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The Diary of Mrs Moriarty

von

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Sünde eines Teufels

Miceyla vergaß, dass sie gerade gerettet worden war. Es fühlte sich keinesfalls mehr wie eine Rettung an. Eher wie der bittere Absturz in die alles verschlingende Tiefe, vor dem man sie bislang noch bewahren konnte. Zitternd kauerte sie auf dem kalten Kerkerboden und starrte mit glasigen Augen Harleys rechte Hand an, welche er ihr hinhielt, um ihr aufzuhelfen. Da sie keinerlei Anstalten machte diese zu ergreifen, zog er sie lächelnd wieder zurück.

„Ist meine Person denn wahrlich so schockierend für Sie, dass es Sie die Erleichterung Ihrer Rettung vergessen lässt? Es ist unsagbar beschämend für mich. Da muss mich jemand wohl in ein ganz schlechtes Licht gestellt haben. Wer das wohl gewesen sein könnte…? Aber Sie sind doch eine kluge junge Dame, die sich ein eigenes Urteil bilden kann. Würden Sie es nicht vorziehen, dieses sündenhafte Drecksloch schleunigst zu verlassen? Zu einer warmen Mahlzeit, um wieder zu Kräften zu kommen, sagen Sie sicherlich auch nicht nein. Vielleicht tröstet es Sie, wenn diese edle Waffe wieder zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückkehrt“, sprach Harley mit einer unvergleichbar beschwichtigenden Stimme, die weder Zorn noch Missgunst zu kennen schien und hielt ihr Williams, von den fiesen Männern konfiszierten Degen entgegen. Miceyla zögerte damit, die Waffe wieder an sich zu nehmen, da sie mit jener ihren ersten Mord verrichtet hatte. Dennoch erachtete sie es als ihre Pflicht, dass niemand außer ihr den Degen führen durfte und nahm ihn mit einem festen Griff Harley ab. `Nun bin ich dort angelangt, wo ich gehofft hatte niemals stehen zu müssen… Und doch war es unvermeidbar. Aber ich muss weitermachen, schließlich lebe ich für die Zukunft und nicht für die Vergangenheit. Auch wenn ich von einer Gefangenschaft in der nächsten gelandet bin, muss das nicht bedeuten das alles verloren ist. Das Harley mich bei Sherlock in Greenock absetzt und lächelnd von dannen zieht, damit darf ich wohl kaum rechnen. Wohlan Clayton, jetzt stehe ich deinem oder sogar dem Erzfeind von uns allen gegenüber. Dies wird möglicherweise meine einzige Chance, seine wahre Persönlichkeit zu ergründen.` Der Mut und ihr eiserner Wille kehrten allmählich zurück und sie erhob sich eigenständig. Dabei kämpfte sie verbissen dagegen an, sich nicht von Harley einschüchtern zu lassen.

„Sie besitzen ein starkes Herz. Einst kannte ich eine junge Frau, die mit Ihrer Stärke mithalten konnte, sie letztendlich aber dann doch verlor… Aber Sie sind bestimmt zu müde für sinnigere Gespräche, verlassen wir daher diese Leichenhalle“, beschloss Harley unbekümmert über den scharfen Blutgestank, der Miceyla mittlerweile schwer zu schaffen machte. Zumindest in der Hinsicht jenen grausigen Ort zu verlassen, konnte sie ihm zustimmen.

„Was ist mit den anderen Männern geschehen, welche sich hier noch irgendwo aufhalten mussten? Haben Sie etwa alle umgebracht? Und das Sie gerade rechtzeitig hier aufgetaucht sind, kann kein Zufall sein. Was haben Sie nun mit mir vor? Sollte ich dazu dienen, um William zu erpressen…dann…dann…“, begann Miceyla erzwungen furchtlos und geriet allerdings ins Zaudern, da sie sich wagte, einen barschen Tonfall bei einem solch mächtigen Mann zu verwenden.

„Geduld ist eine wertvolle Tugend. Verlangen Sie nicht nach Antworten, die Sie am Ende gar nicht hören wollen und nur weitere Fragen hervorbringen“, erwiderte Harley knapp und ließ sich kein bisschen von ihrem aufbrausenden Verhalten reizen. Erneut realisierte sie, dass dieser Mann weitaus mehr Lebenserfahrung besaß als sie, auch wenn er ziemlich jung wirkte. Und sie ermahnte sie dazu, in seiner Gegenwart vernünftiger zu sein und ihre Worte mit Bedacht zu wählen. Denn als Premierminister und Soldat höchsten Ranges, musste er eine überdurchschnittliche Intelligenz besitzen. Einen solchen Erfolg erreichte man nicht einfach nur durch seinen Adelsstand. Harley verließ mit ihr das unheimliche Gebäude, welches von außen wie eine alte Ruine aussah. Sie musste die Augen reflexartig zusammenkneifen, als ihr grelles Tageslicht entgegenschien. Obwohl nicht mal die Sonne schien und eine dichte Wolkenfront bei einem rauen Wind am Himmel wanderte, war es für sie im Gegensatz zu ihrer dunklen Gefängniszelle ungewohnt hell. Harley achtete darauf, dass sie dicht neben ihm ging, damit er jegliche Fluchtversuche von ihr sofort unterbinden konnte. Zudem war sie sowieso viel zu hungrig und schwach, um überhaupt an eine Flucht zu denken. Sie wusste ja nicht einmal, wo sie sich gerade genau in Schottland befanden und wie weit sie nun von Greenock entfernt war. Denn die Männer hatten sie ein gutes Stück verschleppt.

„Ein traumhaft schönes Land. Sobald ich die menschenleere Landschaft betrachte, weckt das etliche nostalgische Erinnerungen in mir. So fühlt sie sich an, die wahre Freiheit…“, kommentierte Harley mit sanfter Stimme die Umgebung und Miceyla konnte nicht wirklich sagen, ob er gerade mit sich selbst oder ihr sprach. ´Ich fühle mich momentan alles andere als frei...´, dachte sie trüb und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er verhielt sich sonderbar gelassen und besaß einen edelmütigen Gang. Vom Wesen und seiner Fechtkunst her, konnte er tatsächlich mit William konkurrieren. Seine Person passte so gut wie gar nicht zu dem Bild, welches sie sich anhand Claytons ausführlicher Beschreibungen über ihn gemacht hatte, was sie etwas verwirrte. Seine Geschichte war nicht gelogen, das stand außer Frage. Allerdings waren es auch nur sein Erleben und Empfinden, von dem er sprechen konnte. Die Gegenseite besaß oftmals eine völlig andere Perspektive. Dennoch war es unverkennbar, dass in diesem Mann eine böse Seite innewohnte, auch wenn sie tief verborgen in ihm schlummerte. Und sollte sein arrogantes und überhebliches Verhalten zu Tage kommen, dann bloß um seinem Rang gerecht zu werden und Eindruck zu hinterlassen. Denn Harley schien nichts mehr zu hassen, als Schikane und Unterwerfung, dies spürte sie einfach und das schon in der kurzen Zeit, seit ihrem ersten Aufeinandertreffen. Konnte es sein, dass auch er nach Gerechtigkeit strebte, auf seine eigene Art du Weise? Jedoch wurde sie im selben Moment daran erinnert, welche grausamen Taten er in seiner Vergangenheit begangen hatte. Clayton würde sie besteinigen, aufgrund ihrer milden Denkweise. Aber das er und die Moriartys ebenfalls ihre Leichen im Keller hatten, war nun mal auch eine Tatsache, die man keinesfalls ignorieren konnte. Miceyla musterte Harley so eindringlich, dass sie seinen Augenkontakt magisch anzog.

„Nanu, welch ein ehrfürchtiger Blick. Haben Sie mich etwa für einen wilden Barbar gehalten? Die Schauermärchen über mich, würde ich nur zu gerne einmal hören, ha, ha“, sprach er lachend und wollte sie kein bisschen damit aufziehen, eher seine eigene Belustigung zum Ausdruck bringen, damit es ihr leichter fiel, sich etwas von ihrer innerlichen Anspannung befreien zu können.

„Nein… Ich… Verzeihen Sie, dass ich Sie angestarrt habe… Das war unhöflich von mir…“, entschuldigte Miceyla sich rasch und blickte verlegen zu Boden.

„Ha, ha, nicht doch! Wahrscheinlich bin ich das auch, ein fieser Barbar. Und die Schauermärchen entsprechen auch alle der Wahrheit…“ Ihre Verwunderung über seine freimütigen Äußerungen, wuchs von Augenblick zu Augenblick. ´Er streitet nichts ab… Mir ist zwar ein solch unnatürlich starkes Selbstbewusstsein bekannt, aber bei ihm erscheint es mir dann doch noch mal ganz anders. Dieser Mensch ist nicht nur der sonderbarste, sondern auch der rätselhafteste Mensch, dem ich je begegnet bin und aus dem ich nicht so schnell schlau werde. Und dies dachte ich damals von Clayton… Nun darf ich wohl ein neues Geheimnis lüften. Man muss nun mal offen für Überraschungen sein, denn nicht alles richtet sich immer nach den eigenen Erwartungen…´ Sie versuchte ihre Gedanken in eine positive Richtung zu lenken und nachdem sie nach einem längeren Fußweg, endlich eine einigermaßen solide Landstraße erreicht hatten, fuhr sie ein weiteres Mal in einer Kutsche fort, ohne zu wissen wohin sie gebracht wurde. Nach etwa einer Dreiviertelstunde, hielten sie bei einer schäbigen alten Hütte, die sich fernab von einem menschenbewohnten Dorf befand. Miceyla hinterfragte immer intensiver, was Harley eigentlich in Schottland zu suchen und wie er von ihrem Aufenthaltsort erfahren hatte. ´Ob es möglicherweise mit der Person zusammenhängt, von der Sherlock sprach…?´ Diese Frage würde wohl vorerst unbeantwortet bleiben.

„Vergeben Sie den Anblick dieser heruntergekommenen Hütte. Aber ich habe Verpflegung herbestellen lassen und um sich ein, zwei Nächte auszuruhen, ist sie völlig ausreichend“, hob Harley bescheiden an und lief frohgestimmt voraus. ´Das war doch alles von Anfang an geplant… Ein ehrliches: `Hier sind wir ungestört und kein Mensch wird dich hier jemals finden`, hätte mir auch gereicht´, dachte sie seufzend, jedoch reichte es ihr fürs Erste, nicht mehr in einer kalten Gefängniszelle verhungern zu müssen. Als sie kurze Zeit später an einem verhältnismäßig reich gedeckten Holztisch saß, vergaß sie fast, mit was für einer bedeutsamen Persönlichkeit sie gerade alleine war und drohte von ihrem knurrenden Magen überwältigt zu werden.

„Langen Sie ruhig zu. Und keine Bange, das Essen ist nicht vergiftet. In dem Zimmer dort drüben befindet sich ein Bett, ruhen Sie sich also einmal richtig aus. Ein Bad gibt es auch, jedoch müssen Sie wohl mal ohne warmes Wasser auskommen. Sie genießen den Luxus der adeligen Welt. Aber das war nicht immer so, habe ich recht? Nicht das ich in dieser lausigen Umgebung, unangenehme Erinnerungen wecke… Und ich werde Sie nicht im Schlaf töten. Ich bevorzuge weniger diskrete Tötungsmethoden, wie Sie sicher schon feststellen konnten“, teilte Harley ihr mit einem dämonischem Grinsen mit, bei dem sie sogleich erschauderte. Er besaß einen düsteren Sarkasmus, der genau den wunden Punkt seines Gegenübers zu treffen vermochte. Doch war er nicht der Erste, den sie mit jener heimtückischen Gabe kennenlernte. Und sie ließ seine dezent stechenden Worte, von der eisernen Mauer abprallen, welche sie um ihr zerbrechliches Herz errichtete hatte und fing unbekümmert an zu essen. Wenn Harley sie tatsächlich töten wollte, dann auf eine Weise, welche William am meisten verletzen würde. Es verlangte ihm anscheinend nach Genugtuung. Aber sie wusste nicht genau für was und weshalb.

„So ist es gut, mit leerem Magen lässt es sich nur schwer denken und kämpfen. Im Übrigen habe ich morgen, den Besuch eines bestimmten Ortes hier in der Nähe geplant. Sie werden mich dorthin begleiten. Wir besuchen ein Grab. Dies verrate ich Ihnen schon mal, da ich kein Freund von Geheimniskrämerei bin. Seien Sie daher ganz unbesorgt, es steht Ihnen keine weitere Knechtung bevor“, verkündete Harley ein wenig ernster und begann selbst nun mit dem essen der relativ schlicht ausgefallenen Mahlzeit. ´Ein Grab…? Ich diniere hier gerade mit dem Premierminister in einer winzigen Hütte, irgendwo in der Wildnis von Schottland. Verrückter kann es eigentlich nicht mehr werden…´, dachte Miceyla und hätte beinahe sogar vor Belustigung lächeln müssen, wäre sie nicht zu erschöpft gewesen. Sie wechselten kein weiteres Wort mehr miteinander und sie zog sich direkt, als sie einigermaßen gesättigt war, in das kleine Zimmer zurück, in dem sie sich ausruhen durfte. Da sie für nichts mehr Kraft übrig hatte, ließ sie sich geradewegs auf das schmale Bett fallen. Und selbst ihre aufgewühlten Gedanken, konnten sie nicht mehr daran hindern, dass die Müdigkeit sie übermannte und ihr einen unruhigen Schlaf bescherte. Der nächste Morgen kam viel zu schnell und am liebsten hätte sie noch ein paar Tage länger durchgeschlafen. Doch ihr warnender Instinkt weckte sie und erinnerte sie hartnäckig daran, dass sie sich alles andere als in Sicherheit wägen konnte. Miceyla betrachtete für eine Weile Williams Degen, der einzige Gegenstand, welcher ihr momentan Trost spendete und sie mit ihrem weit entfernten Liebsten verband. Ein neuer Tag begann, all ihr Bedauern und ihre Reue musste sie zusammen mit der unumkehrbaren Vergangenheit begraben und sich mit neuem Mut aufraffen. Jetzt erst bekam sie die Gelegenheit, ihr mitgenommenes und verdrecktes Kleid zu betrachten, in dem sie auch noch geschlafen hatte. Ihre gesamte Wechselkleidung befand sich in der Gaststätte in Greenock. Doch da Harley nichts dem Zufall überlassen hatte, fand sie auf einem niedrigen Schränkchen ein sorgsam gefaltetes Kleid. Sie zögerte daher nicht, sich schnurstracks ihrer miefenden Kleidung zu entledigen und das neue, ihr zur Verfügung gestellte Kleid anzuprobieren. Es passte ihr wie angegossen und auch wenn es einen dunklen Grünton besaß, den sie nicht gerade häufig trug, fand sie es dennoch für ihr Abenteuer in der `Wildnis` recht treffend. Nachdem sie fertig angekleidet war und den Degen wider an einem Gürtel um ihre Taille festgebunden hatte, lugte sie vorsichtig aus dem Zimmer heraus und stellte unmittelbar danach fest, dass man sie bereits erwartete.

„Guten Morgen, Mrs Moriarty. Es freut mich zu sehen, dass Sie es trotz Ihrer jüngst widerfahrenen Unannehmlichkeiten geschafft haben, so zeitig aufzustehen. Kommen Sie und frühstücken Sie noch etwas, ehe wir aufbrechen“, begrüßte der am Esstisch sitzende Harley Miceyla höflich und strahlte dabei eine geduldige Ausgeglichenheit aus.

„Guten Morgen…“ Dies war alles, was sie ihm daraufhin erwiderte und dachte darüber nach, dass sie nicht wirklich wusste, wie sie das derzeitige Oberhaupt der Familie Granville eigentlich korrekt ansprechen sollte. Hinzu kam, dass ihm seine verdächtig wirkende Freundlichkeit ihr gegenüber, nicht ganz geheuer war. Vor allem weil sie so völlig ungekünstelt wirkte. Generell verhielt er sich nicht wie die Mehrzahl der verdorbenen Adeligen des obersten Standes. Er verhielt sich eher wie ein bodenständiger Mensch, der stets wusste welche Umgangsformen angemessen waren und mit Toleranz, wenn auch mit ein wenig Distanz, durchs Leben marschierte. Doch wo versteckte sich dabei seine teuflische Ader, von der er mehr als nur einmal Gebrauch gemacht haben musste? Wenn sie aber ehrlich war, wollte sie dies in Wirklichkeit gar nicht erst selbst herausfinden und erleben. Wie Harley es bereits am Vortag angekündigt hatte, brachen sie nach einem raschen Frühstück auf, um einen Grabbesuch zu machen. Sein persönlicher Kutscher wartete wieder gehorsam vor der ländlichen Hütte, damit er sie auf direktem Wege eskortieren konnte. Während Miceyla erneut neben ihm saß, fühlte sie sich weder unbehaglich noch entspannt. Das einzig vernünftige war momentan, schnellstmöglich aus Harleys Fängen zu entfliehen und mit Sherlock wiedervereint zu werden, gleichgültig was er mit ihr vorhaben mochte. Und sie fragte sich, wie William wohl reagieren und handeln würde, wenn er davon erfuhr, was sich gerade hier in Schottland abspielte. Selbst er konnte nicht mit Harleys direktem Eingreifen gerechnet haben, sonst hätte er sie erst gar nicht abreisen lassen. Die Kutsche hielt ungewöhnlich früh und Miceyla blickte ihn fragend an.

„Wir legen hier nur einen kleinen Zwischenstopp ein. Denn Blumen dürfen schließlich bei einem richtigen Grabbesuch nicht fehlen…“, verriet Harley ihr und legte verschwiegen seinen Zeigefinger auf seine lächelnden Lippen. Wie gebannt schaute sie ihn an. ´Bei…bei dieser Geste gleicht er Clayton beinahe aufs Haar… Er könnte wahrlich sein älterer Bruder sein. Solch ein ungewöhnlicher Zufall… Und diese beiden Menschen sind Todfeinde. Zumindest wenn man von einer Seite ausgeht…´ Begleitet von diesem bittersüßem Gedanken, folgte sie ihm den schmalen Pfad eines dich bewachsenen Hügels hinauf und lief mit gesenktem Blick wenige Schritte hinter ihm her. Es war offensichtlich, dass er sich in keiner Weise daran störte, dass sie mit ihrem Degen bewaffnet herumlief. Das eine heimliche Attacke von ihr Erfolg haben würde, war schließlich undenkbar. Unbewusst griff Miceyla in eine der Seitentaschen ihres neuen Kleides und hielt plötzlich einen kleinen Zettel in der Hand. Überrascht faltete sie ihn auseinander. Kurz hielt sie aufgeregt inne, als sie an der Handschrift erkannte, von wem die heimliche Botschaft stammte… ´Fred! Wie um alles in der Welt, hat seine Nachricht den Weg in diese Tasche gefunden…? Warum bin ich bloß darüber verwundert, es ist schließlich Fred…´ `Liebe Miceyla, mein Versagen trifft mich wahrlich tief. Ich sollte dich vor dem bedrohlichen Feuer schützen und nun habe ich dich direkt in die lodernden Flammen springen lassen. Aber das Verschulden beginnt nicht bei mir selbst… Doch meine Verbitterung soll dir nicht auch noch zur Last fallen. Ich folgte dir mühelos, bis Harley dich in `Gewahrsam` genommen hat. Seine Scharfsinnigkeit konnte sogar mich ausfindig machen, was mich um ein Haar das Leben gekostet hätte. Ich bitte dich inständig, eine Weile alleine durchzuhalten. William und Clayton werden mit vereinten Kräften für deine Rettung sorgen, dabei können wir uns auf Amelias Unterstützung verlassen. Zur Not werde ich Sherlock ohne Umwege zu dir führen und wenn ich dafür den Moriarty Plan aufs Spiel setze. Dein Leben ist weitaus kostbarer. Und ich bin davon überzeugt, dass William genauso denkt. Er findet in jeder noch so ausweglosen Situation eine rettende Lösung. Auch dieses Mal wird es keine Ausnahme sein. Bitte lasse dich unter keinen Umständen auf den Mann Harley Granville ein. Es ist kein Geheimnis, dass sein Vorhaben darin besteht dich kaltblütig zu ermorden, um William aus der Reserve zu locken. Die Zeit ist gekommen, um all das umzusetzen, was du bislang bei uns gelernt hast. Wir schaffen das, gemeinsam. Dein Fred.` Miceyla verfiel in einen tranceartigen Zustand, während sie seine geschriebenen Zeilen las, in denen Kummer, Gewissensbisse und Entschlossenheit gleichermaßen steckte. ´Oh Fred…Amelia… Das Ausmaß meines eigenwilligen Handelns, wird noch weitaus verheerender ausfallen, als ich es mir bislang vorzustellen gewagt habe… Wenn Clayton und William hier aufkreuzen und es zu einem Zusammenprall mit Harley und Sherlock kommt, könnte dies eine Kollision herbeiführen, die uns alle zugrunde richtet und jegliche Wahrheiten ans Licht bringt, welche besser noch eine Weile länger im Verborgenen schlummern sollten. Aber…dieser Mann Harley Granville… Ist es wirklich seine Absicht, dass es bereits jetzt zu einer Entscheidung der Kontrahenten kommt…? Fred, ich kann dir kein sicheres Versprechen geben, aber ich muss Gewissheit haben und mein Urteil über ihn fällen…´ Eine verzehrende Schwermut breitete sich in ihr aus, als sie die tröstende Nachricht von Fred, wieder unauffällig in der Seitentasche verschwinden ließ.

