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Things That Should Not Be

Kunikida/Dazai
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnung: Morizai (Mori x Dazai) in diesem Kapitel. (´・∀・`) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Platonic Fukuzawa/Dazai ahead~ ♥ Komplett anzeigen

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Kapitel 1

Dazai war nicht zur Arbeit gekommen. Mal wieder. Nichts neues. Genau genommen hatte Kunikida kein Problem damit, wenn er ausnahmsweise seine Arbeiten erledigen konnte, ohne dass man ihn ständig unterbrach oder er mit einer ablenkenden Geräuschkulisse im Hintergrund konfrontiert wurde. Immer wenn dieser verrückte Selbstmordfanatiker da war, fand er Mittel und Wege Kunikidas Aufmerksamkeit zu erhaschen. Kindische Streiche oder dumme Witze, die so makaber und schlecht waren, dass nicht einmal ein Humorbehinderter darüber hätte lachen können. Ständig machte er Witze über Selbstmord und den Tod. Wortwitze, Flachwitze oder zweideutige Aussagen, die einfach nur seinen Puls zum Rasen brachten, aber nie seine Lachmuskeln weckten.
 

Immer wenn Kunikida am Telefon war und mit einem wichtigen Klienten sprach, bewarf Dazai ihn mit Papierknöllchen und kicherte unschuldig vor sich hin, tat so, als wüsste er nicht, warum sich Kunikida schrecklich aufregte, während am Boden die Beweislast sich bereits anhäufte und ihn als Täter verriet. Er war kindisch. Naiv. Nervig. Zeigte keinerlei Interesse an seinem Job in der Agentur und hinderte seine Kollegen in aller Regelmäßigkeit daran, ihren Pflichten nachzugehen. Und wenn er nicht gerade in seinem Buch vertieft war, Musik hörte, seine Kollegen ablenkte – tja, dann schlief er seelenruhig auf der Besuchercoach und ließ die Zeit verstreichen, wartete nur darauf, dass der Feierabend kam.
 

Sämtliche Formulare und Berichte stapelten sich auf seinem Tisch. Auch jetzt sah Kunikida mehrere Fallakten, die auf Dazais Tisch lagen, unordentlich gestapelt – wehe ihm, würde er auch nur ein Eselsohr finden!! – und kurz davor von der Tischplatte zu fallen. Und er wusste genau, dass er die Deadlines nicht einhalten würde und entweder Atsushi oder er selbst die Aufgaben übernehmen werden würden. Was blieb ihm auch anderes übrig? Dazais Faulheit und Desinteresse war ein Störfaktor im perfekten Arbeitsalltag der Agentur, dabei hatten sie bereits einen Sonderfall, der stets nur das tat, wonach es ihm beliebte. Ranpo Edogawa war eine Sache, aber dass Dazai Osamu eine solch trotzige Einstellung an den Tag legte, war Kunikida ein Dorn im Auge.
 

Seit nunmehr zwei Jahren arbeitete Dazai hier und das wäre wohl zu viel gesagt, denn immer wieder machte der Kerl Ärger und bei Feldmissionen schaffte er es immer wieder hohe Sachschäden anzurichten, dass man schon davon ausgehen musste, dass er dies mit Absicht tat, nur um Kunikida noch mehr Arbeit zu machen als nötig, während der Brünette faul auf dem Sofa lag und in schiefen Tönen düstere Lieder trällerte, die trotz seiner hellen und gutgelaunten Stimmlage, inhaltlich einfach nur zum Erschaudern waren.
 

Verärgert sah er auf. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es bereits 10Uhr morgens war. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Dazai noch kam. Wenn er Lust auf schwänzen hatte, gab es nichts, dass Kunikida unternehmen konnte. Das hatte er immerhin schon akzeptiert. Wenn Dazai nicht so intelligent gewesen wäre und jeden Fall lösen konnte, hätte er sich schon längst bei Fukuzawa beschwert und darum gebeten, ihn zu kündigen. Denn ja. Er richtete Schaden an und war alles andere als ein Aushängeschild für einen fleißigen Angestellten, aber er war immer dann zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Er sah Zusammenhänge und kleinste Details, die anderen entgingen.
 

