colts Verfassung bei ihrer Rückkehr ließ erahnen, dass sie nun in einer Art, tja, Kultururlaub angekommen waren, Kulturschock und Shakespear würdige Dramen schienen darin enthalten zu sein. Das konnte ja nur heiter werden. Wenn Colt sich wenigstens beruhigen ließe, aber der Rennfahrer drängte zu sehr darauf und erzeugte mehr Trotz bei dem Scharfschützen als alles andere.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück