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The Diary of Mrs Moriarty

von

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Lebloses Herz

Es gab ihn, den Klang der Stille. Sie vergriff sich an den allgegenwärtigen Tönen des Lebens. Kein Atemzug war dabei mehr zu hören, geschweige denn das Pochen eines flehenden Herzens. Die unumkehrbare Stille durchbrach den Fluss der Zeit und verharrte in einer Gegenwart, die es weder erlaubte in die Vergangenheit, noch in die Zukunft zu blicken. Auf jedem Schlachtfeld kehrte früher oder später Frieden ein. Spätestens dann, wenn der Tod die brüllenden Kriegsschreie verstummen ließ. Plötzlich schwindet er dahin, der Sinn der Gerechtigkeit. Wille und Reue streiten sich um die Vorherrschaft. Das einzige was am Ende eines jeden verzweifelten Gefechts übrig blieb, war ein lebloses Herz. Keine Eile oder Warten würde es mehr zum Schlagen bringen…

„Ich…ich habe einen Menschen getötet…“
 

Sherlocks ernste Miene wich einem lässigen Grinsen. Jedoch erkannte Miceyla sofort seine Müdigkeit, welche sich dahinter verbarg. Er musste stundenlang wachgelegen und sich bis aufs äußerste den Kopf über etwas zerbrochen haben. Mittlerweile hatten sich Albert und Louis zu ihr und William gesellt, während sich Moran und Fred weiterhin bei der Kutsche im Hintergrund hielten. Was mochte ihre Ankunft bei Tagesanbruch vor dem Anwesen, wohl bei Sherlock für einen signifikanten Eindruck hinterlassen? Selbst für einen Normalsterblichen wäre es zu verdächtig, dass eine komplette Adelsfamilie die ganze Nacht auf Achse gewesen war. Doch ein Meisterdetektiv kam mittels kleinster Hinweise, auf beängstigend realitätsgetreue Schlussfolgerungen. Und das in einer bannbrechenden Geschwindigkeit. Ein ganz natürliches Verhalten war nun ausschlaggebend, damit sie alle kein unglückliches Debakel erlitten.

„Ich hoffe, Sie stehen sich hier noch nicht allzu lange die Beine in den Bauch. Gehen wir doch hinein und setzen uns gemütlich bei einer Tasse Tee zusammen. Denn ich denke, dass wir alle Durst haben und uns erst mal in Ruhe auf den neuen Tag einstimmen wollen“, bot William Sherlock völlig unverfroren die Gastfreundschaft der Moriartys an, woraufhin man Louis klar und deutlich ansah, wie er sich einen unzufriedenen Widerspruch verkneifen musste.

„Freut mich zu hören, dass wir so spontan zu einer gemeinsamen Übereinkunft finden. Ist zwar nicht die feine englische Art, unangekündigt vor einem solch vornehmen Hause aufzukreuzen, doch mein versprochener Besuch war bereits besiegelt. Und wer von uns weiß denn schon, ob es so etwas wie ein nächstes Mal geben wird…“, erwiderte Sherlock daraufhin vollkommen unkonventionell und ließ ihre Ankunft bei Morgengrauen einfach links liegen, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren. `Es hat in vielerlei Hinsicht einen positiven Effekt, dass William und Sherlock beide vom Wesen her markante Exzentriker sind, die sich auf einer Wellenlänge befinden. Jetzt bin ich aber mal gespannt, was ihm so Gewichtiges auf dem Herzen liegt, dass er uns extra in aller Früh aufsucht`, dachte Miceyla und fühlte sich bei der ruhigen Atmosphäre schon ein wenig entspannter. Und wenigstens hatten sie bereits in der Kutsche ihre verschleiernden Umhänge abgelegt.

„Ich heiße Sie auch noch mal recht herzlich bei uns willkommen, Mr Holmes. Nun ist es ja bereits eine Weile her, seitdem wir das letzte Mal das Vergnügen miteinander hatten. Treten Sie ein und machen Sie es sich bequem“, begrüßte Alber ihren Gast offiziell, während er vorauslief und die Tür zum Anwesen aufschloss.

„Dann werde ich den Tee für uns vorbereiten…“, verkündete Louis, der zuvor noch Moran und Fred etwas leise zugeflüstert hatte. Sherlock warf einen prüfenden Blick auf die zwei `Bediensteten` und betrat jedoch kurz darauf mit einem gütigen Lächeln, zum Dank für die entgegenkommende Gastfreundschaft das Anwesen. Es war das wohl seltsamste Gefühl, das Miceyla je verspürt hatte, gemeinsam mit Sherlock ihr neues Zuhause zu betreten. Sollte er nun auch nur den kleinsten Hinweis vorfinden, würde sich ihm von jetzt auf gleich alles offenbaren. Doch glücklicherweise überließ William nichts dem Zufall, sodass sie in ihrem Anwesen zu jeder Zeit unangekündigte Gäste empfangen konnten. Und wie es keiner von ihnen anders erwartet hätte, musterte Sherlock jeden einzelnen Winkel vom Boden bis hin zu der Decke und verhielt sich als wäre er in einer Kunstausstellung. Im Gegensatz zu Louis, der entnervt ein finsteres Gesicht machte, musste Miceyla leise kichern.

„Mir gefällt wie Sie dieses Anwesen eingerichtet haben. Es besitzt sowohl etwas Schlichtes, als auch die markanten Vorzüge eines stattlichen Adelshauses. Und die Mischung aus beidem hebt die Einzigartigkeit des Anwesens hervor“, kommentierte er während seiner kleinen Erkundungstour. Jedoch entging ihm nicht, wie man ihn von allen Seiten einkesselte, um zu verhindern das sein Entdeckerdrang zu sehr ausartete. Im Wohnzimmer des Erdgeschosses ließen sie sich zusammen auf den Sofas und Sessel nieder und warteten darauf, bis Louis den Tee brachte und sich der Runde anschloss. Moran und Fred waren bei ihrem Gespräch nicht dabei.

„Ich wollte ja eigentlich meinen ersten Besuch bei Ihnen nutzen, um mich einmal richtig über gemeinsame Interessen austauschen zu können, Liam. Aus gegebenem Anlass, können wir jedoch leider nicht ganz so ungezwungen miteinander plaudern. Um es direkt auf den Punkt zu bringen, sitze ich momentan an einem Fall, der sich sowohl im Untergrund, als auch in der Obrigkeit gleichermaßen abspielt und zu einem unvorstellbar ausartenden Ausmaß in der Öffentlichkeit führen könnte. Es ist eine Angelegenheit, die für meine Wenigkeit allein nur schwer bewältigbar wäre. Und auf die Unterstützung meines Bruders, kann und will ich mich nicht verlassen. Daher wende ich mich vertraulich an Sie. Das unser werter Premierminister Harley Granville einen geheimen Komplott plant, dürfte Ihrem scharfen Verstand nicht entgangen sein. Er ist drauf und dran ein Zerwürfnis ins Rollen zu bringen, für welches das Wort Verbrechen nicht mehr ausreichend ist. Nun haben mich meine stundenlangen Recherchen und Spurensuchen zu einem Mann geführt, der als einziger noch lebender Mensch, über die Vergangenheit der Familie Granville Bescheid weiß und die Wahrheit über gewisse Intrigen innerhalb der Regierung, jeden Tag mit sich herumschleppt. Ich bin davon überzeugt, dass Harley sich seiner Existenz bewusst ist. Warum er diesen Mann jedoch am Leben lässt, kann ich noch nicht ergründen. Hinzu kommt, dass der Mann im Besitz eines Briefes von Harley Vater ist, welcher sowohl mächtig genug ist ihm seines Amtes zu entheben, als auch seinen Zielen den nötigen Antrieb zu verleihen. Jener unlogische Wiederspruch, macht den Inhalt des Briefes nur umso gefährlicher. Bis dato waren das die nötigsten, grundlegenden Fakten meines neuen angehenden Falls, der mehr Fingerspitzengefühl abverlangt als alle bisherigen“, schilderte Sherlock kurz und sachlich und brachte durch seine unerschütterliche Miene, die Motivation sich dieser wagehalsigen Sache anzunehmen zum Ausdruck.

„Dann gehe ich wohl richtig der Annahme, dass du jenen Mann nachstellen willst, du und John versteht sich. Und dafür benötigst du eine verlässliche Rückendeckung, falls etwas schiefläuft“, folgerte Miceyla deren Interesse geweckt wurde und sofort bei geheimen Informationen über Harleys lückenhafte Vergangenheit hellhörig wurde. William hörte seinen Schilderungen aufmerksam und mit Einsatz seines gesamten Scharfsinns zu. Dabei verzog er keine Miene und setzte die gerade erhaltenen Informationen, zu einer ganz eigenen Schlussfolgerung zusammen.

„Auch auf Johns Hilfe kann ich dieses Mal nicht zählen. Der ist nämlich auf Abwege geraten…“, berichtete Sherlock und verschränkte leicht beleidigt die Arme ineinander.

„Auf Abwege geraten? Was soll das denn bitteschön heißen? Ich kann mir keinen aufrichtigeren Menschen als John vorstellen“, platzte es daraufhin verwirrt aus Miceyla. Doch sie erhielt keine weiteren Erklärungen seinerseits.

„Nun hält Sie wohl nichts mehr davon ab, dem Mann welcher im Besitz der wohl kostbarsten Informationen über Graf Granville ist, ein Bein zu stellen. Und wohin soll die Reise gehen, wenn ich fragen darf? Denn in Ihrer oder unserer Nachbarschaft, scheint er sicherlich nicht auffindbar zu sein…“, hakte William mit vorrausschauendem Denken nach und nahm mit würdevoller Haltung, einen Schluck seines dampfenden Tees.

„Der Weg zu ihm führt mich in meine alte Heimat… Schottland… Greenock, um den Zielort etwas genauer einzugrenzen“, verriet Sherlock mit Augen, in denen sich die pure Nostalgie wiederspiegelte.

„Schottland?!“, wiederholte Albert und war sichtlich verblüfft darüber.

„Und nun? Was Sie gedenken wollen zu tun, ist mir durchaus bewusst, doch allmählich sollten Sie den wahren Grund verraten, weshalb Sie uns mit Ihrem unerwarteten Besuch beeren“, forderte William höflich, der seine Ungeduld mit einer unvergleichbaren Gelassenheit überspielte. Sherlock lehnte sich auf dem Sofa etwas nach vorn und sein unergründlicher Blick ruhte für eine Weile auf Miceyla, die gegenüber von ihm zwischen William und Albert saß. `Du verlangst doch nicht etwa von mir, dass ich…?!`, dachte sie wie erschlagen, als sich ihre Blicke trafen. Kurz darauf sprach er ihre Vermutung laut aus.

„Ich hätte gerne, dass Miceyla mich begleitet. Sie ist mittlerweile bestens gerüstet, für einen solch aufwendigen Fall. Was ja größtenteils Ihrem disziplinierten Schulungsprogramm zu verdanken ist. Während sie hier in London, den Spagat zwischen der Bühne und ihrer Schriftstellerkariere macht und nicht zuletzt sich an die ganzen adeligen Etiketten halten muss, rosten ihre feinfühligen Sinne. Und um dies zu verhindern, braucht sie auch mal Abwechslung und etwas frischen Wind in ihrem Alltag. Soll nicht heißen, dass ich Ihrem Leben Eintönigkeit vorschreibe, ganz im Gegenteil. Doch… Wenn man über aufregende Abenteuer schreiben will, sollte man sie wenigstens einmal vorher selbst erlebt haben. Schließlich soll die fesselnde Euphorie darüber, sich auch auf die unwissenden Leser übertragen, nicht wahr Mia?“, sprach er stichhaltig und zwinkerte sie lächelnd an.

„Ich bin ganz klar dagegen“, antwortete ihm Albert daraufhin eisern, jedoch war Sherlock selbstverständlich von einer derart verneinenden Reaktion, weder überrascht noch ließ er sich von der Autorität des Grafen einschüchtern.

„Miceyla hat gerade erst ihr eigenes Unternehmen gegründet und benötigt Zeit für den Aufbau und die Einarbeitung der Mitarbeiter. Sie wird hier in London gebraucht und zudem ist diese Reise ausgesprochen gefährlich und keiner von uns kann für ihre Sicherheit garantieren, während wir hier weiter unserem alltäglichen Leben nachgehen müssen. Und finden Sie es nicht etwas dreist, alleine mit einer verheirateten Ehefrau durchbrechen zu wollen? Sie sollten ab und zu mal darüber nachdenken, wann Sie zu sehr über die Stränge schlagen, Herr Meisterdetektiv“, fuhr Alber unbeirrt fort und bekam düstere Vorahnungen bei dem Gedanken, Miceyla in Sherlocks Obhut zu geben. Nicht weil er ihm misstraute, sondern weil er sich dadurch nicht mehr selbst von ihrem Wohlergehen überzeugen konnte. Für einige Minuten herrschte eine andächtige Stille. Sherlock sah von weiteren Überzeugungen ab, die er anscheinend nicht für nötig hielt, denn er wirkte so tiefenentspannt, als hätte er bereits sein Ziel erreicht. Auch Miceyla schwieg, sie wagte nicht ihre Meinung dazu zu äußern, geschweige denn eine voreilige Entscheidung zu treffen. William, der für eine Weile in sich kehrte und in aller Ruhe nachdachte, blickte Sherlock nun nachdrücklich mit seinen rubinroten Augen an.

„Was haben Sie geplant, wie viel Zeit der aufwendige Fall etwa in Anspruch nehmen soll?“

Albert sah bestürzt zu seinem Bruder und ahnte bei seinen Worten, dass er bereits einen Entschluss gefällt hatte. `Will…bitte sieh davon ab… Du magst ihren Willen stählern wollen, doch die Flamme deiner eigenen Entschlossenheit, wird dir am Ende nur selber unendliche Qualen bescheren…`, dachte er betrübt und würde dennoch niemals an dem zielorientierten Leidensweg zweifeln, den sie alle gemeinsam teilten.

„Zwei, höchstens drei Wochen, um die Geschichte in aller Gründlichkeit über die Bühne zu bringen. In vier Tagen würden wir aufbrechen. Wenn Wahrheit und Lüge geschickt kombiniert und eingesetzt werden, kann dadurch eine ganze Nation zum Umdenken angeregt oder sogar ein ganzer Krieg verhindert werden…“, beantwortete Sherlock Williams Frage und stellte gewieft dessen eigene Interessen in den Vordergrund, um ihm seinen neuen angehenden Fall weiter schmackhaft zu machen.

„Gut… Mehr Informationen benötige ich nicht. Wir werden Ihnen morgen unsere Entscheidung mitteilen. Ich bedanke mich für Ihren Besuch und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, den Sie hoffentlich produktiv zu nutzen wissen“, beendete William plötzlich völlig abrupt ihre frühmorgendliche Unterredung und Miceyla sah verwirrt mit an, wie sich alle von ihren Plätzen erhoben. `Sind wir jetzt etwa zu einer Einigung gekommen? Können wir nun wirklich einfach so wieder auseinandergehen? Schließlich geht es hier auch um mich!`, dachte sie entrüstet und hoffte, noch kurz ein paar Worte mit Sherlock allein wechseln zu können, ehe er verschwand. Denn es verbarg sich weitaus mehr in der ganzen Angelegenheit, so viel konnte sie trotz ihrer Müdigkeit herausfiltern.

„Ebenso. Sie sind alle schwer beschäftigte Leute, daher mag ich nicht länger Ihre wertvolle Zeit stehlen.“ Mit diesen abschließenden Worten, lief er lässig aus dem Raum in Richtung der Eingangstür, ohne sich noch einmal nach einem von ihnen umzublicken. Kopflos eilte Miceyla ihm nach und holte ihn bei der Tür ein.

„Sherlock! Du kannst jetzt nicht einfach gehen! Trefft eine wichtige Entscheidung ohne mich, als wäre ich Luft… Und was willst du tun, wenn du die verhängnisvolle Wahrheit in Händen hältst? Existiert sie überhaupt! Es könnte sich dabei bloß um weitere Lügen handeln“, hielt sie ihn unzufrieden zurück und spürte, wie sie aufgrund ihrer Erschöpfung langsam die Beherrschung verlor. Sherlock blieb stehen und drehte sich lächelnd zu ihr herum.

„Das stellt doch gar kein Problem dar. Denn ich werde die Lügen schlicht und ergreifend zu meiner Wahrheit machen…“ Ihr schmerzte das Herz, als er sie selbst zitierte und war nicht länger imstande, in sein unschuldig wirkendes Gesicht zu blicken.

„Miceyla!“ Albert kam herbei und zog sie sanft in seine Arme, um ihr tobendes Gefühlschaos etwas zu beschwichtigen.

„Komm, meine Liebe. Es wird Zeit, dass du dich ausruhst…“, flüsterte er einfühlsam.

„Vorher will ich aber noch mit Sherlock reden und zwar allein!“, entgegnete sie trotzig.

„Nein, nicht jetzt. In deinem aufgewühlten Zustand, ist das keine allzu gute Idee“, beschloss Albert weiter in einem ruhigen Ton.

„Mia, sei schön artig und verhalte dich so anständig, wie es sich für eine wohlerzogene Adelsdame gehört“, meinte Sherlock sarkastisch und verbarg seinen eigenen Ärger, dass es keine Gelegenheit mehr gab, um unter vier Augen mit ihr sprechen zu können. Frustriert ballte Miceyla die Fäuste zusammen und befreite sich aus Alberts Umarmung. Daraufhin rannte sie blindlinks die Treppe hinauf und vermied es noch einmal zurückzublicken.

„Miceyla…“, rief Albert ihr bekümmert nach und tauschte anschließend mi Sherlock Blicke aus, in denen sich etliche zwiegespaltene Gefühle miteinander vermischten.

„Ich werde Sie noch hinausbegleiten“, meinte William, der die Szene schweigend beobachtet hatte und zeigte zur Besänftigung der angespannten Stimmung, ein gütiges Lächeln. Wortlos lief er neben Sherlock den Weg zum Eingangstor entlang. Erst als sie dieses erreicht hatten, begannen sie ein Gespräch.

„Na wenigstens erhalte ich das Recht, mit Ihnen alleine sprechen zu dürfen“, sprach Sherlock murmelnd und zündete sich gelassen eine Zigarette an.

„Sie sind wahrhaftig ein überzeugender Schwindler. Eine glanzvolle Geschichte haben Sie sich da ausgedacht“, hob William mit einem schelmischen Grinsen an.

„In jeder Lüge steckt auch immer ein Funken Wahrheit. Wir wissen beide, wie es um Miceylas Sicherheit bestellt ist. Ihr Leben schwebt in größter Gefahr. Sie können Mycroft und Clayton dafür danken, die mir ein paar vorwarnende Informationen haben zukommen lassen. Fragwürdig ist nur, warum man es gerade auf eine unschuldige junge Dame wie sie abgesehen hat. Entweder Ihre Familie führt mit der Regierung, aufgrund Ihrer unterschiedlichen Einstellungen einen kalten Krieg. Oder aber ein gewisser Jemand versucht mit ihrem Tod, seinen größten Feind bloßzustellen. Den Meisterverbrecher…“, offenbarte Sherlock mehr von der eigentlichen Wahrheit.

„Und das man ihn noch vor Ihnen schnappt, passt Ihnen so gar nicht, ohne die wahren Absichten hinter seinen Verbrechen offenzulegen. Denn sonst würde er bloß als Schrecken in einer Legende verblassen. Und wieder einmal stellen Sie meine eigene Person auf die Probe. Eines versichere ich Ihnen aber, Miceylas Leben stelle ich über mein eigenes. Sie darf dem Kampf um die soziale Gerechtigkeit nicht zum Opfer fallen, eher er endet“, versicherte William ihm mit einer unnachahmlichen Beharrlichkeit. Sherlock blickte ihn kurz schweigend an und sah danach hinauf zum bewölkten Himmel, während ihm ein kühler Morgenwind in das Gesicht blies.

„Anders sollte es auch gar nicht sein. Ansonsten würde ich Ihre Liebe zu ihr infrage stellen. Halten Sie weiter an Ihren noblen Idealen fest, wenn es um Miceyla geht. Der Meisterverbrecher würde genauso handeln… Und übrigens existiert tatsächlich ein Fall, den ich in Schottland lösen will. Ich reise also nicht zum reinen Vergnügen dort hin“, verriet Sherlock noch und beide liefen ein Stück die Landstraße in Richtung Zentrallondon entlang, wo man etwas weiter entfernt eine kleine Droschke stehen sah, mit der er hergekommen war.

„Das habe ich mir gedacht. Es ist gut, wenn Miceyla sich einige Zeit außerhalb des

Geschehens von London aufhält. Unterdessen können wir die schändlichen Machenschaften hinter unserem Rücken aufdecken, dem entgegenwirken und die nächsten Schritte planen. Ich vertraue Ihnen somit Miceyla an. Auch…falls mir oder meinen Brüdern mal etwas zustoßen sollte. Und wenn Harley sich tatsächlich als der größte Bösewicht in unserem Land entpuppen sollte, haben wir einen gemeinsamen Feind“, sprach William beschließend, als sie bei der Droschke ankamen. Sherlock blickte ihn für einen Moment etwas misstrauisch an, jedoch konnte er sich wenige Sekunden später kein breites Grinsen verkneifen.

„Sie haben Glück, dass ich Sie gut leiden kann. Gibt nicht viele, die ich als angenehme Zeitgenossen bezeichnen kann. Und prima, dass die Entscheidung schon heute gefallen ist und ich nicht bis morgen warten muss“, meinte er noch zum Abschied, während er in die Droschke stieg und dem Kutscher mit einem Handzeichen zu verstehen gab, dass er losfahren durfte. William hatte es nicht eilig zum Anwesen zurückzukehren und beobachtete das Gefährt gedankenversunken, bis es nicht mehr zu sehen war.
 