„Schauen Sie mal, ist dies keine prachtvolle Farbe? Kraftvoll und getränkt mit Anmut. In diesen Blüten spiegelt sich ein stolzer und unbeugsamer Wille wieder.“ Sachte hob Miceyla ihren gesenkten Blick und betrachtete vorerst schweigsam, einen kleinen Strauß tiefblauer Hortensien, den Harley ihr lächelnd entgegenhielt. Jeder hätte nun nachvollziehen können, wenn sie ihm zornig die Blumen aus der Hand geschlagen hätte und ihn schimpfend dazu ermahnte, nicht heuchlerisch einen auf heile Welt zu machen. Doch stattdessen nahm sie ihm vorsichtig die Blumen ab und erwiderte zaghaft sein Lächeln.

„Tendieren Sie auch dazu, Menschen mit Blumen zu vergleichen? Diese Angewohnheit kenne ich irgendwoher… Aber die Farbe ist wahrhaftig unvergleichbar schön. Ein reines und leuchtendes Blau, welches jedermann in dessen Bann zieht und…“ Sie hielt abrupt inne, als an einem der Hortensiensträucher, ein paar Blüten ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen, die ein zartes Himmelblau besaßen. Beinahe unscheinbar wuchsen sie dort und gingen zwischen den dunkelblauen Blüten unter.

„Sehen Sie nur, wahre Schönheit ist oft mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Vollkommenheit bedeutet nicht, sich der Masse anzupassen und seine ausgereiften Ambitionen nach außen scheinen zu lassen. Die Seiten des Lebens müssen schließlich erst geschrieben werden. Und all das, was in stiller Einsamkeit geschieht, wird am Ende noch stärker erstrahlen und der Umgebung den Atem rauben. Kälte kann sich urplötzlich in Wärme umwandeln, die ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit als Kraft nutzt, um den langen, gefahrvollen Weg zur Vollendung zu beschreiten. Diese einzigartige Verwandlung…bleibt lediglich Eisblumen vorenthalten…Graf Granville…“, beschrieb sie sanft das Wesen jener eisblauen Blüten. Dabei blickte sie ein wenig verunsichert zu Harley und hoffte, dass ihre Fantasien nicht allzu kindlich rüberkamen. Er folgte ihrem Blick und stellte sich neben sie.

„Eisblumen…? Und bitte, nennen Sie mich einfach nur Harley. Wen kümmert hier in der Pampa schon Rang und Namen. Diese unscheinbaren Blüten benötigen aber doppelte Kraft, wenn sie unter dem Druck der Konkurrenz nicht vergehen wollen. Denken Sie auch stets an das Feuer, welches das Eis zu jeder Zeit vernichten kann. Feuer und Eis sind zwei grundverschiedene Gegenpole, die niemals im Einklang miteinander leben können“, setzte er ihre Geschichte über die eisblauen Hortensien fort und nahm das Ganze so ernst, dass Miceyla regelrecht erstaunt darüber war.

„Wenn Sie sich da mal nicht irren…“, murmelte sie leise und blickte flüchtig in seine Augen, deren Farbe mit dem dunklen Blau seiner gepflückten Blüten konkurrierte. Sie begriff einfach nicht wie sie es fertigbrachte, mit jenem berüchtigten Mann der Familie Granville, eine solch simple Konversation zu führen. Man konnte beinahe behaupten, Harley würde eine unsichtbare Aura voll von Weltfrieden umgeben. Gleichzeitig sah sie jedoch auch den unangefochtenen Taktiker in ihm. Würde er tatsächlich einen Krieg heraufbeschwören, könnte er ganze Nationen damit zu Fall bringen. ´Ausgeglichen, konsequent und ohne Reue… Wie…ein richtiger König…´ Sie konnte sich diese treffende Assoziation nicht verkneifen. Und auch wenn es ein unheilvoller Gedankengang war, ging sie noch einen Schritt weiter und versuchte sich auszumalen, was er für Veränderungen schaffen würde, wäre er wahrhaftig König von England. Seien es nun gute oder schlechte, die Rücksicht auf Verluste, würde dabei wohl ausbleiben… Doch war es überhaupt möglich, eine glorreiche Zukunft zu erschaffen, ohne sie auf zahlreichen Opfern zu errichten? Sie brach ihre abschweifenden Vorstellungen wieder rasch ab, denn sie brauchte nicht darüber nachzudenken, welche Mittel ein einzelner Herrscher einzusetzen vermochte. Es war das Volk, welches als Einheit fungieren musste und mittels gegenseitiger Unterstützung, gemeinsame Träume und Ziele möglich machte.

„Na kommen Sie, ehe Sie noch selbst zur Blume werden. Von hier aus ist es nicht mehr sehr weit“, verkündete Harley und schlug den Weg zurück zu der wartenden Kutsche ein. Miceyla war beinahe dankbar dafür, dass er ihre wirren Gedanken unterbrochen hatte und folgte ihm ohne länger zu zögern. Nach weniger als einer Viertelstunde erreichten sie ihren Zielort. Er führte sie in ein großflächiges Tal hinab, in welchem sich ein kleiner, schimmernder See befand. Wieder ließ sie sich schweigend von ihm führen und kam schließlich unmittelbar vor einer hohen Trauerweide zum Stehen. Sobald sie hinabblickte, entdeckte sie ein alleinstehendes, schlichtes Grab, welches man an jener Stelle errichtet hatte. Harley kniete sich nieder und legte seinen Strauß blauer Hortensien vor dem steinernen Grabstein ab, auf dem weder ein Name, noch die Lebensdaten des Verstorbenen standen. Aus Höflichkeit und Respekt dem Toten gegenüber, tat sie es ihm gleich und brachte ihren Blumenstrauß, den sie noch immer in der Hand hielt, als Opfergabe dar. Nach einigen Minuten des andächtigen Schweigens, wagte Miceyla es dann doch die Stille zu durchbrechen. Dürfte ich erfahren, wer hier begraben liegt?“, erkundigte sie sich und hielt weiterhin ihren Blick auf das einsame Grab gerichtet.

„Meine Mutter. Sie war eine wunderschöne Frau. Ihre strahlenden Augen besaßen dieselbe Farbe, wie die der Hortensien…“, kam von Harley sogleich eine Antwort und er lächelte bittersüß.

„Ich vermute, dass sie keinen natürlichen Tod gestorben ist. Es geht mich zwar eigentlich nichts an…aber… Wer hat sie ermordet? Sie wissen dies bestimmt.“ Miceyla wagte sich, noch mehr über seine persönliche Hintergrundgeschichte herauszufinden, da er auch keine Anstalten zu machen schien, daraus ein großes Geheimnis zu machen.

„Mein Vater…“, erwiderte Harley knapp ohne weitere Details dazu preiszugeben und sein sanftes Gesicht, wandelte sich urplötzlich in eine solch düstere Miene um, dass sie erschauderte.

„Ihr Vater?! Laut Claytons Erzählung, soll er ein herzensguter Mensch gewesen sein. Und es muss wohl stimmen, dass Sie ihn selbst ermordet haben. Ja, ich weiß das alles von Clayton persönlich. Aber wen kümmert es schon, dass ich ein derart verhängnisvolles Wissen in mir trage. Mein Leben hängt sowieso an Messers Schneide. Er sprach die Wahrheit, doch auch Sie machen mir nicht den Eindruck, Lügengeschichten zu erzählen. Bitte, ich mag ebenso Ihren Teil der Geschichte hören. Die ganze Wahrheit könnte eventuell ein großes Unglück verhindern, wenn auch kein Vergangenes rückgängig machen“, bat Miceyla und war über ihren plötzlich so konsequenten Tonfall verwundert. Aber was hatte sie schon gerade zu

verlieren? Es sachte angehen zu lassen, wie es ihr eigentliches Vorhaben gewesen war, würde sie zu keinem zufriedenstellenden Ziel führen. Sie konnte nach ihrer direkten Offenbarung, weder Erstaunen noch Verärgerung in seinem Gesichtsausdruck vorfinden. Ein solch nachsichtiger und vorurteilsloser Mensch, war in der oberflächlichen Gesellschaft nur spärlich anzutreffen. Denn die meisten durchschnittlichen Gesellen, besaßen stets launische Charakterzüge.

„Da gibt es nichts Außergewöhnliches zu erzählen. Und ich bestätige es Ihnen gerne noch einmal. Alles was Sie aus Claytons Mund gehört haben, entspricht der Wahrheit. Aber wenn es Ihnen Genugtuung verschafft, ergänze ich gerne das ein oder andere Detail. Verderben, Hass, Neid. All diese negativen Emotionen, haben auch Sie fest im Griff. Jeder wünscht sich auf seine individuelle Art und Weise eine ideale Welt. Daher liegt es nahe, dass niemals Frieden herrschen wird in der Bevölkerung. Dies nur mal vorneweg am Rande… Meine Mutter verteidigte mich und stellte sich auf meine Seite, obwohl ich eine Sünde begangen hatte, die für einen gesitteten Adelshaushalt den Ruin bedeutete und jegliches Ansehen vernichtete. Aus diesem Grund wollte mein Vater, dass meine Mutter nicht mehr länger Teil der Familie war. Er stellte Gehorsam über den Wert der Liebe und beendete kurzerhand das Leben seiner eigenen Ehefrau. Nun sind Sie sicher erpicht darauf zu erfahren, um was für eine schändliche Sünde es sich wohl handelte. Es war weder Raub noch Verrat, sondern die zerbrechliche Liebe zwischen Bruder und Schwester. Wie wahr, ich besaß eine vier Jahre jüngere Schwester. Für mich existierte keine ebenbürtige Frau, die ihre Anmut und Schönheit hätte übertreffen können. Den Leichtsinn, welchen wir begangen hatten, entging unserem gerissenen Vater nicht und er zog uns alle augenblicklich zur Rechenschafft. Und so alteingesessen wie er nun mal war, bestrafte er die beiden Frauen härter als seinen eigenen Sohn, der ihm seine Einsichtigkeit vorgaukelte…“, erzählte Harley und wirkte bloß leicht melancholisch als Kummervoll.

„Die Liebe zwischen Bruder und Schwester… Eine verbotene Liebe… Dann hat ihr Vater also auch noch ihre kleine Schwester umgebracht. Wie grausam kann ein Vater nur sein…“, kommentierte Miceyla bedrückt seine Erzählung, als sie ein völlig anderes Bild von dessen Vater bekam und wunderte sich dennoch darüber, warum sich das Grab seiner Schwester, nicht neben dem der Mutter befand.

„Da liegen Sie falsch, sie weilt noch unter den Lebenden. Nun ist es aber wohl eher mein kleiner Bruder, von dem ich sprechen muss… Denn mein Vater ließ sie unter der Bedingung am Leben, wenn sie fortan in die Rolle eines Mannes schlüpfte und beim Militär dem Land diente. Es war für mich zugegebenermaßen ein seltsames Gefühl, sie als stattlichen Soldaten vor mir zu sehen. Ungeachtet dessen bewunderte ich sie auch dafür, wie tapfer sie tagtäglich zum Dienst antrat und sich unter den ganzen anderen jungen Männern zu behaupten wusste. Nie hab ich sie bevorzugt behandelt. Im Gegenteil, ich kehrte ihr den Rücken. Das unsere Liebe von einst erkaltet war, muss sie jedoch schwer im Herzen verletzt haben. Sie ertrug es sicher nicht länger, mich ständig sehen zu müssen und schloss sich einer Außendienstkavallerie in Südfrankreich an. Fünf Jahre habe ich sie nun nicht mehr gesehen. Weder ihre liebliche Stimme gehört, noch ihr süßes Lächeln gesehen. Doch in meinem Herzen ist sie bereits gestorben, meine geliebte Ophelia…“, schwelgte Harley in Erinnerungen und hielt dabei weiterhin den Blick auf das Grab seiner Mutter gerichtet. Miceyla musste sich selbst eingestehen, dass sie seine Geschichte sehr berührte. Er hatte bisher ein solch facettenreiches Leben geführt, dass es beinahe die malerischen Höhen und Tiefen eines Märchens besaß, dessen Ende noch ungewiss war.

„Weiß Clayton von alledem?“, fragte sie mit leiser und nachdenklicher Stimme.

„Nein, er hat all dies nie erfahren und wird es auch nie mehr. Denn das kleinste Wort das ich von mir gebe, ist pures Gift für seine Ohren.“

„Das ist wohl wahr… Dann lassen Sie mich nun die entscheidende Frage stellen. Warum sind Sie solch ein Unmensch gewesen und haben Claytons Vater und Lydia in den Tod getrieben? Sie beschworen eine Tragödie herauf, die zwei Familien zerstört hat und bei zwei Müttern ein Trauma auf Lebenszeit hinterließ“, fragte Miceyla ihn wagemutig und blickte ihn dabei unbeirrt an. Harley schwieg für eine Weile, ehe er sich ihr zuwandte und lächelte düster. Seine azurblauen Augen schauten sie jedoch leicht bedrückt an.

„Eifersucht. Der pure und verdorbene Neid trieb mich zu jener Untat. Clayton genoss das unübertreffbare Glück einer erwiderten Liebe und besaß einen führsorglichen Vater, der ihm Stolz und Anerkennung entgegenbrachte. All das, was mir verwehrt und genommen wurde. Wen kümmert es da schon, wie kümmerlich oder hochangesehen die eigene Adelsfamilie ist, wenn man nichts anderes als Unzufriedenheit kennt. Selbstsüchtig, kaltherzig, radikal, das bin ich gewesen. Merken Sie sich das gut, sobald Eifersucht von einem Besitz ergreift, wird aus einem ein besessenes Monstrum, das nicht mehr bei klarem Verstand ist und unbewusst dazu getrieben wird, widersprüchliche Dinge zu tun. Clayton, er war für mich immer wie ein kleiner Bruder. Er gab stets vor mich abgrundtief zu hassen. Doch sein wahrer Hass entstand erst dadurch, dass ich mit seiner Liebsten verlobt wurde. Vorher eiferte er mir nach, bewunderte meine begnadete Fechtkunst und ärgerte sich wie ein trotziger kleiner Junge darüber, in meinem Schatten zu stehen. Doch was seine Begabung in Naturwissenschaften anging, hätte ich ihm niemals das Wasser reichen können. Und Sie müssen wissen, dass ich immerzu Bestnoten in allen Fachbereichen hatte. Sein Können reichte jedoch noch weit über das Wissen, welches die hiesigen Eliteuniversitäten von einem verlangten, hinaus. Clayton lernte durch mein Zutun denselben Schmerz kennen, der mir zuteilwurde. Das hat mich ihm noch ein wenig näher gebracht. Und was wird es uns beiden doch für einen Seelenfrieden bescheren, wenn ich durch seine Hand sterben werde… Voraussetzung dafür ist jedoch, dass er aus dem Zwist zwischen dem Meisterverbrecher, Sherlock Holmes und mir siegreich hervorgeht und es schafft mich aufzuhalten…“, beantwortete Harley mit einem beinahe sanftmütig wirkenden Lächeln ihre Frage. Seine Ehrlichkeit verwirrte sie nun bis ins Unermessliche. Waren es wirklich seine verletzten Gefühle gewesen, die ihn zu jener schrecklichen Tat getrieben hatten? Doch er hatte dabei keinerlei Genugtuung gefunden, sondern lediglich unendliches Leid. Auch jetzt litt er noch darunter, sie konnte es ihm genau ansehen. Und sein Ziel war es, das Volk, welches stur die strikten Hierarchien des Klassensystems befolgte, wachzurütteln, wenn nötig mit Gewalt. Miceyla biss sich frustriert auf die Lippe. Seine Worte bewegten sie auf unerklärliche Weise und machten sie gleichzeitig so wütend, dass sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte.

„Was sind Sie denn jetzt nun, ein guter oder ein grausamer Mensch? Mir fiel es noch nie so schwer, ein Urteil über jemanden zu fällen, wie es bei Ihnen der Fall ist. Und Sie sollten es als Ihre Pflicht ansehen, all das Clayton zu sagen und welchen Respekt Sie für ihn hegen. Auch wenn damit niemals mehr etwas wiedergutgemacht werden kann. Die Endlosschleife der Ungerechtigkeit wird niemals enden, solange die Menschen sich nicht endlich gegenseitig öffnen. Die Hoffnungslosigkeit in jedermanns Herz muss verschwinden. Und dies erreicht man nicht, indem man die Menschen dazu zwingt, die Waffen miteinander zu kreuzen. Sie besitzen die Mach etwas zu verändern, also bitte tun Sie den ersten Schritt, ohne das es zu einem sinnlosen Blutvergießen kommt…Harley!“ Miceyla geriet so sehr in Rage, dass sie kurzerhand ihren Degen zückte und ihn mit einem schwungvollen Hieb attackierte. Binnen eines kurzen Augenblicks, hielt er seinen eigenen Degen in der linken Hand und wehrte ihren Angriff mit solch einer Leichtigkeit ab, dass er nicht mal seine Körperhaltung dafür ändern musste.

„Gewiss, Veränderungen werde ich schaffen, nur keine Sorge. Sie tragen Ihr Herz auf der Zunge und es mangelt Ihnen nicht an Enthusiasmus, das gefällt mir. Mit Ihnen hat der Meisterverbrecher eine gute Wahl getroffen. Das Sie in so kurzer Zeit gelernt haben, sich eine derartige Durchschlagskraft mit einer Klinge anzueignen, beeindruckt mich. Dank Ihres Mutes und Verstandes, würde aus Ihnen eine hervorragende Soldatin werden. Mit der ein oder anderen Lektion von mir, wären Sie imstande einen völlig neuen Horizont zu erreichen, was die Fechtkunst anbelangt“, sprach er anerkennend und lächelte wieder so friedvoll, als könnte er kein Wässerchen trüben.

„Da fällt mir ein… Sie haben die gesamte Gaunerbande nur mithilfe Ihres Degens besiegt, obwohl allesamt mit Revolvern bewaffnet waren. Das ist bemerkenswert. Aber ist dies nicht etwas zu riskant gewesen? Tragen Sie für den Ernstfall denn gar keine Schusswaffe bei sich?“ Diese Frage brannte ihr schon seit dem gestrigen Tage auf der Zunge und sie musste einfach eine Antwort darauf erhalten. Schließlich handelte es sich bei ihm um einen Soldaten, für den der Umgang mit jeglichen Waffenarten von essentieller Bedeutung war.

„Jeder mickrigste Räuber ist in der Lage, den Abzug einer Knarre zu drücken. Wer aber noch die alte Kriegskunst beherrscht, wird Meister aller Waffen. Ich habe das Schießen seit Kindesbeinen an bis zum Umfallen eingeübt und verfehle niemals mein Ziel. Nur… Das einzige Manko an der Sache ist… Ich verabscheue Schusswaffen bis aufs Tiefste. Allein bei dem Gedanken an das stinkende und lärmende Getöse welches sie verursachen, kriege ich die Tobsucht. Dennoch sind es nun mal die effektivsten Waffen, um seine Feinde schnell und gezielt auszuschalten. Ich machte mich lächerlich, führte ich eine Truppe auf einem Einsatz nur mit einem Degen an. Das Gelächter wäre ohrenbetäubend. Was nützt mir da schon der Titel: `Englands bester Fechter`? Nur aus Angst vor mir schweigen sie alle“, offenbarte Harley und senkte wieder mit einem selbstbewussten Gesichtsausdruck seinen Degen. Auch Miceyla zog ihre Waffe zurück und blickte ihn für längere Zeit verdutzt an. Dieser Mann stecke so voller Überraschungen, dass ihr allmählich die Worte fehlten. ´Da haben wir ja eine Gemeinsamkeit´, hätte sie am liebsten zu ihm gesagt, jedoch behielt sie diesen Satz besser für sich.

„Darf ich im Übrigen anmerken, dass in Ihren Augen dieselbe Flamme der Entschlossenheit leuchtet, wie in denen von Albert Moriarty? Man merkt auf Anhieb, dass Sie eine Familie sind. Er ist schon immer ein wahrhaft vorbildlicher Soldat gewesen. Aufopferungsvoll und edelmütig. Dafür verdient er meine Anerkennung. In Anbetracht seines rückläufigen Werdegangs, hat er sich langsam seinen Rangaufstieg zum Oberst mehr als nur verdient, oder was meinen Sie? Selbstverständlich sind auch Sie im Kriegsministerium herzlich wollkommen“, sprach er verschwiegen und legte den Kopf etwas schräg.

„Oh ja! Das wäre wirklich wundervoll! Ich werde auch nichts verraten, versprochen!“, platzte es freudig aus Miceyla. Sie war so stolz auf Albert, dass es sich für sie fast so anfühlte, als stünde ihre eigene Beförderung bevor. Ganz gleich welches Bild Harley sich über die Moriartys gemacht haben mochte, Albert schien er tatsächlich zu mögen. `Nicht einmal falsche Gefühle gaukelte er vor. Kann Ehrlichkeit zu einer Bürde werden…? Ich denke schon. Sich mit Lügen durchs Leben zu mogeln, ist oftmals der einfachere und bequemere Weg`, dachte sie und bemerkte dennoch, dass sein reiner Charme sie zu sehr dazu gebracht hatte, sich ihm gegenüber zu offenherzig und unbekümmert zu verhalten. Es wurde Zeit auf den Boden vollendeter Tatsachen zurückzukehren, sonst würde es ein böses Erwachen für sie geben…

„Nun gut… Ich möchte mich noch mal manierlich für Ihre Rettung danken. Es ist schließlich Fakt, dass ich ohne Ihre Hilfe gestern ziemlich aufgeschmissen gewesen wäre. Tausend Dank, Harley. Dieser friedvolle Ausflug wird früher oder später enden, daher beginne ich mit der Frage, woher Sie wissen wer hinter der Identität des Meisterverbrechers steckt oder ob es sich dabei noch um eine Vermutung handelt. Ich denke es liegt nahe, dass Albert dabei eine entscheidende Rolle spielt“, schlug Miceyla unwillig die Richtung zu jenem ernsten Thema ein, mit dem sie sich beide auseinandersetzen mussten, ob sie nun wollten oder nicht.

