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Großstadtgeflüster

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Song für dieses Kapitel (endlich mal Techno):

BAAL - Babel Komplett anzeigen

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Babel

„Warum nehmen wir die Bahn?”

„Weil es witzig ist.”

„Aha. Und wo steigen wir noch mal aus?”

„Karl-Marx-Straße.”

„Ausgerechnet…”

„Ralf. Halt die Klappe und trink dein Wegbier”, unterbrach Kai die Auseinandersetzung seiner beiden Kollegen brüsk auf Deutsch. Giancarlo blickte ihn erschrocken an, doch Ralf führte brav seine Flasche zum Mund. Nach zwei Stunden Vorglühen wurde selbst er zahm - und Kai unvorsichtig genug, um auszusprechen, was er dachte. Dabei waren sie noch gar nicht betrunken, höchstens ein wenig angeheitert. Sie hatten ziemlich lange bei Giancarlo im Penthouse in der Nähe des Alexanderplatzes gehockt, denn nichts war uncooler als zu früh vorm Club zu stehen. Ralf war das alles nicht gewöhnt, er hatte schon um elf angefangen zu murren, und selbst Kai musste sich eingestehen, dass er seine Ausgeh-Routine verloren hatte. Vielleicht lag es aber auch einfach nur an Giancarlos unerträglicher Italopop-Playlist, die er zwei Stunden lang in Dauerschleife hatte spielen lassen.

Die U-Bahn kam rumpelnd zum Stehen und mit ihnen stiegen fast alle aus. Direkt vor ihnen stand mitten auf dem Bahnsteig ein winziger Imbiss, in dessen Auslage sich Pogaca, Simit und Börek stapelten. Auf der Bank daneben hockten ein paar Gestalten, die Farben waren verwaschen und erdig. An der Wand alte, vergrößerte Fotografien von Gebäudekomplexen.

Ralf wirkte befremdet. „Wo genau sind wir hier?”

„Mitten in Neukölln”, antwortete Kai und Giancarlo hakte sich kurzentschlossen bei Ralf unter, um ihn mitzuziehen. Vielleicht wollte er auch einfach nur verhindern, dass der sich mit einem Satz in die nächste U-Bahn, die gerade einfuhr, rettete.

Kai führte sie aus dem Bahnhof heraus und in die nächste Seitenstraße, musste sich ein bisschen anstrengen, um bei der nächsten Ecke richtig zu liegen. Es ging über Kopfsteinpflaster und hohe Bordsteine und Ralf hinter ihm murmelte irgendwas von versuchter Entführung, woraufhin er nur die Augen verdrehte. Dann kamen Menschen in Sicht.

„Ach du heilige…”, stieß Ralf aus als ihm aufging, wie lang die Schlange vor dem Einlass war. Dann blickte er Giancarlo an. „Sag mir bitte, dass wir auf der Gästeliste stehen.”

„Sicher!”, sagte Giancarlo.

„Das muss aber nichts heißen”, brummte Kai, „Manchmal stehen alle auf der Gästeliste.” Sie liefen an der Menge vorbei und steuerten auf eine recht unscheinbare Tür in einer nackten Betonwand zu. Davor - drei Türsteher, einer breiter als der andere. Allerdings auch ein zweiter Einlass, und das ließ Kai Hoffnung schöpfen. Er trat näher und hoffte inständig, dass Giancarlo Recht hatte mit der Gästeliste. Sonst würde das hier ziemlich peinlich werden.

Einer der Türsteher, ein großer Typ mit hellen Haaren, kam zu ihnen herüber und musterte sie kühl von oben bis unten. „Name?”

Sofort war Giancarlo zur Stelle und schaffte es tatsächlich, nüchtern zu wirken. „Tornatore, Hiwatari, Jürgens. Wir sind Gäste von Olivia.”

„Hmhm”, machte der Türsteher gelangweilt und zog ein Handy hervor. Auf diesem musste die Liste gespeichert sein, denn nachdem er eine Weile gescrollt hatte, nickte er. „Ich brauche trotzdem die Ausweise.” In einer ungeduldigen Geste streckte er einen seiner muskulösen Arme aus und machte eine auffordernde Bewegung. Seine grünen Augen wanderten erst über die Karten, dann über ihre Gesichter. Bei Ralf stutzte er kurz; wahrscheinlich war ihm Jürgens-McGregor ein Begriff. Er nickte noch einmal und tippte dreimal auf sein Display, bevor er sie durchwinkte. „Jo”, sagte er über die Schulter hinweg zu einer Frau, die etwas weiter im Gang stand, „Die können Backstage zu Olivia. Na los.” Mit einer Kopfbewegung scheuchte er sie weiter. „Abflug. Viel Spaß.”
 