Blinzelnd öffnete Miceyla die Augen und rieb sich ihren schmerzenden Kopf. Sie hatte bis zum Abend geschlafen und wäre am liebsten weiter im Bett liegengeblieben, wenn sie von ihrem hungrigen Magen nicht geweckt worden wäre. Mit schläfrigem Lächeln streichelte sie Luna und Lucy, die sich beide zu ihr gekuschelt hatten. Seufzend erhob sie sich von dem Bett und ließ die beiden Katzen in Ruhe weiterschlummern. Sie betrat ihr Ankleidezimmer und zog sich ein bequemes neues Kleid an. Als sie einen Blick in den Spiegel warf, bekam sie noch schlechtere Laune, sobald sie ihren grimmigen Gesichtsausdruck sah. `Reiß dich zusammen! Ich muss heute noch reinen Tisch machen, was die Sache mit der Reise nach Schottland betrifft`, zwang sich Miceyla dazu einen kühlen Kopf zu bewahren und holte einmal tief Luft. Nachdem sie sich noch ordentlich die Haare gekämmt hatte, verließ sie das Zimmer und lief gemächlich, den in einem besinnlichen Licht der Abenddämmerung getauchten Flur des Anwesens entlang. Die bittersüßen Klänge eines Klavierspiels schmeichelten ihren Ohren, als sie von Oberhalb das erste Stockwerk erreichte und sofort zog es sie in Richtung Alberts Arbeitszimmers.

„Eine starke Seele, die niemals den Mut verliert. Sie verteidigt das Schöne, Lebenswerte und ein Jeder bewundert ihre aufrichtige Eleganz. Und dennoch ist der kämpfenden Seele nach schreien zumute. Es verlangt sie danach, dass Hässliche, Ungerechte auf der Welt zu zerstören. Ein unaufhaltsamer Blutdurst, überschattet von der schmerzvollen Sehnsucht nach Liebe…“, erzählte sie leise eine passende Geschichte zu der lieblichen Melodie seines Klavierstücks und trat langsamen Schrittes näher an ihn heran.

„Ich muss mich für mein stures Verhalten von heute Morgen entschuldigen… Ich habe etwas überreagiert…“, gestand sie gedrückt und versuchte mit einem Blick in sein ausgeglichenes Gesicht zu ergründen, was ihm gerade durch den Kopf ging.

„Meine liebe Eisblume, nicht du solltest diejenige sein, die sich für den gestrigen Aufruhr entschuldigen muss… Was sind wir doch für garstige Unholde, welche ihr gesamtes Umfeld in Gefahr bringen und dich dabei mit verbundenen Augen, auf einen halsbrecherischen Drahtseilakt führen. Und trotz allen Leids, hältst du fest unsere Hand umklammert und beschreitest den Pfad stolzer und ehrenvoller als jeder Soldat den ich kenne…“, erwiderte Albert mit einem verruchten Lächeln auf den Lippen, welches verriet, dass seine eigene Würde mächtig genug war, um jede Sorge verschwinden zu lassen. `Wenn Sherlock tatsächlich an unserer statt zu deinem Retter werden sollte, wäre das wahrhaftig eine Schmach…`, dachte Albert noch verschwiegen mit verborgener Frustration.

„Nicht doch… Wer spricht denn davon, dass ihr mich blind ins Verderben führt? Ihr seid es gewesen, die mir erst richtig die Augen geöffnet haben und mir stetig neuen Mut zusprechen. Außerdem führt ihr mit mir ein Vertrauensverhältnis, welches ich bisher noch nie in meinem Leben zu irgendjemand hatte und das so stark ist, dass es jegliche Furcht überwinden kann. Ich werde erhobenen Hauptes Seite an Seite mit euch allen voranschreiten. Egal wo und bei wem ich mich auch befinden mag. Du weißt, wem meine Treue gilt…“, wiederholte sie noch einmal lächelnd die Manifestation ihrer Entschlossenheit. Albert stoppte sein Klavierspiel und erhob sich von seinem Hocker.

„Das du mit Sherlock eine Reise ins Ungewisse antrittst, gefällt mir dennoch ganz und gar nicht. Sicher, uns umgibt die Gefahr und die Lage wird sich zuspitzen. Doch jemand der etwas mit aller Kraft zu beschützen versucht, wird am Ende nur verlieren, was ihm lieb und teuer ist…“, sprach er melancholisch und strich ihr dabei sanft über das Haar.

„Ich kann deine Sorgen sehr gut nachvollziehen. Auch in mir tun sich etliche gemischte Gefühle auf. Aber du weißt, selbst wenn wir uns einmal für längere Zeit nicht sehen können, meine Briefe werden dich immer erreichen. Ich werde dich stets wissen lassen, wie es mir geht. Vertrauen wir einander, umso mehr wir über alles nachdenken, desto komplizierter sehen wir die Begebenheiten, mein lieber Bruder…“, meinte sie feinfühlig und nahm zur Unterstreichung ihrer Worte etwas gehemmt seine Hand.

„Natürlich, liebe Schwester… Jeden einzelnen deiner Briefe werde ich beantworten, auf das dein Kummer für alle Zeit verschwinden möge. Ich vertraue darauf, dass du nach jeder Reise, wieder mit einem freudigen Lächeln nach Hause zurückkehrst und ich dich in meine Arme schließen kann. Das gleiche darfst du selbstverständlich ebenfalls von mir erwarten. Wir sind füreinander da und werden uns bis zum bitteren Ende niemals im Stich lassen. Das Band unserer Familie ist stärker als alles andere…“, sagte er in einer Mischung aus Gefasstheit und Sinnlichkeit und drückte sie zärtlich an sich. Mehr brauchte es nicht, um ihr trübseliges Herz zu trösten. Miceyla schloss die Augen und genoss die Geborgenheit und Wärme, die von ihm ausging. Dabei versuchte sie dem Moment einem treffenden Gefühl zuzuordnen. War es bedingungslose Geschwisterliebe? Die Liebe innerhalb einer Familienbande, welche bislang eigentlich nur in ihren Vorstellungen existiert hatte? Jedoch floss nun mal nicht dasselbe Blut durch ihre Adern. Und zudem war es nicht die Liebe einer Schwester, welche er begehrte… Diese Tatsache konnte sie unmöglich ausblenden.

„Komm, du bist sicher hungrig und wir müssen auch noch einiges besprechen. Aber falls dir nicht wohl ist, verschieben wir das besser auf morgen“, meinte Albert ruhig und löste sich wieder von ihr. Lächelnd schüttelte sie daraufhin den Kopf.

„Nein, lass es uns direkt erledigen. Keiner von uns hält viel von Aufschiebungen, ganz besonders Will. Doch es stimmt, ich kippe gleich um, wenn ich nicht langsam mal etwas Gescheites zu Essen bekomme, ha, ha“ Somit lief Miceyla lachend voraus und verließ sein Arbeitszimmer. Albert rührte sich vorerst nicht von der Stelle und blickte ihr sehnsuchtsvoll hinterher. `Immer weiter entfernst du dich von mir. Verblasst, wie ein zart schimmernder Stern bei Morgengrauen direkt vor Augen… Drum kämpfe ich um eine ewige Nacht, in der unsere Träume wahr werden, meine geliebte Eisblume…` Mit diesem geheimen Gedanken, folgte er ihr hinunter in den Speisesaal.

„Aha, schau an! Da kommt ja unsere Langschläferin. Setz dich, kannst froh sein, dass ich dir noch was übrig gelassen hab, ha, ha“, meinte Moran lautstark, als er Miceyla erblickte und frech grinste.

„Hach… Bei dir braucht man Nerven wie Drahtseil. Moran, ich kenne keinen solch gefräßigen Vielfraß, der für zehn Mann mitisst…“, seufzte Louis mit einem angewiderten Blick, auf den ehemaligen Soldaten.

„Es ist reichlich da, keiner muss hungern. Aber bei den Portionen, die du vertilgst, darf ich bei dir auch doppelt und dreifachen Arbeitseinsatz verlangen“, kommentierte William die Debatte mit einem teuflischen Lächeln. Nach dieser sarkastischen Zurechtweisung, kratzte Moran sich leise pfeifend am Hinterkopf und blickte unbeteiligt in die Luft. Fred saß ebenfalls mit am Tisch und aß manierlich sein Abendmahl. Miceyla nahm mit Albert Platz und nachdem ihr Hunger einigermaßen gestillt war, sah sie William unvermittelt direkt in die Augen, welcher gegenüber von ihr saß, um ihm zu signalisieren, dass ihre Besprechungsrunde beginnen konnte.

„Heute Morgen haben wir alle einen leisen Vorgeschmack davon erhalten, wie gefährlich nah Sherlock der wahren Identität des Meisterverbrechers ist. Seine Zeit als Held im Rampenlicht, der uns, dass Böse, den Feind aller Klassen der Gesellschaft stellt, wird noch kommen. Wir schüren Hass beim Adel und den normalen Bürgern gleichermaßen. Nur so erreichen wir, dass beide Seiten sich zur Unterstützung die Hände reichen. Ewig können wir nicht die edlen Retter im Namen der Gleichberechtigung spielen. Wer hart durchgreift, muss auch mit unbarmherzigen Konsequenzen rechnen. Dies nur noch mal am Rande, für alle hier anwesenden…“, eröffnete William mit einem erinnernden Hinweis die Besprechung.

„Richtig… Und ich kann soweit zwischen den Zeilen lesen, dass Sherlock mich nicht aus einer Laune heraus mit nach Schottland schleppen will… Ihr braucht es mir nicht vorzuenthalten. Sprecht es ruhig aus. Man hat es auf mich abgesehen… Als das schwächste Glied in unseren Reihen, gebe ich ein bequemes Zielobjekt ab. Das erschüttert mich keineswegs, ich trage es mit Fassung. Sherlock malt sich in seiner Fantasie aus, was alles passieren könnte und erarbeitet sich im Voraus zig Lösungen, um für jede erdenkliche Eskapade gerüstet zu sein. Du wolltest es zuerst aus meinem Mund hören und herausfinden, wie geschärft meine Wahrnehmung für mein Umfeld ist, trotz des zunehmenden Trubels. Und ich versichere dir, von mir wird Sherlock nicht erfahren, wer der Meisterverbrecher ist, auch wenn wir mehr Zeit für vertrauliche Gespräche hätten…“, fasste Miceyla den Mut auszusprechen, welche Gefahr sich vermutlich langsam an sie heranzuschleichen drohte.

„Mein Liebling, bitte, es bedarf keinerlei Rechtfertigungen deinerseits. Die Entscheidung steht dir frei, mit Sherlock zu reisen oder hier bei uns zu bleiben. Auch ich kann momentan nur spekulieren, was man für ein geplantes Unheil über uns bringen will. Doch wer versucht uns mit gezogenem Schwert anzugreifen, wird in einer tiefen Fallgrube landen. Sicherheitshalber rate ich aber zu der Reise nach Schottland, da wartet bestimmt ein spannender Fall auf euch beide. Noch ist es dir erlaubt, sorglos Zeit mit dem quirligen Detektiv zu verbringen. Koste es aus… Der größte Teil deiner wertvollen Zeit gebührt uns, mache dir da keine Sorgen. Veränderungen sind der Grundstein eines idealen Systems der Geleichberechtigung. Du musstest dich bereits mit einigen Veränderungen anfreunden. Doch du wächst daran. Wer seine Chancen verspielt, dem entgeht die Möglichkeit ruhmreicher Entdeckungen, die sonst auf ewig verborgen hinter Schloss und Riegel blieben“, ermutigte William sie, der Reise mit mehr Selbstvertrauen entgegenzublicken. Miceyla setzte sich kerzengerade auf ihrem Stuhl hin, packte sich mit der rechten Hand auf ihr Herz und sah mit ihren funkelnd grünen Augen, in denen sich eine ernste Entschlossenheit widerspiegelte, einmal kurz in jedes ihrer Gesichter.

„Dann verkünde ich hiermit, mich Sherlock anzuschließen und nach Schottland zu reisen. Als eine Moriarty und ich werde wachsamer denn je sein. Und falls…“ Sie musste ihre Ansprache abrupt unterbrechen, da sie überhaupt nicht abwägen konnte, was sie tun sollte, wenn sie in Bredouille geriet und die Brüder für sie unerreichbar waren.

„Eben, es reicht nicht sich nur auf Sherlocks Geleitschutz zu verlassen. Falls ihm etwas zustoße, bist du ganz auf dich allein, in einer dir unbekannten Gegend gestellt. Wir werden wohl Fred für eine Weile ebenfalls hier in London entbehren müssen und ihn als unser wachsames Auge mit nach Schottland schicken. Keiner kann uns im Ernstfall so zügig Informationen übermitteln wie er. Fred, ich hoffe du bist mit diesem neuen Auftrag einverstanden“, beschloss William, um auf der sicheren Seite zu sein.

„Selbstverständlich. Ich würde mir auch zu große Sorgen machen, wenn Miceyla mit Sherlock allein reisen würde. Und ich werde sicherlich einiges bei der Gelegenheit herausfinden können“, willigte Fred sofort ein und schien sich in Gedanken bereits auf seine wichtige Mission vorzubereiten.

„Ach und Miceyla. Ich erklärte mich gerne dazu bereit, mich in deiner Abwesenheit um die Organisation des Katzenheimes zu kümmern. Verwaltungsangelegenheiten sind schließlich mein Spezialgebiet“, stellte Louis sich bereitwillig zur Verfügung und schien sich bereits auf seine neue Aufgabe zu freuen, denn er lächelte so voller Vorfreude wie ein kleiner Junge.

„Danke Louis, deine Hilfsbereitschaft weiß ich sehr zu schätzen. Bei dir ist das Haus in guten Händen und ich freue mich schon auf die Fortschritte, wenn ich wieder da bin“, dankte Miceyla ihm aufrichtig für seine Güte und war erleichtert, dass sie sich darüber keine Gedanken mehr zu machen brauchte.

„Du wirst wohl auch in nächster Zeit alle Hände voll zu tun haben, nicht wahr Albert?“, meinte Moran mit einem musternden Blick auf seinen Sitznachbarn, der ungewöhnlich schweigsam während der ganzen Unterhaltung war und auch wenig Appetit zu haben schien. `Ja… Es wird nicht leicht werden für Albert. Zwar hält er eine einflussreiche Position inne, doch ist er beim Militär und bei Regierungsangelegenheiten immer noch Harley untergeordnet und muss dessen Befehlen Folge leisten. Hätte Albert die Courage abzulehnen, wenn man ihn auf einen gefahrvollen Einsatz schickte, der im Gegenzug seinem militärischen Werdegang zugutekäme? Würde das überhaupt sein Stolz zulassen?`, überlegte Miceyla voller Besorgnis und sie wich verlegen seinem Blickkontakt aus, da sie befürchtete, dass er ihre Gedanken erraten könnte. Albert jedoch lächelte nur friedfertig und trank mit der Ruhe weg, genüsslich einen Schluck aus seinem glänzenden Rotweinglas.

„Frieden ist ein Geschenk, das man sich ausschließlich durch harte Arbeit verdienen kann. Als gestandener Soldat, kämpft man sich tagtäglich durch die härtesten Turbolenzen. Nur wer Durchhaltevermögen und Schläue beweist, erreicht im Zentrum des Sturms jenen Frieden und eine wohlverdiente Anerkennung. Abgesehen von wenigen Kameraden, die Freud und Leid mit dir teilen, ist die gesamte Welt dein Feind. So ist das nun mal. Und ein tadelloser Edelmann, dessen Ehre nicht beschmutzt ist, existiert lediglich in Mythen und Legenden“, sprach Albert, begleitet mit dezentem Hochmut. Und bei dem unberechenbaren Funkeln in seinen smaragdgrünen Augen, bekam Miceyla plötzlich eine Gänsehaut, da es beinahe das von Williams Augen übertraf.

„Ha, ha! Worte voller Willkür und ohne Gnade. Frauen fühlen sich zu düsteren und geheimnisvollen Männern hingezogen, das kann ich euch sagen!“, meinte Moran prahlend, woraufhin Louis und Miceyla ihm feindselige Blicke zuwarfen, allerdings amüsiert von dessen Unbekümmertheit mit ihm lachen mussten.

„Lasst uns anstoßen, treue Kameraden und Verbündete! Wie war das noch mal mit unserem Motto, Wirbelwind?“, sprach Moran feierlich einen Toast aus und hielt mit einem grinsenden Blick auf Miceyla sein Bierglas in die Höhe.

„Sag nicht, dass du es schon wieder vergessen hast. Dann muss ich wohl deinem alten Löcherhirn ein wenig auf die Sprünge helfen… `Vertreiben wir all das Böse…“, begann Miceyla neckend und hielt ihr eigenes Glas lächelnd hoch.

„…Und verhelfen der Welt zu rechter Größe!“, sprachen kurz darauf alle gleichzeitig und stießen schwungvoll ihre Gläser gegeneinander.

Während des restlichen Abends, plauderten sie nur noch vergnüglich über weniger ernste Themen und es herrschte eine lockere, ungezwungene Stimmung. Zwar war es bereits sehr spät, doch da Miceyla am Tag geschlafen hatte, war ihre Müdigkeit beinahe komplett verflogen und neue Energie kehrte in ihr zurück. Nachdenklich lief sie auf den Balkon hinaus und blickte hinauf zum dunklen Nachthimmel, bei dem sich all die leuchtenden Sterne, hinter einer dichten Wolkenfront verbargen.

„Du sagtest Zeit sei ein entscheidender Faktor, bei der Durchsetzung unseres Unterfangens. Jedoch, wer zu lange wartet und den Dingen ihren natürlichen Lauf lässt, wird von der Zeit überlistet und verliert sie letztendlich. Darum lass mich dir beweisen, dass sich selbst die Zeit überlisten lässt. Das Leben ist ein Spiel zwischen Gewinn und Verlust. Daher sollten Gesetze und Regeln für alle gleichermaßen gelten. Keiner sollte bevorzugt oder vernachlässigt werden. Und ich werde jegliche Gefahr, von der du bedroht wirst, restlos auslöschen. Unter keinen Umständen lasse ich zu, dass dir Leid wiederfährt, mein Liebling“, versicherte William ihr liebevoll, der sich zu ihr auf den Balkon gesellte und von hinten seine Arme zärtlich um sie legte und sich an sie schmiegte.

„Will, mein Liebster… Es ist sehr heimtückisch, den Fluss der Zeit beeinflussen zu wollen. Die Ruhe vor dem Sturm wäre für mich noch unerträglicher, hätte ich euch alle nicht an meiner Seite. Mit euch zu lachen spendet mir Trost und Wärme. Ich wünsche mir, mit Sherlock zusammen Abenteuer erleben zu dürfen, mich unbekümmert in die Freiheit zu stürzen. Gleichzeitig wünsche ich mir aber auch die wertvolle Zeit, welche ich unterdessen mit euch verbringen könnte, nicht zu verlieren. Es wäre gelogen, wenn ich behauptete keine Angst vor Harley Granville zu haben. Doch am meisten fürchte ich mich davor, dass tatsächlich in naher Zukunft ein Krieg ausbricht…“, vertraute sie ihm offenherzig an und genoss dabei die Wohltat, sich gegen ihn zu lehnen und seine beruhigende Wärme zu spüren. William, der wie immer vollstes Verständnis für ihre Bedenken hatte, schwieg für eine Weile, ehe er wieder langsam von Miceyla abließ und ihr mit einem Lächeln bedeutete ihm hinein zu folgen.

„Ich möchte dir schon jetzt etwas geben, dass dich auf deiner Reise begleiten und beschützen soll.“ Neugierig worum es sich dabei handelte könnte, lief sie mit ihm ins Schlafzimmer, wo er bereits auf einer großen Kommode, einen länglichen Gegenstand abgelegt hatte, der in einem dunkelblauen Samttuch eingewickelt war. Er öffnete das Tuch an einer kupferfarbenen Schnur und zog einen silbern glänzenden Degen daraus hervor. Während sie vor Erstaunen die Augen weit aufriss, hielt er ihr den Degen entgegen, damit sie sich die majestätische Waffe näher betrachten konnte. Sogleich entdeckte sie das Familienwappen der Moriartys, welches im Griff eingraviert worden war.

„Du hast genug Übungsstunden hinter dir, um eine echte Klinge bei dir zu tragen und dich im Ernstfall verteidigen zu können. Und ein Degen ist wesentlich handlicher als dein keltisches Schwert. Du wolltest es heimlich mitschleppen, stimmts?“, meinte William grinsend und legte den Kopf etwas schräg. Miceyla errötete vor Verlegenheit, dass sie mal wieder von ihm ertappt worden war.

„Ähm… Ich hätte es eher als eine Art Glücksbringer gesehen… Aber vergessen wir das! Du machst nun endlich den Schritt und überreichst mir eine Stichwaffe, die ich ebenso wie Schusswaffen einsetzen soll. Das gibt mir schon etwas zu denken…“, sprach sie ehrfürchtig und konnte dennoch nicht wiederstehen, den Degen einmal selbst in die Hand zu nehmen und aus nächster Nähe zu betrachten.

„Das soll nun nicht bedeuten, dass du die Schusswaffen komplett damit ersetzen sollst. Du entwickelst dich dank Morans Training, mehr und mehr zu einer herausragenden Schützin. Doch du hast zu viele Hemmungen, wenn du eine Pistole in Händen hältst. Und diese könnten dich im Zweifelsfall das Leben kosten. Daher musst du jenes Risiko überwinden und eine Waffe deines Vertrauens bei dir tragen. Den alten Degen der Familie Moriarty, darfst du nun dein Eigen nennen. Sieh ihn als einen Teil von mir an, der immer bei dir sein und dich beschützen wird…“, sagte William leicht wehmütig und strich ihr mit einem Blick, der sie am liebsten nicht gehen lassen würde, sanft über die Wange. `Treffe deine eigenen Entscheidungen, meine geliebte Winterrose. Du kannst frei sein, wenn du nur den richtigen Weg wählst. Es steht mir nicht zu dich zu fesseln und an ein düsteres Schicksal zu binden. Jedoch sind unsere Herzen längst unzertrennlich miteinander verbunden. Ich glaube dabei versagt sogar jegliche Vernunft. Allerdings...sind sogar die stärksten Gefühle manipulierbar… Denn sonst zerstören wir uns nur beide…`, dachte William besonnen und dennoch melancholisch.