„Das ist korrekt. Albert versucht mich durch die Hintertür auszutesten. Er ist geschickt, das muss ich ihm lassen. Aber langsam wird es für mich ernüchternd. Ich werde Ihnen keinen Vorwurf machen, wenn Sie mir bestätigten das es sich bei dem Meisterverbrecher, um den jungen Professor William James Moriarty handelt“, ging er sogleich offenkundig auf ihren erzwungenen Themawechsel ein und seine vollste Aufmerksamkeit galt nun ihrer Reaktion. Miceyla schluckte schwer und musste sich arg zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren.

„Ja… Mit Ihrer Annahme liegen Sie vollkommen richtig. Mehr brauche ich dem nicht hinzuzufügen. Sie sind bisher nur ehrlich mir gegenüber gewesen. Also wieso sollte ich dann lügen oder schweigen, das wäre bloß feige. Mag auch genau das Ihre Strategie sein, es ist nicht von Belang. Aber… Da Ehrlichkeit Ihre größte Tugend ist, werden Sie mir bestimmt ebenfalls noch sagen, ob ich um mein Leben bangen muss. Kurz gesagt…werden Sie mich töten, sobald diese Idylle zu einem Ende kommt?“ Angespannt versuchte sie seinem stechenden Blickkontakt standzuhalten, während sie ihm jene erdrückende Frage stellte. Harleys Mundwinkel formten sich zu einem mysteriösen Lächeln, das Bände sprach. Im selben Moment erhielt Miceyla bereits ihre Antwort, ohne das er sie aussprechen musste…
 

William stand mit gesenktem Blick am Fenster. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Scheiben und die Bäume bogen sich im Freien unter einem kräftigen Wind. Der Sturm ließ ihn keineswegs nervös werden und dennoch sah sogar er ihn als ein schlechtes Omen an. Am vergangenen Tag hatte er Clayton wieder abreisen lassen, ohne ihm eine zufriedenstellende Antwort mit auf den Weg zu geben. William philosophierte darüber, was sie alle von einer Kooperation mit ihm hätten. `Er wird sich wohl bis aufs Weitere ins Schweigen hüllen. Denn wenn er den Namen des Meisterverbrechers an die Öffentlichkeit trägt, weiß er das er unmittelbar danach ein toter Mann ist. Wir kennen beide die Prinzipien des jeweils anderen nur zu gut… Sherlock, enttäusche mich nicht. Auch wenn sich uns allen nun auch noch Harley Granville in den Weg stellt, sollte dies für uns kein nennenswertes Hindernis darstellen…` Ihm war bewusst, dass bald nicht nur für ihn Entscheidungen bevorstanden, die mit erheblichen Kompromissen und Verlusten verbunden waren.

„Bruder, ich habe uns einen Tee gemacht. Und es beruhigte mich sehr, wenn du

wenigstens jetzt eine Kleinigkeit zu dir nehmen würdest. Du hast heute Morgen nicht mal richtig gefrühstückt. Deine Gesundheit ist mindestens genauso wichtig, wie dein klarer Verstand. Albert habe ich auch Bescheid gegeben, doch er weigert sich sein Arbeitszimmer zu verlassen“, teilte Louis ihm sanftmütig mit und blickte seinen Bruder sorgenvoll an.

„Hab Dank, Louis. Schau uns nur an, nichts als Kummer bereiten wir dir. Aber es dauert nicht mehr lange, da sitzen wir wieder mit einem vergnügten Lächeln beisammen. Darauf gebe ich dir mein Wort. Wir sind doch alle längst an das Leid gewöhnt, das mit dem Dasein eines Verbrechers einhergeht. Und dennoch ist es für mich immer wieder auf Neue schmerzvoll, wenn einem bewusst wird, dass morgen schon alle Lichter ausgehen und alles vorbei sein könnte. Doch wir werden unseren Plan bis zum Schluss mit Bravour durchziehen. Und wenn dies bedeutet, dass wir alle Störenfriede auf dem Weg zum Ziel ausschalten müssen. Mir war es stets äußerst wichtig, die Opfer so gering wie nur möglich zu halten. Aber das es für einen mordenden Verbrecher wie mich kein gutes Ende nehmen wird, war von Anfang an besiegelt. Dies ist der hohe Preis den wir zahlen, für die Chancengleichheit unserer Gesellschaft. Ich habe sogar schon aus Miceyla eine Mörderin gemacht… Und das Louis, fühlt sich so qualvoll an, wie kein Schmerz zuvor. Jedoch tut es auf eine schaudervolle Art und Weise gut zu wissen, dass man sein Herz noch nicht vollends in den Abgründen der Verdammnis verloren hat…“, sprach William vertrauensvoll. Doch anstatt Louis‘ Kummer zu besänftigen, verstärkte er ihn nur noch mehr.

„Bruderherz… Es war unumgänglich, besonders sie selbst wäre daran niemals vorbeigekommen. Auch ich habe anerkannt, dass Miceyla sich bewährt hat. Bisher habe ich es ihr in unserem Alltag, nicht besonders leicht gemacht. Ich verspreche zukünftig etwas rücksichtsvoller mit ihr umzugehen. Und ich befürworte noch immer deine Entscheidung, welche Rolle du Sherlock und ihr zugeschrieben hast, Bisher haben uns all deine Pläne zum Erfolg geführt. Niemanden würde ich jemals mehr vertrauen als dir, Bruder“, bestärkte Louis ihn noch einmal und legte ihm aufmunternd eine Hand auf seine Schulter. William kannte seinen jüngeren Bruder nur zu gut und in ihm stiegen bei seinen gutgemeinten Worten, widersprüchlicher Weise Zweifel auf. Louis Wohlwollen galt nur ihm allein und er würde das was ihm lieb und teuer war, mit jeglichen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.

„William! Fred ist wieder da! Es hat ihn ganz schön erwischt, das sag ich dir…“, rief ein herbeistürmender Moran aufgewühlt und rannte kurz darauf, vor Wut rot angelaufen die Treppe hinunter. Schnell war ihr brüderliches Gespräch nebensächlich und die beiden Brüder eilten in voller Alarmbereitschaft hinterher. Unten im Eingangsbereich befand sich bereits Albert und kümmerte sich um einen schwer verletzten Fred.

„Du lieber Himmel! Was für eine tiefe Schnittwunde! Ich kann mich nicht entsinnen, dass es jemals einer geschafft hatte, dir eine solch ernste Verletzung zuzufügen“, sprach Albert entsetzt und verärgert zugleich und untersuchte die blutige Wunde an seinem unteren Rücken, welche Fred notgedrungen rasch selbst versorgt hatte.

„Und das ist erst eine Warnung gewesen. Harleys Schergen verfolgten mich bis nach London zurück und sie waren nur zu zweit…“, erzählte Fred ausgelaugt, doch ihm ging zu viel durch den Kopf, um zur Ruhe zu kommen.

„Das du in dieser schlechten Verfassung hier wieder auftauchst, bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Ich war mir von Anfang an im Klaren darüber, dass ich sie nicht komplett ausschließen durfte. Doch wer mit dem Feuer spielt, geht nun mal zu jeder Zeit ein hohes Risiko ein. Sherlock hat Miceyla folglich nicht aus ihrer Gefangenschaft gerettet, wie es hätte sein sollen. Also ist Harley tatsächlich aufgekreuzt… Er sollte gestern auf einer wichtigen Militärkonferenz erscheinen. Albert wusste darüber seit einer Woche Bescheid. Sein Täuschungsversuch ist ihm aber nicht vollends gelungen. Nein… Er wollte sogar das es auffliegt…“, schloss William unheilvoll, als er den niedergeschlagenen Fred erreichte.

„Vergib mir Will, dass ich mit derart düsteren Nachrichten zurückkehre und Miceyla im Stich gelassen habe… Hier ist ein Brief, geschrieben von Harley persönlich. Für mich erscheint es noch immer wie ein böser Traum, dass er nun volle Macht über sie erhalten hat und über unsere weiteren Schritte bestimmen kann…“, wimmerte Fred entmutigt und schlug verbittert seine Faust auf den Boden, während sich Louis tröstend neben ihn kniete.

„Dieser Drecksack ist tatsächlich in Schottland aufgekreuzt! Doch wieso zur Hölle ausgerechnet zeitgleich mit Sherlock und Miceyla? Das ergibt alles gar keinen schlüssigen Sinn! Lauert hier noch ein weiteres Spitzel, dass sein dreckiges Maul nicht halten konnte?!...Moment mal… Was ist mit Clayton? Ich traue es ihm am ehesten zu, dass er Harley nach Schottland gelockt hat, um ihn dort kalt zu machen. Das würde ihm doch perfekt in den Kram passen!“, schimpfte Moran zornig.

„Nur keine voreiligen Schlüsse ziehen, Moran. Ich verstehe, dass es für dich logisch erscheint, Clayton bei dieser Angelegenheit zu verdächtigen. Jedoch kann ich dir mit absoluter Sicherheit sagen, dass dies seiner eigentlichen Herangehensweise widersprechen würde. Denke nur mal genau nach. Er sucht ein offenes Duell mit Harley und will mit aller Kraft dafür sorgen, dass sein Tod für ganz London zum Skandal wird und nicht in irgendwelchen Hinterwäldern als ein Unglück abgetan wird. Zudem habe ich schonmal verdeutlicht, dass er kein Interesse daran hat, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Daher wird er Miceyla und Sherlock ganz ihrem eigenen Schicksal überlassen, ohne einzuschreiten. Er spielt den stillen Beobachter, präsentiert die versteckte Wahrheit als Schauspiel auf der Bühne und verfolgt eigennützige Ziele. Aber seine Rolle als Wohltäter ist aufrichtig. Man bedenke nur, mit wieviel Elan er sich um das Waisenhaus kümmert. Er versucht sich selbst und der Welt zu beweisen, dass gute Taten keine Verschwendung sind und niemals in Vergessenheit geraten. Ja, Clayton Fairburn ist nichtsdestotrotz ein Verbrecher, aber dies sind wir alle, Moran“, hob William dessen falsche Anschuldigungen rasch wieder auf und nahm den Brief entgegen.

„Fein, fein… Ich habe nichts gesagt, vergiss es einfach wieder…“, grummelte Moran etwas beleidigt und sah noch immer nicht wirklich überzeugt aus. Für einen flüchtigen Moment tauschte er Blickkontakt mit Albert aus und öffnete anschließend sorgsam das Kuvert und begann die Zeilen des Grauens, geschrieben von Harley Granville, zu lesen.

`Seien Sie gegrüßt, werter Herr Mathematiker. Hier in Schottland lässt es sich aushalten. Ich kann mich nicht mal über das Wetter beschweren. Wie sieht es bei Ihnen aus? Haben sicher nasse Füße in London. Sie gestatten mir doch sicher, ein wenig Zeit mit Ihrem teuren Herzblatt zu verbringen. Der begabte Detektiv hat die gute Dame einfach hängen lassen. Er hat wahrlich kein Händchen für Frauen. Wissen Sie was? Heute ist Ihr Glückstag! Denn ich verrate Ihnen ein Geheimnis. In meinem Büro im Parlamentsgebäude befindet sich ein Safe und darin liegt die Aufzeichnung von einer geheimen Revolte der Arbeiterklasse, die versucht ihre Rechte zu erkämpfen und dem Adel den Krieg erklärt. Im Kleingedruckten steht noch der Name Moriarty darunter. Was geschieht wohl, wenn dieses Schreiben an die Öffentlichkeit gelangt? Wer wird den Kürzeren ziehen…? Und was passiert mit den Moriartys, die der niederen Klasse Rückendeckung geben…? Es wird nicht nur Chaos ausbrechen. Nein mein werter Lord. Ihr geliebtes Land wird sich im Krieg befinden. Jetzt nur nicht ins Schwitzen geraten. Schließlich sind Sie der berüchtigte Meister der Verbrechen. Natürlich nur wenn ich richtig geraten habe… Also fühlen Sie sich so frei, brechen Sie in mein Büro ein und stehlen Sie das Dokument. Wird bestimmt ein Leichtes für Sie, da ich ja abwesend bin. Und was nicht existiert, kann ich folglich auch nicht veröffentlichen. Gleichgültig ob es sich dabei um ein Original oder eine Fälschung handelt. Somit werde ich Ihnen weiterhin Freiraum, bei Ihren obszönen Machenschaften lassen und ein Auge zudrücken. Klingt doch alles Vielversprechend, oder etwa nicht? Ach ja… Ich muss wohl noch erwähnen, dass während Sie so fleißig das verheerende Schreiben stehlen, Ihre liebste Miceyla am morgigen Tage, ihren letzten Sonnuntergang erleben wird. Natürlich obliegt die Wahl Ihnen, wo sich ihr Grab befinden soll. Sehen Sie nur wie großzügig ich bin. Also, worauf warten Sie noch? Über solch ein kleines Opfer, werden Sie ganz bestimmt hinwegsehen. Suchen Sie sich einfach eine neue Frau. Ich könnte Ihnen persönlich, einige aus den vornehmsten Kreisen vorstellen. Wohlan, die Kriegserklärung wartet! Ich gebe Ihnen dreißig Stunden. Hach, was wird Ihre geliebte `Eisblume` bitterliche Tränen weinen, wenn sie erfährt, dass ihrem Liebsten ein einfaches Blatt Papier mit seinem Namen darauf bedeutsamer ist, als die Frau welche er vorgab, mehr als alles andere auf der Welt zu lieben. Ich werde ihr in ihren letzten Stunden Trost spenden, dies noch als Versprechen zum Abschluss… Harley Granville.` William stand während er den höhnenden Brief las, regungslos wie eine Statue auf der Stelle. Im Anschluss daran fixierte er den Brief noch für längere Zeit mit seinen rubinroten Augen, die das Papier in seiner Hand am liebsten zu Asche verbrannt hätten. Er hielt Louis den Brief entgegen, ohne ihn dabei anzublicken. Dieser verstand die Geste seines Bruders und las das Schreiben noch mal für alle laut und deutlich vor. Aufgrund seines Entsetzens, musste er öfters beim Lesen zwischendurch eine kurze Pause einlegen, um seinen Schreck über das gerade Gelesene zu verdauen.

„Will… Uns steht eine Katastrophe bevor…wenn…“, warnte Louis heiser und blickte William verzweifelt an.

„Dieser elende Bastard! Glaubt der ernsthaft, wir würden sein verdorbenes kleines Spielchen mitspielen?! Wir machen Harley ganz einfach kalt, dann ist Miceyla in Sicherheit und seine Schriftstücke verlieren an Wirksamkeit. Außerdem ist das Ganze garantiert nur eine clever eingefädelte Finte, oder William?“, brüllte Moran angriffslustig und bemühte sich dennoch darum, nicht vollends aus der Haut zu fahren. Noch ehe William seine Meinung kundtun konnte, meldete sich Albert zu Wort.

„Ich denke nicht, dass es sich dabei nur um einen aufwendigen Bluff handelt. Du und ich kennen den General persönlich. Er meint es ernst und will uns testen. Wir müssen dafür sorgen, dass sein gefälschtes Dokument vernichtet wird. Sonst bekommen wir große Schwierigkeiten und können unser weiteres Vorgehen nicht weiter planmäßig umsetzen, da es einen Aufstand geben wird. Gleichzeitig hat aber auch Miceylas Rettung oberste Priorität. Will mein Guter, nun ist es an dir, eine Entscheidung zu treffen und einen Plan zu entwickeln, der uns alle sicher aus dieser brenzligen Zwickmühle herausführt. Du weißt, wir unterstützen dich wo wir nur können.“ Mit diesen selbstbewussten Worten, lächelte er William Mut machend an und wirkte trotz der verzwickten Lage so gefasst wie eh und je.

„Danke Albert für dein Vertrauen. Als allererstes möchte ich betonen, dass wir Miceyla befreien werden, auch wenn wir dabei den Moriarty-Plan aufs Spiel setzen. Wir sind eine Einheit und dabei wird es bis zum Ende bleiben. Und sind wir unfähig eine einzelne Person zu beschützen, können wir auch kein ganzes Land verändern. In diesem Punkt sind wir uns alle einig, nicht wahr?“, begann William beharrlich und sogleich nickten seine Verbündeten unaufgefordert. Besonders Fred fiel ein Stein vom Herzen und lächelte zaghaft.

„Gut. Es ist selbstredend Harleys Herausforderung rational anzugehen. Seht es als Generalprobe für unseren eigentlichen Plan. Nun heißt es vollen Einsatz zeigen, ohne sich dabei von zweifelnden Gefühlen leiten zu lassen. Ich selbst gebe es zwar auch nur ungern zu… Aber dieses Mal sind wir auf Claytons Hilfsbereitschaft angewiesen. Louis, ich bitte dich ihn und Amelia noch einmal unverzüglich herzuholen. Du darfst jedoch gleich im Voraus deutlich machen, dass er bei einer kurzweiligen Zusammenarbeit, seine eigenen Prioritäten zurückzustellen hat und das beherzigt was ich ihm sage. An einen Attentat auf Harley darf und soll er erst gar nicht denken“, fuhr William weiter mit der Erstellung eines Plans fort.

„In Ordnung, Bruder. Ich werde mich direkt auf den Weg machen“, befolgte Louis sofort dessen Bitte, ohne seine Beweggründe dabei zu hinterfragen. Sein blindes Vertrauen ihm gegenüber siegte über jegliche Zweifel. Sogar Moran zeigte sich nun wenig überrascht.

„Fein… Dir scheint es auch ernst zu sein, dass wir Hand in Hand mit diesem Clown zusammenarbeiten und das es nicht rein auf einer Ausnutzung beruhen soll. Aber welchen Part soll er denn bitteschön spielen? Du weißt ganz genau, dass wenn er auf Harley trifft, die Fetzen fliegen werden. Und wie sollen wir seinen und Miceylas Aufenthaltsort bestimmen? Fred musste notgedrungen die Überwachung abbrechen. Wir haben außerdem nicht die nötige Zeit, um ganz Schottland zu durchforsten. Und sie werden sich wohl kaum noch in der Nähe

von Greenock aufhalten“, konfrontierte er die Gruppe mit diversen Problematiken, während Louis aufbruchsbereit im Regenmantel, geschwind die Tür hinausmarschierte.

„Ich erläutere den weiteren Plan, sobald Clayton hier eingetroffen ist. Und was den Aufenthaltsort betrifft, den wird Sherlock für uns ausfindig machen. Oder glaubst du, er dreht gerade seelenruhig Däumchen?“, erwiderte William und lächelte den unruhigen Moran entspannt an.

„Verstehe ich nicht… Wie willst du denn auf die Schnelle mit Holmes Kontakt aufnehmen und dabei auch noch anonym bleiben…? Die Macht deiner Gedanken, kommt mir manchmal vor wie ein reines Hexenwerk…“, sprach dieser murmelnd und rieb sich grübelnd die Stirn.

„Lass mich bitte ebenfalls bei Miceylas Rettung helfen!“, rief Fred voller Aufregung und versuchte sich vergeblich vom Boden zu erheben.

„Kommt überhaut nicht in Frage. Du kannst dich ja nicht einmal mehr auf den Beinen halten. Und zudem hast du bereits genug für Miceyla und uns alle getan. Jetzt wirst du artig das Bett hüten, damit du bei zukünftigen Aufträgen wieder fit bist. Geschwächt wirst du nur zum Opfer deiner Feinde. Ich bitte Miss Moneypenny, ein Auge auf dich zu haben“, ermahnte Albert ihn streng, dennoch führsorglich.

„Höre bitte auf Albert, Fred. Ich danke dir für dein aufopferungsvolles Engagement. Überlass alles weitere uns und ich verspreche dir, dass wir nur gemeinsam mit Miceyla wieder hierher zurückkehren werden“, schloss William sich sanftmütig Albert an und jener brachte den verletzten Jungen, mit seiner Unterstützung auf dessen Zimmer.

„Habe verstanden, Will… Vergib meine Unvernunft. Ich werde mich ausruhen und euch vertrauen…“, zeigte Fred sich einsichtig und lief mit Alberts Hilfe davon. Kurze Zeit später saß William gemeinsam mit Albert und Moran im Wohnzimmer beisammen und wartete ungeduldig mit ihnen darauf, dass sie vollzählig waren, um den Plan fortzuführen. Der

tobende Sturm hatte sich noch immer nicht gelegt, was das Warten noch unerträglicher machte. Nach ungefähr einer Stunde, kehrte Louis schließlich mit Clayton und Amelia im Schlepptau zurück.

„Ah, endlich im Trockenen! Schön so schnell wieder hier zu wein. Fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen. Ha, ha, war es ja auch! Amelia, schau nur wie beliebt wir geworden sind!... Doch keinem ist wohl momentan nach Freudentänzen zumute. Wohlan, dann befassen wir uns direkt mal mit der schmierigen Materie. Der liebe Louis gab mir Harleys Brief zu lesen. Glückwunsch mein kluger Lord, Sie wurden in eine Sackgasse getrieben. Ich hab’s Ihnen ja gleich zu Beginn gesagt. Er wird Ihr Herz so sehr foltern, bis Sie psychisch an Ihre Grenzen kommen. Und dagegen sind nicht einmal Sie immun. Aber was hilft jetzt noch all das Predigen. Ich lasse mich nur ungern demütigen, jedoch gebiete ich Ihnen das Recht, den Takt bei diesem Stück zu bestimmen, um ein tragisches Fiasko zu verhindern. Auch eine kleine Nebenrolle hat ihre Vorzüge…“, fiel Clayton gleich mit der Tür ins Haus, machte es sich auf einem der Sofas bequem und schlug lässig die Beine übereinander. Amelia nahm ein wenig angespannt neben ihm Platz.