 

„Wow”, stieß Mathilda aus, als sie um die Ecke bogen und einen Blick auf die Schlange erhaschten. „Wird echt voll heute.” Yuriy nickte nur und ging voran zum Eingang des Zentrums. „Hey, Borya!”, rief er und sah, wie sein Mitbewohner sich sofort von seinen Kollegen löste und zu ihm kam. „Yura!” Sie umarmten sich wie verloren geglaubte Brüder und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. Es war ihr Ritual. Über Boris’ Schulter hinweg sah Yuriy, wie sich die Gesichter einiger Wartender - die nicht wussten, dass man sich so was nie anmerken lassen durfte - neidisch verzogen. „Guckt nicht so”, sagte Boris laut zu ihnen, während er Mathilda und Yuriy vorbeiließ. „Das sind eure DJs. Und wenn ihr nicht nett zu mir seid, lass ich euch nur rein, wenn ihr mir ihre Namen nennen könnt!” Yuriy grinste und machte, dass er wegkam. Es war ihm das Liebste, wenn er möglichst ungesehen zu seinem Pult kam und sich dann dahinter vergraben konnte, was dank der Dunkelheit, die unten auf dem Floor herrschte, problemlos möglich war.

Hinter der Tür öffnete sich ein hoher, langgestreckter Raum. Eine breite Treppe führte unter die Erde, wo sich eine zweite Schlange vor der Kasse und dann noch mal eine vor der Garderobe gebildet hatte. Hier war schon das Wummern der Musik zu hören und es wurde schlagartig dunkler. Das wenige Licht, das es noch gab, kam von den Bars und war meist rot. Auf dem 90s-Floor legte gerade noch eine andere DJane poppige Chartmusik auf, die meisten zog es aber in die Haupthalle. Der Electro-Floor, der in Kürze ihnen gehören würde, füllte sich in der Regel erst später.

Es blieb ihnen noch eine knappe halbe Stunde und Mathilda war es zu chaotisch, also zog sie Yuriy mit sich in den Backstage-Bereich. Dieser bestand eigentlich nur aus ein paar Räumen, in denen sich die wichtigeren Menschen (also wichtiger als sie) auf ihre Auftritte vorbereiten konnten. „Ich will Olivia noch kurz sehen”, erklärte Mathilda. Sie hatten sich vor ein paar Wochen persönlich kennengelernt und Olivia war seitdem hingerissen von ihr, vor allem von ihrem Können am DJ-Controller.

Als sie vor Olivias Tür standen klopfte Mathilda kurz an, bevor sie den Kopf in den Raum steckte. „Hi Olivia, stören wir?” Ein Schwall Worte empfing sie, aus dem sie gerade so entnehmen konnten, dass sie eintreten durften.

Olivia war eine zierliche Gestalt und zog genau deswegen bei jedem ihrer Auftritte waghalsig hohe Plateauschuhe an. Wie ihre Füße das aushielten war Yuriy schleierhaft. Heute trug sie ein winziges, blaues Glitzerkleid und hatte sich pinke Clips in ihre grünen Haare gesteckt, die sie zu einem lockigen Ungetüm auftoupiert hatte. Ihr Make-up war wie immer tadellos, nur die Lippen waren noch nicht fertig. Auf dem Tisch vor ihr Stand eine Flasche Sekt.

„Mathilda, mein Schatz!” Die beiden begrüßten sich mit mindestens drei Wangenküssen, dann fiel Olivias Blick auf Yuriy. „Yuriy! Komm her, Großer!” Sie hüllte ihn mit ihrer Umarmung in eine Wolke aus Haar, Pailletten und Parfum. „Trinkt ihr ein Glas mit mir?”, fragte sie und griff schon nach der Sektflasche. Yuriy hob abwehrend die Hand, denn er trank nicht gern vor den Auftritten, aber Mathilda nahm dankend ein Glas entgegen.

Sie setzten sich auf das durchhängende Sofa, das neben der Kleiderstange gerade so Platz hatte, und Olivia schlug die Beine übereinander. „Ich muss euch was erzählen”, sagte sie, „Ich hab einen Neuen.”

„Ernsthaft oder nur zum Aushalten?”, spottete Yuriy.

„Du kleines Aas!”, stieß Olivia empört aus. Sie griff nach einem glitzernden Stück Stoff, das neben ihr lag, und warf es in Richtung seines Kopfes. „Das weiß ich noch nicht so genau”, gab sie dann zu, „Aber beides würde gehen.”

„Oho, er ist reich”, sagte Mathilda, die zufrieden an ihrem Sekt nippte. Olivia wiegte den Kopf. „Könnte man so sagen. Er arbeitet für Jürgens-McGregor.”