„Danke für den Degen und dein Vertrauen. Nun weiß ich, dass ich der Reise nach Schottland voller Zuversicht entgegenblicken kann“, dankte sie ihm und schöpfte mit der Waffe in ihrer Hand neuen, erwartungsfreudigen Mut.

Am nächsten Tag hatte Miceyla den Eindruck, dass die Zeit schneller als gewöhnlich verflog. Es gab einiges zu erledigen. Allem voran musste sie Clayton mitteilen, dass sie für eine Weile abwesend war und nicht im Theater auftreten konnte.

„Ihr reist also nach Schottland… Welch Ironie, der tollkühne Gegenspieler befreit das Vöglein für begrenzte Zeit aus seinem Käfig. Doch Obacht meine Teuerste, in der Wildnis dort draußen lauern heimtückische Gefahren, bei denen dein Liebster nicht imstande ist, seine schützenden Hände über dich zu halten… Nichtsdestotrotz muss ich anmerken, dass Schottland ein sehr schönes Land ist. Ein Ort voller Tradition und märchenhafter Natur. Dort ist die Welt noch in Ordnung, weit weg von der Hektik Londons. Zumindest teilweise trifft dies zu. Räuber und böse Schurken, wirst du in jedem Winkel dieser Welt antreffen. Lange Rede kurzer Sinn… Das Ableben von Scott Widley ist auf euren Mist gewachsen, dies ist sonnenklar. Macht weiter so und Harley wird euer kleines Imperium dem Erdboden gleichmachen. Es kümmert mich recht wenig, solange meine Rache dabei nicht zu kurz kommt. Und trauriger Weise muss ich hinzufügen, dass du bei Sherlock keinen verlässlichen Schutz vorfinden wirst. Bei dem Kampf den wir kämpfen, haben wir zu jeder Stunde eine geladene Knarre im Rücken. Harte Worte, schmerzhaft und doch entsprechen sie der bitteren Realität, welcher wir nicht entfliehen können. Das Leben ist eine einzige Hetzerei, nur um es früher oder später mit dem Tod abzuschließen. Ach, da hörst du es wieder mein liebes Vöglein, ich alter Dramatiker! Bevor einer von uns vorzeitig den Löffel abgibt, sollten wir alle ein fantabuloses Stück aufführen. Die Vorstellung aller Vorstellungen, etwas das die Welt noch nie zuvor gesehen hat. Dieses aus unseren Träumen entsprungene Arrangement, müssen wir uns noch erfüllen! Doch gut Ding will Weile haben, he, he…“, sprach Clayton leicht vergnüglich, leicht schwermütig, als Miceyla sich alleine mit ihm in einer der Umkleidekabinen des Theaters befand.

„Ha, ha, man kann bei dir nur darüber Rätselraten, ob du nun ein Optimist oder ein Pessimist bist. Aber die Mischung aus beidem passt perfekt zu deiner wandelbaren Gestalt. Ich weiß…das du viel zu eigensinnig bist, um mit William jemals ein Bündnis einzugehen. Nur bitte ich dich inständig darum, nicht mehr zu zerstören als notwendig. Dein Herz mag ein Scherbenhaufen sein, aber wir alle tragen tiefe Wunden in uns. Und manche davon können dennoch in naher oder ferner Zukunft geheilt werden. Aber weil jemand ein unglückliches Dasein fristet und sein Leben am liebsten beenden würde, heißt das nicht, dass auf denjenigen keine glücklicheren Zeiten warten und er die Meinung vom Wert des Lebens von Grund auf ändert. Eine rein rhetorische Spekulation… Denke immer an Amelia, ihr soll auch das Glück wahrer Liebe zuteilwerden“, erinnerte Miceyla Clayton bemüht freundlich daran, seine Dramaturgie nicht zu sehr ausarten zu lassen. Kurz blickte er lächelnd zu Boden und lief etwas entspannt im Raum umher, als würde er spazieren gehen.

„Man sagt jeder sei für sein eigenes Glück verantwortlich. Jedoch ist es in Wirklichkeit viel mehr von den Menschen abhängig, die uns umgeben. Das wissen wir zwei beide am besten. Wie dem auch sein…Dein werter Will schickt sicherlich einen adretten Spitzel mit nach Schottland, um die Lage dort rund um die Uhr auszukundschaften. Dann spiele ich mal den stupiden Nachmacher und ahme es ihm nach. Ist ja nicht so, als würde mich die ganze Sache nichts angehen. Und schon mal darüber nachgedacht, dass die Gefahr euch auch auf eurer Reise folgt? Aber gut, den Feind aus der Reserve locken und dann zuschnappen ist ebenfalls eine Option. Und als Sahnehäuptchen obendrein, mag ich dich schon einmal darauf hinweisen, dass euer friedvoller Haussegen bald gewaltig schief hängen wird. Denn bei euch sind nicht alle einer Meinung. Besonders was dein Bündnis mit dem aufrichtigen Detektiv angeht… Doch Schluss mit dieser alten Laier! Du besitzt eine besondere Gabe, darum nutze sie auch. Mehr ist dem nicht hinzuzufügen, Eine angenehme Reise wünsche ich und kehre in einem Stück wieder zurück. Du und dein Engelstimmchen werden hier noch gebraucht. Adieu!“, kamen seine abschließenden Abschiedsworte, gefolgt von einer tiefen Verbeugung.

„`Lass uns kühn zu den Waffen greifen. Brechen wir auf in der Abenddämmerung und stürmen die feindliche Basis. Laben wir uns an der Verzweiflung des Feindes und lehren wir sie jene Angst, welche sie uns zuvor gelehrt haben. Wir werden in die Geschichte eingehen als gefürchtete Helden, ohne Namen, doch mit Stolz und Ehre. Wir wollten bloß unsere Träume leben und die Freiheit spüren, wird alles sein, was sie von uns zur Verteidigung zu hören bekommen.` Dieses Zitat aus einem deiner Stücke, ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben und wird mich auf meiner Reise begleiten. Bis bald, Clay“, verabschiedete Miceyla sich lächelnd und war trotz seiner angesprochenen Zweifel, voll zuversichtlichem Selbstvertrauen. Clayton ließ ihre Worte unkommentiert, setzte sich elegant seinen Zylinder auf und verließ die Umkleidekabine mit einem geheimnisvollen Lächeln.

Wieder daheim im Anwesen, legte Miceyla sich auf das Sofa im Wohnzimmer und dachte daran, dass sie bereits in zwei Tagen mit Sherlock nach Schottland reisen würde. Noch am Abend wollte sie schon mal alles Nötige zusammenpacken. Und am morgigen Tag, stünde ihr noch eine allerletzte vorbereitende Trainingseinheit mit Moran bevor. Sie musste sich eingestehen, dass der Gedanke, Fred als indirekte Ansprechperson in ihrer Nähe zu haben, sie unheimlich beruhigte.

„Oh! Du bist ja schon wieder zurück. Erzähl mal wie Clayton reagiert hat. Er wird jetzt bestimmt im stillen Kämmerlein seine Pläne umstrukturieren, da wir nun ebenfalls mit Harley zu schaffen haben“, erkundigte William sich nach ihrem Gespräch, als er gemeinsam mit Louis das Wohnzimmer betrat. Miceyla blieb die Gelegenheit verwehrt, ihm eine ausführlichere Antwort darauf zu geben, da sich plötzlich die Eingangstür des Anwesens öffnete. Sie blieb weiterhin entspannt auf dem Sofa liegen, weil sie damit rechnete, dass Albert etwas früher nach Hause kam. Jedoch betrat er das Anwesen nicht alleine…

„Einen schönen Nachmittag den Herrschaften. Da komme ich ja gerade richtig zur Teezeit. Da mir heute keine Verpflichtungen mehr bevorstehen, habe ich mich zur Abwechslung einmal einladen lassen. Ich denke niemand wird hier etwas dagegen haben.“ Sofort richtete Miceyla sich blitzschnell auf, als sie die markante Stimme von Mycroft erkannte und wäre in dem Moment am liebsten im Erdboden versunken. Es war ihr unheimlich unangenehm, ihm bereits so kurz nach ihrer Konfrontation wieder gegenüberzutreten. Und das auch noch im Anwesen zusammen mit den drei Brüdern. `Erst Sherlock und nun sein Bruder… Die beiden ähneln sich doch in manchen Bereichen ganz schön. Aber Mycroft ist imstande, mein Verhalten in einer mir vertrauten Umgebung, noch wesentlich akribischer zu analysieren als Sherlock…`, dachte sie mit einem unbehaglichen Gefühl.

„Wir waren heute ohnehin geschäftlich verabredet, daher war ich seinem Vorschlag nicht abgeneigt, auf eine Tasse Tee noch kurz bei uns vorbeizukommen“, erklärte Albert zuvorkommend die Situation von Mycrofts spontanen Besuch, wobei sie ganz genau seine Unzufriedenheit darüber, hinter seiner wohltäterhaften Miene erkennen konnte.

„Es freut mich, Sie hier bei uns begrüßen zu dürfen, Mr Holmes. Machen Sie es sich bequem. Ein Mann in Ihrer Position, gönnt sich schließlich nur selten ausgiebige Pausen“, hieß William ihren Gast offenherzig willkommen und bedeute ihm mit einer eleganten Handbewegung Platz zu nehmen.

„Wohl wahr, es wäre sehr anmaßend, mich so häufig auf die faule Haut zu legen wie mein kleiner Bruder, ha, ha. Aber es gibt nun mal Leute, die hohe Ansprüche an ihren inspirierenden Ansporn haben. Stimmen Sie mir da zu, Mrs Moriarty?“, begann Mycroft sogleich ungekünstelt ein Gespräch und wandte sich mit einem kühlen Lächeln an Miceyla. Sie zögerte damit zu lange, ihm eine passende Antwort zu geben, deshalb schwieg sie nur und lächelte vornehm zurück. Innerlich stritt sie dabei mit sich selbst, weshalb sie sich in der Gegenwart dieses Mannes, wie ein kleines Mauerblümchen verhielt. Denn warum fiel es ihr so leicht, sogar mit einem rauen Gesellen wie Moran, einen lockeren Umgang zu pflegen?

„Ich darf doch William zu Ihnen sagen? Sie haben einen ausgezeichneten Ruf als Professor

in der Fakultät für Mathematik. Man hört nur Gutes über Sie und keine einzige Klage. Und Lady Miceyla, Ihr eigener Erfolg kann sich ebenfalls sehen lassen. Für eine junge Adelsdame, haben Sie bereits Ihr Talent in vielerlei Bereichen unter Beweis gestellt. Und Ihre größte Hingabe und Leidenschaft gebührt dem Schreiben. Sie nutzen die Macht der Wörter, um Ihre eigenen Vorstellungen Gestalt annehmen zu lassen und zu Papier zu bringen. Es dient gleichzeitig der Flucht vor der grausamen Wirklichkeit, als auch der direkten Auseinandersetzung mit ihr. Wer viel schreibt so wie Sie, sieht die Welt und alle Menschen mit ganz anderen Augen, tiefgründiger, detailreicher. Es steckt praktisch eine kleine Detektivin in Ihnen, die unauffällige Dinge in ihrem Alltag beobachtet, welche für jene festgefahrene Gesellschaft verborgen bleiben. Es geht nicht bloß darum, dass die Leser begreifen müssen, was man mit seinen Worten auszudrücken versucht. Nein, man verschenkt einen winzigen Teil des eigenen Vorstellungsvermögens und gibt ihn an andere weiter. Und das Resultat dadurch sind neugeborene Ideen. Was ich damit sagen will ist, wer den ersten Schritt wagt bewegt sein Umfeld und hat sogar die Kraft es zu verändern. Und Sie Lady Miceyla, haben genau die richtige Familie gefunden, um solch weitreichende Möglichkeiten ergreifen zu können. Das war kein Zufall, ähnlich denkende Menschen ziehen sich an“, beschrieb Mycroft ohne einmal zu unterbrechen ihren träumerischen Eifer und sie konnte nicht verhindern verblüfft dreinzublicken. Er war in der Lage, das Wesen seines Gegenübers so peinlich genau zu beschreiben, als hätte er vorher alles auswendig gelernt. Und im Gegensatz zu Sherlock schien er Wohlwollen dafür zu empfinden, dass sie in die einflussreiche Familie Moriarty eingeheiratet hatte. Was im Wiederspruch zu ihrem nächtlichen Gespräch in der Kutsche stand. Oder aber er wollte dabei verborgen ausdrücken: `Nicht nur bei William, auch an Sherlocks Seite, hättest du deine Fertigkeiten in vollen Zügen ausleben können.` ´Was für ein Unsinn, Mycroft weiß doch selbst am besten, wie unnahbar sein Bruder ist`, dachte Miceyla leicht amüsiert. Aber was ihr ganz scharf ins Augenmerk stieß war, dass sein Interesse dem Anschein nach nur ihr galt und er William, Albert und Louis beinahe vollständig außen vorließ, als wären sie gar nicht da.

„Was halten Sie von einer kleinen Partie Schach?“, schlug Mycroft dann ganz urplötzlich vor, während er seinen frisch zubereiteten Tee genoss und sich pudelwohl zu fühlen schien.

„Schach?! Mit mir? Ähm… Dagegen wäre ich zwar nicht, aber ich gebe für Sie nicht gerade einen fordernden Gegner ab. Es wird für Sie sicher langweilig, wenn der Gewinner bereits im Voraus feststeht“, erwiderte Miceyla bescheiden und blickte ihn perplex an. `Ein Schachduell zwischen ihm und William wäre weitaus unterhaltsamer, ha, ha`, dachte sie und versuchte sich diese Szene der beiden beim Schach spielen bildlich vorzustellen.

„Iwo mein Fräulein. Es existiert kein vergleichbareres Spiel, bei dem man die Charakterzüge seines Gegenübers so gut kennenlernen kann wie beim Schach“, meinte Mycroft daraufhin unterstreichend, ohne locker lassen zu wollen.

„Sehen Sie sich vor, Miceyla hat einen unserer Bediensteten bereits des Öfteren beim Schach gequält und er musste einige Niederlagen einkassieren“, warnte ihn William lächelnd und warf ihr einen belustigten Blick zu. `Ha, ha, du meinst Moran. Naja, ich habe es tatsächlich einmal geschafft ihn schachmatt zu setzen. Aber er ist wirklich ein nicht zu unterschätzender Gegner`, dachte Miceyla amüsiert und dachte an jene Herausforderung zurück, während William ein Schachbrett zwischen ihr und Mycroft auf dem Tisch platzierte.

„Wohlan, der erste Zug gebührt Ihnen“, eröffnete Mycroft mit einem gelassenen Lächeln ihr kleines Duell und ließ sie beginnen. Es war ihr bewusst, dass längere Überlegungen vor ihren jeweiligen Spielzügen völlig überflüssig waren, denn er würde aus allem einen Vorteil ziehen. Da halfen ihr auch die spärlichen Tricks nichts, welche sie von William gelernt hatte. Sie bemühte sich trotzdem, ihr vorausschauendes Denken so gut wie nur möglich einzusetzen, um eine souveräne Figur beim Spielen abzugeben. Mycroft kommentierte keinen ihrer Züge und verschwendete selbst keine Zeit für längere Denkpausen und betrachtete stets ruhig das große hölzerne Schachbrett, mit den filigranen Figuren. Auch sie konzentrierte sich voll und ganz auf das Spiel und ließ sich nicht ablenken. Wenn sie darauf geachtet hätte, ob Albert oder William ihr mittels schweigenden Gesten Hinweise geben wollten, um zu zeigen das sie auf der richtigen Fährte war, wäre sie nur aus dem Konzept gebracht worden. Mycrofts Mimik, welche die ganze Zeit über unverändert blieb, verriet ihr kaum was er wohl gerade denken mochte. Zusätzlich hatte sie nicht den Eindruck, dass er sie schonen wollte und ihr Spiel dadurch extra in die Länge zu ziehen.

„Schachmatt“, rief Mycroft nach einer Weile triumphierend. Lächelnd beäugte Miceyla ihre unumgängliche Niederlage.

„Sie haben sich tapfer geschlagen und ein paar geschickte Züge angewendet, die jedoch noch ausbaufähig sind. Der Wille ist da, aber große Unsicherheit stellt sich ihm in den Weg. Mit langen Überlegungen und Zögern, verlieren Sie in einer echten Schlacht schnell Ihren Kopf. Mut gepaart mit Verstand, bildet die Voraussetzung, um den Sieg für sich zu beanspruchen. Man muss bereit sein für sein Ziel alles zu opfern. Freunde, Heimat und Besitz, bis am Ende nur noch das eigene nackte Leben übrigbleibt. Hat der König einen größeren Wert als der Bauer? Keineswegs. Ein kleiner Wicht, der geschützt werden muss und uneingeschränkt herumkommandieren kann, behält nur solange seinen Wert bis er fällt. Schlägt der Bauer den König, ist er ihm gerechterweise höhergestellt. Doch gerecht ist weder das Spiel noch die wirkliche Welt. Die Moral von der Geschichte, mit Ihrer gütigen und liebreizenden Art, wird man Sie nur immer wieder auf Anfang zurückschupsen. Lassen Sie Ihrem Feind gegenüber keine Gnade walten, er tut es ebenso wenig bei Ihnen. Und ich bedanke mich noch mal für die unterhaltsame Partie Schach. Zudem ist Nachahmung keine Schande, dadurch können durchaus ganz eigene Taktiken entwickelt werden“, erzählte Mycroft nach Beendigung des Spiels.

„Ich bedanke mich ebenfalls für Ihre Herausforderung. In Ihren Worten wohnt viel Wahres inne. Und sein Bestes zu geben reicht wohl manchmal einfach nicht aus, wenn einem die anderen haushoch überlegen sind. Dann wäre es tatsächlich ratsam, ungezügelte Maßnahmen zu entwickeln. Doch ich glaube noch immer daran, dass ein starker Wille alleinzig mit Güte angetrieben werden kann und ohne bösartige Absichten auskommt. Wer dem Bösen verfällt, hat schlichtweg einen schwachen Willen“, erwiderte Miceyla mit kühnem Lächeln und hielt gekonnt seinem unbeirrten Augenkontakt stand. Mycroft nahm schmunzelnd einen Schluck von seinem Tee. Nun durfte sie sich etwas mehr entspannen, da endlich ein Gespräch geführt wurde, bei dem die Moriarty-Brüder miteinbezogen wurden. Dabei blieben jene Themen aus, die Mycroft hätten interessieren müssen. Sherlock war da doch wesentlich offensiver und kein bisschen zimperlich. Dennoch war die Scharfsinnigkeit der beiden gleichermaßen gefährlich.

„Dann begebe ich mich langsam mal wieder in die heimischen Gefilde zurück und bedanke mich recht herzlich für Ihre Gastfreundschaft. Albert, wir sehen uns im Ministerium. Louis und William, wir werden sicherlich auch noch öfters voneinander hören“, verkündete Mycroft schließlich seinen Aufbruch und schenkte der Runde ein dankbares Lächeln.

„Nichts zu danken. Ein solch kultivierter Gesprächspartner wie Sie, ist nur spärlich zu finden. Bis demnächst, Mr Homes“, verabschiedete William sich knapp und sie schüttelten sich beide freundschaftlich die Hände. Anschließend lief Mycroft gemächlich, zu der Hinterseite des Sofas auf dem Miceyla saß und beugte sich etwas zu ihr hinab.

„Es war eine kluge Entscheidung, mit Sherlock nach Schottland zu reisen…“, flüsterte er dicht neben ihrem Ohr, wobei sie schüchtern erstarrte. Sie konnte genau heraushören, was er ihr damit zu sagen versuchte. `Mein Angebot steht noch, vergessen Sie das nicht…` Es schrie förmlich danach. Albert begleitete ihren Gast noch hinaus und sobald sie die Tür zufallen hörte, warf sie sich wieder auf das Sofa und vergrub ihr Gesicht in einem Kissen.

„Aaaaah! Dieser Kerl hat mich so sehr ins Visier genommen, dass ich wohl keine Möglichkeit mehr habe, um mich vor ihm verstecken zu können“, nuschelte sie sich ihren Frust von der Seele.

„Nun, Mycroft hat augenscheinlich einen Narren an dir gefressen. Ich rate dir nur dich vorzusehen, dass du dich nicht verplapperst“, meinte Louis höhnisch und begann den Tisch abzuräumen.

„Für wen hältst du mich… Dummkopf…“, entgegnete sie so leise, dass er es nicht hören konnte. Miceyla erhob sich wieder, da sie sich wunderte, warum von William keine Äußerung kam, jetzt wo Mycroft fort war. Sie betrachtete ihn forschend, wie er schweigend am Fenster stand und hinausblickte. Ein unbehagliches Gefühl begann sich in ihr auszubreiten. Er dachte über etwas nach, dass Miceyla noch nicht zu ergründen vermochte…
 

Harley schritt zielstrebig durch einen langen dunklen Gang und schloss die knarzende Tür zu einem Verließ auf. In dem finsteren Kerker, in welchem niemals auch nur ein einziger Sonnenstrahl hereinschien, befand sich ein Mann an rostenden Ketten gefesselt. Etliche blutige Wunden durch Foltertorturen zierten seinen Körper. Unmittelbar vor diesem stehend, zückte Harley seinen Degen, setzte seine Klinge direkt unter dessen Kinn an und zwang ihn so seinen Kopf zu heben.