„Danke für Ihre rücksichtsvolle Stellungnahme. Sie begreifen schnell, daher werde ich alles nur einmal erklären. Wir müssen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Miceyla befreien und das Dokument vernichten, ehe es ein Dritter zu Gesicht bekommt. Harley wird sie sicher nicht unbeaufsichtigt darauf warten lassen, dass wir sie abholen kommen und gemütlich mit ihr die Heimreise antreten. Er rechnet damit das wir antanzen werden und wird uns deshalb ihre Rettung unsagbar erschweren. Deshalb brauche ich Albert, Louis und Moran als erfahrene Kämpfer bei mir. Sie ahnen bestimmt bereits, dass ich Ihnen aufgrund der komplizierten Umstände, keinen Auftritt in Schottland geben kann. Für alle Beteiligten ist es vorerst besser, wenn es erstmal keine direkte Konfrontation zwischen Ihnen beiden gibt. Nicht das Sie denken, ich wolle Ihre persönlichen Ziele vereiteln. Wir erreichen beide das was wir wollen, ohne uns dabei in die Quere zu kommen. Also erteile ich Ihnen die verantwortungsvolle Aufgabe, das frei erfundenen Schreiben aus Harleys Büro zu entwenden. Demnach dürfen Sie dem nachgehen, worin Sie mit aller Wahrscheinlichkeit noch geübter sind als ich, dem Stehlen. Sie kennen Harley am besten und können am schnellsten herausfinden, wo er etwas Wichtiges versteckt hält. Beim Infiltrieren des Parlamentsgebäudes, können Sie also getrost Ihre diebischen Fähigkeiten ausleben, erläuterte William Claytons gesonderten Auftrag und beide tauschten herausfordernde Blicke aus.

„Oho… Klingt ja beinahe, als wären Sie ohne mich so richtig aufgeschmissen. Sie sind mir vielleicht ein Komiker! Ich soll tatsächlich mein Leben riskieren, um ein verheerendes Dokument zu stehlen, auf dem sich Ihr Name befindet, nur damit Sie unbehelligt weiter den Meisterverbrecher spielen können. Sie würden ganz gewaltig in meiner Schuld stehen, mein Guter. Denn außer das ich mich unnötiger Gefahr aussetze, habe ich nichts von der Geschichte. Jeder der mich dabei erwischte, könnte behaupten ich sei der Meisterverbrecher. Aber es kam schon des Öfteren zu einer Verwechslung, was ich doch recht amüsant finde. William, ich sage es Ihnen ganz informell. Ich werde Ihre mir zugeteilte Rolle spielen. Denn ich versprach das ich nicht zulassen würde, dass Sie mein Leid durchmachen müssen. Miceyla wird gerettet und dabei kennen wir alle kein Pardon. Und wenn es in London zu einem Bürgeraufstand käme, wäre dies auch für mich ziemlich lästig. Ich wünsche mir für meine Mädchen eine sichere Zukunft“, ging er zuvorkommend auf Williams Auftrag ein.

„Freut mich, dass wir konfliktlos auf einen gleichen Nenner kommen. Aus der eigenen Courage heraus, ist es für mich selbstverständlich dafür zu sorgen, dass Sie nicht leer ausgehen, auch wenn Sie nichts als Gegenleistung von mir verlangen. Dieser Brief ist für Sie, der Inhalt sollte alte Erinnerungen bei Ihnen wachrufen. Dies ist die ehemalig gestohlene Erburkunde, welche wir letztendlich für uns sichern konnten. Was für eine Ironie, dass sie nun ihren Weg zurück zu Ihnen findet… Ich überreiche sie Ihnen im Namen von Miceyla. Denn es war ihr Wunsch, dass Sie einen Teil des Geldes erhalten, für die Instandhaltung des Waisenhauses und der schulischen Bildung der Mädchen. Damit brauchen Sie nur zur Bank zu gehen. Sie sollten wissen das es keine Schande ist, als Adeliger der enterbt wurde, mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Bleiben Sie weiterhin der kreative Querkopf der Sie sind. London braucht Menschen wie Sie. Lieber ein produktives kurzes Leben, als ein langes ohne jeglichen Sinn… Wie dem auch sei… Missbrauchen Sie ja nicht Miceylas Vertrauen. Das Geld ist für die Kinder und `nur` für die Kinder. Sollte sich herausstellen, dass Sie das Geld anderweitig ausgeben, dürfen Sie sich daran erfreuen, uns ein nettes kleines Vermögen zurückzuzahlen. Und ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie die Schulden nicht mit ins Grab nehmen. Prima, oder? Ich denke das war deutlich genug“, sprach William unterstreichend und überreichte Clayton einen Briefumschlag, mit dem Wappen der Moriartys darauf. Ihm stand die Verblüffung ins Gesicht geschrieben, als er jenen sorgsam öffnete und den Inhalt erblickte.

„Das ist ja…! Wahrhaftig! Und ich dachte schon, Sie wollen mich nur auf den Arm nehmen. Jetzt haben Sie es ja tatsächlich geschafft, mich zu Tränen zu rühren. Dafür bekommt Miceyla einen dicken Kuss von mir, wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen!“, meinte Clayton zum Dank mit einem strahlenden Lächeln.

„Ha, ha, ha… Einigen wir uns darauf, dass ich ihr den Kuss von Ihnen gebe. Kommen wir nun zu dir, Amelia. Danke das du dich dazu bereiterklärt hast, uns ebenfalls zu helfen. Ich habe hier noch einen weiteren Brief. Überbringe ihn bitte einen von Harleys Soldaten, der noch immer am Bahnhof Wache hält, wie Fred es uns mitgeteilt hat. Er wird sich darum bemühen, dass der Brief auf direktem Wege bei Miceyla eintrifft, noch ehe wir selbst in Schottland eintreffen. Doch verfolge ihn auf gar keinen Fall, um ihren Standpunkt herauszufinden, das ist viel zu gefährlich. Anschließend darfst du für Claytons Operation zur Verfügung stehen und bist von der heiklen Angelegenheit in Schottland befreit“, trug William nun der nervösen Amelia auf, welche sich erhob um seinen Brief entgegenzunehmen.

„Wie Sie wünschen, Lord Moriarty. Ich werde schnellstmöglich dafür sorgen, dass dieser Soldat den Brief erhält.“, versicherte sie mit einer kerzengeraden Körperhaltung. Albert erhob sich nun ebenfalls und trat auf sie zu.

„Und du brauchst keine Gegenwehr von dem Soldaten zu fürchten oder sich darum sorgen, dass er es verweigern könnte, den Brief anzunehmen. Erwähne einfach den Namen Moriarty und alles regelt sich wie von selbst, Ehrenwort“, fügte er noch standhaft hinzu, als hätte er Amelias Befürchtungen erraten.

„Haben Sie vielen Dank, mein Graf… Und…wie geht es Fred? Dürfte ich ihn kurz sehen…?“, erkundigte sie sich etwas zögerlich nach Freds Verfassung.

„Aber gewiss, folge mir bitte.“ Nun war es Louis, der sich von seinem Platz erhob und die junge Frau zu dem Zimmer führte, in welchem sich Fred momentan ausruhte,

„Kann ich kurz mit dir unter vier Augen sprechen?“, wandte Moran sich plötzlich mit einer verschleierten Verbissenheit an Albert.

„Einem Befehl des werten Oberst, werde ich mich wohl kaum wiedersetzen können“, meinte er daraufhin sarkastisch.

„Mann ey, klang das für dich gerade etwa wie ein Befehl? Soll ich dir eine kleine Kostprobe davon geben, wie sich ein `Befehl` bei mir anhört?“, konterte Moran neckend und grinste breit. Beide entfernten sich aus dem Wohnzimmer und ließen William und Clayton alleine zurück.

„Da ziehen sie alle von dannen, unsere treuen Gefährten. Und wir zwei bleiben verlassen im Stillen zurück. Ich glaube meinen inneren Hass mittlerweile gut unter Kontrolle zu haben. Doch das menschliche Herz ist keine Maschine, die sich allein durch Wissenschaft ergründen lässt. Vertrauen habe ich längst nicht mehr in diese verdorbene Welt. All die ganzen falschen Visagen sind mir zuwider. Aber es gibt sie, jene flüchtigen Momente im Leben, die einen auf unerklärliche Weise an Wunder glauben lassen. In diesem Sinne, mein teurer Freund des Verbrechens, werde ich nun aufbrechen. Es gilt einen Einbruch vorzubereiten, für den auch ich einen absichernden Plan benötige. Das Parlamentsgebäude hat eine grässliche Überwachung und zudem habe ich dort auch noch Hausverbot. Fantastische Voraussetzungen, nicht? Ha, ha, so klingt Jammern auf höchstem Niveau! Ich freue mich schon darauf, Ihnen eine positive Berichterstattung überbringen zu können. Matador Muscari hat sich noch nie von jemandem schnappen lassen! Auf ein baldiges Wiedersehen, ob nun als Freunde oder Feinde. Aber ich glaube, Feinde hat jeder von uns beiden mehr als genug, ha, ha“, sprach Clayton zum Abschied und hielt ihm seine Hand entgegen.

„Nicht alle Konflikte müssen zwingend mit Waffen ausgefochten werden. Sie und ich sprechen dieselbe Sprache und auch unsere jeweiligen Weltanschauungen, sind sich recht ähnlich. Das was uns voneinander unterscheidet, ist wie wir Erlebtes verarbeiten und uns mittels Vorstellungen und erlangtem Wissen, eine ideale Zukunft ausmalen. Sie haben es bereits in Ihrem Stück auf bizarre Weise zum Ausdruck gebracht, was das größte Opfer für einen bedeutet. Gefühle erblühen in Windeseile, lassen sich wiederum auch rasch auslöschen. Wer diese Regel beherzigt, wird weder Verlust noch Reue erleiden müssen. Und weil Sie genau jene Regel sich noch nicht zu Gemüte geführt haben, werden Sie gegen Harley Granville verlieren“, erwiderte William abschließend und drückte ihm mit einem kühlen Lächeln die Hand.

„Oho… Welch düstere Prophezeiung Sie mir da mit auf den Weg geben. Doch ich gebe Ihnen höflicher Weise gern Konter darauf. Weil `Sie` genau diese scheinheilige Regel befolgen, werden Sie gegen Sherlock Holmes verlieren“, konterte Clayton schlagfertig und blickte ihn mit seinen tiefblauen Augen so düster an, als wolle er ihn durch sie verfluchen. Jedoch blickte William ebenso finster zurück und drückte seine Hand noch fester.

„Was davon eintreffen wird, regelt weder der Zufall noch das Schicksal, sondern einzig und allein die Zeit…“ sprach er noch, wobei sein Blick wieder sanfter wurde. Clayton ließ nun seine Hand los, nickte lächelnd und zog sich Mantel und Zylinder an. Kurz darauf verließ er das Anwesen und der brausende Sturm verschluckte ihn wie einen dunklen Schatten. Doch allmählich ließ der Starkregen etwas nach und auch die Hoffnung, kehrte langsam in all die schweren Gemüter zurück.

Unterdessen führten Moran und Albert ebenfalls ein Gespräch allein zu zweit.

„Du bist mir zu gelassen, viel zu gelassen, Albert. Ich kenne dich und dein Verhalten, wenn es um Miceyla geht. Und ich bin alles andere als ein Hinterwäldler. Ich erkenne sofort, wenn ein Mann ernsthafte Gefühle für eine Frau hegt. Das ist für mich ganz einfach von belanglosen Liebeleien zu unterscheiden. Glaub mir oder glaub mir nicht. Jedenfalls bist du der Erste, welcher nicht die Füße still halten kann und losstürmt, sobald Miceyla auch nur der Hauch einer Gefahr umgibt. Und jetzt wo sie an der Schwelle zum Tod steht, schaffst du es noch seelenruhig hier weiter auszuharren. Das stinkt gewaltig zum Himmel. Kann es sein, dass dein Vertrauensverhältnis zu Harley stärker ist, als es der Anschein vermuten lässt? Oder erpresst ihr euch gegenseitig? Die Treue zu William sollte dein oberstes Gebot sein. Wir sitzen alle im selben Boot. Daher gefällt es mir gar nicht, wenn einer von uns aus der Reihe tanzt. Ich weiß, dir gewährt dein hoher Posten eine bequeme Handlungsfähigkeit und ich denke nicht, dass ich dir in Sachen Militärstrategien noch eine Lektion erteilen könnte. Erinnere dich an die Worte deines Bruders: `Vereinnahmende Gefühle können dich schnell fehlleiten`. Aber wenn mich nichts täuscht, habt ihr euch beide längst darüber ausgetauscht und ich werde mal wieder außenvorgelassen. So, das reicht mit meiner Predigt fürs Erste. Kommt ja nicht gerade häufig vor, dass ich die Nerven aufbringe, dir offen und ehrlich meine Meinung zu sagen. Nur was ich wissen will, ist Miceyla nun in ernster Gefahr und stellt Harley Granville ein Problem für die Umsetzung von Williams Plan dar oder nicht? Das macht mich noch irre, ewig im Dunklen zu tappen! Wenn du die Antworten darauf kennst, dann teil dein Wissen auch mit mir. Ich habe die Faxen dicke. Und verschone mich mit deinem verhöhnendem Sarkasmus, sonst gehe ich echt noch an die Decke!“, forderte Moran launisch, um sich etwas mehr Klarheit darüber zu verschaffen, wie die momentane Lage einzuschätzen war. Albert ließ dessen emotionale Rede vorerst unbeantwortet und lief in seinem Arbeitszimmer zu dem glänzend schwarzen Flügel, auf welchen er mit sehnsuchtsvollem Blick eine Hand legte.

„Ich musste mich noch nie im Leben mit dem Gedanken auseinandersetzen, etwas nicht erreichen oder besitzen zu können und verdrängte derartige Vorstellungen stets. Meinen Status als Adeliger habe voll ausgeschöpft und William ein imaginäres Reich erschaffen, von dessen Thron aus er freie Handlungsfähigkeit hat. Mein Leben richtet sich einzig und allein nach ihm und seinen Plänen. Selbstlos brachte ich ihm jedes erdenkliche Opfer dar. Und dann, ohne das es einer hätte vorhersehen können, marschierte ein Mensch in unser Leben, der unsere Ansichten teilt und sich nichts mehr wünscht, als für alle Zeit jeden Tag zusammen mit uns lachen zu können. Kurz gesagt, einfach zu leben… Doch wir wissen beide, dass dies nur ein flüchtiger Traum bleibt. Für die Zukunft anderer opfern wir unsere eigene. William schenkte Miceyla einen Bruchteil jenen Traums. Aber du wirst nachvollziehen können, dass der Gedanke daran, dass ihre wunderschönen sanften Augen, irgendwann den bitteren Abgrund des Traums erblicken müssen, mir das Herz zerreißt. Und bei solch einem Moment, schleicht sich dann doch die wage Vorstellung ein, wie es wäre eine lange sorgenfreie Zukunft mit einem Menschen zu haben, mit dessen Herz man auf einer Wellenlänge ist. Dies kommt der Reue gefährlich nah. Doch Moran mein Freund, der Ausgang von dem was wir begonnen haben, ist längst besiegelt. Falls du noch immer meine Entschlossenheit anzweifelst, solltest du wissen, dass William einen Plan verfolgt, der Miceyla die Freiheit schenken könnte. Nur bin ich an dieser Stelle derjenige, welcher dagegen Zweifel hegt. Und ironischer Weise vermute ich, dass nicht ich, sondern er selbst diesen Plan sabotieren wird… Doch gehen wir jetzt nicht zu sehr ins Detail. Du weißt schließlich wovon ich spreche… Und um es noch mal klarzustellen, wir lassen dich nicht außenvor, Moran. Bei uns ist jeder dazu aufgefordert, seinen Beitrag zu leisten. Dennoch muss sich keiner ein Bein ausreißen, um sich dazugehörig zu fühlen. Wir alle haben Stärken, die uns zu einer vereinten Kraft verhelfen. Und deine Worte klingen fast nach einem Vorwurf, nur weil ich mit Gefühlen zu kämpfen habe und dir nicht jede kleinste Information, zusammen mit der Morgenpost überbringe. Ich lobe es, dass du mit deiner Vergangenheit abgeschlossen hast, seitdem du zu uns gekommen bist. Aber bedenke, dass sich vergangene Fehler schnell wiederholen. Zudem habe ich das Recht, dich freundlich darum zu bitten, deine vorlaute Zunge etwas zu zügeln und nicht die Wahrheit, aus den verletzlichen Punkten deines Gegenübers heraus zu prügeln. Du bist nicht gerade der sensibelste Mensch, doch gewöhne dir ein wenig mehr Geduld an. Ich bin kein Freund von Befehlen und einem unangebrachten Umgangston. Jedoch musst du auch mich und meine Verantwortung verstehen. Fehler und Versagen kann ich mir nicht leisten. Da ich dir keine klaren Antworten auf deine Fragen geben kann, wirst du wohl enttäuscht sein. Doch es steht fest, dass Harley es ernst meint. Wir haben Zeit, Miceyla innerhalb der uns gegebenen Frist zu retten. Er benutzt stets faire Regeln und bricht niemals sein Wort. Diesen noblen Charakterzug muss man ihm lassen. Und was heißt dies konkret für uns? Das unsere Chancen mehr als gut stehen. Du denkst ich sei gelassen… Clayton ist nicht der einzige mit schauspielerischem Talent… Unsere Zeit läuft, lass uns noch rasch die nötigsten Vorbereitungen treffen und uns für den Aufbruch bereit machen“, gab Albert ihm schließlich eine ausführliche Antwort und schloss einen Tresor mit etlichen Waffen darin auf.

„Danke Albert, das reicht mir schon mal für den Anfang. Mein aufdringliches Verhalten ist schnell nervtötend, ich weiß. Aber ich bin einfach nicht der Typ, der stillschweigend alles in sich hineinfrisst. Ab und zu muss man seinem Frust auch mal Luft machen, wenigstens du akzeptierst das. Schade das ich nicht Sherlocks Gabe besitze. Dann würde ich meine Antworten auf ganz anderem Wege erhalten, ha, ha! Gut, gut, ab ans Werk!“ Mit diesen munteren Worten verließ Moran Alberts Arbeitszimmer, um eigene Vorkehrungen zu treffen. `Ein Glück besitzt du nicht Sherlocks Gabe…`, dachte Albert während er neue Munition in eine seiner Pistolen tat.

Langsam schritt Amelia auf Freds Bett zu und betrachtete mit sorgenvollem Blick, wie er mit hastigem Atem und Schweißperlen auf der Stirn dalag.

„Fred…bist du wach…? Ich will dich nicht stören… Aber ich wollte dich kurz sehen, ehe ich wieder aufbrechen muss. Denn das nächste Mal wenn wir uns begegnen werden, wird es bestimmt wieder in einem Kampf sein. Denn darin besteht der Sinn in unserem Leben. Doch wir kämpfen beide für eine gerechte Sache. Keiner von uns darf frühzeitig aufgeben. Und ich bete dafür, dass deine Wunden schnell heilen mögen. Du hast mich gerettet und mir vertraut, obwohl ich selbst so gemein zu dir war. Verzeih…“, sprach Amelia leise und da sie nicht wusste, was sie noch sagen sollte, wollte sie wieder kehrtmachen. Doch genau in dem Moment öffnete Fred etwas die Augen und blickte schläfrig zu ihr.

„Amelia…warte… Viel Glück euch allen. Gemeinsam werdet ihr es schaffen. Und wünschst du dir denn nicht, dass dich jemand auf die Weise ansieht, wie du Clayton ansiehst? Dein Herz kann von all dem Kummer befreit werden, wenn du es nur zulässt. Das ist ein Versprechen…“ Nachdem Fred geendet hatte, schloss er auch schon wieder seine Augen und lächelte friedlich. Amelia starrte ihn kurz gleichzeitig empört und verlegen an. Dabei redete sie sich ein, dass er Fieber hätte und daher wirres Zeug redete. Und so verließ sie sein Zimmer und brach zu ihrer Mission auf, den Brief an den Soldaten weiterzugeben.
 

„Und wissen Sie, wie das mit meinem Bein zustande kam?“

„Ihr Pferd ist bei einer Treibjagd in Panik geraten und hat Sie abgeworfen. Jedoch sind Sie mit Ihrem rechten Fuß im Steigbügel hängen geblieben und das Pferd hat sie in rasender Geschwindigkeit, noch ein gutes Stück hinter sich hergezogen. Sie hatten Glück, dass Sie dabei nicht umkamen, doch nun sind Sie lebenslänglich ein Krüppel und mussten Ihre Arbeit beim Militär an den Nagel hängen. So, jetzt ist Schluss! Ich habe genug Ihrer dämlichen Fragen beantwortet und ich bin keine Zirkusattraktion. Unter normalen Umständen bin ich immer für einen solchen Plausch zu haben, aber gerade ist jede Minute sehr kostbar.“ Sherlock saß zusammen mit David Milford im Gasthaus von Greenock und kam nicht drumherum, seinen Schwall von Fragen zu beantworten, ehe dieser offen für ein ernsteres Gespräch war.

„Ha, ha, ha! Bravo Mr Holmes, bravo! Sie sind wirklich ein gerissenes Schlitzohr! Nun gut, ich hatte meinen Spaß. Das jetzt die Rettung Ihrer Gefährtin für Sie oberste Priorität hat, ist äußerst bedauerlich, wo ich doch eine heiße Spur kenne, die Sie geradewegs zum Meisterverbrecher führen könnte…“, sprach David verschwiegen.