„Nicht dein Ernst!” Yuriy, der gerade den Stoff ausgebreitet hatte, nur um zu erkennen, dass es sich um ein sehr knappes Top handelte, ließ die Hände sinken. „Mit so was gibst du dich ab? Du weißt doch genau, dass Jürgens-McGregor die halbe Stadt gehört! Das sind Heuschrecken!”

„Erspar mir deine Predigt!”, entgegnete Olivia, „Giancarlo ist nur ein Handlanger. Und ich muss auch sehen, wo ich bleibe.” Yuriy verdrehte die Augen; er wusste ganz genau, dass sie in einer riesigen Altbauwohnung in der Nähe des Kudamms wohnte - sie postete ständig Bilder auf den einschlägigen Social-Media-Plattformen. Olivia Emerald war die letzte von ihnen, die Not litt.

Sie betrachtete ihre Fingernägel. „Außerdem ist er heiß. Wisst ihr, wie lange ich schon keinen Verehrer in meinem Alter mehr hatte? Normalerweise schicken mir nur irgendwelche verzweifelten Mittvierziger Blumen und holen sich auf mein Bild einen runter. Aber Giancarlo! Der haucht wieder Leben in diesen abgestandenen Fummel!” Dabei deutete sie theatralisch an sich herunter und schlackerte mit den Knien.

„Das ist schön, Olivia, wirklich”, sagte Mathilda versöhnlich und Yuriy war klug genug, jetzt zu schweigen.

„Danke, Schatz”, entgegnete Olivia, „Ich habe Giancarlo übrigens heute eingeladen, und er sagte, er würde Ralf Jürgens mitbringen.”

Jetzt verschlucke Mathilda sich doch an ihrem Getränk. „Ralf Jürgens?”, fragte Yuriy, der sich unter diesen Umständen nicht zurückhalten konnte. Gleichzeitig beugte er sich vor, um der hustenden Mathilda auf den Rücken zu klopfen. „In unserem Club? Was für eine zweifelhafte Ehre. Ich glaube, ich möchte doch Sekt.”

Olivia ließ ihn sich selbst bedienen, vermutlich war sie noch beleidigt über seine abfälligen Bemerkungen. Sie drehte sich zu ihrem Spiegel um und begann, ihre Lippen zu konturieren, während Mathilda hastig ein belangloseres Thema anschnitt, bevor Yuriy in einen nicht ganz unpolitischen Monolog verfallen konnte. Stattdessen verfolgte er von diesem Moment an das Gespräch nur noch halb, trank lieber ein paar kleine Schlucke Sekt, die ihm auf der Zunge kribbelten, und widmete sich für ein paar Minuten seinem Handy…

Bis mit einem Mal die Tür aufgerissen wurde. „Gioia mia! Bellina!”

Olivia stieß ein Juchzen aus und ließ alles stehen und liegen, um einem hübschen Blonden in die Arme zu springen, der im Türrahmen stand. Yuriy und Mathilda warfen sich einen Blick zu. Das musste dann wohl Giancarlo sein… Die beiden turtelten eine ganze Weile herum, bevor sie sich an den Händen fassten und Olivia Giancarlo ein Stück in den Raum hineinzog. „Lass mich dir meine Freunde vorstellen”, sagte Giancarlo und wies hinter sich. Von ihrer Position auf dem Sofa aus konnten Yuriy und Mathilda die anderen nicht sehen, da diese immer noch draußen standen. „Das ist Ralf Jürgens, mein Boss. Und das ist Kai Hiwatari, einer meiner Produktmanager.” Yuriy hörte dunkles Stimmengemurmel und Olivias helle Erwiderungen. Wenn jetzt alle hereinkamen, würde es ganz schön voll werden. Er sah auf seine Uhr; ihnen blieben noch zehn Minuten bis zu ihrem Set. Also stieß er Mathilda an und machte eine Kopfbewegung Richtung Tür, woraufhin sie nicke und den Rest Sekt hinunterstürzte.

Sobald er stand, fiel Yuriys Blick auf einen Kerl, der so deutsch aussah, dass es wehtat. Es musste Ralf Jürgens sein. Sein Gesicht kam ihm vage bekannt vor, was aber auch nicht verwunderlich war, denn Jürgens war oft genug in der Zeitung. Sie nickten sich kurz zu und Yuriy hoffte inständig, dass seine Begleiter ihn mit Bier versorgten, damit er ein bisschen aus sich herauskam. Ansonsten würde er hier heute keinen Spaß haben.