„Na, wie gefällt es dir hier? Es könnte keinen besseren Ort geben, der die Verdorbenheit deines Herzens wiederspiegelt. Du hast für `ihn` die Drecksarbeit erledigt, stimmts?“, hakte Harley mit zusammengekniffenen Augen nach und hielt die Klinge so hartnäckig unter sein Kinn gedrückt, dass ihm langsam das Blut die Kehle hinunterfloss.

„He, he… Ihr noblen Gesellen habt es bequem, erkauft euch Gunst und Vorrechte. Was weiß einer von der verwöhnten Adelsbrut schon, wie es ist für einen mickrigen Hungerslohn zu schuften. Jemand der überleben will, nimmt jeden Job an. Sei es ein Auftragsmord oder Drogenhandel, wen kümmerts? Jagen oder gejagt werden, keiner kann diesen ewigen Leidensweg durchbrechen. Nun hats eben mich erwischt und die Belohnung hab ich mir durch die Lappen gehen lassen, was solls. Freundchen, merk dir eins, es gibt mehr von meiner Sorte…“, zischte der Mann und blickte Harley durch schmale Augenschlitze an.

„Nicht mehr lange…“ Nach dessen unbeeindruckter Antwort, schnitt er ihm ohne großen Krafteinsatz, mit einem gekonnten Schnitt seines Degens die Kehle durch und beendete in sekundenschnelle das Leben des Mannes.

„Und wenn es mein letzter Wille sein wird, dass ich euch alle restlos auslösche…“, sprach er noch leise zu sich selbst und sah wie hypnotisiert dabei zu, wie dunkelrote Bluttropfen von seiner Klinge tropften.

„Sir, Ihre Kutsche steht bereit. Und ich werde hier dann alles bereinigen, für den nächsten Neuzugang…“, meldete sich ein herbeilaufender junger Mann zu Wort, der eine enganliegende Militäruniform trug.

„Danke für deinen Aufwand. Und ich bitte dich noch, einen außerplanmäßigen Abstecher von mir miteinzuplanen“, teilte Harley seinem Untergebenen ruhigen Gemüts mit.

„Wie Sie wünschen. Wohin gedenken Sie aufzubrechen?“, fragte dieser gehorsam.

„Schottland, einen alten Freund besuchen…“
 

„Halt die Ohren steif, Wirbelwind. Scheue dich nicht davor, mir eine Nachricht zukommen zu lassen, falls dir jemand wehtut. Denjenigen werde ich dann ordentlich den Hintern versohlen!“ Miceyla stand am Morgen ihrer ersten großen Reise, aufbruchsbereit an der Eingangstür des Anwesens, während Moran ihr noch einmal zum Abschied kräftig den Kopf tätschelte.

„Ha, ha! Ich kann mir gut vorstellen, dass du in Nullkommanichts ganz Schottland unsicher machen würdest, wenn es darauf ankäme. Und so lange werde ich nun auch wieder nicht fort sein. Wird schon schief gehen, Meister! Wir sind da doch beide guter Dinge, nicht wahr?“, meinte sie und die beiden boxten sich spielerisch gegen den Arm.

„Es ist bestimmt ganz wohltuend, wenn sich hier mal keine zwei Raufbolde zur selben Zeit aufhalten. Aber ich wünsche dir von Herzen eine sichere Fahrt und hoffe, dass du und Holmes euch in Schottland keinen Ärger einhandelt. Und du weißt ja, damit du dich richtig auf deine Reise konzentrieren kannst, werde ich mich mit Leib und Seele dem Katzenhaus widmen. Denn ich habe stets beobachtet, wie viel Liebe du bereits in dein junges Projekt gesteckt hast“, versicherte Louis ihr abermals so aufrichtig, dass es wahrhaftig ihr Herz berührte. Am liebsten hätte sie sich eingeredet, dass er sie nun endlich als vollwertigen Teil der Familie Moriarty anerkannt hatte und sie ihn Bruder nennen konnte. Jedoch war dem nicht so. Viel eher respektiert er ihre Fertigkeiten und die Bereitschaft, ihr Unterfangen aufopferungsvoll zu unterstützen. Doch Miceyla war schon froh darüber, dass die anfänglichen Streitigkeiten sich gelegt hatten und sie problemlos miteinander auskamen. Die Macht der Gewohnheit, regelte tatsächlich fast von alleine die meisten Probleme.

„Noch mal vielen Dank, Louis. Aber bitte überarbeite dich nicht, denn du hast bereits genug zu tun.“ Miceyla blickte zu Albert, um sich als nächstes von ihm zu verabschieden. Er hatte wie immer sein gültiges Lächeln aufgesetzt. Doch es war ihr bewusst, dass es ganz und gar nicht seiner inneren Gefühlsregung entsprach.

„Du würdest am liebsten deine Sachen packen und mit mir reisen. Ich sehe es dir an. Aber es hat auch etwas Gutes an sich, dass wir alle wie immer sehr beschäftigt sein werden. Dies verschleiert unseren Kummer und die Zeit verflüchtigt sich,“ sprach sie in einer liebreizenden Tonlage. `Ach meine liebe Eisblume, wenn dem nur so wäre… Viel eher zähle ich die Sekunden, bis du wieder hier bei uns bist. Denn Zeit ist unser kostbarstes Gut und gleichzeitig unser größtes Opfer…`, dachte Albert beklommen, während er langsamen Schrittes auf sie zulief.

„Genau, lass uns positiv bleiben. Zudem ist es nicht verkehrt, auch mal für eine etwas längere Zeit aus der Stadt rauszukommen und einen anderen Teil dieser Welt kennenzulernen. Das wird deine Inspiration um einiges bereichern. Ich wünsche dir viel Glück und pass gut auf dich auf. Bis bald, meine Liebe.“ Nach seinen liebevollen Abschiedsworten, drückte Albert Miceyla kurz an sich. Nicht zu lange, um kein Gefühl eines schmerzvollen Abschieds aufkommen zu lassen.

„Ich verabschiede mich auch vorerst von dir. Denn ich kann noch nicht abwägen, ob es die

Begebenheiten in Schottland zulassen, dass wir uns barrierefrei treffen können“, sagte Fred anschließend und sein sonst so ernster Gesichtsausdruck, wich flüchtig einem gütigen Lächeln.

„Nun denn, brechen wir auf, Liebling. Du hast heute einen ereignisreichen Tag vor dir", durchbrach William schließlich die Abschiedsatmosphäre und setzte sich seinen schwarzen Zylinder auf. Er begleitete Miceyla noch in die Baker Street, wo sie von dort aus gemeinsamen mit Sherlock zum Bahnhof aufbrechen würde.

„Ich bin bereit, Will. Also dann, haltet die Stellung alle miteinander. Ihr werdet sehen, kaum bin ich hier die Tür raus, werde ich durch sie auch schon wieder hereintreten!“, verabschiedete Miceyla sich ein letztes Mal mit einem selbstbewussten Lächeln und lief zusammen mit William den Weg zum Eingangstor entlang, wo bereits eine Kutsche auf sie wartete.

„Wenn ich deine Nervosität auch nur irgendwie um einen Bruchteil verringern kann, solange ich noch die Möglichkeit dazu habe, teile es mir bitte mit. Du und Sherlock seid das optimale Team. Vertraue darauf und vor allem, vertraue ihm. Schottland wird dir gefallen, sehr sogar", sprach William einfühlsam als sie in der fahrenden Kutsche saßen und nahm dabei zärtlich ihre Hand.

„Ach Will, es ist für mich undenkbar, mit einem guten Gewissen von hier fortzugehen. Was wenn Sherlock mich für immer dort festhalten will, um mich vor den mir drohenden Gefahren zu schützen? Was wenn ich nie mehr zurückkehre oder keiner von euch mehr hier sein wird…? Das klingt alles schrecklich konfus, ich weiß… Ich sollte besser den Kopf noch etwas von meinen Sorgen befreien und…vertrauen…“, schüttete sie ihm ihr Herz aus und lehnte sich zur Beruhigung gegen seine Schulter.

„Meine Liebe, Sherlock ist sich vollends darüber im Klaren, dass eine Flucht ohne Konsequenzen nicht möglich ist. Zwar sind seine Methoden äußerst kreativ, doch auch ihm sind Grenzen gesetzt. Wir werden zu jeder Zeit auf dich warten und in Verbindung bleiben. Schließlich sind wir eine Gemeinschaft und noch viel mehr…eine Familie.“ Die Sanftheit welche in seinen Worten lag, vermochte Miceyla ein wenig zu trösten und sie genoss die letzten ruhigen Minuten mit ihm in Zweisamkeit. So schnell wie noch nie ging die Fahrt in die Innenstadt vorüber und beinahe zeitgleich als sie aus der Kutsche stiegen, öffnete sich die Haustür bei der 221B und Emily stand freudig winkend auf der Schwelle.

„Ich grüße euch, Lord William und Miceyla. Tretet ein, ich habe extra noch eine Kleinigkeit zu Essen vorbereitet, damit du und Sherlock mir nicht während der langen Fahrt umkippt. Natürlich gebe ich euch auch etwas für unterwegs zur Verpflegung mit. Man weiß ja nie, ob das Essen in den Zügen genießbar ist… Ach ja und wir haben einen Gast, der sich gerne mit dir bekannt machen möchte“, begrüßte Emily sie beide herzlich und lief wieder fröhlich hinein.

„Ha, ha, ich kann mir denken, dass es sich bei der `Kleinigkeit` um ein ganzes Festmahl handelt“, meinte Miceyla lachend und war neugierig, wer wohl der Gast sein mochte.

„Vielen Dank Mrs Hudson. Doch ihr Aufwand wäre nicht von Nöten gewesen, da wir bereits vorgesorgt haben. Dennoch weiß ich Ihre Freude am Kochen sehr zu schätzen. Aber ich entschuldige mich trotzdem für den stressigen Morgen, den Sie hatten. Nach zwei Stunden des Vorbereiten, merkten Sie das Ihnen noch notwendige Zutaten fehlten und eilten rasch zum Markt. Und nun sind Sie erleichtert, alles rechtzeitig geschafft zu haben‘, plauderte William vergnügliche und amüsierte sich köstlich über Emilys verdutzten Gesichtsausdruck.

„W-woher wissen Sie das?! Du lieber Himmel, da haben Sie mich aber eiskalt erwischt, ha, ha, ha… Ich werd nicht mehr…“, meinte sie daraufhin etwas verlegen.

„Ich glaub`s ja nicht, es existiert tatsächlich ein zweiter Sherlock! Bei Mycroft war ich über seine Scharfsinnigkeit ja nicht wirklich verwundert, da die beiden miteinander verwandt sind. Du musst wahrhaftig einen turbulenten Alltag haben. Ich weiß nicht ob ich dich darum beneiden sollte, he, he“, flüsterte Emily Miceyla neckend zu.

„Nun, ergeht es uns beiden da nicht ganz ähnlich? Und wer mag schon Langeweile, he, he…“, erwiderte sie und beide mussten leise kichern. William, der sich ein Stück hinter ihnen befand, betrachtete die gut miteinander befreundeten jungen Frauen, mit einem warmherzigen Lächeln. Bereits als Miceyla die Treppe hinauflief, vernahm sie den wohltuenden Geruch von frisch gebackenem Gebäck und süßem Tee.

„Ach was freue ich mich dich wiederzusehen, Miceyla! Ich glaube wir haben heute nicht genug Zeit zur Verfügung, um uns in Ruhe über alle Neuigkeiten austauschen zu können. Aber ich möchte dir unbedingt jemanden vorstellen…“, begann John sogleich überschwänglich und sie erfreute sich direkt wieder an seiner erfrischend jugendlichen Art. Nur er und eine junge hübsche Frau befanden sich im Wohnzimmer, an einem mit reichlichen Köstlichkeiten gedeckten Tisch. Sherlock schien sich mal wieder vor dem `großen` Menschenauflauf drücken zu wollen.

„Sie müssen Miceyla Moriarty sein. Es ist mir eine große Freude, dass wir miteinander bekannt gemacht werden. Ich bin Mary Morstan. Mein Verlobter hat mir bereits eine Menge über Sie und Ihr schriftstellerisches Talent erzählt. Und Sie und Sherlock scheint eine gute Freundschaft zu verbinden. Ihren Mann kennenzulernen ist mir ebenfalls ein Vergnügen“, stellte die junge Frau sich höflich vor und erhob sich dafür zeitgleich mit John. Sie hatte leicht gelocktes, dunkelblondes Haar und gütige blaugrüne Augen. Ihr schlichtes, dennoch ordentlich aussehendes rotbraunes Kleid verriet, dass sie Bescheidenheit besaß und trotzdem Wert auf ein akkurates Äußeres legte. `Na wer hätte das gedacht. Nun verstehe ich das auch mit dem `er ist auf Abwege geraten`, ha ha. Kein Wunder das sich Sherlock wie eine Miesmuschel verhält. Aber die beiden passen unglaublich gut zueinander. Das John eine Frau gefunden hat, die ähnliche sanfte Charakterzüge besitzt und gebildet ist wie er selbst, freut mich ungemein`, dachte Miceyla und brachte ihr Wohlwollen für Johns neues Glück, mit einem strahlenden Lächeln zum Ausdruck.

„Die Freude ist ganz meinerseits, Miss Morstan. Und wenn mich nicht alles täuscht, steht bald eine feierliche Hochzeit bevor. John, ich kann dir gar nicht genug Glückwünsche aussprechen“, sprach Miceyla freudig.

„Ich danke dir… Und ja, wir haben uns erst vor kurzem verlobt. Eine neue aufregende Zeit beginnt nun. Da spreche ich dir sicherlich aus der Seele. Mit der Hochzeit werden wir warten, bis ihr zwei wieder aus Schottland zurückgekehrt seid“, verriet John erwartungsfreudig und das junge Paar blickte sich liebevoll an.

„Eine wahrlich glücksverheißende Kundgebung. Ich wünsche Ihnen beiden nur das Beste und eine entspannte Zukunft in Zweisamkeit. Nun verabschiede ich mich aber wieder. Verzeihen Sie mir, dass ich nicht noch zum Frühstück bleibe. Miceyla meine Liebe, Zeit für

einen kurzen und bündigen Abschied. Wir sehen uns schon bald wieder.“ Das William plötzlich Reißaus nehmen und mit einer halbherzig Abschiedsfloskel, unbequemen Herzschmerz verhindern wollte, überrumpelt sie doch ein wenig.

„Will, magst du denn nicht wenigstens noch Sherlock begrüßen gehen? Ihr unterhaltet euch doch stets so gerne“, bemühte Miceyla sich etwas unbeholfen darum, sein Gehen ein klein wenig hinauszuzögern. Sein zaghaftes Kopfschütteln, ließ ihre kurz aufflackernde Hoffnung jäh erlöschen.

„Nicht an diesem Morgen, so kurz vor eurer Fahrt. Dein Gepäck steht unten neben der Eingangstür, der Kutscher hat es hineingetragen. Hab eine angenehme Reise, mein Liebling, ich werde immer an dich denken…“, verneinte er einfühlsam ihren Vorschlag und nach einem flüchtigen Kuss auf ihre Stirn, machte er höflich in die Runde lächelnd kehrt. Nun ließ er Miceyla an Ort und Stelle stehen. Keine längere Umarmung, keine letzten sanften Worte. All dies blieb aus und ein eisiger Schmerz, verstärkte den Kummer in ihrem Herzen. Wie von selbst wanderte ihr Blick zu Sherlocks geschlossener Zimmertür.

„Er ist in seinem Zimmer, nehme ich an…“, sprach Miceyla leise und etwas monoton.

„Ja… Er wollte vor der Reise noch einmal alleine sein und teilte mir ausdrücklich mit, dass er niemanden solange sehen will“, antwortete John und schämte sich für das unsoziale Verhalten seines mürrischen Mitbewohners. Gemächlich schritt Miceyla auf Sherlocks Zimmer zu.

„Gehe dort lieber nicht rein… Ich mag dich nur vor seinem unkontrollierbar launischen Gehabe bewahren“, warnte John sie, ehe sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzte.

„Ich bin aber nicht niemand…“, erwiderte Miceyla standhaft, ohne auch nur kurz stehen zu bleiben. Bereits als sie die Türklinke herunterdrückte, vernahm sie gedämpft die sanft gedrosselten Klänge seiner Violine. Geräuschlos schlich sie in sein Zimmer und schloss wieder direkt hinter sich die Tür zu. Einen Moment lang stand sie einfach nur so da und beobachtete ihn, wie an jenem Abend beim Geige spielen. Er ließ sich nicht von ihr stören, jedoch war ihm ihr heimliches Lächeln garantiert nicht entgangen. `Sherlock und seine geliebte Violine… Die wohl einzige wahre Liebe in seinem Leben…`, dachte Miceyla und musste trotz der sinnlichen Musik etwas schmunzeln. Ohne Hast beendete er sein selbstkreiertes Stück und blickte Miceyla nun mit einem kecken Grinsen an.

„Da ist ja unsere abenteuerlustige Pazifistin. Mogelt sich einfach unerlaubt hinein und hütet ihre klammheimlichen Gedanken“, begrüßte Sherlock sie bester Laune und das Strahlen in seinen dunkelblauen Augen verriet, wie sehr er sich über ihr Erscheinen freute.

„Und wie ich sehe, konnte sich der gewitzte Verfechter der Gerechtigkeit dazu aufraffen, hier einmal die Bude zu entrümpeln und auf Hochglanz zu bringen. Mein Lob für diesen revolutionären Schritt! John und Emely haben bestimmt mit feuchten Augen, feierlich eine Flasche Champagner geöffnet“, neckte Miceyla ihn zur Begrüßung ebenfalls grinsend und sie erfreute sich daran, dass sie beide denselben verspielten Humor besaßen, wobei sich ihr hartnäckiger Kummer etwas verflüchtigte.

„Ich kann meine beiden Sorgenkinder, doch nicht einfach im Chaos zurücklassen. Und ehe mir hier jemand an meine wertvollen Utensilien Hand anlegt, habe ich alles sicher und unauffindbar für jene Unbefugte verstaut. Wie siehts aus? Hast du deine sieben Sachen beisammen und bist bereit, die rauen Highlands zu erobern? Mir ist nicht danach, mich hier noch länger beim Kaffeekränzchen zu Tode zu langweilen. Es ist sicher in unserem beider Sinne, wenn wir am Abend ankämen“, sagte Sherlock anschließend recht ungeduldig und verstaute seine Geige in einem handlichen Koffer, von welcher er sich scheinbar auch nicht auf ihrer Reise trennen konnte.

„Auch dir steigt die dicke Luft zu Kopf und es treibt dich aus der lärmenden Stadt hinaus, um endlich wieder durchatmen zu können und eventuell eine geistreiche Lösung für gewisse Probleme zu finden. Und… Von nun an wird John, bei euren Fällen häufiger kürzertreten und Rücksicht auf Mary nehmen. Das Leben ändert sich. Wir sind nicht immer imstande, unser Umfeld zu beeinflussen und dafür zu sorgen, dass alles beim Alten bleibt. Du hast dich sehr an deinen verständnisvollen Mitbewohner gewöhnt und kannst ihn dir als guten Freund und Kameraden nicht mehr wegdenken. Aber er ist ja dennoch ab jetzt nicht aus der Welt und geht dir durch eine veränderte Lebenssituation nicht völlig verloren. Die Liebe ist wie ein kleines Wunder und erwischt uns manchmal ganz unvorbereitet…“, besänftigte sie ihn verträumt. Sherlock hielt kurz inne und betrachtete sie so eindringlich, ohne auch nur einmal zu blinzeln, wie eine besessene Katze. `Verloren…habe ich wohl eher dich. Ob ich den Fluss des Schicksals hätte durchbrechen können, wenn ich früher in Aktion getreten wäre? Doch noch ist das Ende aller Dinge nicht in Stein gemeißelt. Ich werde die hohe Mauer zum einstürzen bringen, welche zwischen uns gelegt wurde, auch wenn es für uns beide sehr schmerzhaft wird. Die Wahrheit ist nun mal nicht immer ein Freund des Friedens und des Glücks…`, dachte er gefasst und klopfte ihr beim hinauslaufen, als Geste zum Aufbruch auf die Schulter.

„Komm, die Highlands warten.“ Mit dem Koffer in seiner Hand, lief er durch das Wohnzimmer und an dem Tisch vorbei, an welchem das frisch verliebte Paar miteinander frühstückte. Von jenem Tisch schnappte Sherlock sich ein kleines Feuerzeug, welches John gehörte.

„Dies leihe ich mir zur Reserve aus. Man muss schließlich für den unbarmherzigen schottischen Wind gewappnet sein. Stelle sich nur mal einer vor, mir würde das Feuer ausgehen. Ein solches Dilemma sollten wir besser vermeiden“, sprach er anstelle steifer Abschiedsworte und kurz darauf war er schon die Tür hinaus.

„Hach… Meine gute Laune lasse ich mir heute nicht von deiner Wankelmütigkeit verderben. Trotzdem wünsche ich dir viel Erfolg und lebe deinen Spürsinn in vollen Zügen aus, sodass du dich auf meiner Hochzeit am Riemen reißen kannst. Aber denke auch daran, dass du Miceyla bei dir hast. Wehe ihr geschieht etwas, dann mache ich dir die Hölle heiß!“, rief John seinem Wohngenossen noch hinterher und bemühte sich darum, Miceyla ein Mut spendendes Lächeln zu schenken.