„Erstaunlich, über was Sie nicht alles Bescheid wissen. Und vermutlich bin ich jetzt einer der Wenigen welcher weiß, dass Sie in Wahrheit ein enger Vertrauter von Harley sind, anstatt ein Konkurrent. Während Sie hier in Schottland friedfertig vor sich hinleben, besitzen Sie gleichzeitig die Macht, Harley aufzuhalten und zu verhindern das ein Krieg in England ausbricht, mit den Information über die Sie verfügen. Aber alles der Reihe nach. Für Harley sind die Menschen nichts weiter als Bauern auf einem Schachbrett. Er spielt mit deren Leben. Und da ich nun durch Sie erfahren habe, dass er ausgerechnet Miceyla in seiner Gewalt hat, werde ich alles stehen und liegen lassen und dafür sorgen, dass sie befreit wird. Da können Sie mich noch so viel mit Ihrem Geschwafel aus der Reserve locken. Ich habe es satt, selbst nur eine Spielfigur in jedermanns Plan zu sein. Wie ich zum Ziel gelange, bestimme ich mithilfe meiner eigenen Regeln. Reden Sie nur ruhig weiter, wie ich danach handeln werde, habe ich bereits entschieden. Und das war jetzt Ihr letztes Glas Whiskey. Ich brauche Sie noch ein paar Minuten bei klarem Verstand“, verlangte Sherlock sturköpfig und fixierte David eindringlich mit zusammengekniffenen Augen.

„Hach… Sie können ja ein richtiger Spielverderber sein. Aber gut, Sie sollen bekommen, wonach Sie verlangen. Zum einen nenne ich Ihnen den Ort, an dem sich Harley gerade mit der Kleinen aufhält und zum anderen die Information, dass in seinem Büro im Parlamentsgebäude ein Dokument versteckt ist, welches die vermeintliche Wahrheit über den Meisterverbrecher beinhaltet. Und im Laufe des morgigen Tages, wird er sich dort persönlich hereinschleichen, um jenes Schriftstück zu vernichten, während Harley noch abwesend ist. Das ist Ihre Chance, Sherlock Holmes, um den Meisterverbrecher zu schnappen und gleichzeitig einen handfesten Beweis über ihn in Händen zu halten. Sie werden dadurch zu einer außerordentlichen Berühmtheit, dies versichere ich Ihnen! Nun haben Sie die Wahl, Ihre Kameradin retten oder den skrupellosesten Verbrecher von ganz London, ach…von der ganzen Welt fassen! Ich an Ihrer Stelle würde da gar nicht lange überlegen“, verriet David ihm mit einem leicht angetrunkenen Grinsen. Sherlock lehnte sich tiefenentspannt an der Stuhllehne an und zündete sich erst in Ruhe eine Zigarette an, ehe er auf Davids folgenschwere Wahl einging.

„War es das von Ihrer Seite? Dann endet unsere spontane Verabredung wohl jetzt. Und um Ihrer unstillbaren Neugier entgegenzuwirken, ich werde weder das eine, noch das andere tun. Es gibt genug fähige Akteure in meinem Umfeld. Welche Indizien haben Sie außerdem dafür, dass Sie so selbstüberzeugt behaupten können, dass es der `echte` Meisterverbrecher sein wird, der im Parlamentsgebäude erscheint? Sie wissen rein gar nichts über ihn. Und Harley können Sie nicht mal im entferntesten Sinne das Wasser reichen. Also kommen Sie bitte von Ihrem hohen Ross runter und stoppen Ihre Überheblichkeit, bevor Sie mit Informationen um sich werfen, die ein ganzes Land ruinieren könnten. Ich benötige sie nicht um den Weg zu beschreiten, welchen ich gewählt habe. Das ist meine eigene Entscheidung. Versuchen Sie erst gar nicht mich zu verstehen, es sind schon etliche vor Ihnen daran gescheitert. Es genügt mir völlig, wenn ein, zwei Menschen existieren, die mit meinem Verstand mithalten können. Meine Welt ist einsam, doch werden Sie jene Welt niemals auf die Weise sehen können, wie ich sie sehe. Das wollte ich nur noch schnell loswerden. Danke, David Milford, jetzt habe ich meine Motivation wiedergefunden! Genießen Sie noch Ihren Whisky und leben Sie wohl.“
 

„…Und so brach er auf, lief fort, einer ungewissen Zukunft entgegen. Flucht, ja es war eine Flucht vor den eigenen Gefühlen, welche sein Herz kontrollierten. Eine unbändige Macht, sie drang tiefer ein als jeder Pistolenschuss. Es gab keine Rettung, kein Entkommen. Aus purer Feigheit zog er los in einen Kampf, um Konflikte mit Gewalt zu lösen, bei denen sein Verstand versagt hatte. Noch ein letztes Mal seine Waffe in Händen halten, mit dem letzten Kuss seiner Liebsten auf den Lippen…“ Harley saß auf einem klapprigen Schemel und las, als hätte er alle Zeit der Welt, aus Miceylas Notizbuch vor, welches sie trotz der turbulenten Entführungsgeschichte, hatte bei sich behalten können. Nun war sie abermals gefesselt und ihre Hoffnung war getrübter als je zuvor.

„Vergnügen Sie sich nur weiter mit meinen Texten. Sie scheinen ja Gefallen daran gefunden zu haben. Ich stelle Sie gerne als meinen persönlichen Lektor ein…“, murmelte sie mit trockenem Sarkasmus und verzog dabei keine Miene.

„In der Tat, meine Werteste! Nichts geht über ein düsteres Drama. Die Freude und das Glück sterben immer am Ende. Ich kann Ihrem Schreibstil entnehmen, dass sie nicht an Märchen glauben. Und trotzdem gaukeln Sie sich in Ihrer Fantasie vor, eines leben zu können. Sie besitzen eine naive Seele und sind gleichzeitig eine gestandene Realistin. Dies muss sogar meine Wenigkeit als ungemein reizvoll einstufen…“, begann Harley schmunzelnd und kniete sich dicht vor Miceyla auf den Boden nieder.

„Doch weißt du was, meine Teure? Die Liebe ist eine gewaltige Lüge, sie betrügt und verrät uns. Sie lässt ein beständiges schwarzes Loch in uns zurück, das selbst dem härtesten Krieger, den Boden unter den Füßen entreißt. Liebe und Verlust gehen Hand in Hand miteinander. Besser ich bewahre dich vor dieser grausamen Erfahrung. Denn ein traumloser, ewiger Schlaf, ist die größte Erlösung für eine blutendes Herz… Beginnen wir mit deinen stillen Wünschen, nehme Abschied von ihnen…“, sprach Harley eindringlich und strich mit seinem linken Zeigefinger, von ihrem Hals bis zu ihrem wild pochendem Herzen hinab. Die Intensivität seiner Stimmlage, vereinnahmte sie auf unerklärliche Weise und raubte ihr wahrhaftig den Glauben an das Gute. Vielleicht wäre ihr starker Wille noch dagegen angekommen, doch als Harley aufstand und ihr Buch in die Flamme einer flackernden Kerze hielt, starb der allerletzte Funke Mut in ihr. Tränen rollten Miceyla langsam über ihre Wangen, als sie dabei zusah, wie das kleine ihr treue Buch, in Flammen aufging. Es waren zwar nur Ansammlungen von Ideen und Vorstellungen, die sie zu jeder Zeit hätte neuformulieren können und brauchte dem daher nicht nachtrauern. Aber es ging um die Geste des Verlustes, welche Harley gerade inszenierte.

„Auch mir tut es fürchterlich weh. Ich fühle Ihren Schmerz. Und bevor Sie mich einen Teufel schimpfen, gebe ich Ihnen noch einen letzten Brief, der seinen Weg hierher gefunden hat…“ Harley lockerte etwas ihre Fesseln, damit sie den Brief lesen konnte. Miceyla unterdrückte bittere Tränen, als sie direkt an der Handschrift erkannte, von wem er stammte.

`Ich werde kommen und dir die helfende Hand hinhalten.

Ich werde dich hören, wenn du um Hilfe schreist.

Ich werde dich trösten, wenn du traurig bist.

Ich werde dir deinen Schmerz nehmen, wenn du leidest.

Ich werde dich aufmuntern, wenn du die Hoffnung verloren hast.

Ich werde dein Lächeln erwidern, wenn du gesiegt hast.

Ich werde an deiner Seite sein, wenn du vor einer schweren Aufgabe stehst.

Ich werde dir folgen, auf einem unsicheren Pfad.

Ich werde auf dich warten, wenn du dein Ziel erreicht hast.

Ich werde dich verstehen, wenn du von deinen Sorgen erzählst.

Ich werde dir glauben, wenn du die Wahrheit sprichst.

Ich werde dich aufhalten, wenn du eine Dummheit begehst.

Ich werde dich verteidigen, wenn du verspottet wirst.

Ich werde mit dir lachen, wenn du Unsinn machst.

Ich werde dich retten, wenn du in einen Abgrund fällst.

Ich werde mit dir fortlaufen, wenn du flüchtest.

Ich werde mit dir weinen, wenn die Welt sich gegen dich verschworen hat.

Ich werde nach dir suchen, wenn du entführt wurdest.

Dein dich auf ewig liebender William.`

Letztendlich schaffte sie es doch nicht, ihre Tränen noch länger zurückzuhalten, als sie fertiggelesen hatte und lächelte dennoch verbittert dabei. `Oh mein geliebter Will… Kann die Liebe jeden Kampf und jeden Schmerz überwinden,,,? Lass mich bitte einfach nur daran glauben. Wer durchhält, wird am Ende belohnt werden. Wir verbannen die Ungerechtigkeit aus der Welt und aus den Herzen der Menschen…`, dachte sie gefasst und fühlte sich durch dessen mutmachende Zeilen bestärkt. Dabei rüstete sie sich innerlich dafür, den nächsten spottenden Kommentar von Harley zu überstehen.

„Liebliche Worte, kurzweilig betäuben sie den Kummer. Doch dein Retter wird nicht kommen, da er ein Dokument vernichten muss, ehe es der Öffentlichkeit präsentiert wird, um seinen Ruf als selbstloser Adeliger zu wahren. Und die Eisblume, wird in den Flammen der Verdammnis qualvoll verenden… Nun entferne ich mich. Etwas flüstert mir zu, dass London wieder nach meiner Anwesenheit verlangt. In weniger als fünf Stunden, wird dein wertvolles Büchlein nicht das einzige sein, das eine hitzige Begegnung mit dem Höllenfeuer bekommt…“, prophezeite Harley mit einem düsteren Grinsen, entriss ihr den Brief und hielt ihn ebenfalls in die Flamme der Kerze.
 

William trat noch vor allen anderen Passagieren aus dem Zug und warf als erstes einen raschen Blick auf seine Taschenuhr. Noch exakt vier Stunden und zwanzig Minuten blieben ihm, ehe die Sonne untergehen würde. Albert, Louis und Moran traten zu ihm auf den Bahnsteig.

„Jetzt haben wir doch glatt denselben Zug wie Harleys Handlanger genommen und plötzlich war er wie vom Erdboden verschluckt. Ob der Kerl uns bemerkt hat?“, grübelte Moran, während er die fremde Umgebung prüfte.

„Das hat er mit Sicherheit, aber nun brauchen wir ihn nicht mehr. Ich habe die gesamte Karte von Greenock und dessen Umgebung im Kopf. Es führt nur eine Landstraße in die Stadt und aus der Stadt heraus, auf der die Kutschen am zügigsten fahren. Wer es eilig hat und Umwege vermeiden will, wählt also folglich diesen Weg. Wir werden ebenfalls ein Stück die Straße entlangfahren. Wie besprochen teilen wir uns auf. Es sollten nur Louis und ich sein, die auf Sherlock treffen, da wir eine Begegnung mit ihm kaum vermeiden können. Albert und Moran, ihr haltet euch etwas im Hintergrund und schaltet jegliche Feinde aus, die uns in die Quere kommen. Für Diskretion ist diesmal keine Zeit. Harley will mit uns Krieg spielen, also präsentieren wir ihm unsere Antwort und stellen unter Beweis, dass wir vor keiner Herausforderung zurückschrecken. Doch mit aller Wahrscheinlichkeit, werden wir ihn selbst hier vor Ort nicht mehr zu Gesicht bekommen…“, beschrieb William ihre weiteren Schritte, als die Gruppe unter sich war.

„Du glaubst doch nicht etwa, dass dieser freche Wichtigtuer wieder nach London abgedampft ist?! Was wenn er dort eintrifft, noch ehe Clayton aus dem Parlamentsgebäude raus ist? Dieser Mann ist ebenfalls nicht zimperlich, was die Durchsetzung von heimtückischen Plänen angeht…“, brummte Moran launisch und warf abermals prüfende Blicke um sich.

„Uns bleibt nichts anderes übrig, als Clayton und seinem Geschick zu vertrauen. Er ist kein Tölpel, sonst hätten wir ihn erst gar nicht, für eine Mission schwierigen Grades ausgewählt. Zudem besitzt er genügend Selbstbeherrschung, um Harley nicht gleich an die Gurgel zu gehen, sobald sich eine Gelegenheit dafür ergibt. Solltest dir mal eine Scheibe von ihm abschneiden, mein tobsüchtiger Scharfschütze. Komm, beweise mir, dass der Soldat in dir noch nicht ausgerottet wurde“, neckte Albert ihn genüsslich, um dessen verkrampfte Stimmung etwas zu lockern und gab ihm einen kräftigen Klaps auf den Rücken.

„Klasse… Und ausgerechnet wir beide, sind Partner bei diesem wichtigen Auftrag… Ich kündige dann schon mal an, dass ich mir mindestens die nächsten drei Abende freinehmen und ordentlich einen draufmachen werde. Anders ist dieses ganze Trauerspiel ja nicht zu ertragen.“ Moran verdrehte seufzend die Augen, während er den Gurt seiner Gewehrtasche strammer zog und allein vorausmarschierte.

„Wann du dir freinehmen darfst, entscheidet immer noch Will, du räudiges Etwas! Und denke daran, dass es kaum einen Angestellten in einem Adelshaushalt gibt, der so gut verdient wie du“, rief Louis Moran zurechtweisend nach und setzte sich ebenfalls in Bewegung. William und Albert tauschten trotz ihrer eigenen Anspannung lächelnde Blicke aus und folgten ihnen schnellen Schrittes.

Das hohe Gras am Wegesrand tanzte in einem seichten Wind und eine warme Maisonne, ließ die üppigen Heiden in den kräftigsten Farben erstrahlen.

„Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine solch reine Luft eingeatmet zu haben. Und es duftet sehr angenehm nach frischen Gräsern. Wahrlich eine Wohltat für Seele und Körper“, sprach Louis mit einem entspannten Gesichtsausdruck und genoss die friedliche Atmosphäre der naturbelassenen Landschaft.

„Dem kann ich nur zustimmen. Durham ist im Gegensatz zu Schottland nur ein kleines, überschaubares Fleckchen Natur. Dieser Ort lässt einen die Schnelllebigkeit der Großstadt vergessen. All den Lärm, den Dunst und den Gestank. Man bekommt fast den Eindruck, die Zeit wäre zum Stillstand gekommen…“, erwiderte William sanft und lächelte melancholisch. Nach einer kurzen Kutschfahrt, bat er den Kutscher Halt zu machen, um mit seinem Bruder zu Fuß weiterzugehen, während Albert und Moran etwas zeitverzögert nach ihnen aufgebrochen waren. Um weder im ordentlichen Anzug aufzufallen, noch in schwarzer Tracht verdächtig zu wirken, trugen William und Louis ganz gewöhnliche, alltagstaugliche Kleidung. In der Ferne konnten beide eine Gestalt ausmachen, die wie ein verirrter Reisender auf einem großen Felsbrocken am Wegesrand saß. Doch beim näheren herantreten war ihnen auf Anhieb klar, dass diese Person sich alles andere als verirrt und viel eher auf ihre Ankunft gewartet hatte…

„Gut, das du mich nicht lange hast warten lassen. Die Zeit drängt. Du weißt, ich wäre Hals über Kopf jedes Risiko eingegangen, um Miceyla zu beschützen. Doch wissen wir beide, dass dabei etwas ganz gewaltig verkehrt wäre. Denn du solltest sie befreien, Liam und nicht ich. Mit der Reise nach Schottland, müssen wir uns alle einen kleinen Fehltritt eingestehen. Wer vor Gefahr flieht, rennt geradewegs in sie hinein…“, grüßte Sherlock die zwei Ankömmlinge ohne eigene Erklärungen oder nachzuhaken, auf welchem Wege William von den misslichen Ausschreitungen erfahren hatte. Zwischen beiden bedurfte es keinerlei ausführliche Worte, um sich gegenseitig alles zu erklären.

„Die Welt ist wesentlich überschaubarer, wenn man sein Wissen zur richtigen Zeit und am richtigen Ort einsetzt. Wir sehen und begreifen viel. Doch auch unserem Weitblick, entgeht manchmal die verborgene Wahrheit. Es gibt immer verschiedene Lösungswege, aber das Endergebnis bleibt stets ein und dasselbe… Führen Sie uns nun bitte zu Miceyla, Mr Holmes. Und vermeiden wir Komplikationen, indem wir zusammenarbeiten“, sprach William mit entschlossener Stimme, während Louis schweigsam neben seinem Bruder stand und mit einem aufgesetzt neutralen Gesichtsausdruck, Sherlock genaustens beobachtete.

„Die Lage ist zu ernst, um einen Wettbewerb daraus zu machen. Und dennoch konkurrieren wir beide wohl überall miteinander. Harley hat sich mit Miceyla in eine Art unterirdische Festung zurückgezogen, in der einst Sklaven untertage Schwerstarbeit verrichtet haben. Auch dieses Land hat seine Schattenseiten. Die Regierung Englands, würde am liebsten die Wirtschaft der ganzen Welt beherrschen. Doch es existieren noch Menschen, die nicht klein beigeben und ihre Unabhängigkeit zu verteidigen wissen. Folgen Sie mir und ich hoffe Sie sind gut zu Fuß, denn keine Kutsche kann den Weg dorthin passieren…“, verriet Sherlock mit Blick auf den weitentfernten Horizont. William ließ sich bereitwillig von ihm führen, während Louis ganz und gar nicht damit einverstanden war, sich ausgerechnet auf ihn verlassen zu müssen. `Warum muss der Kerl es so aussehen lassen, als hätte er mit Will eine geplante Verabredung?! Und ich bin für ihn wohl nichts weiter als eine unbedeutsame Person, bei der es nicht wert ist, ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Wills Sympathie für diesen exzentrischen Detektiv, legt einen dunklen Schleier über unser zielgerichtetes Vorhaben. Er braucht nicht so etwas wie einen Seelenverwandten, wo er doch mich und Albert hat. In meinen Augen, ist seine Einmischung die größte Gefahr für uns alle. Besser er verschwindet frühzeitig aus unserem Leben. Am besten…gemeinsam mit Miceyla… Genau hier und jetzt, fern von London, dass wäre die beste Gelegenheit dafür…`, dachte Louis boshaft und hielt seinen Blick starr auf Sherlock gerichtet. Mehr als alles andere auf der Welt, wollte er seinen Bruder beschützen und ihm stets zur Seite stehen. Seit er denken konnte, waren sie beide füreinander da gewesen. Doch das Leuchten von Williams Augen, wenn er mit Sherlock oder Miceyla sprach, gab Louis das Gefühl, man wolle sie beide voneinander trennen. Und das in einer Zeit, in der sie mehr denn je aufeinander angewiesen waren. Dennoch bemühte er sich darum seine Fassung zu wahren. Schließlich war die momentane Lage zu ungewiss und seine abdriftenden Gedanken, könnten alle in noch größere Schwierigkeiten bringen. Plötzlich wurden die drei Wanderer daran erinnert, dass die Zeit an jenem friedlichen Ort keineswegs stillstand. Denn die strahlende Sonne, sank langsam aber sicher zum Horizont hinab und sie erhöhten ihr Schritttempo, ohne eine Pause einzulegen.

„Nicht mehr weit und wir erreichen… Vorsicht!“ Sherlock brach mitten im Satz ab und richtete eine Pistole auf ein hohes Dickicht zu seiner rechten Seite, aus der zwei mit Gewehren bewaffneten Männer herausgestürmt kamen. Auch William hielt seine Waffe schussbereit in der Hand, wartete jedoch damit ab, den Abzug zu betätigen. Wie aus dem Nichts, wurden den zwei angriffslustigen Männern, auf einmal die Gewehre aus den Händen geschossen. Doch weder durch einen Schuss von Sherlock, noch aufgrund einem der beiden Brüder. Und es war nicht mal das Geräusch eines Schusses zu hören. `Wer hat da gerade geschossen…? Derjenige muss aus einer beachtlichen Entfernung gezielt haben. Wo könnte er sich versteckt halten… Das Gehölz über dem Tal käme als einzige Option in Frage. Ein solch präziser Schuss, kann nur von einem erfahrenen Scharfschützen stammen. Ich habe noch vor Liam reagiert… Um einen simplen Leibwächter, handelt es sich wohl kaum…` Während Sherlock versuchte, sich unbeeindruckt einen logischen Reim aus dem Ganzen zu machen, beobachtete er weiter die Reaktionen der Brüder, anstatt den verwirrten Männern Beachtung zu schenken.

„Sie ziehen doch sicher ebenfalls vor, unsinniges Töten zu vermeiden“, meinte William nur lächelnd und erwähnte erst gar nicht die ungewöhnlichen Schüsse.

„Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund“, erwiderte Sherlock mit einem kurzen Grinsen und visierte nun wieder die verdutzten Männer an. William und er nutzten deren konfusen Zustand, um die zwei mittels eines kräftigen Fausthiebs, bewusstlos außer Gefecht zu setzen.