Seit Dazai in der Agentur war, stapelte sich zwar die Papierarbeit, doch hauptsächlich weil dieser die Fälle so schnell löste, dass er mit dem Schreiben der Berichte nicht mehr hinterherkam. Dazais Hintergrundwissen und sein übernatürlicher Intellekt waren ein wichtiger Bestandteil der Agentur. Ohne ihn wären viele Fälle bis heute ungelöst. Ohne ihn hätte es in vielen Fällen weitaus mehr Opfer gegeben. Er wägte stets ab, welcher Lösungsansatz für ein Problem die beste war und wenn dabei Autos, Gebäude oder Sachschäden entstanden, dann war dies für ein entschuldbares Opfer, sofern Menschenleben gerettet werden konnten. Auch wenn dies natürlich weitaus mehr Papierarbeit verursachte als nötig, so musste Kunikida zugeben, dass dies durchaus seinem Ideal entsprach.
 

Dazai war ein schrecklicher Faulpelz, ein Taugenichts, aber einer der wichtigsten Pfeiler ihrer Agentur. Er wurde gebraucht. Dass jemand, der so intelligent war, ständig von Selbstmord sprach und sich aus einer Laune heraus in den nächsten Kanal warf, nur um von schockierten Passanten oder verärgerten Kollegen wieder aus dem Wasser gezogen werden musste, passte so überhaupt nicht zusammen, also ging Kunikida davon aus, dass dies seine Art war, sich selbst in den Vordergrund zu stellen und Aufmerksamkeit zu erhaschen. Kunikida glaubte, dass Dazai einfach gerne im Mittelpunkt stand und sich wie ein kleiner Junge darüber freute, wenn er andere nerven konnte.
 

Es war durchaus normal, dass er einige Tage nicht zur Arbeit kam und schwänzte. Nichts neues. Nichts, worüber man sich Sorgen machen musste. Die Arbeit langweilte ihn und draußen konnte er sich zumindest vergnügen – was auch immer Dazai als Vergnügen betrachtete. Kunikida hatte keine Ahnung, was Dazai in seiner Freizeit trieb. Er war ein Mysterium. Nicht nur seine Bandagen verliehen ihm eine geheimnisvolle Aura – Kunikida glaubte, dass er diese nur anlegte, um mal wieder im Mittelpunkt zu stehen und Frauen aufzureißen, um so ihren Beschützerinstinkt zu wecken – sondern auch sein ganzes Wesen. Er sprach nie über sich selbst. Über andere. Dumme Witze.
 

Also wenn er mal wieder nicht erschien, war das kein Grund zur Sorge.
 

Doch. Es gab durchaus etwas, das ihn beschäftigte. Auch wenn Dazai schwänzte, reagierte er immer auf Textnachrichten, wenn nicht mit Worten, dann mit seiner Meinung nach lustigen Bildern. Zuletzt hatte er ihm einen Pinguin geschickt, der bei einem Versuch einen Fisch zu schnappen, der Nase lang hinfiel. Immer wieder schickte er ihm Videos, Gifs oder kleine Bilder. Manchmal machte er einfach nur Fotos. Kunikida ergriff sein Smartphone, berührte den Bildschirm, um sicherzugehen, dass er keine Nachricht verpasst hatte. Die meisten gespeicherten Fotos, die er auf seinem Smartphone hatte, waren von Dazai.
 

Dazai mit einem lächerlich großen und übertrieben bunten Sombrero und farbenfrohen Rasseln, ein aufgeklebter Bart und ein breites Grinsen, während er sich vor einem Restaurant positionierte, nur um Kunikida zu zeigen, dass er doch so viel Besseres zu tun hatte, als zu arbeiten. Ein Foto von Dazai wie er einige Enten im Park fütterte, daraufhin eine Videoaufnahme von ihm, wo er am Boden liegt und über den Dreck robbt. Vor ihm eine große Weinbergschnecke. Daraufhin wieder mal ein dummer Spruch: „Heute gehen Maki[1] und ich joggen! Bin schon ganz aus der Puste!“
 

Er hatte immer irgendetwas, was er mitteilen musste. Immer ein Lächeln. Ganz egal, wie dumm es erschien, er teilte es mit Kunikida und seinen Kollegen. Die WhatsApp Gruppe hatte keine neuen Nachrichten. Auch seine persönlichen Nachrichten nicht. Und dass Dazai sich überhaupt nicht meldete, nicht einmal den Hauch eines Lebenszeichen von sich gab, das war durchaus ein Grund zu Sorge. Nicht, weil er in Schwierigkeiten stecken konnte, sondern weil dies bedeutete, dass er anderen Schwierigkeiten machte und einmal mehr würde Fukuzawa in Verlegenheit geraten, sich für das Fehlverhalten seines Angestellten entschuldigen zu müssen.
 