„Ts, ts, dieser alte Trottel. Kein Anstand so wie immer. Na, ich bin es ja von ihm nicht anders gewohnt. Hier, bitteschön. Ich habe euch einen Korb mit einigen Leckereien vorbereitet. Pass mir gut auf Sherlock auf… Doch gib noch viel mehr auf dich selber Acht. Ich bin bereits schon jetzt in Sorge um euch… Es ist nicht gerade ein beneidenswertes Talent, von der Gefahr magisch angezogen zu werden“, seufzte Emily kummervoll und drückte Miceyla einen randvoll gefüllten Korb in die Hand.

„Leider ist es unmöglich, der Gefahr ewig aus dem Weg zu gehen. Denn dann sucht sie einen irgendwann von alleine nachts im Schlaf heim. Manchmal braucht es Mut, um die Ungewissheit zu ergründen und seinem Ziel näher zu kommen. Eine Reise kann sehr lehrreich sein. Wer die Welt bereist, eignet sich schier unendliches Wissen an. Ein träumerischer Stubenhocker, wird niemals seinen Horizont richtig erweitern und seine Talente voll ausschöpfen können. Wenn ich wieder da bin, suchen wir uns für die Hochzeit schöne Kleider aus“, versprach Miceyla freundschaftlich und eilte zügig Sherlock hinterher, der bereits ihr Gepäck in die Kutsche getragen hatte, welche sie zum Bahnhof eskortieren sollte. Während der kurzen Kutschfahrt, war Sherlock jedoch plötzlich nicht mehr so gesprächsbereit, wie noch kurz zuvor und blieb ungewöhnlich still. Beim Bahnhof angelangt, konnten sie direkt in ihren Zug steigen, der zwanzig Minuten später abfahren würde. Die erste Etappe ihrer Reise stand nun unmittelbar bevor. Miceyla hatte mit Sherlock eine eigen Kabine für sich alleine, was ihr erlaubte, sich ungestört mit ihm zu unterhalten.

„Auf Johns Hochzeit erscheinst du also und bei meiner warst du dir zu fein dafür… Ich weiß schon, du triffst Entscheidungen stets nach Lust und Laune. Hast wohl Angst, deinen einzig wahren Freund zu verlieren“, begann Miceyla etwas aufmüpfig und versuchte erst gar nicht zu verbergen, wie beleidigt sie war. Sherlock, der gegenüber von ihr auf der Sitzbank saß, blickte sie zuerst ein wenig gleichgültig an, doch bereits nach kurzer Zeit musste er frech schmunzeln.

„Du hättest also gewollt, dass ich mich der schluchzenden Hochzeitsgesellschaft angeschlossen hätte und für John und Mrs Hudson zum feuchten Taschentuch geworden wäre? Und so ein Schreckenszenario soll ich mir gleich zwei Mal hintereinander antun? Und wer sagt das ich nicht dort gewesen bin? Vielleicht war ich einfach nur gut getarnt und der Priester selbst, welcher euch vermählt hat“, konterte er sarkastisch und schaffte es auf Anhieb, sie zum Lachen zu bringen.

„Ha, ha, ha! Und du glaubst allen Ernstes, William hätte keinen Wind davon bekommen und mir nichts gesagt? Scherzkeks! Aber sei‘s drum, wirklich verübeln kann ich es dir nicht. Denn ich verstehe dich besser, als du es möglicherweise zu vermuten wagst“, sprach sie und lächelte warmherzig. Sherlock wich kurz ebenfalls leicht lächelnd ihrem Blick aus, ehe er sie wieder gefasster ansah.

„Wem schreibst du einen höheren Stellenwert zu, der Liebe oder der Freundschaft!“, stellte er Miceyla dann eine ziemlich unerwartete Frage.

„Nun ja… Dies lässt sich nicht so leicht beantworten. Beides genießt besondere Vorzüge und eine unnachahmliche Resonanz. Doch ich finde, dass beide Komponente in engem Zusammenhang miteinander stehen. Nur kann Liebe weitaus mächtiger und unzerstörbarer sein. Wie zum Beispiel die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind oder Geschwisterliebe. Oder wenn zwei Herzen zueinander gefunden haben und beginnen im Gleichtackt zu schlagen. Mit einer einfachen Freundschaft kann die Liebe beginnen. Denn was geschieht, wenn Freundschaft zur Liebe wird…?“, beantwortete sie seine Frage mit einer Gegenfrage und versuchte ihre Meinung so ausführlich auszusprechen, wie es spontan für sie möglich war, wobei ihre Stimme immer leiser wurde. Genau in dem Moment, begann der Zug sich in Bewegung zu setzen und der Schaffner sorgte dafür, dass alle Türen geschlossen wurden.

„Dann…ist die Freundschaft schlicht und ergreifend gestorben…“, erwiderte er nach einer kurzen Minute des Schweigens und betrachtete melancholisch die winkende Menschenschar am Bahnsteig. Nun ließen sie Londons zentralen Bahnhof hinter sich und der Zug beschleunigte sein Tempo.

„So… Jetzt ist es aber allmählich an der Zeit für etwas mehr Klartext, was die ganze Geschichte mit der Reise betrifft. Findest du nicht auch? Ich würde nämlich den Sprung ins kalte Wasser, bequemer Weise gerne vermeiden. Gibt es überhaupt einen Fall, für den es sich lohnt nach Schottland zu reisen? Wie viel weißt du über jene `Bedrohung`? Welche Absichten

schweben dir dabei vor, mich aus der Stadt rauszuschleppen?“, bombardierte Miceyla ihn schonungslos mit einem Schwall an Fragen und bereitete sich mental darauf vor, endlich ein paar weiterführende Antworten zu erhalten. Sherlock schlug die Beine übereinander und zündete sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an.

„In diesem Zugabteil herrscht striktes Rauchverbot.“ Er ignorierte ihren zurechtweisenden Kommentar und begann nach einigen Zigarettenzügen, mit der Beantwortung ihrer Fragen.

„Der Fall existiert, ich habe ihn nur etwas abgewandelt. Es hat sich ein Mann nach Schottland zurückgezogen, der Anstelle von Harley Granville hätte Premierminister werden sollen. Die beiden waren hartnäckige Konkurrenten. Für mich war es nicht schwer herauszufinden, dass dieser Mann eine enge Verbindung zu unserem werten Freund Clayton Fairburn pflegt, um ihn mit allerlei Infos bezüglich Harley und der Regierung zu versorgen. Was Clayton vorhat, ist kein Geheimnis für mich. Sobald er auch nur den kleinsten Schwachpunkt gefunden hat, wird er zuschlagen und sich dafür jedes beliebige Mittel zunutze machen. Ich gehe stark davon aus, dass sich um Fairburn bereits ein ganzes Verbrechersyndikat versammelt hat, das einen folgeschweren Anschlag plant. Clayton jagt Verbrecher nicht nur und tötet sie, sondern schlägt ihnen einen nicht auszuschlagenden Handel vor. Na, geschockt? Die größte tickende Zeitbombe bleibt jedoch Harley. Im Grunde genommen bräuchte es für mich nicht erstrebenswert sein, dem Ganzen nachzueifern. Dennoch ist die ganze Geschichte, im Umkehrschluss dann doch nicht allzu uninteressant für meine Wenigkeit. Schließlich existieren da noch ein paar Aufmüpfige, die mich mehr oder minder zwanghaft mit involvieren Und was das alles so gefahrvoll für dich macht, ist das du zusammen mit Clayton in der Öffentlichkeit stehst. Du bist für kaum einen in London und schon gar nicht Harley, eine unbekannte Person mehr. Das sollte einleuchtend klingen. Nun darfst du dir gerne eigene, daraus resultierende Szenarien ausmalen“, erzählte Sherlock ihr geradewegs offen heraus was er wusste. `Für ihn ist es noch kein Fakt, dass ich die Frau des Meisterverbrechers bin. Daher erscheint es nur plausibel, meine Verbindung zu Clay als Gefahrenstufe anzusehen…`, dachte Miceyla und war ganz und gar nicht davon überrascht, wie weit Clayton gehen würde, um seinen Erzfeind Harley tot zu sehen.

„Soweit, so gut. Und was genau gedenkst du zu tun, wenn wir in Schottland sind? Was kannst du oder was können wir sinnvolles unternehmen? Willst du frontal mitmischen oder hinterrücks agieren, um eine Tragödie zu verhindern, die ganz England erschüttern würde?“, fragte sie ganz neutral nach und gab sich gefasst. Sherlock blickte abermals ruhigen Gemüts aus dem Fenster, des in hoher Geschwindigkeit fahrenden Zugs und zündete sich eine zweite Zigarette an.

„Ich werde nichts unternehmen. Zumindest plane ich keine weltbewegenden Vorhaben. Denn diese Arbeit wird der Meisterverbrecher für mich übernehmen. Ganz schlicht und simpel. Und mal schauen, an welchem Schnittpunkt wir uns über den Weg laufen werden.“ Miceyla verstand sehr gut, was er ihr mit seiner direkten Antwort zu sagen versuchte und erwiderte vorerst nichts darauf. Gedankenversunken sah sie hinaus, während der Zug sie immer weiter in den Norden brachte.
 

„Ha, ha! Seht euch das Mädel nur an! Glaubt allen Ernstes, eigenständig ein paar ausgehungerte Bettler beschützen zu können. Welch eine Närrin! Du darfst dich gerne zu ihnen gesellen und denen in den Tod folgen“, blaffte ein Mann höhnisch, der zusammen mit drei weiteren Männern, welche allesamt eine Soldatenuniform trugen, Amelia umstellt hatten. Diese verzog keine Miene und war ganz und gar nicht von dessen barschen Tonfall eingeschüchtert. Alle vier Männer richteten nun eine Pistole auf sie und machten sich bereit, das Schussfeuer zu eröffnen. Als die überheblichen Männer gleichzeitig abdrückten, wich Amelia bereits unmittelbar davor aus und entfernte sich aus der Mitte. Die Soldaten blickten verdutzt drein und ehe jene wussten wie ihnen geschah, befand sich Amelia hinter einem der Männer und rammte ihm ein frisch geschliffenes Messer in den Rücken. Keuchend sackte er nach vorne zu Boden und konnte gerade noch realisieren, dass er lebensbedrohlich verletzt worden war und in Kürze verbluten würde. Amelia hielt nicht einmal für einen Moment inne und begann die drei übriggebliebenen Soldaten zu attackieren, damit diese keine Gelegenheit bekamen, sie wieder in Beschuss zu nehmen Beinahe graziös wirbelte sie umher und streckte einen nach dem anderen binnen kürzester Zeit nieder und dies ausschließlich mithilfe ihres kurzen handlichen Dolches, dessen silberne Klinge nun blutgetränkt war. Sie tat einen langen ruhigen Atemzug und beobachtete für eine Weile wie in Trance, die am Boden liegenden, leblosen Männer.

„Deine Glückssträhne endet hier! Kannst froh sein, dass ich so gnädig bin und dich kurz und schmerzlos töten werde! Nimm das, als Vergeltung für meine Kameraden!“ Wachgerüttelt und voller Konzentration wirbelte Amelia herum. `Da ist noch einer von denen! Ich bin unaufmerksam geworden. Der Feigling hat sich einfach versteckt gehalten`, dachte sie geschockt und ehe sie reagieren konnte, schleuderte sie ein erbarmungsloser Tritt zu Boden. Mit schmerzverzehrtem Gesicht, betrachtete sie den vor Zorn rot angelaufenen Mann, wie er mit dem Finger auf dem Abzug, ein Gewehr auf sie richtete. Amelia erkannte, dass sie sich in einer ausweglosen Bredouille befand, aus der sie nur ein blankes Wunder hätte retten können. `Für einen Fehltritt muss man mit seinem Leben bezahlen… Ich war mir stets dieser Tatsache bewusst, aber was hat mich bloß so schwächeln lassen? Kämpfen wollte ich und stark sein…für Clay…` Im Glauben ihr letztes Stündlein hätte geschlagen, schloss sie die Augen und in ihren Vorstellungen erschien ein Abbild jenes Mannes, welchen sie abgöttisch liebte. Doch anstatt eines schallenden Schusses, der sie in den ewigen Schlaf befördern würde, ertönte plötzlich ein qualvoller Schrei und warme Bluttropfen spritzten ihr in das Gesicht. Ruckartig riss Amelia die Augen wieder auf und blickte von ihrem nun toten Widersacher, zu einem jungen schwarzhaarigen Mann, der wie aus dem Nichts erschienen war und wie sie mit einem glänzenden Messer bewaffnet war. Unwissend ob es sich bei ihrem Lebensretter um einen Freund oder Feind handelte, funkelte sie ihn misstrauisch an.

„Geht es dir gut? Zwar finde ich es sehr tapfer, dich alleine einer ganzen garstigen Meute zu stellen, doch ist dies etwas unverantwortlich von deinem Auftraggeber.“ Seine friedvollen Worte ließen Amelia vollkommen kalt und sie dachte überhaupt nicht daran, ihrem Retter, der scheinbar im selben Tätigkeitsgebiet zu arbeiten schien wie sie, zu danken. Stattdessen sprang sie blitzschnell auf und stürmte mit ihrem blutverschmierten Messer auf den Unbekannten zu. Nicht verwundert von ihrer Reaktion, parierte er gekonnt ihre Messerhiebe, welche eine nicht zu verkennende Durchschlagskraft besaßen. Eine Weile kämpften sie beide auf Augenhöhe miteinander, aber Amelias Kraftreserven waren beinahe aufgebraucht.

„Es gibt keinen Grund, dass wir einander bekämpfen. Ich kenne dich, du bist Amelia. Mein Name ist Fred, ich bin ein Freund von Miceyla“, bemühte Fred sich, sie schonend zu besänftigen, während er sich weiterhin mit ihr ein hitziges Gefecht lieferte. Doch alsbald sie den Namen Miceyla hörte, hielt sie abrupt inne und senkte ihre Waffe.

„Dann…dann gehörst du also zu der Gruppe, welche sich um den Meisterverbrecher versammelt hat… Er scheint wahrlich nur Mitstreiter mit den feinsten Fähigkeiten auszuwählen. Du bist talentierter, als so manch ein Elitesoldat und sogar als die meisten geübten Attentäter, denen ich bisher begegnet bin“, sprach sie anerkennend und ihr rasender Atem kam allmählich wieder zur Ruhe.

„Das kann ich nur zurückgeben. Clayton muss dich bestimmt monatelang hart trainiert haben. Wir kennen somit beide die Schattenseite des Lebens. In dieser Hinsicht sind wir uns recht ähnlich. Du wurdest ebenfalls damit beauftragt, die Lage in Schottland im Auge zu behalten, stimmts? Und dabei bist du einigen von Harleys Soldaten über den Weg gelaufen, die ihr Amt missbraucht und ihren eigenen Kopf durchgesetzt haben. Zum Glück bin ich gerade in der Näher gewesen. Wir verfolgen dasselbe Ziel, daher sollten wir einander nicht als Feind betrachten. Auch wenn unsere Auftraggeber zum Teil grundverschieden sind…“, erzählte Fred freundlich und war erleichtert, jemanden gerettet zu haben, der denselben steinigen Lebensweg wie er bestritt und noch dazu in seinem Alter war. Jedoch sprang bei Amelia der Funke für eine friedvolle Übereinkunft nicht über und sie wahrte weiterhin mit ernster Miene eine sichere Distanz.

„Mich und Miceyla verbindet ein besonderes Band. Das heißt aber nicht, das ich einer gegnerischen Verbrecherbande vertraue oder diese gar um Unterstützung bitte. Wir wandeln in zwei unterschiedlichen Welten. Es ist uns nicht vorherbestimmt, willkürlich Entscheidungen zu treffen, ohne das sie von unseren Auftraggebern abgesegnet werden. Mein Leben gehört Clayton, ich würde sterben für ihn“, sprach Amelia standhaft mit felsenfester Stimme. Für einen kurzen Augenblick sah Fred sie mit trister Miene an. Doch er wusste, dass seine Einstellung William gegenüber dieselbe war.

„Das verstehe ich und werde dir nicht länger im Weg stehen. Weder jetzt, noch bei deinem Auftrag in Schottland. Nur…was wenn Miceyla von deiner waren Tätigkeit erfährt? Du kannst es ihr nicht ewig verschweigen. Sie wird furchtbar erschüttert sein, dass ihre einst so unschuldige Freundin, sich dem Töten gewidmet hat…“, sprach er noch vorsichtig jene unangenehme Tatsache an, während Amelia bereits den Weg zum Ausgang der Residenz einschlug, in der die Soldaten herumlungerten, welche unschuldige Bürger gefangen gehalten hatten.

„Nein, sie wird nicht erschüttert sein. Denn sie ist doch längst von Mördern wie mir tagtäglich umgeben. Und ihr tragt Mitschuld daran, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis auch sie sich die Hände schmutzig macht. Dafür hasse und verachte ich euch alle. Doch auch ich bin schon lange nicht mehr mit mir selbst im Reinen…“, erwiderte Amelia noch abschließend, wobei ihre Stimme immer mehr zu einem Flüstern wurde. Fred rührte sich vorerst nicht von der Stelle und blickte ihr eine Weile etwas schwermütig nach. `Eines Tages, wünsche ich mir dich von Herzen lachen zu sehen. Glücklich und unbefangen, in der neuen Welt, die William erschaffen wird…` Mit diesem letzten stillen Zukunftswunsch, verließ er nun ebenfalls den makabren Schauplatz und brach selbst zu seinem Zielort auf.
 

„Willkommen in Schottland.“ Nach einer mehrstündigen Zugfahrt, erreichte Miceyla mit

Sherlock jenes verwegene und unabhängige Land, wobei er mit nach beiden Seiten ausgestreckten Armen vorauslief. Sie spürte schon beim verlassen des Zuges, dass sie eine besondere Atmosphäre umgab und glaubte beinahe sich am anderen Ende der Welt zu befinden, dabei grenzte ihre Heimat unmittelbar an Schottland. Sie befanden sich nun an einem beschaulichen Bahnhof und hatten noch eine etwas längere Kutschfahrt vor sich, ehe sie in Greenock ankämen. Wo Sherlock sich mit ihr einquartieren wollte. Hatte die zähe Zugfahrt sie auch ein wenig schläfrig gemacht, so war sie nun wieder hellwach und ihr Entdeckerdrang war geweckt. Es befanden sich auf beiden Seiten eines Fußgängerwegs mehrere Verkaufsstände, während die zwei durch das kleine Bahnhofsviertel liefen. Überall war ein frohes Lachen zu hören und die Leute plauderten nach Herzenslust miteinander. Man sah kaum Personen in hochwertigen Adelstrachten, denn die meisten trugen bequeme und traditionelle Kleidung. Miceyla sah man ihre Herkunft sogleich an. Dennoch blieben zu ihrer Überraschung die musternden Blicke aus. Scheinbar wurde niemand differenzierter behandelt, ungeachtet des eigenen Standes. Zumindest war es das, wie es auf den ersten Blick nach außen hin wirkte. Stille Machtkämpfe existierten sicherlich allerorts…

„Lass dir bloß nichts andrehen. Die sind hier Meister darin. Da kannst selbst du dich nicht so leicht herausreden“, warnte Sherlock sie mit frechem Grinsen und wartete nur belustigt darauf, bis sie in ein vereinnahmendes Verkaufsgespräch verwickelt wurde. Doch ehe es dazu kam, hatten sie beide auch schon die kleine Ortschaft durchquert und gelangten an eine häuserlose Landschaft, an dessen Horizont allmählich die Sonne herabsank und mit ihren goldroten Strahlen, den letzten Abschiedsgruß des Tages ankündete. Fasziniert von jenem Anblick, der ihr in der Großstadt verwehrt blieb, stellte sie ihr Gepäck ab und lief einige Schritte auf die unendlich wirkende Wiesenlandschaft hinaus, auf der frischer Lavendel blühte und unzählige Mohnblumen im erfrischenden Abendwind tanzten. Miceyla genoss die letzten wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und atmete die reine Luft ein.

„Ein malerischer Anblick, nicht wahr? Die Menschen aus der Stadt sollten viel öfter die Gelegenheit nutzen, um an solch einem naturbelassenen Ort zu reisen. Denn bei den ganzen verkrampften Schnöseln, sind durch die verpestete Luft, längst die letzten funktionierenden Hirnzellen verkümmert. Der Fortschritt richtet die Menschheit selbst zu Grunde und macht sie blind für die wahre Schönheit dieser Welt. Tja, es ist nun mal gang und gäbe, dass die Menschen ihren selbstsüchtigen Gelüsten nachhetzen. Wenigstens gibt es noch eine Handvoll Übriggebliebener, die Verstand besitzen…“, sprach Sherlock träumerisch und war ebenfalls von der märchenhaften Landschaft angetan.

„Da ist er wieder, mein unangefochtener Poet…“, meinte sie lächelnd und ihre Blicke trafen sich dabei. In dem Moment stellte sie sich vor, was es wohl für ein Gefühl sein mochte, wenn an seiner Stelle gerade William neben ihr stehen würde.

„Verzeih, dass ich nicht für die romantische Begleitung sorgen kann“, fasste er ihre Gedanken in Worte zusammen und machte kehrt, zu ihrer eingetroffenen Kutsche. `Jedenfalls sind beide gleichermaßen dazu befähigt, zu verstehen was in mir vorgeht…`, dachte Miceyla noch mit einem flüchtigen Blick auf den leuchtenden Horizont, ehe sie ihrem Reisegefährten folgte.

„Und, ist das Zimmer der vornehmen Lady genehm? Du hast ja darauf bestanden, dass du auf jeglichen Luxus verzichten möchtest, um dich dem freien schottischen Lebensstil anzupassen“, erkundigte Sherlock sich heiter, als sie sich beide in ihrer familiären Gaststätte niedergelassen hatten, in der sie nun für unbestimmte Zeit hausen würden.

„Ja, sehr sogar! Das hier ist wirklich eine niedliche kleine Raststätte und die Hausmutter, welche mich herumgeführt hat, ist unbeschreiblich führsorglich. Hier werde ich garantiert nicht so schnell Heimweh bekommen“, verkündete Miceyla und lächelte zufrieden.