„Kurz und schmerzlos. Der Eingang des Bergwerks ist bereits in Sicht. Ich werde vorausgehen und die Gegend nach einem weiteren Empfangskomitee auskundschaften…“, meldete Louis sich bereitwillig zu Wort und lief hoch erhobenen Hauptes voraus.

„Ihr Bruder besitzt eine markant distanzierte Verschlossenheit. Achten Sie daher darauf, dass er seine Sorgen nicht zu sehr in sich hineinfrisst. Dies kann zu einem üblen Gefühlsausbruch führen. Und da kann ich aus eigener Erfahrung sprechen… Nun denn, ich habe Sie zu Ihrem Zielort geführt, den Rest schaffen Sie auch alleine. Haben ja fähige Mitstreiter im Schlepptau… Wie ich mein Versagen als Miceylas Geleitschutz wiedergutmache, regle ich auf meine Weise und richte mich da nicht nach den Vorschriften anderer. Sie hat im Gasthaus noch Gepäck zum abholen. Je nach Lust und Laune halte ich mich dort ein Weilchen auf, um auf den nächsten Zug zu warten… Sie wissen, was ich damit ausdrücken will. Und übrigens hatte ich beinahe einen weiteren Indiz dafür, um Sie als den Meisterverbrecher verdächtigen zu können. Doch ich verrate Ihnen etwas. Ein Vöglein hat mir gezwitschert, dass er während wir hier gerade plaudern, ein Unheil bringendes Dokument aus Harleys Büro stiehlt, damit seine perfekten Pläne nicht durchkreuzt werden… Die Zufälle und Täuschungen überschneiden sich immer häufiger. Sie erwägen doch auch sicher, reinen Tisch zu machen. Die Maskerade wird früher oder später ihr abruptes Ende finden“, erzählte Sherlock gespielt unwissend und zückte ein Päckchen mit noch drei verbliebenen Zigaretten darin.

„Was Sie nicht sagen… Er hat wahrlich alle Hände voll zu tun, um die Perfektion seiner Handlungen zu wahren. Richten Sie Ihr Augenmerk nicht zu sehr auf seine Person. Sie könnten dabei gefährlich aus dem Gleichgewicht geraten. Ich kenne keinen talentierteren Meisterdetektiven, als Sie. Deshalb kann ich mit überzeugter Gewissheit sagen, dass Sie ihn schnappen und die Wahrheit seiner Beweggründe offenlegen werden. Bleiben Sie nur dran und seien Sie nicht wählerisch, was die Art Ihrer Methoden angeht… Für mich ist dies sehenswerter, als jedes eingeübte Theaterstück. Wohlan, ich muss meiner tapferen Frau zur Hilfe eilen“, erwiderte William lächelnd, mit ebenfalls vorgegaukelter Unwissenheit und machte sich daran Louis zu folgen.

„Und Liam… Geben Sie Miceyla einen Grund, der sie unweigerlich davor schützt, sich in Gefahr zu stürzen und Sie nicht ständig dazu zwingt, die schützende Hand über sie halten zu müssen. Sie besitzen ein unermessliches Einfallsreichtum, daher sind Tipps meinerseits überflüssig. Viel Erfolg und bewahren Sie weiterhin Ihre Contenance, werter Mathematiker. Man sieht sich in London…“ Winkend machte Sherlock nach seinen abschließenden Worten kehrt, ohne nochmal zu ihm zurückzublicken. William hingegen blieb kurz überrascht stehen und seine rubinroten Augen, ruhten eine Weile auf den sich entfernenden Sherlock. `Einen Grund… Ja, darüber habe ich längst nachgedacht…`
 

Miceyla liefen dicke Schweißperlen die Stirn hinab und aufgrund einer glühenden Hitze, fiel ihr das Atmen immer schwerer. Man hatte um sie herum in einem Halbkreis unzählige Fidibusse auf dem Boden verteilt und ein grelles Feuer entfacht. Nun brannte es vor ihr lichterloh und auch wenn die Flammen sie noch nicht erreichen konnten, übermannte sie eine unbändige Panik vor einem grausamen Tod und traumatische Bilder von dem Unglück in Harefield, schossen ihr durch den Kopf. `A-amelia…du konntest dem Höllenfeuer standhalten und hast überlebt… Doch ich…bin an einer Wand gefesselt und den Flammen schutzlos ausgeliefert… Harley du Monster…es ist unendlich grausam, deine Opfer sich ihren größten Ängsten stellen zu lassen. Aber bin ich dieses ganze Schlamassel nicht selber schuld? Mein Leben hat endlich einen Wert und einen tiefgründigen Sinn bekommen. Ich darf es nicht einfach so wegwerfen. Es gibt Menschen die mich noch brauchen. Bevor ich das Leben von anderen beschütze, muss ich mich erstmal um mein eigenes kümmern. Der Tod…ereilt einen noch früh genug und dann…gibt es tatsächlich kein Zurück mehr…` Mit glasigen Augen starrte Miceyla in das lodernde Feuer und ließ in Gedanken ihr eigenes Handeln und die jüngsten Geschehnisse Revue passieren. Sie meinte schon zu spüren, wie die Fänge des Todes sie zu sich reißen wollten und glaubte Halluzinationen zu bekommen, als eine dunkle Gestalt durch die Flammen auf sie zugesprungen kam, ohne dabei Feier zu fangen. Klirrend fielen kurze Zeit darauf, die schweren Eisenketten von ihren Hand- und Fußgelenken zu Boden. Von Schwindel gepackt kippte sie nach vorn, doch sie wurde von schützenden Armen abgefangen, welche sie so fest umklammerten, dass ihr fast die Luft zum atmen genommen wurde, was sie wiederum daran erinnerte, dass sie noch am Leben war.

„Meine liebste Miceyla… Niemals könnte ich von dir verlangen, mir hierfür zu vergeben. Doch ich halte mein Wort und gegebene Versprechen. Kein Feuer dieser Welt ist mächtig genug, um mich davon abzuhalten, dich vor ihm zu beschützen. Dein Schmerz ist auch der meine. Im Diesseits, im Jenseits, jetzt und für alle Ewigkeit…“ Die liebevolle Stimme und ein wild pochendes Herz beruhigten Miceyla so ungemein, dass ihr nun Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen und ihr die Kraft schenkten, ihren Retter ebenfalls zu umarmen.

„Es ist nun endlich kein Traum mehr… Du bist wirklich gekommen um mich zu retten, mein geliebter Will… Ich brauche dir weder zu vergeben, noch Groll gegen dich zu hegen. Die stärksten und tapfersten Soldaten, mussten erst durch die Hölle gehen, um als Helden wiederkehren zu können. Dies ist unsere Geschichte, mit all ihrem Freud und Leid in Vollendung… Ein von uns geschaffenes Meisterstück…“, flüsterte Miceyla mit geschlossenen Augen und wie durch ein Wunder, fühlte die sie umgebene Hitze, sich wesentlich weniger bedrohlich an. William lockerte seine Umklammerung etwas, damit er sie richtig betrachten konnte. Auch sie blickte ihrem Liebsten, mit einem freudig schlagenden Herzen an. Binnen eines kurzen Wimpernschlages, trafen ihre Lippen aufeinander und sie versuchte diesen einmaligen Moment, in ihre Erinnerungen einzuprägen. Ein Augenblick des inneren Friedens, während einen die Gefahr umgab. Fast wie ein tobender Krieg, mit einem im Zentrum herrschenden Weltfrieden.

„Wollt ihr beiden hier drin gegrillt werden?! Raus hier, aber dalli! Für die fröhliche Wiedervereinigung ist später noch genug Zeit!“, brüllte Moran von der anderen Seite der Flammenwand. William erhob sich zusammen mit Miceyla und blickte sie pflichtbewusst an.

„Halte bitte noch etwas länger durch und sammle ein letztes Mal all deine Konzentration und Kraftreserven, bis wir hier raus sind. Das Feuer ist nicht die einzige Bedrohung, mit der wir zu kämpfen haben… Denn Harley hat diesen Ort nicht unbewacht verlassen. Und hoffen wir, dass Albert und Louis, den Weg für unsere Flucht größtenteils freiräumen konnten“, bat er mit ernster Miene und sie nahm als Antwort daraufhin ihren Degen fest in die Hand.

„Habe verstanden! Ich bleibe wachsam. Eine so starke Gemeinschaft wie wir, kann niemand aufhalten!“ William lächelte nach ihren entschlossenen Worten und beide gaben sich mit einem Nicken zu verstehen, das sie bereit waren. Moran hatte ihnen in der Zwischenzeit, eine kurzweilige Schneise in den knisternden Flammen geschaffen, sodass William und Miceyla in sekundenschnelle unbeschadet hindurchhuschen konnten. Zu dritt stürmten sie den felsigen Hauptgang des Bergwerks Richtung Ausgang entlang. Gleichzeitig hielten sie Augen und Ohren für einen Überraschungsangriff offen. Trotz aller Wachsamkeit wurde das Trio überrumpelt, als ein Mann unmittelbar vor Moran von oberhalb herabgesprungen kam und ihn mit einer langen Spitzhacke attackierte. Mehr verärgert als erschreckt, erlaubte es ihm die kurze Distanz nicht, mit seinem Gewehr auf den Angreifer zu zielen.

„Moran!“, schrie Miceyla panisch und wollte ihm instinktiv zu Hilfe eilen und verpasste dem stämmigen Mann, mit ihrem Degen eine schmerzvolle Wunde am rechten Arm, ehe die gefährlich spitze Hacke Moran treffen konnte. Ohne zu zögern wollte sie ihm mit einem weiteren Degenhieb den Rest geben, auch wenn ihre Hände dabei zu zittern begannen. Doch William kam ihr zuvor und beendete mit einem treffsicherem Kopfschuss das Leben des zwielichtigen Mannes.

„Danke ihr beiden. Ausnahmsweise darf sich meine harte Rechte auch mal etwas ausruhen, he, he“, meinte Moran und blickte Miceyla mit einem Gesichtsausdruck an, in dem sich Stolz und Schuldgefühle gleichermaßen widerspiegelten.

„Weiter geht’s! Noch haben wir den Ausgang nicht erreicht. Und Liebling, deine Fechtkunst kann sich sehen lassen“, lobte William sie und seine Miene glich flüchtig der von Moran. Nach der kurzen Unterbrechung, kam es zu keinen weiteren Komplikationen und sie gelangten bereits nach wenigen Minuten, problemlos zum Ausgang der Mine. Mittlerweile war die Sonne komplett untergegangen und Miceyla genoss die kühle Brise der hereinbrechenden Nacht, um sich nach dem Flammenbad etwas abkühlen zu können.

„Wie es scheint, haben die letzten verbliebenen Störenfriede das Weite gesucht. Ich denke nicht, dass wir weitere Überfälle fürchten müssen. Die Lage hat sich schneller entspannt als gedacht, vorerst… Aber es tut gut zu sehen, dass du die ganzen Strapazen weitgehend unbeschadet überstanden hast, Miceyla“, empfing Louis die drei und sie ignorierte sogleich seine gespielte Besorgnis, welche sie direkt durchschaute. `Die Masche zieht bei mir nicht mehr… Du hättest einen Freudentanz veranstaltet, wenn ich hier ums Leben gekommen wäre…`, dachte sie gleichgültig und schwenkte ihren Blick langsam zu Albert. War er erleichtert, sie gesund und munter zu sehen? Unterdrückte er seine Angst um sie? Wollte er seine wahren Gefühle, aus Stolz vor den anderen nicht zeigen? Miceyla konnte darüber nur rätseln und brachte es nicht über sich, seinem Blickkontakt, trotz der sie umgebenen Dunkelheit, noch länger standzuhalten. `Bitte schweige mich nicht an… Sage etwas… Das du dich freust mich wiederzusehen… Irgendetwas… Ich sehe dir doch an, dass du mir unendlich viel zu sagen hast… Du hattest damit zu kämpfen, mich gehen zu lassen. Doch allmählich dämmert es mir, dass du die Gewissheit besaßest, dass mir niemals etwas zustoßen würde. Und dies kann nur bedeuten das…`, dachte sie bedrückt und nahm sich vor, ihn in einem günstigen Moment zur Rede zu stellen. Sie vermisste es insgeheim, seine gefühlvoll geschriebenen Briefe zu lesen. Verbittert senkte sie den Blick. Nun war die Truppe wieder vereint, doch ihr glückliches Lächeln blieb aus. Es gab zu viele Intrigen und Ungereimtheiten, welche jegliche Gelassenheit zunichtemachten.

„Verzage nicht, meine liebe Miceyla. Du hast hier in Schottland mehr Mut und Stärke bewiesen, als es von dir bisher in London abverlangt wurde. Wir hätten dich niemals im Stich gelassen, denn du weißt, außerplanmäßige Vorkommnisse biegen wir zu unserem Vorteil zurecht. Doch da du dieses Mal von uns allen am meisten Leid durchmachen musstest, werde ich nicht eher ruhen, bis der entstandene Schaden behoben wurde. Ich bestehe darauf und lasse nicht zu, dass Stärke zu deiner Bürde wird. Taten sind gewichtiger als Worte. Und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um dein gütiges Lächeln zu beschützen…meine liebe Eisblume… Bitte nimm meine Worte fürs Erste an. Sie sollen weder eine Entschuldigung, noch eine Erklärung für alles sein“, sprach Albert bemüht sachlich und ließ dennoch zaghaft seine wahren Gefühle durchsickern. Tatsächlich verhalfen ihr seine sorgsam gewählten Worte, zu einem flüchtigen Lächeln und zur Akzeptanz, dass sie nach dem turbulenten Abenteuer, erstmal zu ihrem mehr oder weniger geordneten Alltag zurückfinden musste, um wieder einen klaren Blick auf die komplizierten Gegebenheiten zu bekommen.

„Danke Albert… Ich muss mich nach all dem wieder neu sammeln. Aber ich glaube, nicht nur mir geht es da so… Schade das ich dieses wunderschöne Land, auf solch eine korrupte Art kennen gelernt habe. Gerne wäre ich noch ein Weilchen länger geblieben… Doch…wie geht es eigentlich Fred und Amelia? Ich mache mir schon die ganze Zeit über furchtbare Sorgen“, sprach Miceyla beunruhigt und faltete hoffend die Hände vor der Brust zusammen.

„Fred hat sich eine recht schwere Verletzung zugezogen. Aber mit genug Bettruhe und ärztlicher Behandlung, ist er wieder rasch über dem Berg. Es ist nichts Lebensbedrohliches, habe daher keine Angst um ihn. Amelia geht es gut, sie unterstützt nun Clayton, mit dem wir erfolgreich verhandeln konnten, dass er die Infiltrierung des Parlamentsgebäudes übernimmt und das für uns tückische Dokument unschädlich macht“, berichtete William von dem Stand der Dinge und schien selbst über die ganze Entwicklung, alles andere als zufrieden zu sein.

„Das dachte ich mir fast… Und Harley lacht sich gerade ins Fäustchen, während er unterwegs nach London ist… Wir müssen ebenfalls schleunigst zurück und…“ Ein lautes Wiehern unterbrach Miceyla und sie entdeckte in einiger Entfernung, zwei friedlich grasende Pferde.

„Sie gehörten zwei der Söldner. Pferde sind nun mal die sinnvollste Methode, um am schnellsten die unwegsame Prärie zu durchqueren“, meinte Louis mit Blick auf die beiden nun herrenlosen Tiere.

„Zwei von uns können also schon mal vorreiten. Miceyla, ich schlage vor das du vorgehst. Ich kann dir jetzt nicht auch noch einen meilenweiten Fußweg zumuten. Du kämpfst ja sogar dagegen an, nicht vor Erschöpfung umzukippen. Und zudem…wartet Sherlock in Greenock auf dich…“, verriet William, wobei seine Stimme immer leiser wurde. Plötzlich riss sie die Augen weit auf und wirkte hellwach. `Sherlock…` Dabei verspürte sie das eigenartige Gefühl der Enttäuschung, dass er selbst nicht bei ihrer Rettung erschienen war. Obwohl sie vermutetet, dass er William unterstützt haben musste.

„Ich werde mich gleich auf den Weg machen…“, verkündete sie ungeduldig und lief auf die bereits gesattelten Pferde zu.

„Wenn du magst begleite ich dich“, bot Albert sich als ihre Begleitung an. Sie ahnte das er vorhatte, ein Gespräch unter vier Augen mit ihr zu suchen. Doch da sie sich so kurzfristig noch nicht bereit dazu fühlte, ging sie erst gar nicht näher auf sein nur gut gemeintes Angebot ein und blickte stattdessen Moran mit einem breiten Grinsen an.

„Na Meister, Lust auf einen wilden nächtlichen Ritt, mitten durch das verwegene Schottland?“

„Wie könnte ich da nur nein sagen. Auf dem Rücken eines Pferdes, im bannbrechenden Galopp davonzureiten, kommt dem Gefühl der Freiheit ein ganzes Stück näher. Sollte dir bekannt vorkommen, he, he. Du wählst also den schwarzen Hengst, huh? Der passt zu dir! Dann nehme ich die braune Stute“, freute sich Moran sichtlich über einen entspannten Abschluss der Mission und verstand auch, dass sie es vorzog, eine `neutrale` Person als ihren Geleitschutz bei sich zu haben, bis sie ihre aufgewühlten Gedanken wieder geordnet hatte.

„Gib mir gut auf Miceyla Acht, Moran. Aber das brauche ich dir ja nicht mehr zu sagen… Wir treffen uns später am Bahnhof. Sollten in Greenock weitere Probleme auftreten, dann…“, begann William, doch Miceyla, die bereits auf ihrem Pferd saß und von oben zu ihm herabsah, unterbrach ihn und führte seinen Satz fort.

„…Dann werde ich diesen Problemen demonstrativ aus dem Weg gehen und einen großen Bogen darum machen. Wir tun was wir können und geben zu jeder Zeit unser Bestes. Doch wenn wir uns den Sorgen eines jeden Bürgers annehmen, kommen wir nie vom Fleck. Denkanstöße und Ratschläge sind rasch verteilt. Aber die Menschen müssen eigenständig Lösungsansätze finden und daran wachsen. Dies ist der erste Schritt, welcher aus fast jeder Krise führt. Und Will, nur weil du mich das Töten gelehrt hast, werde ich es nicht zur Gewohnheit machen. Doch wie du mir einmal sagtest, um mein Leben und das anderer zu beschützen, führt manchmal kein anderer Weg daran vorbei. Ich bin gespannt, ob du mein blutendes Herz heilen kannst. Denn wenn du es nicht kannst, so kann es niemand…“, sprach Miceyla ermüdet und wollte nichtsdestotrotz, ein paar entschlossene Worte direkt an William richten, ehe sie mit Moran aufbrach. Ohne eine Antwort seinerseits abzuwarten, galoppierte sie Seite an Seite mit Moran davon.

„Sieh nur Bruderherz, der unberechenbare Wille, den du so sehr an ihr liebst, wird mit jedem Augenblick stärker. Du behauptest zwar, ich würde sie zu sehr in Watte packen wollen, aber auch in dir nagt das schlechte Gewissen, gerade nach dem heutigen Tage… Du weißt doch, wir sehr wir beide uns ähneln. Sonst…hätten wir uns schließlich niemals in dieselbe Frau verliebt…“, sprach Albert wehmütig, welcher direkt neben William stand und ihm die letzten Worte nur noch zuflüsterte. `So ist es… Meine geliebte Winterrose, du wirst so stark werden, dass du selbst mich nicht mehr brauchen wirst…`

Die Pferde schienen genau zu wissen, wohin sie ihre Reiter bringen mussten und so verließen Miceyla und Moran sich weitestgehend auf den fein ausgeprägten Orientierungssinn der klugen Tiere.

„Wir…wir sind da!“, rief sie aufgeregt und schenkte ihren schmerzenden Gliedern, nach dem Ritt in hohem Tempo keinerlei Beachtung.

„Dann werde ich mal ein wenig untertauchen und auf dich warten. Ich bin stets zur Stelle, sollte es Schwierigkeiten geben. Und keine Bange, ich suche nicht das nächste Pub auf. Also Abmarsch, regle mit dem Detektiv, was auch immer es zu regeln gibt“, versprach Moran, als sie im gemächlichen Trab Greenock erreichten.

„Ich danke dir.“ Eilig sprang Miceyla vom Pferd und sprintete geschwind in Richtung der Gaststätte. Die Angst er könnte bereits abgereist sein, trieb sie unermüdlich trotz ihrer beißenden Erschöpfung voran. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde jeden Moment aus ihrer bebenden Brust springen, als sie endlich vor dem ländlichen Gasthaus ankam, in dem noch in einigen der Zimmer helles Licht brannte. Im Innern des Hauses, begann sich ihr Herz noch zusätzlich zu verkrampfen, da sie die lieblichen Klänge von Sherlocks Geigenspiel vernahm. Sie lächelte bitter darüber, dass solch harmonische Musik, gleichzeitig einen unerklärlichen Schmerz in der Seele auslösen konnten. Dasselbe galt für Alberts Klavierspiel. Jene Instrumente spielten wahrlich die Melodie der Seele. Sherlock befand sich in ihrem Zimmer, anstatt in seinem eigenen, wo ihr Gepäck noch immer so ordentlich dastand, wie sie es bei ihrer Ankunft dort abgestellt hatte.