„Ach ja!” Olivia drehte sich halb zu ihnen um, freilich nicht, ohne Giancarlos Arm loszulassen. „Das sind Mathilda und Yuriy, die legen heute hier auf - quasi in Konkurrenz zu meinem Floor.” Sie grinste, doch in ihren Augen blitzte die Herausforderung. Jedes Mal, wenn sie in der gleichen Nacht wie Olivia auflegten, entbrannte zwischen ihnen ein Konkurrenzkampf um den am besten gefüllten Floor. Der Punktestand blieb ausgeglichen, denn die Stimmung des Publikums änderte sich wie das Wetter in den Bergen.

„Davai, davai, Olivia”, sagte Yuriy nur, „Du musst auch gleich raus, sonst hast du keine Chance mehr!” Mit diesen Worten schob er sich an den anderen vorbei und trat auf den dunklen Gang hinaus - nur, um in jemanden hineinzulaufen. „Whoops, sorry!” Erst dann sah er genauer hin. Vor ihm stand der zweite Typ aus Giancarlos Entourage. Das erste, was Yuriy an ihm auffiel, war, wie gut sein Hemd an ihm saß. Und die Augen. „Sorry”, wiederholte er leise.

Der andere mache einen Schritt von ihm weg. Yuriy hörte, wie Olivia und Mathilda sich hinter ihm lautstark verabschiedeten.

„Ihr seid Ostblocc, oder?”, fragte der Typ und überraschte ihn zum zweiten Mal, indem er die Landessprache benutzte.

Yuriy fing sich und grinste: „Richtig. Sag bloß, du bist so einer, der das Programm auswendig lernt, bevor er in den Club geht?”

Der andere spielte sofort mit: „Sicher. Man kann ja nie wissen bei den Türstehern…Manche ziehen die reinste Quizshow ab.”

„Ha. Manchmal fragt Boris tatsächlich danach, wenn ihm langweilig ist. Oder er jemanden nicht mag.” Kurz entschlossen stellte er sich noch einmal selbst vor. „Ich bin Yuriy.”

„Kai.” Sein Gegenüber schüttelte die dargebotene Hand.

„Also dann, Kai”, sagte er und merkte, wie Mathilda in diesem Moment endlich neben ihn trat, „Ich hoffe, ich sehe euch nachher auf unserem Parkett.”

Die dunklen Augen wanderten noch einmal über ihn. „Bis später, Yuriy.”

Als er an der Tür zum Clubraum stand, sah er noch einmal kurz zurück. Sein Blick begegnete dem Kais, der die Augenbrauen hochzog. Yuriy grinste ihn an, dann ging er nach draußen.

Auf dem Electro-Floor dudelte Dosenmusik vor sich hin. Die Tanzfläche war so gut wie leer, nur an der Bar in der Ecke saßen ein paar Menschen und beobachteten sie. Während sie sich hinter das Pult zwängten und ihre Laptops und externen Speicher anschlossen, zählte Yuriy die BPM der Musik mit. „Das ist jetzt auf 110”, sagte er zu Mathilda, „Ich würde das erstmal ganz gemächlich auf 128 hochbringen, und dann gucken wir mal, was passiert. Wenn die Stimmung passt, geh ich noch ein bisschen rauf und dann kannst du dich austoben.”

„Klingt gut, ich hab auch noch ein paar Tracks, die ich früher reinbringen kann, wie abgesprochen.” Sie setzte kurz ihre Kopfhörer auf, um die Verbindung zu überprüfen, dann nickte sie zufrieden. „Ich bin soweit. Hast du eigentlich ein Intro?”

„Quatsch, ich mach hier keinen Aufriss.” Der laufenden Track lag auf einer Spur und Yuriy machte sich daran, ihn auszublenden, während er gleichzeitig sein erstes Stück aufdrehte. Der Unterschied in der Klangqualität war sofort zu hören, denn dank des Mixers konnte Yuriy die einzelnen Höhen und Tiefen viel besser kontrollieren. Die Leute an der Bar kamen langsam auf die Tanzfläche. Mathilda war vollkommen auf ihre Tracks konzentriert, beinahe nebenbei mischte sie ein bisschen mehr Bass unter den Sound. Nun streifte auch Yuriy seine Kopfhörer über und vertiefte sich in seine Klangwelten.
 


 

„Der hat dir gefallen!” Giancarlo feixte und schob ihm einen Wodkashot und ein Bier zu. Sie hatten es an die zur Bar auf dem Main Floor geschafft, der sich in einem hohen Raum befand. Die Umgebung sah stark nach alter Lagerhalle aus; unter der düsteren Decke wogten die Leute zu den neuesten Chartknüllern hin und her.

Kai hob eine Augenbraue. „Wen meinst du?”

„Den Typen von vorhin. Den DJ. Na?”

„Der passt doch gar nicht Kais Schema. Und jetzt hör auf zu nerven”, unterbrach Ralf und stellte sich, den Shot in der einen, die Flasche in der anderen Hand, zwischen sie. Kai öffnete den Mund - Ralf war die letzte Person, die sich Bemerkungen über sein angebliches Schema erlauben konnte. Doch dann entschied er, dass das nicht die Diskussion wert war, die er hier drohte, vom Zaun zu brechen.