Yosano und Ranpo saßen nebeneinander und amüsierten sich köstlich über einen Stand-Up Comedian, dessen Dialekt Kunikida einfach nur als störend und unästhetisch empfand. Kenji, Kyouka und die Tanizaki Geschwister hatten ein Spielbrett ausgebreitet. Plötzlich zuckte Kunikidas Auge. Keiner nahm die Arbeit ernst! Atsushi war ebenfalls dabei im Internet zu surfen, anstatt die Fallakten abzuarbeiten. Atsushi, der direkt neben ihm saß, bekam seinen Frust als erster zu spüren.
 

„Was gedenkst du da zu tun, HM?!“, fragte er und legte bedrohlich seine Hand auf die schmale Schulter des Jungen,der verängstigt zusammen zuckte und hoch sah, nur um in ein verdunkeltes Gesicht zu sehen und vom gefährlichen Aufblitzen der Brille des Mannes kurzzeitig geblendet zu werden. Eiskalter Schweiß lief ihm über die Stirn und er schluckte hart. Kunikida warf einen Blick auf die geöffnete Website. Nachrichten.
 

„Ich habe mir Sorgen um Dazai-san gemacht... ich dachte, dass ich vielleicht in den Nachrichten etwas über ihn finde“, wimmerte der Silberhaarige und erntete lediglich ein verärgertes Schnaufen.
 

„Du weißt, wie er drauf ist. Macht immer nur Quatsch! Ich bin mir sicher, dass er in der Schule auch zu denen gehörte, die immer gefehlt haben und von Polizisten wegen Dauerschwänzen ermahnt wurde“, erklärte der Blonde, schob sich seine Brille hoch.
 

„Vielleicht. Aber es ist nicht seine Art, sich überhaupt nicht zu melden“, kam es kleinlaut.
 

„Nun, ich habe den Großteil der Fallakten abgearbeitet und die restlichen haben erst am Ende des Monats ihre Deadline“, erklärte Kunikida und seufzte resigniert.
 

„Ich schätze, wir können genauso gut mal nach ihm sehen und ihn dann zur Arbeit schleifen. Zur Not fessele ich ihn an seinen Schreibtisch, damit er sich mal nützlich macht“, nickte er sich selbst bestätigend zu. Atsushi grinste zwar und gab ihm Recht, war sich aber ziemlich sicher, dass dieser Plan nach hinten losgehen würde. Dazai würde eher sterben, bevor er Büroarbeit erledigte, das hatte er selbst mehr als einmal mit Stolz behauptet. Nicht, dass Atsushi dieses Prahlen seines Mentors auf irgendeine Art und Weise guthieß.
 

Kunikida rieb sich die Hände und mit Atsushi ging er los, um Dazai in seinem Apartment zu besuchen. Dazai lebte nicht im Wohnkomplex der Agentur. Kunikida hielt für einen Moment inne. Er kannte Dazais Adresse und war auch nicht gerade selten vorbei gekommen, um ihn aus seinem Bett zu reißen und von draußen gegen die Tür zu hämmern, aber er war noch nie in Dazais Wohnung gewesen. Wie lebte er? Wie war seine Wohnung eingerichtet? Das Viertel in dem Dazai lebte war sehr ruhig. Lediglich nachts kamen Bewohner heraus und mehr als einmal hatte die Polizei hier zu tun, aber mehr wusste Kunikida nicht. Er hatte sich auch nie Gedanken gemacht, warum Dazai in so einer Gegend freiwillig lebte, wo der gesamte Bezirk nicht gerade zum Spazierengehen einlud.
 

Atsushi schluckte mehrmals und sah sich aufgeregt um. Er war noch nie in Dazais Wohnung gewesen. Er wusste nicht einmal, wo dieser lebte und mit jedem Schritt, dem sie ihrem Ziel näher kamen, wurde er neugieriger und rappeliger. Die großen Wohnkomplexe waren teilweise heruntergekommen, der Putz von außen blätterte ab und die Straßen hatten teilweise so große Löcher, dass man mit dem ganzen Fuß darin versinken konnte. Gut, dass sie nicht mit dem Auto gekommen waren.
 