„Wir haben uns beide ganz schön verspätet. In vielerlei Hinsicht… Was hältst du davon, wenn wir den `Schottland-Fall` offiziell als gescheitert anerkennen? Akzeptieren wir, dass wir uns in London heimischer fühlen und daher Heimvorteil haben. Es ist alles nur eine Frage der Sichtweise, um mit einer Niederlage fertig zu werden. Doch du kannst einiges an gesammelter Erfahrung mit nach Hause nehmen. Seien es auch zum größten Teil negative. Stärke beweist du erst dann, wenn du nicht zulässt, dass sich das Böse in deinem Herzen manifestiert. Sage mir, was ist das für ein Gefühl, mit den eigenen Händen getötet zu haben? Es zerreißt dich innerlich und wird dir in so manch einer Nacht den Schlaf rauben…“, kam eine dezent barsche Begrüßung seitens Sherlock, wobei er sein Geigenspiel abrupt beendete. Doch ein Blick in seine müden Augen verriet ihr, dass er mit herausfordernden Schuldgefühlen und Sorgen zu kämpfen hatte. Miceyla schluckte voller Unbehagen und da sein Scharfsinn wieder einmal allem voraus war, fiel ihr es unsagbar schwer, die geeigneten Worte zu finden.

„Ich…Sherlock…ich…“, stammelte sie nur von einer emotionalen Gefühlswelle gepackt und versuchte sich dennoch zusammenzureißen, nicht vor ihm in Tränen auszubrechen.

„Ist schon gut… Das war mehr ein Tadel an mich selbst, kennst mich doch. Hättest du den Mann nicht ermordet, wärst du jetzt vermutlich selber tot. Und egal ob du meinen Weg oder den eines Verbrechers folgst, es läuft alles auf dasselbe Resultat hinaus… Was geschehen ist, ist geschehen. Wie ich immer sage, solange du nach vorn blickst und dir selber treu bleibst, bist du mental in einem gesunden Gleichgewicht.“ Sherlocks Stimme bekam auf einmal einen beruhigenden Nachklang. Und um seiner Erleichterung Ausdruck zu verleihen, dass ihre Entführung noch einmal glimpflich ausgegangen war und um sie zu trösten, drückte er sie sanft an sich. Für einen kurzen Moment schloss Miceyla die Augen und genoss die friedliche Idylle.

„Wir sind wohl beide etwas deprimiert darüber, dass nicht allzu viel aus unserem gemeinsamen Abenteuer in Schottland geworden ist. Doch ich bewahre mir die Vorstellung, wie es hätte sein können. Träumen ist manchmal noch schöner, als die Wirklichkeit zu erleben…“, flüsterte sie lächelnd und wäre am liebsten auf der Stelle eingeschlafen, um jene Träume erleben zu dürfen. Aber Sherlock löste sich schneller als gedacht von ihr, nicht nur um sie wachzuhalten, sondern auch damit er selbst nicht die Zeit vergaß.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass du dir nun ein näheres Bild davon machen konntest, was Harley Granville für ein Mensch ist. Der Mann stellt sogar für meine Wenigkeit, eine nicht zu verkennende Herausforderung dar. Allerdings sollten wir dieses Thema nicht hier und jetzt zu sehr vertiefen. Viel wichtiger… Schau mal, was ich gefunden habe. Achte mal zukünftig darauf, was du an öffentlich zugängliche Orte rumliegen lässt… Und ich habe alles gelesen…“ Mit diesen Worten hielt er ein handliches Buch, mit einem golden-lilafarbenen Einband in die Höhe. `M-mein Tagebuch…! D-das…das wird lediglich ein Test sein… Er hat ganz bestimmt nicht mal einen Blick hinein geworfen. Wenn ich mir jetzt auch nur einen Funken Nervosität anmerken lasse, ist alles aus und vorbei… Bleibe gelassen… Zwar handelt es sich dabei nur um eine Fortführung meiner alten Bücher, doch das darin Geschriebene reicht aus, um ihm die komplette Wahrheit zu offenbaren. Wie dumm und leichtsinnig von mir, es einfach so bei meinem Gepäck unbeaufsichtigt gelassen zu haben. Mittlerweile müsste es für mich längst zur Routine geworden sein, an jedes kleinste Detail zu denken. Dies ist unerlässlich, denn sonst…zerbricht die wohl wertvollste Freundschaft meines Lebens viel zu frühzeitig…`, dachte Miceyla und kämpfte darum, ihren Schock unbemerkt hinunterzuschlucken.

„Du liebst es, andere in eine emotionale Bredouille zu bringen. Deine Methode der Analyse, könnte man auch als psychische Folter bezeichnen. Da kannst du dich mit William zusammentun, aber das weißt du ja. Und du hast kein einziges Wort davon gelesen. Bei dem Einbruch in meine alte Wohnung, hast du auch meine Privatsphäre akzeptiert. Warum sollte es also heute anders sein? Ich vertraue dir und du mir. Wenn wir uns etwas Wichtiges zu sagen haben, findet sich mit Sicherheit der passende Zeitpunkt und der richtige Ort dafür.“ Miceyla schaffte es wacker, sich vor Sherlock gefühlsneutral zu behaupten und schnappte sich ihr Tagebuch. `Du würdest mich niemals anlügen wollen… Darum frage ich dich, handelt es sich bei William James Moriarty um den Meisterverbrecher?`, richtete er die entscheidende Frage in Gedanken an sie und bei einem langen Moment des Schweigens, ruhte sein eindringlicher, dennoch sanftmütiger Blick auf ihr. Obwohl er der Wahrheit nachjagte, hemmte es ihn so sehr Miceyla jene Frage zu stellen, dass er sich fast dafür grämte.

„Hast du schon mal darüber nachgedacht, es zu veröffentlichen? Nicht gleich morgen, sondern wenn du der Meinung bist, einen umfangreichen Lebensabschnitt hinter dir zu haben. Ein jeder kann etliche Geschichten erfinden, doch dein wahres Leben ist am lesenswertesten. Soll nicht heißen, dass du deshalb deine ausgedachten Erzählungen abbrechen sollst, sie sind sehr außergewöhnlich und besitzen viel Tiefe. Doch welche junge Frau wagt es schon, ihre Sichtweise von einem kriminellen London, welches von einem strengen Klassensystem beherrscht wird, mit der Welt zu teilen? Glaube mir, dadurch wird eine Welle durch die Bevölkerung wandern, die nach und nach jeden mitreißt, selbst die Obrigkeit. Und bei der heldenhaften Autorin handelt es sich um eine Adelige, die zuerst an ihre Mitmenschen denkt, anstatt sich selbst. Kannst es dir ja einfach mal durch den Kopf gehen lassen“, teilte er seinen spontanen Einfall mit ihr und lächelte sie mit einem Augenzwinkern an. `Mein Tagebuch veröffentlichen… Was für eine verrückte Idee. Aber er hat damit nicht ganz Unrecht. Was wird schon noch von mir übrig bleiben, sobald ich eines Tages nicht mehr existieren sollte. Doch wenn jeder mein turbulentes Leben lesen könnte, bleibe ich in den Herzen der Menschen unsterblich…` Miceyla war so sehr in Gedanken vertieft, dass sie verschreckt zusammenzuckte, als Sherlock einmal laut in die Hände klatschte.

„Der Zug wartet! Alles bereit machen zur Abreise! Jetzt müssen wir erstmal dem lieben Schottland Lebewohl sagen. Doch wer weiß, ob und wann wir uns abermals hierher verirren… Ich trage dir noch dein Gepäck nach unten, dann werden wir beide ebenfalls vorerst voneinander Abschied nehmen, bis das Rad des Schicksals sich in London weiter zu drehen beginnt.“, läutete Sherlock munter ihren Aufbruch ein. Sie verkniff sich ihm vorzuschlagen, gemeinsam zum Bahnhof aufzubrechen, da sie ohnehin denselben Zug nehmen würden. Zwar war sie ein wenig über ihre stetig wachsende Distanz voneinander enttäuscht, aber sie wollte sich auch nicht wie ein trotziges Kind aufführen und vernünftig bleiben.

„Deine Rasselbande ist dich ja brav abholen gekommen, daher ist meine Aufgabe als dein Geleitschutz wieder einmal beendet. Jedoch… Beim nächsten Mal werde ich meinen Job besser machen. Das ist ein Versprechen, präge es dir gut ein, Mia.“ Um seine betonenden Worte noch mal zu unterstreichen, blickte er mit seinen glänzend dunkelblauen Augen tief in die ihren und kam ihrem Gesicht dabei kurz so nahe, dass sich ihre beiden Nasenspitzen beinahe berührten. In dem überraschenden Moment, schoss eine für sie undeutbare Gefühlswelle durch ihren Körper, die ihr jedoch auch neue Kraft und Mut schenkte…
 

„Lächerlich… Hauptsache du kannst dich daran ergötzen, dich über mich lustig zu machen,,,“ Clayton war dank seiner hart antrainierten Fertigkeiten, vollkommen unbemerkt in das riesige und gut bewachte Parlamentsgebäude eingedrungen. Dennoch ärgerte er sich darüber, dass er jenes Dokument, viel zu einfach aus einem Tresor in Harleys Büro hatte entwenden können. `Du rechnetest damit, dass ich diesen riskanten Part übernehmen würde. Bei dem Schreiben könnte tatsächlich niemand genau sagen, ob das darin geschriebene der Wahrheit entspricht oder bloß frei erfunden ist, um einen Bürgeraufstand heraufzubeschwören. Aha…! Und das ich ein Komplize der Moriartys sein soll, steht noch dick unterstrichen mit dabei. Mich durch den Dreck von anderen zu ziehen…da krieg ich echt einen Würgereiz… Ich als Einzelkämpfer, erschaffe auf meiner eignen Bühne meisterliche Verbrechen. Ihr werdet schon sehen, die Marionetten in diesem Stück seid ihr und nicht ich…` Clayton richtete sich von Groll und Missgunst gepackt, zu seiner vollen Größe auf. Er verbrannte das Dokument über den brennenden Kerzen eines Kerzenständers und blickte wie in Trance die flackernden Flammen an. Knarzend öffnete sich die Bürotür und anstatt an eine Flucht zu denken oder eine Waffe zu zücken, starrte er die hereingetretene Person im dämmrigen Licht unverwandt an.

„Ich grüße dich, kleiner Bruder. Auch heute noch liebst du das Versteckspiel und fürchtest dabei nicht die Klinge im Nacken. Und ich muss dich beglückwünschen, du führst das erfolgreichste Theater von ganz London. Doch was würde dein Vater wohl dazu sagen, dass du deine Kariere als Physiker hingeschmissen und die Laufbahn eines herumalbernden Schauspielers gewählt hast?“ Niemand anderes als Harley war hereingetreten und warf ihm augenblicklich giftige Worte an den Kopf. In Clayton begann die Wut sogleich nur so zu brodeln und er war drauf und dran, sich in der Gegenwart des von ihm meistgehassten Mannes selbst zu vergessen. Er atmete trotzdem ruhig und behielt den starken Willen, sich nicht von ihm provozieren zu lassen.

„Mein Vater…hat immer gewollt das ich glücklich werde. Er wäre stolz auf mich gewesen, egal welchen Weg ich gewählt hätte…“, konterte er beharrlich und funkelte Harley hasserfüllt an.

„Glücklich? Danach siehst du mir aber nicht gerade aus. Clay, du bist wahrlich zart besaitet, trauerst deiner verlorenen Vater- und Jugendliebe noch immer nach. Es wird wohl erst mit meinem oder deinem Tod enden… Und nun sind wir allein, das müsste dir doch ganz gelegen kommen“, sprach Harley mit einem aufgesetzten Lächeln und breitete seine Arme nach beiden Seiten hin aus. Die Geste hatte beinahe etwas von einer kapitulierenden Beute, welche sich freiwillig dem Raubtier darbot. Jedoch mit listigen Hintergedanken. Clayton zeigte daraufhin aber nur ein kühles Grinsen und tastete mit der rechten Hand lässig auf seinen Degen.

„Sehr verlockend und zuvorkommend. Doch ich bin kein Narr, Harley. Es wird nicht nur nach deinen Karten gespielt. Und ich erkenne eine Falle, wenn man mir eine stellt, insbesondere deine eigene… Zudem wird es nicht irgendein Degen sein, welcher dich durchbohrt, sondern der Degen meines Vaters. Dies wird dann auch der letzte Einsatz jener Waffe sein. Solange darf sie noch gut verwahrt schlummern… So, ich habe erledigt weswegen ich herkam, dann verflüchtige ich mich wieder“, verkündete er mit einer bewundernswerten Selbstbeherrschung und schritt seelenruhig an Harley vorbei, welcher keinerlei Anstalten machte ihn aufzuhalten und regungslos auf der Stelle verharrte. Mit dem Rücken zu ihm gewandt, blieb Clayton allerdings noch einmal kurz stehen.

„Und mal so nebenbei… Das du nicht mit deinen eigenen Händen tötest, sondern andere dazu bringst es selbst zu tun, ist bloß eine weitaus brutalere Art des Mordens. Wenn dir tatsächlich vorschwebt einen Krieg herbeizuführen, bei dem du genüsslich dabei zusiehst, wie die Menschen sich gegenseitig abschlachten, brauche ich keinen einzigen Finger krumm zu machen, um dich aufzuhalten. Denn sieh dich vor, die Moriarty lauern in den Schatten, während du glaubst mit ihnen bloß zu spielen. Und für uns beide wird der Tag kommen, an dem wir unser allerletztes Duell ausfechten werden…“, fügte er abschließend hinzu und entfernte sich nun, dabei blickte er kein einziges Mal mehr zu seinem größten Feind zurück. Auch Harley hielt seinen Blick geradeaus gerichtet und zeigte ein gutmütiges Lächeln.

„Mögest du an jenem Tag so stark geworden sein, dass du es schaffst mich zu übertreffen…“

War Clayton in Harleys Gegenwart gelassen und selbstbeherrscht gewesen, so drohte nun in ihm ein Sturm auszubrechen. Zähneknirschend und nur halb bei Sinnen, entfernte er sich schnellen Schrittes vom Parlamentsgebäude.

„Clay…! Da bist du ja endlich! Ich war schon kurz davor einzuschreiten. Hat Harley…“ Amelia stieß in einer Seitengasse auf ihn und stellte voller Erleichterung fest, dass er unverwundet war. Geistesabwesend betrachtete Clayton sie flüchtig und lief dennoch geradewegs an ihr vorbei.

„Was suchst du hier?! Lass mich einfach in Ruhe… Geh zurück zum Waisenhaus. Das ist nur zu deinem Besten“, blaffte er und besaß keinerlei Nerven mehr für eine längere Konversation.

„Bitte… Es ist nicht gut, wenn du genau jetzt alleine bist und dich im stillem Kämmerlein verkriechst… Dies fördert nur finstere Gedanken. Ich weiß…wie du dich im Moment fühlst…“, gab Amelia nicht so leicht klein bei und sprach weiter einfühlsam auf ihn ein. Plötzlich blieb Clayton stehen und seine sonst so gutherzigen Augen, blickten ihr mit einer solchen Düsternis entgegen, dass sie erschauderte.

„Ich habe gesagt du sollst verschwinden! Du weißt rein gar nichts! Und ich habe niemals um dein Mitgefühl gebeten!“ Nach seinen gereizten Worten marschierte er unbeirrt weiter. Amelia bekam das unangenehme Gefühl, der Boden würde ihr unter den Füßen entrissen werden, wodurch sie jeglichen Halt verlor. Es war nicht nur sein unfreundlicher Tonfall, der ihr das Herz zerriss, sondern zu sehen wie er in stiller Einsamkeit litt und sich die Dunkelheit immer weiter in ihm auszubreiten begann, bedeutete für sie mehr Schmerz als alles andere. Und hinzu kam ihre unverändert starke Zuneigung ihm gegenüber, die ihr Herz fest im Griff hatte. Mit müden Beinen sackte Amelia zu Boden, hielt sich eine Hand vor die Augen und weinte bitterlich.
 

Der Zug erreichte endlich den Bahnhof von London und Miceyla musste sich eingestehen, dass sie froh war wieder im vertrauten Umfeld zu sein, als sie mit William und den anderen auf den Bahnsteig trat. Der ihr wohlbekannte Lärm und Geruch vermittelte ihr den Eindruck, ein unsichtbarer Schutzwall würde sie umgeben. Auch ein so schönes Land wie Schottland, besaß seine Tücken und konnte erbarmungslos sein. Diese Lektion hatte sie nun gelernt. Miceylas Körper meldete ihr, sich nach den ganzen Strapazen einmal richtig auszuruhen, wo sie nicht mal während der langen Zugfahrt Schlaf gefunden hatte. Doch sie musste vorher noch etwas für ihren Seelenfrieden erledigen, um Gewissheit zu haben. Denn nicht zu wissen, wie eine ungeplante Konfrontation zwischen Clayton und Harley ausgegangen war, da sie jetzt über beide Seiten Bescheid wusste, ließ ihr keine Ruhe.

„Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Nur zu gut verstehe ich, dass dich die ganze Sache nun umso mehr beschäftigt. Rede am besten direkt mit Clayton. Noch ist er emotional angegriffen und lässt sein wahres Wesen durchscheinen. Morgen kann er bereits wieder seine perfekte Maske aufgesetzt haben“, zeigte William sich überraschend verständnisvoll, der wie immer mit Leichtigkeit ihre Gedanken erraten konnte.

„Vielen Dank, Will.“ Miceyla war erleichtert, dass ihrem Vorhaben nichts im Wege stand.

„Na fein, zu einem weiteren kleinen Abstecher, kann ich mich auch noch aufraffen“, meinte Moran daraufhin geduldig, der sich ohne Aufforderung dazu bereiterklärte, sie abermals zu begleiten.

„Nein Moran. Miceyla, du darfst unter der Bedingung Clayton aufsuchen, wenn `ich` dich dorthin begleite“, wiedersprach ihm Albert mit einem dezent überheblichen Tonfall und sie konnte nicht verhindern, bei seinem leicht verruchten Lächeln eine Gänsehaut zu bekommen. `Ich verstehe ja… Wenn ich mich schon so demonstrativ darum bemühe, alles auf Anhieb zu erledigen, muss es auch wirklich `alles` sein…`, dachte Miceyla verlegen und seufzte, dass sie nun zu keiner sinnvollen Ausrede mehr ausweichen konnte, um ein Gespräch mit Albert unter vier Augen, noch etwas länger hinauszögern zu können. Miceyla wollte zwar selbst Antworten, doch falls diese mit ihren Vermutungen übereinstimmten, wollte sie erst mal nichts davon wissen, was nicht gerade ihre Probleme löste. Sie wollte zuerst ihr Glück beim Waisenhaus versuchen, ob Clayton sich dort aufhielt. Während der Kutschfahrt verlor Albert jedoch noch kein einziges Wort über Harley und ihre Entführung. Er schien zu wollen, dass Miceyla zuerst mit Clayton alles ausdiskutierte, ehe er selbst unangenehme Themen zur Sprache brachte. Sie schämte sich beinahe dafür, dass er zu jeder Zeit eine beispielhafte Rücksicht auf sie nahm. Trotzdem ermahnte sie sich dazu, sich nicht zu sehr von seiner charmanten Art umschmeicheln zu lassen. Nur zu gut wusste sie um die verführerische Gefahr Bescheid, welche ihnen auflauerte, sollte sie schwach werden. Zügig verließ Miceyla bei ihrer Ankunft die Kutsche. In weniger als einer Stunde würde es dämmern und eine weitere durchwachte Nacht lag hinter ihr. Als sie Amelia zusammengekauert auf den Stufen zum Waisenhaus entdeckte, eilte sie geschwind zu ihr.

„Amelia! Du siehst todunglücklich aus… Ich vermute Clayton hat seinen Frust an dir ausgelassen. Dafür bekommt er von mir ordentlich eins auf den Deckel! Er bezeichnet sich selbst als einen Verfechter der Frauenrechte, doch wenn es drauf ankommt, verletzt er sie nur. Dieser miese Heuchler… Das Herz eines liebenden Mädchens ist am sensibelsten, dessen müsste gerade er sich bewusst sein. Hach… Aber ich danke dir für deine offenherzige Hilfsbereitschaft und Kooperation mit uns. Und es stört mich nicht im geringsten, dass du die Dunkelheit kennst, wie Fred dies tut. Keiner muss sich für den Weg, welchen er gewählt hat rechtfertigen“, sprach Miceyla tröstend und nahm daraufhin ihre jüngere Freundin sanft in den Arm. `Ich schließe daraus, dass Clayton sich momentan nicht im Waisenhaus aufhält. Das Theater ist auch nicht gerade der geeignetste Zufluchtsort, wenn man alles und jedem aus dem Weg gehen will. Dann bleibt nur noch ein Ort übrig, an dem er sich verkrochen haben könnte…`, überlegte sie dabei im Stillen.

„Ach Miceyla… Ich bin mein Jämmerliches Dasein doch selber schuld. Manchmal würde ich mir am liebsten mein Herz aus der Brust reißen. Doch ich schwor mir am Leben zu bleiben, egal wie viele Qualen ich ertragen muss. Aus Dank…für Claytons Rettung an jenem Tag. Und so nehme auch ich nun etlichen das Leben, um es anderen zu schenken, die es wirklich verdient haben. Wir beide sind unter schwierigen Lebensbedingungen aufgewachsen, aber das macht uns ganz besonders stark, nicht wahr? Ich bitte dich…versuche Claytons brodelnden Rachedurst etwas zu beschwichtigen, denn ich bin zu zaghaft wenn es um ihn geht“, bat Amelia glücklich darüber, dass Miceyla wohlbehalten zurückgekehrt war und bemühte sich um ein zaghaftes Lächeln.

„Du kannst dich auf mich verlassen! Wir halten schließlich zusammen, egal wie rebellisch die Welt um uns herum ist. Lege dich aber bitte jetzt erstmal etwas schlafen. Du weißt doch, Schlaf ist die beste Medizin gegen jeglichen Kummer“, versprach Miceyla und blickte mit einem zuversichtlichen Gesichtsausdruck, in ihre wunderschön rehbraunen Augen.