„Prost.” Ralf schien fest entschlossen, sich diesen Abend schön zu trinken. Als sie gerade die Köpfe in den Nacken gelegt hatten, kam Olivia ein letztes Mal zu ihnen, um sich mit einem Drink zu versorgen, bevor auch sie zu ihrer Station gehen musste. „Die sind nicht schlecht. Ostblocc, meine ich”, rief sie über den Lärm hinweg, „Solltet ihr euch nachher mal geben. Die Kleine…” Sie unterbrach sich, um dem Menschen hinter der Bar das Glas abzunehmen und sich mit einem Luftkuss zu bedanken. „Mathilda ist der Hammer. Man sieht es ihr nicht an, aber sie steht voll auf Trance und Goa und solches Zeug. Schon ziemlich hart. Und der Lange, Yuriy - klassischer Berliner Techno. Minimalistisch, bisschen düster. Hat ein gutes Händchen. Also geht ruhig mal rüber.” Sie zog Giancarlo zu sich heran, um ihm einen letzten Kuss zu geben. „Ciao, bis gleich, ihr Süßen!” Dann rauschte sie davon.

Giancarlo trank einen großen Schluck Bier, dann knallte er die Flasche auf den Tresen, sodass sie überschäumte. „Also? Auf geht’s!”

Weder Kai noch Ralf rührten sich. „Ich bin nüchtern”, stellte Kai fest, „Und ich habe kein Verständnis für europäische 90s. Also nein, lieber nicht.”

„Aaah ja”, spottete Giancarlo. „Der große Kai Hiwatari, der zwar schon fast drei Jahre in dieser Stadt lebt, sie aber nie, nie, nie an sich ranlässt. Denn er ist nur hier, weil sein Großvater will, dass er Karriere in Europa macht. Und sobald er in die höheren Ligen aufgestiegen ist, ist er weg, weg, weg.”

„Sagt derjenige, der gerade mal ein Bier in der Landessprache bestellen kann, und das nicht einmal grammatikalisch richtig!”, giftete Kai zurück. Er fühlte Ralfs Hand an seinem Oberarm und das beruhigende, aber schon etwas schwache Tätscheln. Und tatsächlich fühlte Kai so etwas wie Dankbarkeit für den anderen, denn im Gegensatz zu Giancarlo wusste Ralf genug, um seine Situation zu verstehen. Auch wenn er ansonsten ein Arschloch war.

„Nächste Runde auf mich”, sagte Ralf, „Und dann geben wir uns die verdammten Neunziger, okay?”

Und so fand sich Kai leider wesentlich früher als erhofft auf der grünlich ausgeleuchteten Tanzfläche. Der Boden war mit Fliesen ausgelegt und um das DJ-Pult, hinter dem Olivias Haarturm aufragte, rankten sich künstliche Pflanzen. Das Ganze verlieh dem Raum den Charme eines verwilderten Badezimmers. Die Musik passte am wenigsten zur Atmosphäre, aber Olivias treue Anhängerschaft ließ sich dadurch nicht beirren und vogue-te sich durch die Nacht. Giancarlo zog mit: er konnte nicht wirklich gut, dafür aber umso auffälliger tanzen, was wie gemacht schien für die (in Kais Ohren) trashige Musik. Und er war textsicher. Ralf hingegen fand immer wieder Gründe, um kurz zu verschwinden; Kai hegte den Verdacht, dass er heimlich an der Bar weitere Shots kippte, denn jedes Mal, wenn er wieder kam, schien er etwas gelöster. Bis auch er komplett ausrastete und in wildes Rumgehampel verfiel. Was war das nur mit jungen Business-Mackern und Partys?

Mit diesem Autounfall von Kollegen um sich herum zog Kai mehr Aufmerksamkeit auf sich, als ihm lieb war. Irgendwann ergriff er die erstbeste Gelegenheit und duckte sich weg, um ungesehen aus dem Raum zu kommen. Als er auf Höhe der Toiletten stand, wurde das Gerumpel aus Olivias Boxen von der allgemeinen Geräuschkulisse überdeckt. In der Haupthalle schien noch immer die Post abzugehen, doch ein kleiner Strom Menschen bewegte sich in Richtung des etwas versteckt liegenden Electro-Floors. Kurz entschlossen steuerte Kai die erstbeste Bar an, um sich noch ein Bier zu besorgen. Dann folgte er der Menge.