 

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Manchmal fühlte es sich so, als würde die ganze Welt in dichtem, dunklem Nebel gehüllt und alles vor seinen Augen verschwamm, während er das Gefühl hatte, dass seine gesamte Kraft aus seinen Fingerspitzen entfloh. Seine Augen waren geöffnet, doch nichts war zu sehen. War es das? Es hatte ihn keinerlei Überwindung gekostet, mit dem Messer seinen Unterarm zu durchtrennen. Mit seinen Bandagen hatte er sich in die Badewanne gelegt und spürte mit jeder verstreichenden Sekunde, wie mehr und mehr seines Blutes das Wasser füllte und das bis eben klare und wohlig duftende Badewasser sich in ein tiefes Rot verfärbte. Der Duft von Rosen lag in der Luft. Er mochte Rosen. Sie blühten zu jeder Jahreszeit. Viermal im Jahr. Bedeutete das, dass er viermal sterben musste, ehe er endlich verwittern und für immer verschwinden konnte?
 

Er schloss seine Augen für einen Augenblick, sog den Duft noch einmal ein und ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. Das Wasser war eiskalt Seine Finger waren taub. Er mochte es, während eines warmen Bades ein Liedchen anzustimmen, doch durch das mittlerweile eiskalte Wasser waren seine Lippen bereits blau geworden. Das Zittern seiner Lippen machte es ihm unmöglich zu singen. Ein Blinzeln. Sein Körper bewegte sich nicht mehr. Immer noch dieses Lächeln, das er unter allen Umständen zu bewahren versuchte. Er wollte nicht, dass irgendjemand sah, wie tief die Trauer und seine Verzweiflung gingen. Sollte man ihn irgendwann finden, dann mit einem zufriedenen Lächeln. Dunkelheit überkam ihn.
 

Der Gedanke geliebt zu werden, bereitete ihm Unbehagen. Niemand würde ihn vermissen und wenn er starb, würde er niemals wieder den Schmerz der Liebe empfinden müssen. Niemals wieder müsste er mitansehen müssen, wie vergänglich diese Liebe war. Immer wenn er glaubte, jemanden gefunden zu haben, den er für immer bei sich wissen wollte, war es doch die Realität, die ihm sagte, dass dieses Glück niemals ewig währen würde. Glück war für Menschen bestimmt. Aber er war kein Mensch. Nie gewesen. Und wenn, dann hatte er dieses Recht wissentlich abgegeben, indem er freiwillig einen Pfad eingeschlagen hatte, von dem er genau wusste, dass er Leid und Verderben brachte. Er fürchtete so sehr, dass man ihm sein Glück entreißen konnte, sofern er es beim Namen nannte und sich zu sehr daran klammerte.
 

Er war einfach nicht für das Leben in einer Gesellschaft gemacht. Er war es nicht wert, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Die Moral, die die Währung dieser Gesellschaft darstellte und somit der Maßstab von Wort und Tat darstellte, war ihm nicht zu begreifen. Das Gefühl zu fühlen, etwas wirklich und aufrichtig genießen zu können, war ihm nie gegeben. Weder Wut noch Freude hatten eine Bedeutung für ihn und verschmolzen zu einem einzigen, riesigen Amalgam der Verständnislosigkeit. Alles ging vorbei. Alles war vergänglich. Nur eines gab es, was immer blieb. Schmerz. Selbsthass. Das Wissen dessen, nichts zu wissen und niemals verstehen zu können.
 

Er hatte genug von diesen Gefühlen, die ihn so sehr quälten. Genug davon, immer in Angst leben zu müssen und eine Rolle spielen zu müssen. Er war es müde geworden. Dieses Leben. Schließlich hatte er es niemals wirklich genossen. Er blinzelte und warf einen letzten Blick auf die große, klaffende Wunde an seinem Unterarm, dann schloss er die Augen. Immer noch ein Lächeln auf seinen Lippen.
 


 

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„Bist du dir sicher, dass wir einfach reingehen sollen? Er antwortet nicht, vielleicht ist er gar nicht zu Hause“, kam es unsicher von Atsushi, der nervös an seinen Hosenträgern herumfummelte.
 