„Danke, tausend Dank. Und…ach, nicht so wichtig. Viel Glück und hoffentlich sehen wir uns bald wieder, wenn sich alles einigermaßen beruhigt hat“, dankte Amelia ihr voller Güte und schien noch etwas sagen zu wollen, behielt es allerdings dann doch für sich. Nachdem Miceyla sich von Amelia verabschiedet hatte, lief sie zu dem an der Kutsche wartenden Albert zurück.

„Scheint mir, als wären wir noch ein Weilchen länger unterwegs. Magst du nicht doch lieber eine kleine Pause einlegen und durch einen erholsamen Schlaf neue Kraft und Tatendrang sammeln, wie du es deiner Freundin geraten hast?“, hob er lächelnd mit leicht schiefgelegtem Kopf an, der anscheinend mit einem Ohr ihrer Unterhaltung gelauscht hatte.

„Schlafen…kann ich noch lange genug wenn ich tot bin…“, erwiderte Miceyla kühl und stieg noch vor ihm in die Kutsche. Albert blickte kurz etwas erstaunt drein, doch kurz darauf formten sich seine Lippen zu einem dämonischen Lächeln.

„Gewiss… Das werden wir alle…“ Miceyla teilte dem Kutscher ihren neuen Zielort mit. Und obwohl sie kaum noch Kraft in den Beinen besaß, legten sie noch ein gutes Stück zu Fuß zurück. Ihr Herz begann aufgeregt zu pochen, als sie beide dann endlich vor Claytons Turm standen. `Er ist hier, das kann ich spüren…`, dachte sie und blickte entschlossen hinauf zur Turmspitze.

„Ich werde hier unten warten. Zwanzig Minuten sollten genügen, ansonsten komme ich rauf. Und sollte Clayton erneut handgreiflich werden, geht es dem Suppenkasper an den Kragen. Er ist schon einmal zu weit gegangen. Ein weiteres Mal toleriere ich das nicht ohne gerechte Konsequenzen“, versicherte Albert ihr halb als sarkastischer Scherz, halb ernsthaft.

„Danke für deine Unterstützung! Aber vorher knöpfe ich mir unseren gerissenen Langfinger einmal selbst vor. Bis gleich.“ Zielstrebig lief sie auf die Eingangstür zu, welche nicht einmal abgeschlossen war. `Tja mein Guter, da brauchst du dich auch nicht zu wundern, wenn man dir die Bude einrennt…`, dachte sie amüsiert, um ein wenig ihre innere Anspannung zu lockern und stieg die lange Wendeltreppe bis ganz nach oben empor. Oberhalb angelangt, betrat sie sein eigens errichtetes Wissenschaftssammelsurium, welches aus etlichen alten Fachbüchern und skurril aussehenden Gerätschaften bestand. Clayton stand an der geöffneten Balkontür angelehnt und blickte zum tristen, wolkenverhangenen Himmel hinauf, als würde er dort nach Sternen suchen.

„Sieh an, wer da aus dem schmutzigen Abgrund hinausgekrabbelt kommt. Ein Vogel dem man die Flügel ausgerissen hat, wird niemals mehr fliegen und sich in die Lüfte erheben können. Gib es also auf…“, begrüßte er sie kühl mit einer Metapher und schien ebenfalls das Blut, welches nun an ihren Händen klebte, vor seinem geistigen Auge zu sehen. Miceyla erwiderte nichts auf seine zweideutigen Worte, sondern schritt stattdessen hastig auf ihn zu und verpasste ihm mit ihrer rechten Hand eine heftige Ohrfeige, um ihrer Wut Luft zu machen. Ohne ihr auszuweichen, ließ Clayton es geschehen und lächelte sie mit ausgezehrter Miene an.

„Das hat gut getan, nur mehr davon“, meinte dieser ironisch.

„Oh ja, das hat es in der Tat, du alter Masochist! Das war für die gedemütigte Amelia. Wenn du dich nicht anständig bei ihr entschuldigst, setze ich beim nächsten Mal nicht nur meine Hand ein…“, warnte sie ihn beharrlich.

„Und? Was gibt es so Dringliches, dass du mich nach deiner Rückkehr, direkt als erstes in London aufsuchst? Meine Mission war erfolgreich, das Dokument existiert nicht mehr. Und Harley wird sich aus Bequemlichkeit nicht die Mühe gemacht haben, ein Duplikat anzufertigen, also darfst du deine Bedenken ruhig abschütteln. Denke außerdem nicht daran, auch nur ein Wort über Harley zu verlieren. Von dir will ich nichts über ihn hören. Spar dir zu glauben, dass deine ach so guten Menschenkenntnisse, während der kurzen Zeit die du mit ihm verbracht hattest, etwas genützt haben. Derjenige der seine wahre Natur kennt, bin einzig und allein ich. Er ist ein Monster, mehr habe ich zu diesem Ungetüm nicht zu sagen. Na los, krieche wieder rasch in dein behagliches Nest zurück. Die Dornen werden dich noch früh genug durchbohren…“, versuchte Clayton sie auf unliebsame Art abzuschütteln und schien wahrhaftig kurz davor zu sein, die Fassung zu verlieren. Miceyla ließ sich kein bisschen von seinem kratzbürstigen Verhalten in die Flucht schlagen und verdrehte nur lächelnd die Augen. Er benahm sich wie ein sturer Junge, der aufgrund seines Stolzes alles abstritt und sogar die Wahrheit nicht akzeptieren würde, selbst wenn es ihm die Vernunft befahl.

„Rachegedanken und traumatische Erlebnisse, nisten sich im Herzen ein wie ein blutsaugender Parasit. Davon kann ich ein Liedchen singen… Ja, Harley ist ein Monster, das werde ich garantiert nicht abstreiten. Aber du und ich sind es ebenfalls, bloß auf eine andere Art. Wäre es denn wirklich so dramatisch, bevor du ihm den Kopf abschlägst, dir einmal seine komplette Geschichte anzuhören? Ja, es macht seine schrecklichen Taten nicht ungeschehen. Und ja, du wirst auf Teufel komm raus an deinem Rachefeldzug festhalten. Aber Harley spricht stets die Wahrheit und ist ein Feind von Lügen. Zudem steckt in ihm mehr Menschlichkeit, als in etlichen verdorbenen Adeligen, die du links liegen und am Leben lässt. Du würdest mich jetzt sicher am liebsten, für meine gerade gemachte Aussage erwürgen. Doch wenn ich es nicht mal ausspreche, wird es niemand jemals tun“, sprach Miceyla mutig und behielt dennoch das Fingerspitzengefühl, um seine verletzte Seele nicht allzu sehr zu kränken. Clayton biss verärgert die Zähne zusammen und schlug mit seiner geballten Faust, dicht neben ihrem Gesicht gegen die Wand.

„Wage es nicht…mir Harleys gekünstelte Gutherzigkeit aufschwatzen zu wollen… Dieser Mann hat mir rein gar nichts mehr zu sagen. All die Jahre des Schweigens waren aussagekräftig genug. Und freue dich nicht zu sehr darüber, mit dem Leben davongekommen zu sein. Harley war es die Mühe nicht wert…da du und William…sowieso ohne sein Zutun krepieren werdet!“, blaffte er voller negativer Emotionen gepackt und schien sie mit seinem finsteren Blick, in die Verbannung schicken zu wollen. Miceyla war über seinen ausartenden Wutausbruch geschockt, sie erkannte ihn kaum wieder. Oder besser gesagt war sein Verhalten, ohne aufgesetzte Schauspielkünste ungewohnt. Doch sie merkte auf Anhieb, dass sich dahinter noch so viel mehr verbarg, als bloßer Hass und Zorn. Sie entdeckte darunter auch Enttäuschung und Selbstzweifel. Clayton ließ seinen Arm wieder sinken und blickte kurz mit einem Hauch deprimierter Niedergeschlagenheit zu Boden.

„Harley…hat deine Willenskraft auf die Probe gestellt…und getestet, wie stark das Band zwischen dir und William ist. Er…hat dich und deinen Charakter anerkannt. Aus diesem Grund bist du jetzt noch am Leben. Wenn…Lydia nur die Hälfte deiner Stärke besessen hätte, dann wäre sie vermutlich jetzt ebenfalls noch unter den Lebenden. Er hat es geschafft sie und mich zu brechen. Doch du und William habt ihn auf Granit beißen lassen und seid nun möglicherweise aus dem Schneider. Dafür…hasse und bewundere ich euch beide gleichermaßen. Ha, ha, mir ist wahrlich selbst nicht mehr zu helfen, ich gebe es ja zu“, sprach Clayton zunehmend einsichtig und ließ seinen Blick wieder hinausschweifen. Miceyla schüttelte verständnisvoll den Kopf.

„Unsinn, Lydia ist sehr stark gewesen. Es gehört eine Menge Mut dazu, sich vor seinem Geliebten und der eigenen Mutter zu opfern. Ihr wart jung und hattet kaum die Chance, den strengen Regeln der Erwachsenen etwas entgegenzusetzen. Und genau dieses Übel werden wir bekämpfen, die Unterdrückung der Schwächeren. Auch ich werde mir als Frau von keinem Mann vorschreiben lassen, was ich darf und was nicht. Die Welt mit all ihren Möglichkeiten, sollte für jeden gleichermaßen zugänglich sein. Dazu gehört auch die eigene Entscheidung, mit demjenigen zusammen zu sein, den man wirklich liebt und der barrierefreie Zugang zu jeglicher Art von Bildung, gleichgültig ob man aus ärmlichen Verhältnissen oder einer Adelsfamilie mit gutem Ruf stammt. Eine perfekte Gerechtigkeit wird es niemals geben, aber zumindest das Klassensystem wie es seit geraumer Zeit existiert zu zerstören, wird den Weg in eine unabhängige Zukunft ebnen. Diese Einstellung habe ich mir nicht aufschwatzen lassen, es ist mein persönlicher Entschluss, das Ziel dieses Plans zu erreichen und dabei mitzuwirken. Leid und Trauer bleiben dabei nicht aus, doch die Hoffnung, Freundschaft und nicht zuletzt die Liebe, stellen sich dem entgegen“, wiederholte Miceyla voller Stolz ihre eigenen Ideale. Clayton lächelte als Antwort auf ihre kühnen Worte und fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch die Haare.

„Ihr seid mir schon welche, eine gerechte Welt erschaffen wollen, von der mit aller Wahrscheinlichkeit niemand von uns mehr etwas mitbekommen wird, ist entweder der blanke Wahnsinn oder unübertreffbar ehrenhaft. Aber weißt du Herzchen, ich respektiere dich und Williams Truppe. Und das dieser Respekt auf Gegenseitigkeit beruht, ist wohl kein Geheimnis. Gib nur darauf acht, dass du auf deiner steinigen Reise, nicht dein eigenes Herz belügst. Es gibt schwere Schritte, die kannst nur du allein gehen und niemand sonst. Und ich entschuldige mich aufrichtig bei dir, für meinen ungehaltenen Tonfall. Amelia hat selbstverständlich ebenfalls ein paar wiedergutmachende Worte verdient. Jetzt aber Abmarsch heim, sonst fällst du mir hier noch vor Erschöpfung um und dann werde ich von deinem reizenden Begleiter massakriert. Wir sehen uns im Theater, meine Liebe. Dort präsentieren wir dem Publikum weiterhin ein Stück mit aufgesetzter Maske, welches der Sünde eines Teufels gleicht…“ Claytons versöhnende Ansprache, besegelte das Ende ihrer kleinen Auseinandersetzung und Miceyla lächelte ihn zufrieden an.

„So ist es, die Bühne wird immer unser Schlachtfeld bleiben. Dann lass uns der Sünde gerecht werden, auf das unsere Feinde vor uns auf die Knie fallen und wir das Schwert der Gerechtigkeit über sie richten lassen. Die Hoffnung schlummert in unseren Träumen, drum dürfen wir sie zu keiner Zeit ignorieren.“ Plötzlich fühlte sich ihr Herz um einiges leichter an und sie stieg mit einem guten Gefühl die Treppe des Turms hinab. Die eigenen Probleme und Sorgen direkt auszudiskutieren, fühlte sich erleichternd und richtig an. Miceyla verließ Claytons Zuhause und trat ins Freie. Kurz innehaltend, atmete sie die erfrischend frühmorgendliche Luft ein und blickte zu dem wartenden Albert, dessen warmherzig smaragdgrün funkelnde Augen, sogleich sanft auf ihr ruhten. `Nun denn… Die nächsten Fragen warten darauf beantwortet zu werden…`, dachte sie in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen und begab sich gemeinsam mit ihm zurück zur Kutsche. Er hakte nicht einmal nach, wie ihr Gespräch mit Clayton verlaufen war und konnte sich dies scheinbar, anhand ihrer ausgeglichenen Gemütslage erschließen. Nun war es wohl an ihr, das unerträgliche Schweigen zu brechen.

„Gehe ich recht der Annahme, dass du und Harley einen `Pakt` geschlossen habt, der dir die Gewissheit darüber gewährt, dass mir in dessen Gegenwart nichts zustößt, sofern die nötigen Voraussetzungen erfüllt sind? Ich bin nicht blind, Albert. Selbst wenn William dies wahrscheinlich gebilligt hat und eine Kooperation mit ihm aus eigennützigem Interessen sogar befürworten würde, bereitet mir das dennoch große Sorgen. Verrennst du dich da nicht in etwas und machst dich abhängig? Er ist dein Vorgesetzter. Du wirst dich nicht widersetzen können, sollte er etwas von dir verlangen, sonst ginge es auch uns allen an den Kragen…“, stieg Miceyla ohne Umschweife direkt in jenes Kernthema ein, welches nun im zentralen Mittelpunkt stand. Albert, welcher auf der Sitzbank neben ihr saß, richtete seinen Blick auf sie und lächelte gutmütig.

„Deine Scharfsinnigkeit ist wieder um ein gutes Stück ausgereifter geworden. Wäre da nur nicht deine ausbremsende Unsicherheit, die dich stets ein wenig blockiert. Doch gerade das finde ich unsagbar liebenswert an dir… Wir alle stehen hinter William und seinen Plänen. Aber jeder geht auf eigene Faust Risiken ein, die er ausfechten und bewältigen muss. Wie Individuen, die miteinander vernetzt sind. Das ich Harley nicht traue und ihn für einen zwielichtigen Menschen halte, wahr wohl ganz dezent gelogen. Ich sehe unglaublich viel von mir selbst in seiner Person. Besonders…seitdem ich dich kennenlernte. Manchmal öffnen einem neue Bekanntschaften die Augen. Klar, wir nutzen uns gegenseitig aus, doch solltest du wissen, dass wenn wir unsere Chancen bei ihm nicht verspielen, er die Bereitschaft und Macht besitzt, dir und mir trotz unserer ganzen verrichten Schandtaten, die Freiheit zu schenken. Natürlich widerstrebt uns beiden der Gedanke daran, aufgrund der bedingungslosen Treue zu Will…“, sprach Albert bemüht ehrlich und blickte sie mit einer solch sehnsuchtsvollen Miene an, dass sie sich fragte, worin sein wahres Streben nun wirklich bestand. `Da ist Harley nicht der Einzige… Mycroft erzählte ebenfalls etwas von Hilfe und Beistand, jedoch nur mir gegenüber. Ich finde allerdings, dass Mycroft in dieser Hinsicht eine vertrauenswürdigere Person darstellt. Schlage ich mich damit nicht automatisch auf die Seite von Sherlock…? Wenn es darauf ankäme, würde ich…` Sie kam nicht dazu, ihren Gedankengang zu Ende zu führen, da Albert direkt fortfuhr.

„Doch da dir nicht viel an deinem oder meinem persönlichen Glück liegt, müssen wir uns weiterhin in unseren Träumen verstecken. Denn das du dein eigenes Opfer bereitwillig akzeptieren würdest, hast du nun mehr als einmal überzeugend bewiesen. Mein Schutz scheint dir auch recht wenig zu bedeuten. Ich tat das alles ausschließlich für dich, was in deinen Augen lediglich überstürztes Handeln sein musste. Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zur Waffe zu greifen, wenn Harley mich an die Front schickt…“ Plötzlich bekamen seine Worte ein negatives Sinnbild und Miceyla wollte empört lautstark protestieren. Doch Albert legte zärtlich, dennoch nachdrücklich seine Hand auf ihren Mund und hinderte sie so daran. `Was redest du da bloß?! So emotional kenne ich dich kaum. Mit anderen Worten willst du behaupten, mir läge nicht viel an dir. Was für ein Unfug! Sind wir nicht eine Familie geworden, Bruder und Schwester? Ich würde niemals zulassen, dass du für Harley in den Kampf ziehst! Mit allen Mitteln werde ich dies verhindern!`, dachte Miceyla verzweifelt und aufgrund ihrer Müdigkeit, schaffte sie es nicht ihre Tränen zurückzuhalten.

„Ich schwor mir dein Lächeln zu beschützen und stattdessen bringe ich dich zum Weinen. Dabei habe ich ebenfalls versagt… Doch meine liebe Eisblume, eines wird sich unter keinen Umständen ändern. Denn ich werde niemals aufhören dich zu lieben, selbst wenn die Melodie unserer Herzen längst verstummt ist…“, flüstere er und drückte sachte seine Lippen auf seine Hand, welche sich noch immer auf ihren eigenen Lippen befand.

Endlich kamen sie beim Moriarty-Anwesen an und Miceyla betrat schweigend mit Albert an ihrer Seite, nach einer gefühlten Ewigkeit wieder ihr trautes Heim. Gleichgültig darüber, wohin Albert lief, schleppte sie sich mit ihren letzten Kraftreserven, die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Nichts anderes als schlafen hatte sie nach ihrer lange und anstrengenden Reise im Sinn, auch wenn gerade ein neuer Tag anbrach. Erschöpft drückte sie die Türklinke hinunter und sie sollte von einer weiteren Überraschung nicht verschont bleiben…

„Willkommen daheim, Liebling. Ruhe dich aus, solange du möchtest. Der nächsten Zeit, können wir etwas entspannter entgegenblicken, davon bin ich überzeugt. Die Wogen glätten sich für eine Weile. Darum habe ich eine Frage an dich, mit der ich besser nicht noch länger warte, sonst wird es dafür zu spät sein.“ William begrüßte sie warmherzig und sie freute sich schon darauf, nach ihren ganzen durchlebten Beschwernissen, endlich wieder Zeit mit ihm allein verbringen zu können. Langsam schritt er auf sie zu und nahm liebevoll ihre Hand.

„Wünschst du dir eigentlich Kinder?“
 

Liebes Tagebuch, 23.5.1880
 

ich werde all die gesammelten Eindrücke und Erfahrungen, welche ich in Schottland gesammelt habe, wie meine bisherigen einmaligen Erlebnisse, niemals mehr vergessen. Ich kann nur immer wieder betonen, jene besonderen Momente, ob sie nun gut oder schlecht waren, in das Herz zu schließen. Wer glaubt alles und jeden in seinem Leben gesehen und kennengelernt zu haben, irrt sich gewaltig. Es gibt unzählig viele Orte zu entdecken und etliche grundverschiedene Persönlichkeiten, die darauf warten getroffen zu werden. Unzufriedenheit und Eitelkeit entsteht häufig, wenn man keine Veränderungen in seinem eintönigen Alltag zulässt. Meistens liegt darin die Angst vor möglichen Verlusten zugrunde… Aber nichts bleibt auf Ewig bestehen, denn auch das Gestern und Heute schwindet mit jedem Tag und wir verlieren ein weiteres Stück Lebenszeit. Darum sollte jeder so leben dürfen, wie er es für richtig hält. Doch in der Realität, sieht das alles noch mal ganz anders aus, dessen bin ich mir bitterlicher Weise bewusst… Auch ich flüchte mich in Träumereien, die mich nur daran hindern, mein Leben in vollen Zügen zu genießen. Vielleicht beruhigt sich die Lage nach meiner Begegnung mit Harley, ja tatsächlich vorübergehend etwas. Mag es auch mal wieder nur die Ruhe vor einem aufkommenden Sturm sein, für eine ordentliche Verschnaufpause reicht es allemal. Aber sollten wir als Kameraden und Familie, nicht durch das ganze Elend fester zusammengewachsen sein? Denn ich habe den verunsichernden Eindruck, die Begebenheiten verkomplizieren sich eher. Ich muss ein Auge auf Albert haben. Und auch zukünftige Treffen mit Sherlock, werden nicht gerade einfacher. Doch bei alledem fällt mir nichtsdestotrotz auf, dass William und ich uns stets auf einer Wellenlänge befinden, egal welcher Sturm gerade um uns herum tobt. Unsere Verbindung scheint nichts und niemand auseinanderreißen zu können. Dies ist ein Zeichen, welches ich zu keiner Zeit außer Acht lassen sollte…
 

Sünde eines Teufels
 

Dein Gemüt so sanft und aufrichtig

Ich sah deinen reinen Willen, doch was war dir wirklich wichtig?

Willst du das dich die Teufel einen gefallenen Engel nennen?

Du wirst auf den pechschwarzen Abgrund zu rennen.
 

Überlegenheit führt nicht immer zu einem Ziel.

Auch das kluge Denken hilft nicht immer viel.

Am Ende sind es deine Gefühle, die dich ins Gewissen beißen

und dir deine funkelnde Krone entreißen.
 

Hast du meine Briefe denn jemals gelesen?

Es schmerzt, jedoch ist es die Wahrheit gewesen.

All die Verbündeten welche dir folgen wollten

Und meine falschen Freunde, die mich hintergehen sollten.
 

Akzeptiere auch mal die fremde Meinung,

für das Leben ist dies die wahre Eignung.

Lege all deine Waffen nieder

und begleite mich in die Tiefen der Hölle nie wieder.



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