„Das höre ich doch gern. Und wie siehts aus, bist du von der langen Fahrt zu sehr erschöpft und willst dich gleich aufs Ohr hauen oder bist du noch wach genug, um mit mir im beliebtesten Pub der Stadt auf Informationsjagd zu gehen?“ Miceyla wusste auf Anhieb, was er damit meinte und zeigte ein keckes Grinsen.

„Mit anderen Worten, du willst zur Feier des Tages einen heben gehen. Wo denkst du hin, bin natürlich dabei. Das hier wird schließlich kein Urlaub und ich mag etwas von Land und Leute sehen. Zudem haben wir in gewisser Weise eine Mission zu erfüllen. Also, ab geht’s!“ Da die beiden rasch zu einer Übereinkunft kamen, verließen sie gut gelaunt und motiviert zugleich das Gasthaus. Zwar war es mittlerweile später Abend, dennoch sah es überhaupt nicht danach aus, als würde sich die Stadt Greenock schlafen legen. Im Gegenteil, es herrschte reges Treiben auf den Straßen und in den Gassen, in welchen sich eine Schenke nach der nächsten befand. Die Menschen feierten, tanzten und sangen. Bei der ausgelassenen Stimmung, hatte man kaum eine Chance, nicht mitgerissen zu werden.

Auf den Dächern eines der Häuser befand sich ein Mann, dessen dunkler Umhang Gesicht und Körper beinahe unsichtbar machte. Weder Miceyla noch Sherlock hatten die leiseste Ahnung, dass sie mit Adleraugen beobachtet wurden..

„Da wären wir. Dies ist noch ein recht anständiger Schuppen. Hier musst du keine schleimige Anmache fürchten. Denn hier ist der Einlass für Frauen, nur mit männlicher Begleitung gestattet“, verriet Sherlock und ließ ihr den Vortritt. Miceyla bestaunte den herausstechenden, extravagant dekorierten Eingang des Pubs mit dem Namen: `Höhle der Mondlicht-Kriegsherren` und dachte sich dabei, dass sie sich mit Sherlock an ihrer Seite, überall auf der Welt zurechtfinden würde. Zusammen betraten sie nun das Pub und das Schicksal sollte nun seinen unliebsamen Lauf nehmen... Innen war es sehr geräumig und die Einrichtung verlieh der Schenke den mittelalterlichen Flair einer alten Ritterburg. Man glaubte sogar beim Betreten eine Zeitreise gemacht zu haben. Trotz der ausgelassenen Heiterkeit, herrschte weitgehens ein gesitteter Anstand. `Anscheinend kennen die Schotten noch gutes Benehmen und können sich im Gegensatz zu den Engländern in der Großstadt etwas zurückhalten, ha, ha`, dachte Miceyla belustigt und setzte sich mit Sherlock an einen eigenen freien Tisch, von dem man eine hervorragende Sicht auf die Bühne hatte, auf der flotte Volksmusik gespielt wurde.

„Ach je… Eigentlich müssten sich bei mir jetzt eine menge vertrauter Gefühle breit machen, die mich entspannen und meinen Geist befreien. Dem ist jedoch leider ganz und gar nicht so… Etwas ist hier faul und stinkt zum Himmel. Mia, ich hoffe du bist bewaffnet, denn uns könnte noch heute Nacht ein böser Schlag erwischen…“, sprach Sherlock mit gedämpfter Stimme und schien seine Umgebung mit einer Art dritten Auge auszukundschaften. Miceyla war sofort angespannt und in Alarmbereitschaft, Denn wenn er plötzlich solch ernste Andeutungen machte, konnte sie sich auf das Schlimmste gefasst machen.

„Sagt dir das deine Intuition? Ich gestehe, dass ich bislang nichts Ungewöhnliches habe feststellen können. Vielleicht liegt das an der Reizüberflutung eines mir unbekannten Ortes… Aber ich vertraue dir und lasse mich nicht mehr so leicht von drohender Gefahr und spontanen Situationswechsel abschrecken. Mein Handeln wird stets wohlüberlegt sein, darum bemühe ich mich.“ Sie brauchte dies ihm zwar eigentlich nicht direkt zu sagen, aber ihre Worte dienten mehr dazu, sich selbst Mut zuzusprechen. Auf einmal begann einer der Gäste laut zu singen. Anfangs war es noch ein einfaches Summen, bis daraus nach und nach ein richtiger Gesang wurde. Merkwürdig war auch, dass nun die restlichen Besucher still wurden und ihm lauschten. Nur die Musiker spielten weiter. Da schloss sich noch jemand dem Sänger an und sang lauthals mit. Und dabei blieb es nicht. Immer mehr sangen mit, bis alle Anwesenden des Pubs ein und dasselbe Lied sangen, die Bedienung miteingeschlossen.

„`Das Schicksal von uns allen liegt tief in der Dunkelheit. Alleine wandere ich durch die dunkle Nacht, bis er kommt, der Erlöser. Alleine ziehe ich durchs Land, keiner ist an meiner Seite. Wo bleibst du nur, elender Feigling? Jetzt heißt es du oder ich. Wenn kein Stern mehr am Himmel zu sehen ist, steht die Zeit still, in den eisernen Highlands. Lobt ihn, unseren Retter, unseren König!“ Miceyla bekam bei dem verschwörerischen Gesang eine Gänsehaut. Sherlock und sie waren die Einzigen, welche nicht mitsangen und wie versteinert auf ihren Plätzen saßen. Als das Lied noch einmal wiederholt wurde, begannen alle noch zusätzlich laut auf die Tische zu trommeln. Ihr stockte kurz der Atem, als jemand energisch die Tür der Bar aufstieß und gemächlich hereinschritt. Die Person war finster gekleidet und trug einen über den Boden schleifenden Umhang, dessen untere Stofffetzen in einer seltsamen Farbe beschmutzt worden waren, von der man nicht genau sagen konnte, ob es sich dabei um Lehm oder Blut handelte… Man hatte den Eindruck, ein waschechtes Phantom hätte das Pub betreten und war drauf und dran Unheil zu verbreiten. Der verdächtig aussehende Mann, preschte unangekündigt auf jene Person zu, welche zuallererst das Lied angestimmt hatte. Unmittelbar vor ihr stehend, zückte er einen mit spitzen Zacken bestückten Säbel und trennte kaltblütig den Kopf des Mannes ab. Mit einem Schlag verstummte der Gesang. Allerdings kam es zu keinerlei Panikausbrüchen oder Gekreische, wie es natürlicher Weise hätte sein müssen. Es bedurfte keines ausgeklügelten Verstandes um zu begreifen, dass dies Werk eines inszenierten Schauaktes war und Miceyla und Sherlock befanden sich als ahnungslose Opfer mittendrin. Ihr wurde furchtbar übel bei dem grausamen Anblick, der sich vor ihr erbot. Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass sich gleich am ersten Abend ihrer Ankunft, eine solch schauderhafte Tat zutragen würde. Aufgrund dieser Tatsache, war sie vorerst nicht imstande, einen klaren Gedanken fassen zu können. All ihre Hoffnungen und ihr Vertrauen lagen nun auf Sherlock, welcher längst von seinem Platz aufgesprungen war und in einer angespannten Angriffsposition, seine Pistole auf den Mörder richtete.

„Sherlock Holmes, ich grüße Sie! Darf ich Sie und Ihre bezaubernde Begleiterin willkommen heißen, in der Hölle… Und lassen Sie mich Ihre Zukunft voraussagen, Sie und die Moriarty-Lady, dürfen sich heute Nacht Lebewohl sagen. Da staunen Sie was, gut geschlussfolgert von mir. Denn Sie wissen selbst, dass Sie dieses Duell nicht von jetzt auf gleich gewinnen können…“ Nach dessen eintrichternden Worten, marschierte der mysteriöse Mann beharrlich auf Miceyla und Sherlock zu. Schützend stellte er sich vor sie und drückte reflexartig ab. Die Kugel traf den Mann zwar mitten auf der Brust, aber er bewegte sich weiter, als hätte ihn nicht mal eine Feder gestreift.

„Ich hab’s ja gewusst!“, zischte Sherlock wütend und schnalzte verärgert mit der Zunge. Da er sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte auszuweichen, musste er kugelsichere Kleidung tragen. Die wohl einzige Option wäre gewesen, direkt auf seinen Kopf zu zielen…

„Triff mich am brennenden Hügel…“ Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie begriff, dass seine Worte an sie gerichtet waren. Kurz darauf flitzte er flink wie ein Reh hinaus und kümmerte sich nicht weiter um das blutige Massaker, das er veranstaltet hatte.

„Halt! So einfach kommst du uns nicht davon!“, rief Miceyla ihm zornig und erschüttert zugleich hinterher und nahm Hals über Kopf wagemutig dessen Verfolgung auf.

„Mia! Bist du des Wahnsinns?! Spiel diesem Psychopaten nicht in die Hände! Du tust gerade genau das was er will! Einst…hättest du nicht so unüberlegt gehandelt“, schrie Sherlock zurechtweisend und der Schock übermannte nun auch ihn. Gerade als er seiner Gefährtin folgen wollte, versperrten alle der sich im Pub befindlichen Gäste den Ausgang und erreichten das Ziel ihres trügerischen Plans. Nämlich die beiden voneinander zu trennen…

„Zur Hölle mit euch Heuchlern! Lasst mich durch! Oder ich demonstriere euch, was es bedeutet schottisches Blut in sich zu tragen…“

`Vergib mir, Sherly… Aber es ist besser so. Diese Leute sind hinter mir her. Wenn du ständig wegen mir in zusätzliche Gefahr gerätst, werden auch dir Fesseln angelegt. London braucht dich, das ganze Land braucht deine gerissene Kombinationsgabe. Und ich genauso…` Während sie volles Vertrauen darin legte, dass ihr guter Freund alleine mit der Meute in der Bar fertig werden würde, sammelte sie all ihren Mut zusammen, um der wahren Bedrohung mitten ins Auge zu sehen. Denn vom Davonlaufen hatte sie auf Dauer nicht viel, außer ein schlechtes Gewissen. `Mist, ich habe seine Spur verloren! Er will sich mit mir am brennende Hügel treffen, aber wo genau soll das sein…?` Völlig außer Atem drosselte Miceyla ihr Tempo und wagte sich langsam aus dem lebhaften Zentrum von Greenock heraus und betrat verlassenere Gefilde. `Nun finde ich es gar nicht mehr so verrückt von mir, dass ich den Degen mitgenommen habe`, dachte sie mit etwas Erleichterung und holte Williams majestätische Waffe, unter ihrem zweilagigen Kleid hervor. Mittlerweile wanderte sie ziellos durch den äußeren Rand der Stadt und kämpfte sich durch hohes Gestrüpp. Die beschützenden Lichter der Straßenlaternen, waren hinter ihr bloß noch als kleine Punkte zu erkennen. In vollkommener Dunkelheit stapfte Miceyla einen hohen Wiesenhang empor und hoffte dabei, auf ein weiterhelfendes Zeichen ihres sonst so treuen Instinktes. Oberhalb angelangt machte sie kurz Rast, um ihren momentanen Standpunkt auskundschaften zu können. Mit pochendem Herzen erschrak Miceyla, als sie auf einem breiten, vor ihr emporragenden Hügel, grelles Licht aufflackern sah. In einem großen Kreis hatte man dort hohe Fackeln aufstellen lassen, die sich alle in demselben Abstand voneinander befanden. Es sah tatsächlich so danach aus, als würde die Spitze des Hügels in Flammen stehen. Sie hatte somit jenen Treffpunkt erreicht… Nun gab es kein Zurück mehr. Doch was nützte ihr das ganze aufwendige Training, wenn sie immer jeder echten Konfrontation aus dem Weg ging. Dennoch wurde sie beinahe von der Angst innerlich zerfressen. Es war, als stünde ihr eine leibhaftige Begegnung mit dem grausamen Tod unmittelbar bevor. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als all ihren Mut zusammen zu nehmen. Denn Zittern oder Zögern könnte ihr das Leben kosten. Nun hatte Miceyla den eindrucksvollen Hügel erklommen und schritt wachsamer denn je in die Mitte des Flammenkreises. Obwohl es hell genug war, um ihre Umgebung gut sehen zu können, konnte sie ihren Widersacher nirgends ausfindig machen.

„Wer hätte gedacht, dass wir uns mal so weit außerhalb von London treffen würden, Amethesya… Gefällt es dir, wie er dich immer nennt?“ Miceyla erschauderte und meinte einen Herzstillstand zu bekommen, als sie plötzlich eine Stimme hinter sich vernahm. Ihren Degen fest umklammert, wirbelte sie herum und blickte den vermeintlich unbekannten Mann an. Endlich hatte er nun seine Kapuze heruntergezogen und sein Gesicht zur Schau gestellt. Da war ihr plötzlich die Person gar nicht mehr so unbekannt…

„Sag mir das es nur Einbildung ist…?! Du bist nicht wirklich Yarik von der Theatergruppe. Wir…wir sind Kollegen, haben auf derselben Bühne gearbeitet und du genießt Claytons Vertrauen. Also was zur Hölle tust du hier gerade? Es gibt kaum eine größere Sünde als Verrat…“, blaffte Miceyla entsetzt und musste hinnehmen, dass sie mit ihrem eigenen Vertrauen gegenüber anderen, noch viel sensibler umgehen musste.

„Aber gewiss doch! Clayton selbst vertraute mir die ehrenvolle Aufgabe an, nach Schottland zu reisen und für ein Zerwürfnis zwischen dir und dem Detektiven zu sorgen. Und ist mir dies nicht schon meisterlich gelungen?“, konterte Yarik vergnügt und schwang seinen furchteinflößenden Säbel dabei unterstreichend durch die Luft.

„Du bist ein grottenschlechter Lügner und wenn ich das noch hinzufügen darf, ein mieser Schauspieler obendrauf. Mit Waffen umgehen, das kannst du. Daran merkt man, dass du dich einen ehemaligen Soldaten nennen darfst. Und wohin soll dein unsinniger kleiner Ausraster jetzt führen? Entweder erlaubst du dir eine peinliche Dummheit oder ein weiterer Drahtzieher hat deine Naivität für sich gewonnen. Ich will jenen Namen allerdings nicht aussprechen… Das wäre meine einzige logische Erklärung, für den sich hier gerade abspielenden Schabernack“, durchschaute sie Yarik und konnte nun, da sie ihren Angreifer persönlich kannte, die Lage ein wenig besser abschätzen. Anstatt Miceyla eine vorlaute Antwort zu geben, stellte er sich in einer bedrohlich wirkenden Angriffsposition ihr gegenüber. `Diese Entwicklung gefällt mir ganz und gar nicht… Wenn ich tatsächlich gegen einen kampferprobten Söldner kämpfen muss, stecke ich gewaltig in der Klemme…`, dachte sie und versuchte ihren drohenden Anflug von Panik krampfhaft zu unterdrücken. Be jeglichen Fluchtversuchen, würde sie ebenfalls den Kürzeren ziehen.

„Was stehst du da wie angewurzelt rum? Komm und kämpfe! Oder trägst du diesen jämmerlichen Zahnstocher nur zur Schau“, blaffte Yarik herausfordernd und da sie sich von ihm nicht provozieren ließ, preschte er selbst nun ungeduldig vor. Sein erster Säbelhieb hatte eine solche Wucht, dass sie ein ganzes Stück zurücktaumelte. Obwohl sie dessen Schlag parieren konnte, erleichterte sie dies nur spärlich. Yarik schlug mit seinem Säbel pausenlos auf ihre rechte und linke Flanke ein und wartete nur darauf, dass sie sich eine Blöße gab. Das sie mit ihrem Degen ganz klar im Nachteil war, sollte wohl ihre drohende Niederlage einläuten. Dennoch war sie hochkonzentriert und versuchte sich so gut wie es nur ging, in dem Kampf zwischen Kraft und Präzession zu schlagen. Auch als er es schaffte ihr einen Kratzer seitlich an ihrer Hüfte zu verpassen, blieb sie standhaft und wurde davon überzeugt, wie ernst es Yarik war. Hierbei handelte es sich um kein leichtes Übungsgefecht zur Bespaßung. Nein, er wollte sie wahrhaftig töten… Daher fokussierte sie sich nicht ausschließlich auf ihre Verteidigung, sondern suchte hartnäckig nach einer Chance, ihn direkt anzugreifen. Jedoch gab Yarik sich keinerlei Blöße und kämpfte so leichtfüßig, als hätte er in seinem Leben bisher nie etwas anderes gemacht. Miceyla hingegen kam langsam an ihre Grenzen, was ihre derzeitigen Fechtkünste betraf. Allerdings musste man trotz allem zugeben, dass sie sich gegen den erfahrenen Soldaten wacker schlug. Aufgrund der Eintönigkeit des Kampfes, seufzte Yarik laut und verpasste ihr einen unbarmherzigen Schlag mit der stumpfen Seite des Säbels, mitten in ihren Magen. Keuchend sackte sie auf die Knie und hustete schwer.

„Es langweilt mich, gegen ein Weichei wie dich zu kämpfen. Da ist eine Rauferei in der Bar wesentlich unterhaltsamer. `Töte, wenn du überleben willst. Waffen sind zum töten da. Kannst du dich selbst nicht ordentlich verteidigen, kannst du auch nicht das Land und deine Kameraden beschützen.` Diesen simplen Leitsatz lernt bereits jeder Rekrut. Also los, eine Chance gebe ich dir noch, Moriarty-Mädchen. Danach werde ich dich in deine ewige Nachtruhe schicken…“, verkündete Yarik selbstüberzeugt und wartete darauf, dass Miceyla sich wieder angriffsbereit machte. Leicht benommen erhob sie sich und betrachtete ihn mit einem müden und argwöhnischen Blick. Als Antwort auf seine Drohung, richtete sie erneut ihren Degen auf ihn und lockerte kurz ihre verkrampften und verschwitzten Hände. Zufrieden lächelte er auf einmal. Beinahe sanftmütig, was sie eigentlich hätte verwirren sollen, wäre sie nicht ohnehin zu durcheinander gewesen. Für einen flüchtigen Moment hatte sie den Eindruck, die Zeit wäre eingefroren und zum Stillstand gekommen. Ein letztes Mal sollten ihre beiden Klingen aufeinanderstoßen und der Ausgang ihres unausgeglichenen Gefechts würde entschieden werden. Miceyla verschwendete keinen Gedanken für ein überflüssiges Glücksgebet. Siegen und überleben, an nichts brauchte sie im Augenblick zu denken. All ihre Kraft in den finalen Angriff legend, preschte nun sie zu allererst vor und erachtete es als logisch, dass er ihre Attacke wieder mit dem Säbel parieren würde. Doch die Begebenheiten machten eine drastische Kehrtwende. Es geschah alles so schnell, dass sie den Lauf der brutalen Realität kaum mitverfolgen konnte und allmählich der finsteren Vorstellung näher kam, ihren düstersten Alptraum betreten zu haben… Yarik machte wie immer Anstalten, ihre Attacke abzublocken. Jedoch diente seine Haltung nur zur Täuschung, denn kurz bevor sie ihn erreichte, zog er seine Waffe weg und entblößte sich somit. Schutzlos und ohne Verteidigung bot er sich ihr dar und ohne die kugelsichere Kleidung, welche er für ihr Duell abgelegt hatte. Da Miceyla die Energie und den Elan ihres entschlossenen Angriffs nicht mehr bremsen konnte, rammte sie ihren Degen geradewegs in seine Brust und die geschärfte Klinge bohrte sich tödlich tief in sein Fleisch. Erstarrt, verängstigt und vollkommen ratlos, wagte sie noch nicht einmal ihre Hand von dem Degen abzulassen.

„W-wieso… I-ich verstehe das nicht… Du hast dich gerade freiwillig geopfert… Für wen, für was? Ich begreife das alles nicht mehr…“, stotterte Miceyla verzweifelt und brachte es nun doch über sich, den Degen wieder aus seiner Brust herauszuziehen. Yarik verzog kurz krampfartig das Gesicht und unterdrückte mit einer Hand auf seiner blutig triefenden Wunde einen Schmerzensschrei.

„I-ich bin…wohl doch kein so schlechter Schauspieler, was? Sag schon…fühlt es sich gut an…das Töten…? Ein Kampf ohne Opfer…ist eine Illusion… Lang…lang lebe unser König…“ Mit diesen letzten schwerfälligen Worten, sackte Yarik mit einem Lächeln auf den Lippen zu Boden und war auf der Stelle tot… Es gab ihn, den Klang der Stille. Sie vergriff sich an den allgegenwärtigen Tönen des Lebens. Kein Atemzug war dabei mehr zu hören, geschweige denn das Pochen eines flehenden Herzens. Die unumkehrbare Stille durchbrach den Fluss der Zeit und verharrte in einer Gegenwart, die es weder erlaubte in die Vergangenheit, noch in die Zukunft zu blicken. Auf jedem Schlachtfeld kehrte früher oder später Frieden ein. Spätestens dann, wenn der Tod die brüllenden Kriegsschreie verstummen ließ. Plötzlich schwindet er dahin, der Sinn der Gerechtigkeit. Wille und Reue streiten sich um die Vorherrschaft. Das einzige was am Ende eines jeden verzweifelten Gefechts übrig blieb, war ein lebloses Herz. Keine Eile oder Warten würde es mehr zum Schlagen bringen…

„Ich…ich habe einen Menschen getötet…“ Noch immer wie gelähmt, wagte Miceyla nicht darüber zu urteilen, ob sie den Kampf nun gewonnen oder verloren hatte. Sie wusste nicht, ob sie einfach zurückgehen und nach Sherlock suchen sollte. Denn weiterhin an Ort und Stelle neben Yariks Leiche zu verharren, war auch keine Lösung. Jedoch wurde ihr die Zeit für eine Entscheidung jäh genommen…

„Da ist sie! Schnappt sie euch!“

„Seht euch das an! Sie hat ihn brutal ermordet!“

„Fesselt sie!“ Kraftlos und mit einem gebrochenem Willen, wehrte sie sich nicht, als eine Handvoll bewaffneter Männer den Hügel hinaufstürmten, ihr gewaltsam den Degen entriss und ihr stramm an dem Rücken die Handgelenke fesselte. Gleichgültig darüber, was diese zwielichtigen Männer mit ihr vorhatten und wohin sie sie verschleppen wollten, ließ es einfach geschehen. Es war die Strafe, für ihre eigene Dummheit. `Ich hätte Sherlock nicht von der Seite weichen sollen… Nein…ich hätte niemals Williams Seite verlassen dürfen… Wie töricht von mir, mich aus lauter Übermut, einer solch ausartenden Gefahr zu stellen… Niemand…ausnahmslos niemand wird mich hier am Ende der Welt retten kommen…` Im Geiste hatte sie bereits aufgegeben und dennoch war Miceyla immer noch stur genug, sodass sie sich nicht von dem letzten, irgendwo in weiter Ferne liegenden Funken Hoffnung trennen konnte…

`Ihr bringt Miceyla nirgendwo hin! Nicht wenn ich es vorher verhindern kann!` In sicherer Entfernung befand sich Fred, der zu seinem eigenen Bedauern zu spät eingetroffen war, um rechtzeitig dazwischen gehen zu können.