„Pah!“, zischte Kunikida, klopfte noch mehrere Male an der Tür. Keine Reaktion. Dann riss ihm der Geduldsfaden und er trat die Tür ein. Die Lichter waren aus. Mit Atsushi ging er in die Wohnung und sie sahen sich suchend um. Im Schlafzimmer war ein ungemachtes Bett, die Decke lag halb auf dem Boden und so auch getragene Wäsche, die, wie Kunikida vermutete, dringend gewaschen werden musste. Auf dem Bett blinkte Dazais Smartphone. Verwundert zog er eine Augenbraue hoch, nahm dieses in die Hand. Keine einzige Nachricht war gelesen worden. Hatte sei nichtsnutziger Partner etwa sein Smartphone vergessen und war wieder mal im Kanal schwimmen gegangen? Er seufzte genervt.
 

„Im Wohnzimmer war er auch nicht“, kam es von Atsushi, dann legte er Kunikida einen kleinen Brief vor, „aber das hier habe ich gefunden“, meinte er verunsichert.
 

„Hast du im Bad nachgesehen? Vielleicht versteckt er sich nur vor uns, um nicht arbeiten gehen zu müssen. Du weißt ja, wie unreif er sein kann. Er würde sich vermutlich auch im Kleiderschrank vor uns verstecken, nur um keine Büroarbeit erledigen zu müssen“, sagte er und öffnete im selben Augenblick besagten Kleiderschrank, ließ seinen Blick missmutig hin und herschweifen. Kein Dazai im Schrank. Das stimmte ihn nicht sonderlich zufrieden. Seufzend verließen sie das Zimmer.
 

„Schau auch in den Schränken in der Küche nach“, meinte er monoton und öffnete den Kühlschrank, welcher komplett leer war. Dazai war zumindest nicht hier drin. Zuzutrauen wäre es ihm auf jeden Fall. Vielleicht sollte er sicherheitshalber auch in der Kühltruhe nachsehen oder im Ofen. Der Kerl war für wirklich jede Überraschung gut.
 

Atsushi hielt immer noch den kleinen Brief in seiner Hand und versuchte die Badezimmertür zu öffnen. Er drehte den Türknauf nach oben. Abgeschlossen.
 

„Kunikida-san! Ich glaube, ich hab Dazai-san gefunden!“, rief er ihm zu und versuchte noch einmal die Tür zu öffnen.
 

„DAZAII!“, brüllte Kunikida und stand urplötzlich neben dem Silberhaarigen, welcher sich erschrak und einige Schritte zur Seite taumelte, nur um dann grob weggeschoben zu werden, da sich der Blonde dazwischen drängelte und an der Tür rüttelte.
 

Der Zorn war ihm anzusehen. Atsushi lächelte leicht. Zumindest war Dazai nicht allein draußen oder gar wieder in irgendeinen Fluss unterwegs. Warum nur musste er auch nur so schwer zu verstehen sein? Eigentlich wusste er nichts über Dazai. Er war in der Port Mafia. Genauso wie Kyouka hatte er eine dunkle, blutverschmierte Vergangenheit und sich dazu entschlossen, im Licht zu leben und auf der Seite zu kämpfen, die Leben rettete. Immerhin hatte er einem hilflosen Waisen ein neues Leben ermöglicht und allein das war für Atsushi Grund genug, zu glauben, dass er ein wunderbarer Mann war. Die Vergangenheit war vergangen. Nicht mehr wichtig.
 

„Dazai! Ich schwöre, wenn du nicht sofort die Tür aufmachst, komme ich rein und drehe dir den Hals höchstpersönlich um! Deine kindischen Spielchen kannst du dir sonst wo hin stecken! Nicht mit mir!“, keifte der Blonde und zählte bis zehn. Doch die Tür öffnete sich nicht. Dazai wäre auch nicht Dazai würde er nicht unglaublich stur sein und mit jedem erdenklichen Mittel Arbeit vermeiden. Kunikida brach die Tür ein und schnaufte wie ein wilder Stier. Das Licht war aus. Der Vorhang zugezogen. Für einen Moment glaubte er, sich vertan zu haben. War Dazai vielleicht gar nicht hier? Aber wer schloss sein Badezimmer ab, wenn er sich nicht in diesem befand? Nun, es war durchaus denkbar, dass Dazai ihnen mal wieder einen Streich spielte oder gar nun zum Äußersten ging, um bloß nicht arbeiten zu müssen.
 