Obwohl er nicht zum ersten Mal im Zentrum war, hätte er nicht zu sagen vermocht, wie die Räume hier angelegt waren. Alles war mit allem verbunden, meist über verwinkelte, enge Gänge, deren Wände eine unbestimmte, dunkle Farbe hatten. Wenn man nicht damit rechnete, stolperte man durch irgendeine Tür in den Raucherbereich (den man, wenn man ihn suchte, niemals von allein fand). Es gab Gerüchte, dass es neben den drei bekannten Tanzflächen noch eine vierte, geheime gab, doch daran glaubte Kai nicht. Die Bars hingegen waren so zuverlässig platziert, dass niemand dursten musste und die Toiletten waren der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Clubs (sie hatten mehrere Ausgänge und wer aus Versehen den falschen nahm, war auf immer verloren).

Um auf den Electro-Floor zu kommen, musste er sich an einer weiteren, überfüllten Bar vorbeischieben. Danach trat er in beinahe völlige Finsternis, die Decke verschwand in den Schatten. Nur ein paar Strahler geisterten die Wände entlang und leuchteten die Tanzenden aus. Der Raum war erfüllt von einem tiefen Technobeat, über den sich nur wenige andere Tonspuren legten. Nicht zu schnell, aber bei weitem auch nicht so langsam, dass es langweilig wurde.

Die Menge schien in guter Stimmung zu sein, was erstaunlich war, denn das Zentrum war nicht als Technoschuppen bekannt. Als sich die Musik das nächste Mal zu einem Höhepunkt erhob, dem der Bass Drop in eines neues Stück folgte - härter diesmal, und schneller - wurden einige begeisterte Rufe laut. Die Tanzenden passten sich bereitwillig dem neuen Beat an. Über die vielen Köpfe hinweg erkannte Kai das Pult am anderen Ende des Raumes, konnte aber nicht die beiden DJs ausmachen. Unschlüssig blieb er am Rand stehen und trank ein paar Schlucke Bier. Er fühlte sich nicht allzu wohl dabei, alleine auf der Tanzfläche zu sein, aber hier war es allemal besser als drüben auf dem 90s-Floor.

Erst als die Flasche leer war, setzte er sich wieder in Bewegung. Und zwar nicht, um den Rückzug anzutreten, im Gegenteil: langsam trat er in die Menge der Tanzenden ein und ließ sich von ihr umschließen.

Es war dunkel; was sollte schon passieren?



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  WeißeWölfinLarka
2020-04-07T08:07:42+00:00 07.04.2020 10:07
Omg.
Irgendwie klingt der Verweis auf Giancarlos Italopop-Songlist wie ein liebgemeinter, frecher Seitenhieb auf Wolfi :D

Ich kann aber verstehen, dass der hellhaarige, muskulöse Typ mit den grünen Augen für Sergei gehalten wurde… hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich das auch vermutet. (GRev hat uns allen andere Größenverhältnisse vermittelt…)
Und jetzt lach nicht, aber… Jürgens-McGregor ist ein Doppelname, so wie in verheiratet, ja? Oh Mann, und ich dachte wirklich, Ralf hätte was gegen das Zentrum, weil dort Schwule tanzen, aber er hat was gegen einen Club, oder was? Oh weia…

Ich mag Yura und Borya, die verloren geglaubten Brüder… Liebes Ritual. Dabei haben die sich doch noch zuhause gesehen :D Ich habe immer mehr Fühle für Boris. Hach. Der ist frech. Aber noch auf die nette Weise. :)

(während des Lesens ist die Berlin AU Hitliste auf „Feierabend“ gesprungen, das irritiert mich ein wenig…)

Habe ich schon erwähnt, dass mich die Geschichte sehr fesselt? Heute ist eigentlich „Dienst-tag“, geplant war arbeiten, aber… ich muss dieses eine Kapitel noch lesen… und vielleicht dann noch eins… oder belohne ich mich damit dafür? …. Soooo schwierig!

Jedenfalls, der Backstagebereich ist Zucker! Aber nicht nur. Es ist interessant, wie viel Macht Ralf zu haben scheint, und er scheint auch ein Profitgeier zu sein. Bei Olivias Aussage auf „in meinem Alter“ hab ich erst gelacht und dann ein wenig angewidert Bilder in meinem Kopf von schwitzenden Ü-40ern gesehen, die sich einen wedeln vor ihrem Bild… mhmmm^^°
>> Sobald er stand, fiel Yuriys Blick auf einen Kerl, der so deutsch aussah, dass es wehtat. <<
Ich kann nicht!!!! Das denk ich mir auch JEDES Mal, wenn ich von Ralf höre oder ihn sehe XD

oooookay…
Calm down, inner fangirl!
Ich hype hier grad die Begegnung von Yuriy und Kai SO! SEHR! Ich könnte QUIETSCHEN!
Ehrlich gesagt frage ich mich die ganze Zeit, ob es wirklich die richtige Interpretation ist, die ich aus deinen Worten lese. Ich werde es später erfahren, aber… ich sehe angedeutetes, sich entwickelndes Yuka *~<:)

Und Yuriy sollte sich ein Intro überlegen. Er SOLLTE einen Aufriss machen! (Und auch enge Jeans mit lecker Oberteilen tragen :D Am besten welche, die sein Tattoo zeigen…. ) [Objektifiziere ich ihn hier gerade? … mhhhhh ein bisschen vielleicht.]