„Das würde ich mir an deiner Stelle lieber zwei Mal überlegen. Ein toter Schutzengel nützt Miceyla recht wenig. Diese Männer gehören nicht nur einer der erfahrensten Kampftruppen an, sondern mussten zusätzlich ein spezielles Trainingsprogramm durchlaufen, um als Attentäter eingesetzt werden zu können. Sogar Clayton ist daran gescheitert, diese fähigen Leute für sich zu gewinnen und hatte daher im Sinn gehabt, alle von ihnen zu eliminieren. Das unser Kamerad Yarik sich aber ebenfalls als Übeltäter entpuppt, ist auch für mich ein Schock… Ich vermute allerdings, dass er gar nichts mit diesen Männern zu schaffen hat und einem anderen Meuchelmörder seine Dienste dargeboten hat…“, erläuterte Amelia beklommen, die sich unauffällig zu Fred gesellte und selbst von der puren Verzweiflung gepackt wurde, dass sie ihrer Freundin in Not nicht unüberlegt helfen konnte. Freds Blick ruhte weiterhin auf Miceyla und er kämpfte gegen die düsteren Vorstellungen an, was die gesetzlosen Männer wohl mit ihr vorhaben mochten.

„Leider hast du recht. Nicht einmal zu zweit hätten wir eine Chance, ohne Verluste einstecken zu müssen… Möglicherweise…wenn Sherlock Holmes hier wäre…“, erkannte Fred missmutig die Ausweglosigkeit ihrer Lage.

„Na dann renn doch los und hol ihn! Ach ja, geht wohl schlecht… Du würdest auffliegen und ihm das fehlende Puzzleteil, bei seiner Verfolgung des Meisterverbrechers, auf einem Silbertablett servieren“, blaffte Amelia vorlaut. Als sie jedoch seine trüb glänzenden Augen sah, bereute sie ihre scharfen Worte direkt.

„Verzeih… Das ist ein äußerst unpassender Zeitpunkt zum streiten… Ich werde Clayton ein Telegramm zukommen lassen. Sicherheitshalber werde ich aber zurückkehren und ihn persönlich von den jüngsten Geschehnissen in Kenntnis setzen. Meinetwegen auch euren Lord Moriarty. Denn einer von uns muss hier vor Ort bleiben und mitverfolgen, wohin Miceyla verschleppt wird“ begann Amelia hastig mit einem groben Plan. Erst jetzt blickte Fred ihr unvermittelt in das Gesicht, doch er sah alles andere als zufrieden aus.

„Ein ziemlich unglaubwürdiger Stimmungswechsel… Erst bringst du mir deine komplette Feindseligkeit entgegen und jetzt redest du auf einmal von einer Zusammenarbeit. Du würdest niemals William von dir aus warnen. Viel eher alles daransetzen, dass er schlechte Karten zum Handeln hat. Ich frage dich ganz ehrlich: Willst du Miceyla lebend befreien oder ihre Leiche fern von der eigenen Heimat hier begraben?“ Freds Klarstellung zerschmetterte ihr Herz. Er scheute sich nicht davor, die Wahrheit ungefiltert auszusprechen. Was nur dafür sorgte, dass Amelia sich noch mehr hin- und hergerissen fühlte.

„Wir retten Miceyla…und zwar lebend… Gemeinsam, aber nur vorübergehend, damit das klar ist. Sie ist sehr weise und weiß, wie sie sich in Gefangenschaft verhalten muss. Vertrauen wir darauf, dass uns noch genug Zeit bleibt. Jetzt haben wir lange genug geschwätzt. Hefte dich an die Fersen der widerwärtigen Männer, ehe sie gleich fort sind. Doch wir finden jede noch so unscheinbare Fährte wieder, selbst in der finstersten Nacht, nicht wahr…? Dies ist unsere angeborene Gabe. Ich breche nun auf nach London. Wir haben somit eine Abmachung“, beschloss Amelia und eilte geschwind davon.

„Die Abmachung steht. Ich hoffe du hältst dein Wort. Denn dann werde auch ich dich garantiert nicht enttäuschen“, rief Fred ihr zustimmend nach und sein scharfer Instinkt sagte ihm, dass er Amelia vertrauen konnte. Doch als er die Verfolgung von Miceyla und ihren Entführern aufnahm, wurde seine Miene wieder um einiges düsterer. `Mich lässt der beunruhigende Gedanke nicht los, dass William bei seinem geheimen Plan soweit gehen würde, um Miceyla extra in Gefahr zu bringen. Und Sherlock soll derjenige sein, der sie rettet. Aber was genau beabsichtigt er damit? Soll dies als Weg dienen, damit sie sich von unserem Schicksal abnabeln kann? Das Opfer der Moriartys, welches zusammen mit dem Helden die Wahrheit ans Licht bringt… Will, ich glaube bei dieser Sache, wirst du zum ersten Mal scheitern… Aber ich werde all meine Vermutungen für mich behalten und Stillschweigen bewahren. Solange erfülle ich meine Pflicht…` In Begleitung dieses schwermütigen Gedankens, machte Fred sich daran, solange über Miceyla zu wachen, bis Verstärkung eintraf.
 

Einsam und verlassen saß Sherlock auf einer Parkbank, ein gutes Stück von Greenocks Stadtmitte entfernt. Er hatte es irgendwie geschafft, sich aus dem Pub heraus zu kämpfen. Die Gäste der Bar verloren auch recht schnell das Interesse an ihm und ließen ihn freiwillig fliehen. Doch nun musste er bei Null anfangen. Ohne Hinweise die weitläufige Umgebung nach Miceyla und dem Mörder zu durchsuchen, wäre keine vernünftige Herangehensweise gewesen. `Die beiden können jedoch noch nicht über alle Berge sein. Das Miceyla hier wieder wohlbehalten bei mir auftaucht, ist unrealistisches Wunschdenken. Mia, das ist alles ein chaotisches Schlamassel… Wenn ich dir aus der Patsche helfen will, muss ich wohl bis ans Äußerste gehen. Der ganze Auftritt von dem Mann in der Bar war eine Farce. Er hat nicht die Absicht verfolgt, Mia etwas anzutun. Zumindest er selbst nicht. Aber da treiben noch andere ihr Unwesen… Niemand außer der Familie Moriarty und Clayton wussten davon, dass ich zusammen mit ihr nach Schottland reise. Das William zugelassen hat, dass es andere erfahren, die nicht in direkten Vertrauensverhältnis mit ihm stehen, ist unwahrscheinlich. Folglich muss sich in Claytons Theaterbande ein Verräter geschmuggelt haben. Aber etwas passt hier ganz und gar nicht zusammen. Da ist noch ein weiteres Rätsel im Busch…` Obwohl Sherlock sich angestrengt den Kopf zerbrach, entging ihm nicht, wie er aus einiger Entfernung beobachtet wurde.

„Zeigen Sie sich, ich habe Sie längst bemerkt.“ Nach dessen deutlicher Aufforderung, näherte sich ihm langsam ein Mann, der sich bei jedem Schritt auf einem Stock aufstützte und stark humpelte.

„Ich grüße Sie zu dieser späten Stunde, Mr Holmes. Man hat mich bereits informiert und ich denke, die anonyme Nachricht stammt von Ihnen. Dann bin ich der Mann, den Sie suchen, David Milford…“
 

Unterdessen war Amelia wieder in London angekommen. Ohne eine einzige Stunde Schlaf und ohne einen Bissen gegessen zu haben. Sie wollte nicht eher ruhen, bis sie Hilfe für Miceylas Rettung organisiert hatte. Was sie gerade durchstehen musste, war nichts im Vergleich zu ihrem Dauereinsatz. Da sie genau wusste, wann und wo Clayton zu welcher Tages- und Uhrzeit anzutreffen war, stürmte sie zum Waisenhaus und eilte geschwind in das große Büro im ersten Stockwerk.

„Clay, Miceyla wurde…“, begann Amelia außer Atem.

„Ich habe dein Telegramm erhalten, daher weiß ich es bereits… Das in Schottland alles aus dem Ruder laufen wird, davon war abzusehen. Selbst das Yarik abtrünnig geworden ist, überrascht mich nicht. Seine Untreue habe ich längst durchschaut. Ich hätte vorher einschreiten sollen, dies ist mein eigenes Verschulden. Und ich ging davon aus, dass Harley ihm einen guten Posten beim Militär versprach, wenn er im Gegenzug mich und meine Vorhaben ausspioniert. Doch warum er auf Miceyla aufgehetzt wurde, daraus kann ich mir noch keinen sinnvollen Reim machen. Ich würde es Harley Überheblichkeit zutrauen, das er allem voran anstrebt, den Meisterverbrecher mit seinen störenden Machenschaften in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Nun gut… Es mag zwar makaber klingen, doch bin ich gewillt, aus ihrer Entführung meinen eigenen Nutzen zu ziehen. Denn früher oder später wird auch Harley die Bühne betreten und in den vordersten Reihen mitmischen. Und dann gibt es nichts mehr, was mich noch aufhalten könnte… Aber jetzt genug mit den schauerlichen Ansprachen. Meine arme Amelia, Unzumutbares bürde ich dir da auf. Lass uns jedoch die Geschichte, mit Bravour zu einem ansehnlichen Ende führen. Bitte erstatte Lord William Moriarty Bericht. Er müsste in seinem Anwesen vorzufinden sein. Ich werde nachkommen und meinen Teil dazu beitragen…“, sprach Clayton ungekünstelt ehrlich, was seinen sonst so heiteren Charakter vollkommen verschleierte und es gar unnatürlich wirken ließ. Amelia wusste, dass er nur für seine Rache an Harley lebte, doch ihn so kaltherzig sprechen zu hören und mitanzusehen, wie er unnahbar mit dem Rücken zu ihr am Fenster stand, machte sie unsagbar traurig. Sie glaubte daran zu Grunde zu gehen, dass sie nicht fähig war sein wundes Herz zu heilen. Seine Liebe würde für sie auf ewig unerreichbar bleiben. Auch die ihre vermochte nicht, seine undurchdringbaren Mauern einzureißen.

„Ich werde tun, was immer du mir aufträgst. Bis zum bitteren Ende… Doch bitte ich dich abermals, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen. Selbst wenn deine Rache erfolgreich sein würde, Erlösung wird es dir keine einbringen. Du tränkst dein Leben mehr und mehr in Leid. Dabei hast du bisher so viele Menschen glücklich gemacht, wie kein zweiter. Was für eine Ironie… Schotte dich nicht immer vom Rest der Welt ab und nimm die Gefühle anderer ohne Reue an. Jeder von uns trägt Wunden und Dunkelheit im Herzen. Irgendwann…wirst du noch die Grausamkeit deiner Feinde übertreffen und zu einem besessenen Monster werden. Aber…ich lasse nicht zu, dass ein solch abscheuliches Wesen aus dir wird. Und selbst dann…würde ich dich immer noch bedingungslos lieben…“, flehte Amelia verzweifelt und verlor für einen kurzen Augenblick ihre gefasste Selbstdisziplin. Clayton wandte sich ihr nun zu und lächelte sie mitfühlend an. Doch hinter seinem aufgesetzten Lächeln, weinte er mit ihr. Er verstand nur zu gut ihren Frust und ihre unendliche Trauer. Nur war sein eigenes Herz längst zu erkaltet, um weiter auf sie und ihre unerfüllten Sehnsüchte einzugehen. Und daher fiel es ihm nicht schwer, seinen mühsamen Pfad des Rächers weiter zu bestreiten.

„Amelia Liebes, ich gab dir Hoffnung und ein neues Leben. Wenn mein abweisendes Verhalten dich zu sehr verletzt, solltest du deine Sichtweise etwas umstrukturieren. All die positiven Dinge, welche ich um mich herum erschaffen habe, werden nicht einfach mit mir verschwinden. Jedes einzelne Mädchen hier im Waisenhaus, wird die Möglichkeit dazu haben, ein freies und selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen. Meine eigens geschriebenen Theaterstücke, wird man auch noch in den nächsten Jahrzehnten aufführen. Vielleicht sogar in anderen Ländern. Ich bin unendlich stolz auf all das, was ich erreicht habe und hätte von einem solchen Erfolg und Glück, als kleiner Junge nicht einmal zu träumen gewagt. Und ich bin kein Tor, dass Rache in einem noch viel größerem Unglück enden kann, ist mir sonnenklar. Aber keiner außer mir darf Harley zur Strecke bringen. Sogar er selbst würde es so wollen… Lass uns jedoch nun vorerst von diesem ganzen kläglichen Geschwafel verabschieden und das Leben in all seinen Facetten genießen. Das verdienen wir beide. Und ich denke nicht, dass ich hier der Einzige bin, der sein Herz verschließt… Hopp, hopp! Wir haben ein großes Dilemma in Schottland wieder gerade zu biegen. Und dafür ist es von Nöten, dem berüchtigten Meisterverbrecher entgegenzukommen. Ich werde im Übrigen Irene ausrichten, solange hier die Stellung zu halten“, beschwichtigte Clayton geschickt Amelias aufgewühltes Gemüt und wischte ihr dabei sanft die Tränen von den Wangen.

„Ja… Ich werde stark bleiben. Und ehe Miceyla nicht aus den Fängen ihrer Entführer befreit wurde, werde ich keine Nacht mehr ruhig schlafen können.“ Ein letztes Mal blickte sie tief in seine saphirblauen Augen, dann machte sie sich im Eiltempo auf den Weg zum Moriarty-Anwesen. Claytons zuversichtliches Lächeln verschwand unmittelbar nach ihrem Aufbruch und er betrachtete kurz den Degen seines verstorbenen Vaters, mit dem Wappen der Familie Fairburn darauf eingraviert, welchen er von ihm geschenkt bekam. Für ihn galt diese Waffe als sein wertvollster Besitz und daher bewahrte er sie sicher in einer verschlossenen Vitrine auf. Doch wenn es so weit war, würde er Harley mit genau jener Waffe niederstrecken, in der die Seele seines geliebten Vaters und Vorbilds steckte. `Bei einem allerletzten Fechtduell wird sich alles entscheiden. Denn der Umgang mit dem Degen ist das Einzige, was uns jemals miteinander verbunden hat…` Diese Entschlossenheit hatte sich so fest in ihm manifestiert, dass er auch dann noch daran festhalten würde, wenn die gesamte Welt von heute auf morgen zugrunde ginge…

Amelia traf am späten Nachmittag beim Anwesen der Moriartys ein und zögerte kurz vor der Eingangstür. Sie überlegte sich in Gedanken eine vernünftige Wortwahl. Jedoch hatte sie ihre Bedenken, wie ihr plötzliches Hereinplatzen auf der Seite der Gegenspieler, wohl wirken musste. Das Einzige was sie ein wenig beruhigte war, dass dies immerhin nun Miceylas neues Zuhause war. Also konnte es sich bei dem Meisterverbrecher und seinen Verbündeten kaum um Unmenschen handeln. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fand sie viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben und Claytons Truppe. Gerade in dem Moment, als sie das erste Mal auf Fred traf merkte sie, dass in jedem, der in der Gesellschaft etwas bewegen will, Licht und Schatten gleichermaßen steckte. Amelias innere Vorbereitungen fanden ein jähes Ende, als die Eingangstür aufgerissen wurde, noch ehe sie die Türglocke betätigen konnte.

„Mensch Moran, du sturer Esel! Musst du uns denn wirklich immer auf der Nase herumtanzen und deinen Willen durchsetzen?! Es gibt hier feste Regeln, an die du dich gefälligst zu halten hast!“

„Hach Louis, du steifes Brett! Mach dich mal etwas locker! Ich geh jetzt in den Wald. Wenn ich schon nicht Miceyla herumscheuchen kann, will ich wenigstens das Wild jagen gehen. Huch… Unangekündigter Besuch…? Wer ist das Mädel? Ich kenne die nicht, eine Kundin von Will?“ Amelia wurde immer unbehaglicher zumute. Auch noch mitten in einen Streit geplatzt zu sein, bot nicht gerade die besten Voraussetzungen, um ein ernsthaftes Gespräch zu suchen.

„Rede nicht so zweideutig vor einer fremden Frau! Verzeihen Sie bitte unser ungehobeltes Verhalten, meine Dame. Tun sie einfach so, als hätten Sie nichts gehört und gesehen und lassen Sie uns noch mal von vorne anfangen. Also, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ bemühte Louis sich besonnen darum, Morans groben Tonfall wieder wett zu machen.

„Ich bin Amelia. Clayton Fairburn schickt mich. Es gab einen misslichen Vorfall in Schottland, daher muss ich schleunigst William Moriarty darüber informieren“, gab Amelia ohne umständliche Höflichkeitsfloskeln ihr Anliegen bekannt und hoffte, dass man ihr Gehör schenken würde. Wie auf ein Zeichen, wurden die Mienen von Louis und Moran plötzlich todernst und der nichtige Streit war vergessen.

„Bitte treten Sie ein…“, bat Louis Amelia unverzüglich das Anwesen zu betreten. Ob man Misstrauen ihr gegenüber hegte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen.

„Steckt Miceyla tatsächlich jetzt schon in der Patsche? Welchen Heini darf ich vermöbeln?“, grummelte Moran kampflustig und ballte angespannt die Fäuste zusammen. Louis warf ihm daraufhin einen warnenden Blick zu, damit er seine Aggressivität etwas im Zaun hielt.

„Warten Sie hier bitte, ich gehe eben schnell meine beiden Brüder mit dazu holen“, meinte Louis, als er Amelia in das Wohnzimmer des Erdgeschosses geführt hatte und verschwand anschließend direkt wieder. Während sie wartete, riss Moran sich am Riemen und blieb still, ohne ihr weitere Neuigkeiten entlocken zu wollen.

„Willkommen Amelia. Miceyla hat mir bereits einige Vertraulichkeiten, über eure gemeinsame Vergangenheit erzählt. Ich schätze das Glück eurer Wiedervereinigung sehr. Und nur weil du für Clayton arbeitest heißt das nicht, dass du uns fürchten musst. Wir schenken dir zu jeder Zeit ein offenes Ohr und hören uns in Ruhe an, was du zu sagen hast. Übrigens bedanke ich mich auch für deine kurzfristige Kooperation mit Fred“, begrüßte William Amelia offenherzig, als er zusammen mit Albert und Louis hereintrat. Verwundert darüber, wie er davon wissen konnte und woher sein Vertrauen ihr gegenüber kam, packte sie erneut die Nervosität, nun das erste Mal jenem Mann gegenüberzutreten, der für den Großteil der aufsehenerregendsten Verbrechen in London verantwortlich war.

„Es freut mich all Ihre Bekanntschaft zu machen. Und ich habe zu danken. Das Sie mich hereingelassen haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn ich hätte wer weiß was im Schilde führen können… Sie haben bestimmt auf den ersten Blick erkannt, dass ich eine geübte Attentäterin bin… So viel dazu. Am besten ich komme direkt zur Sache, da jedem von Ihnen bewusst sein sollte, weshalb ich ohne eine Vorankündigung hier aufgekreuzt bin. Soweit ich es beurteilen kann, sind Miceyla und Sherlock Holmes in einen geplanten Hinterhalt gelockt und voneinander getrennt worden. Einer aus unserer Theatergruppe hat Clayton verraten und Miceyla zu einem Duell herausgefordert. Im Anschluss daran…ist sie von unbekannten, kampferprobten Männern entführt worden…“ Amelia musste beim Sprechen eine Pause einlegen, da ihr die Worte im Hals stecken blieben und machte sich auf erschütterte Reaktionen gefasst. Albert war der Erste, welcher verbittert dreinblickte und kurz sein Gesicht in der Hand vergrub. Williams Gesichtsausdruck war nur schwer zu deuten. Amelia grübelte darüber, ob er seine Gefühle bloß gekonnt unterdrückte oder von Natur aus eine beachtliche Selbstbeherrschung besaß.

„Was ist aus dem abtrünnigen Mann geworden?“ Amelia war regelrecht empört darüber, dass William sie zu allererst nach Yariks Verbleib ausfragte.

„Miceyla…hat ihn mit ihrem Degen ermordet…“, antwortete sie nüchtern. Und nun war es Moran, der sie fassungslos anblickte und beinahe schuldbewusst aussah.