Atsushi schaltete das Licht ein. Der Vorhang zur Badewanne war zugezogen. Kunikida war sich sicher, dass er sich in der Badewanne versteckte und nur darauf wartete, dass seine Kollegen endlich das Handtuch warfen und aufgaben. Aber nicht mit ihm. Nicht mit Kunikida Doppo. Wer Arbeit hatte musste arbeiten, so stand es auch in seinem Ideal und sein Versprechen, stets zu tun, was getan werden musste, würde er niemals brechen. Atsushi kam nun näher und blieb fragend neben Kunikida stehen, welcher sich nun räusperte. Dann riss er den Badezimmervorhang auf.
 

Atsushi starrte auf das Bild vor sich. Selbst Kunikida verschlug es den Atem.
 

„Scheiße...“, hauchte er und legte eine Hand auf Dazais Halsschlagader, um sicher zu gehen, dass er noch lebte. Atsushi weinte und war vor Schreck erstarrt. Unmöglich. Das war nur ein Traum. Niemals würde Dazai sein eigenes Leben auf diese Weise beenden wollten. Er schwärmte doch immer davon, dass er sich einen Doppelselbstmord wünschte und witzelte ständig über neue Methoden – aber nichts davon meinte er ernst. Das waren doch nur makabre Scherze! Nichts weiter. Dümmliche, makabre Scherze, die grotesker nicht hätten sein können.
 

„Steh nicht so untätig herum, sondern hilf mir, ihn rauszuholen!“, mahnte Kunikida und Atsushi nickte hastig. Gemeinsam zogen sie Dazai aus dem Wasser.
 

„Er ist eiskalt... er muss seit mindestens 24 Stunden hier gelegen haben...“, schlussfolgerte er und sah nun die große, klaffende Wunde an Dazais Unterarm.
 

„Verdammter Idiot“, sagte er und zwang sich dazu, nun nicht aus der Fassung zu geraten.
 

„Atushi, hol die Decke und Handtücher. Ich rufe einen Notarzt“, meinte er und wählte die Nummer auf seinem Handy.
 

Keine zehn Minuten später befand sich Dazai im Krankenwagen, der ihn ins nächstgelegene Krankenhaus brachte. Da sie keine direkten Verwandten waren und bei den Behandlungen ohnehin nur stören würden, hatte man sie nicht mitfahren lassen. Wortlos liefen sie zur Agentur zurück. Den ganzen Weg lang sagte keiner etwas. Tiefes Schweigen hüllte sie ein. Zwischendurch schluchzte Atsushi. Kunikida fühlte sich schuldig. Die Schuld verzerrte ihn und zermürbte seinen Verstand.

Kapitel 2

„Hey, endlich seid ihr zurück! Habt ihr was mitgebracht–“, begann Ranpo, sofort verschlug es ihm die Sprache.
 

Yosano zog fragend eine Augenbraue hoch, warf dann einen Blick zu Kunikida. Seine Kleidung war blutverschmiert und sein Blick finster. Atsushi trat ein und setzte sich schluchzend auf die Coach, die eigentlich für Kunden gedacht war. Kunikida starrte stur den Boden an, suchte nach den richtigen Worten. Gab es überhaupt richtige Worte? Das, was er gesehen hatte, ließ selbst ihn aus dem Gleichgewicht geraten. Als der Notarzt und die Helfer kamen, hatten sie viele Fragen gestellt und es war das erste Mal, dass er keine Antworten hatte. Er war vollkommen hilflos gewesen. Er wusste sich keinen Rat.
 

„Ist jemand gestorben?“, scherzte Yosano und zeigte auf Kunikida.
 

„Könnte man so sagen“, erwiderte Kunikida und setzte seine Brille ab, zog ein Brillenputztuch hervor und schrubbte das Glas akribisch. Auch als keine Flecken mehr zu sehen waren, konnte er nicht aufhören, mit dem weichen Faserstoff über das Glas zu streichen. Kyouka lief zu Atsushi, der immer noch schluchzte und nun den kleinen Brief aus seiner Hosentasche hervorzog, den er zuvor in Dazais Wohnung gefunden hatte. Mit zittrigen Händen öffnete er diesen, doch die dicken Tränen, die über seine Wangen kullerten, machten es ihm unmöglich, die Zeilen zu lesen.
 