So jetzt sag doch mal, wie tief musstest du für die DJ-Finessen graben in der Recherche?
Es gib so viele Aspekte, die du in deiner Geschichte verarbeitest, und alles wirkt im Fluss und gut recherchiert. Es ist so angenehm, das zu lesen, weil es keine Brüche in der Logik oder so gibt (jedenfalls keine, die ich sehe).
Ich finde es auch sehr spannend, dass du Kai Familienprobleme mit seinem Großvater gegeben hast – und nicht die Nullerjahre-Missbrauch-Grusel-Probleme, sondern welche, die mit Prestige und Ausbildung zu tun haben. Es ist ja schon sehr frech von Giancarlo, Kai das unter die Nase zu reiben, aber umso lieber ist es, zu sehen, dass Ralf (of all people!) versucht, Kai zu beruhigen, auch „wenn er sonst ein Arschloch ist“. Ich finde es so erfrischend, wie viele verschiedene Facetten du deinen Charakteren gibst, und das manchmal nur durch kleine Gesten und neckenden Worten anderer Charaktere und das gefällt mit total.
Die Auseinandersetzung, in der Kai giftig wird, ist toll. Ich mag diese leicht Aufbrausende, das Kai an den Tag legt, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlt.

Bei „Olivias Haarturm“ denke ich immer an Olivia Jones krasse Frisur. Sie ragt also hinter dem DJ Pult auf, ja? :D Stell ich mir sehr ulkig vor. (NICHT negativ konnotiertes ulkig!)

>> Was war das nur mit jungen Business-Mackern und Partys?<<
Ich sehe einen immer mehr aufgelösten Ralf auf der Tanzfläche, dessen Haare, die sonst immer adrett und penibel gekämmt sind, sich immer mehr aus der Frisur lösen und widerspenstiger werden, bis er auch einfach nur krass headbangen könnte… (das würde dann auch zur Beschreibung „Autounfall von Kollegen“ passen… XD)

Wie heißt noch mal der Club, der als Vorlage für dein Zentrum dient?
Ich hab mich jetzt selbst in der Beschreibung verloren! Nein, Spaß, ich finde die Beschreibung des labyrinthartigen Clubs sehr gelungen und witzig :D


>> Es war dunkel; was sollte schon passieren?<<
Ein so – SO! – vielversprechender, letzter Satz für das Kapitel! Das kann doch nur weiteres, unerwartetes „Drama“ nach sich ziehen! Ich liebe diesen Satz. Er verursacht Kribbeln in mir. Vorspannung. Wie ein Bogen, den man spannt, bis man ihn aufs Ziel loslässt… Ahhhh, ich bin froh, dass ich nicht auf ein neues Kapitel warten muss, ich glaube, ich wäre GESTORBEN, wenn ich hätte warten müssen! /theatralik aus ;)
Nein, aber ernsthaft. Der Satz hyped total auf das nächste Kapitel!

Von:  Phoenix-of-Darkness
2020-03-31T08:52:56+00:00 31.03.2020 10:52
Der Anfangsdialog!!!!! XD
Oh ich glaube, mir gefällt der angetrunkene Kai, der seinem Vorgesetzten anmotzt und dann auch noch auf Deutsch.
In meinem Kopf hat er auch ein relativ hartes Deutsch drauf. (Wobei unsere Muttersprache hier ja auch als hart gilt - ich sag nur SCHMETTERling) ^^"

Ich war schon begeistert von diesem Trio, aber hier in dem Kapitel hast du es noch viel genialer gestaltet.
Ralf der so....so deutsch ist, dass es selbst für einen Deutschen zu deutsch ist und dann Kai mit seinen Kommentaren und der aufgedrehte Giancarlo. Ich liebe es.