„Früher oder später musste sie einmal diese unangenehme Tortur durchstehen. Wir können sie nicht ewig von jeglicher Gefahr abschirmen. Entweder sie kämpft sich wie ein jeder von uns, den Weg selbstständig frei oder sie wird auf Dauer zu einem nervtötendem Ballast“, kommentierte Louis etwas gefühlskalt und tat es als selbstverständlich ab, dass Miceyla damit zurechtkommen musste, einem Menschen das Leben zu nehmen. Amelia wäre ihm am liebsten vor Wut an den Hals gesprungen. Zornig vergrub sie ihre Fingernägel in dem Sofa auf dem sie saß und blickte hoffnungsvoll zu William, da sie glaubte, dass er Miceylas Empfindungen verteidigen und Schuldgefühle zeigen würde. Doch stattdessen blickte sie in sein noch immer fortbestehend entspannten Gesichtsausdruck. Und da konnte es sie auch wenig überzeugen, als er kurz mit Albert schweigsame Blicke austauchte und flüchtig mit einem leicht verbitterten Lächeln zu Boden sah.

„Was…soll das bitteschön für eine Liebe sein? Miceyla ist Ihre Frau. Während Sie hier gemütlich bei einer Tasse Tee im Warmen sitzen, wird die Ärmste gerade in ein feuchtes Drecksloch verschleppt und muss zusätzlich noch das Trauma ihres ersten Mordes verarbeiten. Und nicht nur Sie Lord William, Sie alle müssten ohne Aufforderung aufspringen und eine Rettungsaktion starten. Das sollte für Sie ein Kinderspiel sein, wo Sie doch so meisterhaft im Pläneschmieden sind. Fred ist zu jeder Zeit einsatzbereit und auch Sherlock Holmes wird alles daransetzen, Miceyla zu befreien. Die ganze Schottlandreise war von Anfang an ein riesengroßer Unfug. Denn jetzt hat das Unglück sie so richtig erwischt.“ Amelia hielt frustriert inne als sie merkte, dass ihre aufbrausenden Worte keinerlei Wirkung erzielten. `Gehörte es etwa von Anfang an zum Plan, Miceyla und Sherlock auf eine Art Probe zu stellen? Sie soll lernen mit dem Töten umzugehen und er wird getestet, wie weit er gehen würde, um ihr das Leben zu retten…` Sie konnte darüber vorerst nur spekulieren und sie war froh, als sich ein weiterer Besucher vor der Eingangstür ankündigte, da sie bei ihrer Unterredung nicht sonderlich viel zu erreichen schien.

„Es ist Clayton… Was nun, Will?“, verkündete Louis um wen es sich handelte und blickte von Minute zu Minute missgelaunter drein.

„Lass ihn bitte herein“, gab William ohne Zögern die Erlaubnis, ihn das Anwesen betrete zu lassen, wobei sein Gesichtsausdruck nun wesentlich ernster wurde.

„Die Schmierenkomödie kann beginnen…“, sprach Albert vorausblickend, doch sein sonst so sarkastischer Unterton war dabei vollkommen versiegt.

„Das kannst du laut sagen…“, fügte Moran murmelnd hinzu. Als Louis mit Clayton das Wohnzimmer betrat, wusste Amelia nicht, ob sie erleichtert sein sollte, da sie jetzt Rückendeckung bekam oder vor einen drohenden Rivalitätsstreit auf der Hut sein sollte. Clayton trug einen Zylinder, Umhang und seine schimmernde Halbmaske. Wie immer wirkte er, als wäre er vor kurzem im Theater, in die Rolle eines Phantoms geschlüpft. Jedoch machte sich keiner der gerade Anwesenden, über sein altbekanntes Auftreten lustig, da sie allesamt verinnerlicht hatten, dass dieser Mann einen nicht zu verkennenden Verstand besaß und sich für einen gewöhnlichen Straßengaukler, in unerreichbarer Höhe befand. Und das William Clayton und dessen Fähigkeiten anerkannt hatte. war Grund genug um seine Person zu würdigen.

„Ich grüße euch, Freunde der ewigen Nacht. Den Fängen der Verdammnis, können wir wohl alle nicht entrinnen. Aber die Lage ist zu ernst, um mir jetzt noch ein Späßchen zu erlauben. Das sich ein schwarzes Schaf unter meine treuen Männer gemogelt hat, bedaure ich zutiefst. Wer könnte wohl Yarik dazu angestiftet haben, eine solch grausame Gräueltat zu begehen und die aufrichtige Miceyla, vor eine dermaßen verheerende Bewährungsprobe zu stellen? Harley Granville? Über seinen Namen würden wir bestimmt dabei als erstes stolpern, wenn wir einen möglichen Tatverdächtigen auswählen müssten. Doch gerade ich weiß am besten, dass er die Sache ganz anders angehen würde. Denn schließlich bekam Miceyla eine lehrreiche Lektion geschenkt, die ihr auf ihrem weiteren Pfad der Dunkelheit stärken soll. Aber wer war es nun dann? Wenn wir alle mal unsere grauen Zellen etwas ansträngen, können wir uns sicherlich gut vorstellen, dass der wortgewandte Meisterverbrecher, für diesen makabren Akt nicht unbedingt außen vorzulassen ist…“, fiel Clayton direkt mit der Tür ins Haus und Amelia warf einen geschockten Blick auf William, der ihn durch schmale Augenschlitze selbstbewusst anfunkelte. Doch wenn sie es aus einer logischen Perspektive betrachtete und alle Sensibilitäten ausblendete, konnte sie es ihm nicht wirklich verübeln. Denn Miceyla war bereits in dem Moment zur Verbrecherin geworden, als sie sich den Moriartys angeschlossen hatte. Und um stark zu werden und um sich selbst schützen zu können, musste sie das Unangenehmste aller Dinge lernen… Er hatte nicht im Sinn, ihr damit schaden zu wollen. Im Gegenteil, seine Gedanken waren vor Sorge beinahe zerfressen um sie. Erst jetzt erkannte Amelia dies und sah sie nun, eine Liebe, die von düsteren Schatten überzogen wurde und darum kämpfte überleben zu dürfen. Es zerriss ihr das Herz und doch packte sie der Neid, dass sie einen solchen Herzschmerz mit Clayton niemals erleben würde. Denn liebende Herzen teilten sich jeden Schmerz und jedes Leid.

„Jedoch soll Ihnen verziehen werden. Daraus das Sie versuchen Harley einen Streich zu spielen, werde ich meine Vorteile ziehen. Aber Obacht mein kluger Freund, Sie sind drauf und dran ins offene Schussfeuer zu rennen… Und was hat es eigentlich mit den verdächtigen Entführern auf sich? Zu wessen Auftraggeber darf ich sie wohl einordnen…? Ist ja nicht so, dass diese mir völlig unbekannt wären… Schieben wir das erst mal beiseite. Erhoffen Sie sich nicht allzu viel von dem gutmütigen Detektiv. Um Miceyla zu retten, müssten Sie eine weitaus größere Aktion in die Wege leiten. Während Sie es sich zum Vergnügen machen, mit Harley und der Regierung einen stillen Machtkampf zu spielen, gedenke ich ihn und seine Vorherrschaft restlos auszulöschen…“ Clayton legte eine andächtige Pause ein, damit die tiefgründige Botschaft, von seinen Zuhörern in Ruhe verdaut werden konnte. Was er im Anschluss daran tat, verblüffte die gesamte Runde dann doch ganz beachtlich… Clayton nahm seine Maske ab und kniete sich direkt vor William nieder.

„Clay…“, hauchte Amelia mit heiser Stimme und ahnte, was er vorhaben mochte…

„William Moriarty, uns beiden ist Harley Granville ein Dorn im Auge. Daher ist es irrsinnig, wenn wir uns bis zu seinem Ableben, gegenseitig Steine in den Weg legen. Wir müssen handeln, denn wenn Harley Miceyla in seine Gewalt bekommt, beginnt eine Stunde der Finsternis, die all Ihre schlimmsten Alpträume übertrifft… Also halten Sie mich nicht von meiner Rache ab. Und…sollte Miceyla durch seine Hand Leid zugefügt werden, gebe ich Ihnen das Recht dazu, mich unverzüglich zu töten… Der Verlust einer Liebe ist der unerträglichste und deshalb will ich nicht für einen solchen verantwortlich gemacht werden. Diese Courage ist mir mehr als teuer. Und nun erheben Sie sich. Greifen Sie zur Waffe und befreien Sie Ihre Liebste. Weder Sherlock noch sonst einem steht dieses Recht zu. Das ist ein bescheidener Befehl von meiner Wenigkeit. Es ist eine feige Bequemlichkeit, einen schmerzvollen Verlust umgehen zu wollen. Denken Sie nicht nur an sich selbst und Ihre erzwungene Gerechtigkeit. Nehmen Sie sich, was Ihnen am Herzen liegt und lassen Sie es niemals los. Dies ist die einzige Habgierigkeit, für die ein Mensch sich nicht zu rechtfertigen braucht.“ Claytons betonende Ansprache endete und er machte keinerlei Anstalten, sich wieder erheben zu wollen. Williams rubinrote Augen, ruhten derweil mit einem sachten gedrückten Glanz auf ihm, wobei er eher durch ihn hindurch sah und versuchte, irgendwo in der Ferne Miceyla ausfindig machen zu können. Sollte er sie wieder in Armen halten, würden wohl keine Worte dieser Welt ausreichen, um ihre Tränen trocknen zu können. Entscheidungen und dessen Folgen, waren wohl auf ewig eine emotionale Herausforderung für das menschliche Herz…
 

Miceyla schlug benommen die Augen einen Spalt weit auf. Sie wollte sich an ihren vor Schmerzen pochenden Kopf fassen, doch man hatte ihre Hände mit eisernen Fesseln an die Wand gekettet. Ihre Kehle war völlig ausgetrocknet. Sie konnte nicht einschätzen, wie viele Stunden es zurücklag, seitdem sie das letzte Mal einen Schluck Wasser getrunken hatte. Ihr Durst übertraf sogar noch ihren Hunger. Generell fehlte ihr jegliche Einschätzung darüber, wo sie sich befand und wie viel Zeit verstrichen war. Doch zu ihrem eigenen Missfallen, erinnerte sie sich noch sehr gut daran, was alles seit ihrer Ankunft in Schottland geschehen war. Und nun befand Miceyla sich in einem modrigen Verlies. Und da es keine Fenster gab, konnte sie noch nicht einmal sagen, ob es gerade Tag oder Nacht war. `Will…habe ich alles vermasselt? Wäre die Mühe meiner Rettung es überhaupt wert…? Sherlock, ich kann mich nicht oft genug bei dir entschuldigen. Denn ich weiß, dass du über Leichen gehen würdest, um mich zu befreien…` Ihre derzeitige Lage und ihr stümperhaftes Handeln zu bedauern, half ihr auch nicht weiter. Meistens war es ja so, dass wenn man viel Zeit zum Nachdenken hatte, wie es bei ihr gerade der Fall war, einem entweder eine rettende Lösung einfiel oder man alles nur noch mehr dramatisierte. Sie wusste nicht weshalb, aber sie erinnerte sich an jene Unterhaltung mit Sherlock zurück, als sie gerade gemeinsam im Zugrestaurant speiste…

„Du meinst den Mann, mit der silbernen Brosche an seinem Hut, der vier Tische weiter von uns am Fenster sitzt?“ Eindringlich beobachtete Miceyla diese Person, ohne das ihr prüfender Blick auffiel.

„Japp, genau den meine ich. Also, weshalb reist der werte Herr wohl nach Schottland? Beginne mit seiner Tätigkeit, versuche sie zu ermitteln“, trug Sherlock ihr grinsend zum Test auf und wartete gespannt ab, wie weit sie dies anhand der Äußerlichkeiten ablesen konnte.

„Nun… Er ist recht ordentlich gekleidet und trägt einen maßgeschneiderten Mantel. Ich kenne die Schneiderei, welche diesen qualitativ hochwertigen Saum verwendet. Aber was bei diesem Mann ganz besonders auffällt, sind seine wie geleckt glänzenden, schwarzen Lederschuhe. Als er hereinkam und sich setzte, hat er erstmal seine Schuhe mit einem Taschentuch gesäubert und poliert. Er muss ein Schuhmacher sein, der von seinen Beruf so sehr vereinnahmt wurde, dass es für ihn zum Zwang geworden ist, auf die Pflege seines Schuhwerks zu achten. Und was den Grund seiner Reise betrifft… Eine Geschäftsreise ist es eher nicht. Da er einen Ehering trägt, ist er wohl verheiratet und hat möglicherweise Kinder. Daher ist es ungewöhnlich, als Familienvater für längere Zeit von Zuhause weg zu sein, wenn nicht gerade die Arbeit im Vordergrund steht. Könnte es die Flucht vor der eigenen Verantwortung sein? Vielleicht ist er auch zu leichtsinnig gewesen und hat Schulden gemacht. Und jetzt hofft er, anderenorts auf einen Neuanfang“, analysierte Miceyla freimütig den ihr fremden Zugpassagier, was in mehreren Spekulationen mündete. Sherlock hatte sie in Ruhe aussprechen lassen und unterbrach sie nicht dabei. Nun warf er selbst noch einmal einen scharfen Blick auf besagten Mann und ging auf ihre Annahmen ein.

„Korrekt, der Herr darf sich einen tüchtigen Schuhmacher nennen. Und deinen zaghaften Vermutungen, kann ich auch soweit zustimmen. Aber traue dich ruhig, da noch etwas mehr hineinzuinterpretieren. Vor einem erfolgreichem Leben, welches man durch den eigenen Verdienst aufgebaut hat, flüchtete man nicht einfach, wenn einem eine mittelschwere Krise ereilt. Es sei denn, man hat keine andere Wahl. Erpressung ist dabei ein entscheidender Faktor. Die manipulierende Macht der Erpressung, darf nicht heruntergespielt werden. Sie kann einen zu einer willenlosen Marionette werden lassen. Und dieser Mann kämpft gerade, ohne es sich anmerken zu lassen, den schwersten Kampf seines Lebens. Er lässt alles zurück, um seine Familie zu schützen und nicht mit ihm ins Elend zu stürzen. Vergiss dies niemals, Mia. Manchmal ist es unmöglich, dass was einem lieb und teuer ist, im friedvollen Einklang bei sich zu behalten. Manchmal, muss man seinen größten Schatz opfern und loslassen, um ihn fern von sich am Leben zu halten…“

Sherlock hatte recht, sie besaß ein scharfes Auge für die kleinsten Details. Jedoch vermischte sie die Realität zu sehr mit ihren eigenen Vorstellungen und dies verwehrte ihr den Blick auf die ganze Wahrheit. Nichtsdestotrotz hatte Miceyla mittlerweile dazugelernt. Wenn auch auf diverse harte Torturen… `Will, du wolltest mich das Töten lehren, richtig…? Schicktest du mich deshalb fort? Wenn dem so ist, hast du nicht nur das erreicht, sondern auch, dass ich ein lebloses Herz bekommen habe… Yariks totes Antlitz, werde ich so schnell nicht mehr vergessen können…` Diese bittere Feststellung, bohrte sich wie unzählige Nadelstiche tief in ihr Herz. Doch trotz ihrer elendigen Lage, flüsterte ihr die weise Stimme der Vernunft zu, dass nicht nur sie es war, die darunter zu leiden hatte. Sie zuckte jäh zusammen, als plötzlich jemand die knarzende Kerkertür aufschloss.

„Seht euch nur dieses jämmerliche Weibsstück an! Sie schreit ja nicht einmal, wie langweilig!“

„Recht haste! Da müssen wir eben etwas nachhelfen und herausfinden, ob sie noch einen Funken Leben in sich hat!“

„He, he, die Kleine hat wirklich einen tollen Körper, oder was sagt ihr? Los, entkleiden wir sie!“ Nun begann Miceylas Herz wieder vor Panik wie wild zu rasen. Sie konnte nicht zulassen, sich völlig wehrlos den Männern ausliefern zu lassen. Mit ihrer letzten Kraft, versuchte sie verzweifelt sich von den schweren Ketten loszureißen. Natürlich führte dies nur dazu, dass ihre Handgelenke vor Schmerz taub wurden.

„Nein! Aufhören! Hilfe! Irgendjemand…! Bitte…!“, schrie sie heiser und Tränen liefen ihr langsam über ihre glühenden Wangen, als die verdorbenen Männer begannen sie grob anzupacken und lustvoll grinsten, da sie ihnen genau die Reaktion schenkte, welche sie sich gewünscht hatten. Lieber sehnte sie sich einen raschen Tod herbei, als das miterleben zu müssen, was ihr unmittelbar bevorstand… Auf einmal erschien hinter ihren besessenen Entführern ein dunkler Schatten. Es war ein weiterer Mann, der mit einem langen, silbern glänzenden Degen herangepirscht kam. Geräuschlos schwang er seine elegante Waffe und schlug mühelos einem der Gesetzlosen den Schädel ab.

„William…bist du das…?“, wisperte Miceyla leise. Sie glaubte, dass es sich bei dieser perfektionierten Fechtkunst nur um ihn handeln konnte. Und sie war so benommen, dass sie nicht mal die Augen verschloss, als die Komplizen niedergestreckt wurden. Erst als die Gefahr durch ihre Entführer gebannt war erkannte sie, dass es sich keineswegs um ihren Liebsten handelte. Ihr Retter war ein großgewachsener Mann, der unter seinem dunklen Umhang eine Solldatenuniform trug, an der sich etliche funkelnde Orden befanden. Er hatte hellbraunes Haar, welches er ordentlich nach hinten gekämmt hatte. Seine tiefblauen Augen, welche sie ohne auch nur einmal zu blinzeln unbeirrt ansahen, erinnerten sie an die von Clayton. Voller Ehrfurcht und Bewunderung zugleich blickte sie diesen Mann an, der bislang kein einiges Wort gesprochen hatte und nun sorgsam ihre Fesseln löste.

„Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Es ist wie ein Wunder… Verzeihen Sie mir, ich habe Sie zuerst mit jemandem verwechselt. Dürfte ich Ihren Namen erfahren?“, dankte Miceyla höflich ihrem unbekannten Retter, als sie endlich befreit war. Doch sie ahnte nicht, dass auf ihre vermeintlich ausweglose Lage, die Hölle folgen sollte…

„Selbstverständlich, mein Fräulein. Es war nicht meine Absicht, Sie ein weiteres Mal zu überfallen. Gewiss ist mein Name Ihnen nicht befremdlich. Ich bin Harley Granville…“
 

Liebes Tagebuch. 13.5.1880
 

es existiert weder ein sicherer Ort auf dieser Welt, noch ist eine Flucht vor der Gefahr wirklich sinnvoll. Seit meiner frühen Kindheit, habe ich nicht einmal versucht, vor meinem Unglück davonzulaufen. Zwar waren es alles negative Lektionen, die man mich lehrte, doch haben gerade diese mich abgehärtet und auf das unbarmherzige Leben vorbereitet. Doch bei all dem erfahrenem Leid, sollte es nicht egoistisch sein, wenn man sich Wärme und Geborgenheit herbeisehnt. Ob man es glaubt oder nicht, eine Steigerung des eigenen Unglücks gibt es immer. Und etwas zu schützen, um es vor Bedrohungen zu bewahren, ist keine Lösung. Ein Verlust bleibt ein Verlust. Die Reise nach Schottland, ist nur ein kleiner Teil einer noch viel größeren Reise. Eine Reise, bei der ich dem erbitterten Kampf um Gerechtigkeit beiwohne und selbst zur Verbrecherin werde. Als eine solche könnte ich sie beschreiben. Und die besitzergreifende Gefühlsgewalt, welche zwischen Liebe und Freundschaft ständig hin und herspringt, als ein ewiger Wegbegleiter. In einer Welt, in der sich jeder einzelne Mensch vom jeweils anderen unterscheidet und eine eigene Vorstellungskraft besitzt, wird es immer das Gute, als auch das Böse geben. Jetzt wo ich ein Leben auf dem Gewissen habe, ist mir noch mal ganz besonders klar geworden, dass Akzeptanz und der Blick nach vorn entscheidend ist, um nicht von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Eine positive Sichtweise, kann nur jeder für sich persönlich erschaffen. Das Zutun von anderen, spielt dabei nur eine nebensächliche Rolle. Und nun begegnete ich jenem Menschen, bei dem ich glaubte, ihn anhand etlicher Beschreibungen, zu einer gewissen Kategorie Mensch einordnen zu können. Doch es treffen Begegnung und Vorstellung aufeinander. Und nicht nur das. Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass. Und was entsteht wohl, wenn das Gute sich mit dem Bösen vermischt? Gibst es bloß jeweils eine Seite, oder existiert dazwischen vielleicht noch eine Unscheinbare, die uns bislang verborgen geblieben ist? Manchmal, müssen wir nicht nur unsere Augen und unseren Verstand richtig öffnen, sondern auch unser Herz…
 

Lebloses Herz
 

Mein Herz getränkt mit schwarzem Blut,

mein Körper bebt vor Schmerz in der brennenden Glut.

Nirgends kann ich hin fliehen, da meine Beine sind taub,

Dunkelheit umgibt mich, da meine Augen blind sind von all dem Staub.
 

Ich kann nicht bestehen gegen deine Bosheit,

bis zum tödlichen Ende ist es nicht mehr weit.

Wer wird mich retten in meiner Not?

Das Meer verschluckt mich in seinem blutigen Rot.
 

Ach könnte ich doch entkommen durch eine kleine Lücke,

sieh wie meine Hoffnung fällt von der hohen Brücke.

Stumm geworden bin ich aufgrund der ganzen Hilferufe,

obwohl ich weiterhin wie eine leblose Hülle, hier nach wahrem Glück suche.
 

Es flüstert in mir ganz sanft und lieblich,

als wäre alles in Wahrheit friedlich.

Eines Tages trete ich dir mit demselben Blick gegenüber, mit dem du immer auf mich herabschaust,

es wird bitter für dich, auch wenn du mir dies nicht glaubst.
 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

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