Sämtliche Aufmerksamkeit lag nun auf Kunikida, der nach den richtigen Worten suchte, laut hörbar einatmete und wieder ausatmete.
 

„Dazai hat versucht sich umzubringen“, meinte er dann ruhig. Ein Fakt.
 

„Ist doch nichts neues“, sagte Ranpo und zuckte mit den Schultern, „wo habt ihr ihn dieses Mal gefunden? Am Hafen? Im Kanal? Oh! Oder in dem kleinen See im Park?“, scherzte er amüsiert und griff nach einem Lutscher, packte diesen gierig aus.
 

„In der Badewanne“, berichtete er und atmete noch einmal ein, machte eine ungewöhnlich lange Pause. „Er hat sich die Pulsadern durchtrennt und war schon eiskalt, als wir ihn fanden.“
 

Ranpo ließ seinen Lutscher fallen und riss schockiert die Augen auf.
 

Sämtliche Gespräche im Raum endeten abrupt. Absolute Stille, die von Atsushis Schluchzen ab und an unterbrochen wurde. Dann das Quietschen einer Tür. Fukuzawa stand unter der Türschwelle und sein Gesichtsausdruck war so stoisch wie immer, widmete sich dann seinem Vizepräsidenten zu und kam dem Blonden einige Schritte näher. Dieser setzte nun die Brille auf.
 

„Es war nicht eure Schuld. Vorhin hat jemand aus dem Krankenhaus angerufen. Er überlebt es. Wir dürfen ihn morgen besuchen“, sagte er und legte beruhigend eine Hand auf Kunikidas Schulter, welcher nur wortlos nickte.
 

Kyouka zog Atsushi den Brief aus der Hand, unterbrach die erneut aufkommende Stille und las die Zeilen vor.
 

Hey, Leute,
 

leider habe ich es nicht geschafft, meine Kündigung rechtzeitig einzureichen, aber ihr möchte, dass ihr wisst, dass ihr jemand anderen finden müsst, der meinen Platz einnimmt und den übertrieben perfektionistischen Kunikida von der Arbeit abhält! Der kriegt noch ein Burnout und einen Buckel, wenn er immer so viel arbeitet!
 


 

Das ist es nicht, was ich sagen wollte. Ich möchte mich von euch verabschieden. Denkt nicht, dass ich diesen Schritt wegen euch gegangen bin. Ihr hättest es nicht verhindern können und ich möchte auch nicht, dass man mich rettet oder gar um mich trauert.
 

Ich habe immer diese tiefe, alles verschlingende Leere in meiner Seele gefühlt, die mit meiner Fähigkeit in direkter Verbindung steht. Dunkelheit, die mich selbst verschlingt. No Longer Human macht es mir unmöglich aufrichtige Gefühle zu empfinden. In den meisten Fällen ist eine Fähigkeit ein Geschenk. Es macht einen Menschen besonders, hebt ihn von anderen Menschen ab und gibt ihm einen Sinn im Leben. Eine Fähigkeit ist wie ein helles Licht, ein strahlender Kristall, der uns stets antreibt und unseren Willen zum Leben aufrecht erhält. Doch meine Fähigkeit ist die ultimative Anti-Fähigkeit – nur eine Berührung reicht aus, um dieses Licht auszulöschen. Diese tiefe Dunkelheit in mir ist so groß, dass sie selbst die Lichter um mich herum auslöscht.
 

Dieses fehlende Licht in mir macht es mir unmöglich, das zu sehen, was ihr seht. Zu fühlen, was ihr fühlt. Ich habe ein schändliches Leben geführt. Was menschlich leben heißt, weiß ich nicht. Ich habe es versucht, alles gegeben und nach einem Sinn gesucht. Ich danke euch, für die Zeit, die ich mit euch verbringen durfte, doch nichts vermag diese Leere zu füllen.
 

Der Morgen ist immer grau. Immer gleich. Immer leer.
 

Alles vergeht.
 

„Dieser verdammte Taugenichts“, murrte Kunikida und rieb sich das Nasenbein.
 