Die Szene mit den Türsteher. Oh Boris war so IC!!!
Ich muss gestehen, dass ich bei hellen Haaren auch erst an Sergej dachte, aber die grünen Augen hatten mich dann doch an Boris verwiesen und ich muss sagen, dass er auch gern vor meiner Tür stehen dürfte *hüstel*

Die Zusammenkunft von Mathilda, Yuriy und Olivia~
Hach, auch dieses Trio hat viel Dynamik. Herzhaft lachen musste ich bei Yuriys Kommentar und das er es ab dem Moment sich etwas mit Olivia vergeigt hatte.
Amüsiert hat mich "Olivia" allgemein. Ich sehe zwar manchmal Olivia Jones Körpersprache vor mir, aber das tut dem Ganzen ja nichts ab. Ich liebe deine Olivia und auch wie sie über Giancarlo spricht. Du hast sie bezüglich ihrer Beziehungen sehr menschlich dargestellt. Sie wirkte nicht zu überheblich und ich fand sie sehr sympathisch.

Als Giancarlo dann die Tür aufriss...hat mich eigentlich nur eins interessiert...und zwar das Aufeinandertreffen von Yuriy und Kai. Aargh und du hast einen richtig zappeln lassen. Doch dann *~* mein YuKa Herz hatte ne Tachykardie!!!! <3
Und wie Giancarlo dann stichelte.
"Der hat dir gefallen!"
Oh ja!!! Kai der hat die gefallen, gib es zu!!!!!
Was mich aber interessiert...was ist Kais Schema? Ralf hat da ja ne Andeutung gemacht, dass Yuriy da nicht rein passt...auch wenn ich grübel, ob man dessen Aussage trauen kann...denn Kai wirkte widerrum so, dass das nicht stimmt - ICH BIN VERWIRRT!!!!

"Es war dunkel, was sollte schon passieren?"
Ähm jaaaaaaaaaaaaaa viel!!!! Ich mach mich zum nächsten Kapitel!!!!!
*~*
Von:  Mitternachtsblick
2020-03-26T07:24:06+00:00 26.03.2020 08:24
Ich hab auch meine Ausgehroutine verloren, und zwar sogar schneller als meine Würde. Ich fühle Kai. Und die Unterhaltung am Anfang des Kapitels ist schon glorreich, herrlicher Einstieg in ein sehr dynamisches Kapitel. Liebe übrigens für Enricos Italopop-Playlist! Und ich hoffe, dass der Türsteher Sergeij war?? Bitte lass es Sergeij gewesen sein.

Kann ich übrigens sagen, dass ich a) die Dynamik von Yuriy und Mathilda und b) die Dynamik von Yuriy, Mathilda und Olivia liebe? Ich wusste nicht, dass ich das gebraucht habe, aber ich habe es sowas von gebraucht. Die Szene in der Garderobe war einfach Gold wert. Ich finde das Aufflackern des antikapitalistischen Yuriy nicht nur relatable, sondern noch dazu unfassbar unterhaltsam. Irgendwer muss die Fahne des Proletariats hochhalten!
„Ein Typ, der so deutsch aussah, dass es wehtat.“ Fuck, das wundervoll. XD
Und hach, als Yuriy in Kai reingerannt ist hat mein Herz höher geschlagen, da war für mich die Spannung dann greifbar - vielleicht auch wegen dem Buildup der vorigen Kapitel, man wusste ja, dass die einander treffen werden und das ist jetzt irgendwie sehr erfüllend. Und Yuriys kurzes Zurückschauen! Mei, wie liab.
„Die Kleine und der Lange“ klingt übrigens wie der Anwärter für den Namen eines Tagteams beim Wrestling und ich bin hier dafür.
Die Beschreibung des Clubs hat mir übrigens War Flashbacks gegeben zu anno dazumal, als ich schwer betrunken im Outfit einer Totenbraut auf der Halloween-Fete meinen Weg durch die Ottakringer Brauerei gesucht und von meiner Truppe aus vier Leuten nur den schwulen Engel gefunden hab. Good times. Bin froh, dass Kai mehr Erfolg hat dorthin zu kommen, wo er hinwollte (und er wollte dorthin, auch wenn er sich vll einredet, dass er sich nur hat treiben lassen), jetzt kann Yuriy ihn mit der Magie seiner Hände überzeugen. :)))))
Von:  LittleLionHead
2020-03-26T05:44:50+00:00 26.03.2020 06:44
Oh das ist so cool! Ich will auch feiern! Oder mich wenigstens betrinken.
Yessss, endlich treffen sich Yuriy und Kai. Und wie! Ich finde, du hast einen echten Magic Moment daraus gemacht. Hach, da waren wieder so viele schöne Details drin . Die Türsteherszene mit Yuriy und Mathilda, die wohl jedem bekannte Situation dass man einfach noch nicht ready für den Dancefloor ist.... Und Kai der sich wegschleicht um sich Ostblocc (oder doch eher Yuriy) reinzuziehen. LOVE
Von:  FreeWolf
2020-03-25T23:23:32+00:00 26.03.2020 00:23
Damn jetzt hab ich Bock wegzugehen und zu tanzen. Da ich das nicht kann musst du schnell weiterschreiben!


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