 

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Als er Dazai in dem großen Krankenhausbett liegen sah, verstummten all seine Gedanken. Dazai schlief tief und fest, auch als er näher kam und seine Hand sanft berührte, wachte er nicht auf. Kunikida blieb neben ihm stehen und legte fürsorglich, beinahe beruhigend, eine Hand auf seine Schulter. Atsushi drückte Dazais Hand fester. Einer der behandelnden Ärzte kam näher.
 

„Ist Ihnen denn vorher nichts aufgefallen?“, fragte er und bemühte sich um ein mitfühlendes Lächeln.
 

„Er hat immer über Selbstmord Witze gemacht. Wir konnten ja nicht ahnen, dass er es wirklich irgendwann durchziehen würde“, erklärte Kunikida ruhig, versuchte nicht die Fassung zu verlieren.
 

Die ganze Nacht lang hatte er kein Auge zugemacht. Dazais Selbstmordversuch hatte ihn derartig aus der Balance geworfen, dass er selbst jetzt noch nicht völlig begreifen konnte, was geschehen war und wie es überhaupt so weit kommen konnte. War denn irgendetwas anders gewesen? Hatte Dazai irgendetwas gesagt oder getan, dass ihn hätte alarmieren müssen? Obwohl er genau wusste, dass Dazai ein launischer und listiger Mann war, der nur Schwachsinn im Kopf hatte und nie durchschaut werden konnte, suchte er die Schuld bei sich selbst. Kunikida zweifelte an sich selbst. Er war Detektiv und zudem Dazais zugewiesener Partner – er hätte etwas merken müssen.
 

Viel zu spät war ihm etwas aufgefallen.
 

„Die meisten Menschen, die sich selbst verletzen, nehmen ihre Erkrankung nicht ernst und vertuschen diese“, meinte der Arzt dann nur und warf einen Blick auf die Infusion, die zur Hälfte durchgelaufen war. Atsushi sah den Mann ungläubig an.
 

„Man darf so etwas niemals auf die leichte Schulter nehmen“, fügte er dann noch hinzu und zog Dazais linken Arm unter Decke hervor. Atsushi verdrehte sich der Magen. Die Bandagen waren rötlich verfärbt. Vorsichtig wickelte der Doktor den Verband ab. Für Kunikida war es das erste Mal, dass er Dazai ohne Verband sah. Die große, klaffende Wunde hatte man zugenäht. Behutsam drehte der Mann Dazais Arm hin und her und wies auf die geschundene Haut hin.
 

„Die meisten Schnitte sind relativ neu und nicht richtig behandelt worden“, sagte er dann und legte einen neuen, sauberen Verband an.
 

„Ich hatte keine Ahnung“, entgegnete Kunikida. Sein Herz raste.
 

„Die Narben an den Armen stammen von Selbstverletzung, aber woher kommen die anderen Narben?“, fragte der Arzt dann und warf Kunikida und Atsushi einen durchdringenden und vorwurfsvollen Blick zu. Atsushi und Kunikida sahen sich gegenseitig an, dann auf Dazai, der seelenruhig in dem Bett lag und offenbar nichts mitbekam. Das Beruhigungsmittel ließ ihn tief und fest schlafen, trotzdem wurde Kunikida das Gefühl nicht los, dass er einfach nur müde aussah, als hätte er seit Jahren nicht mehr richtig geschlafen. Die dunklen Augenringe wirkten so natürlich auf seinem Teint, als wären sie schon immer dort gewesen.
 

„Ich kann Dazai-san nicht guten Gewissens entlassen, wenn ich mir nicht sicher sein kann, dass er in ein sicheres Umfeld zurückkehrt. Verletzungen dieser Art zeugen von jahrelanger schwerer körperlicher Misshandlung. Wer übernimmt die Vormundschaft für ihn und trifft Entscheidungen, solange er dazu nicht fähig ist?“
 

„Dazai hat–“, begann er und unterbrach sich selbst, ehe er diesen Gedanken abschüttelte und möglichst überzeugend weitersprach, „keine Familie mehr. Wir sind zwar Kollegen, aber wir alle sind wie eine Familie.“
 

„Dann möchte ich mit seinem Chef sprechen. Wir werden ihn zunächst einmal zur Beobachtung hierlassen. Der starke Blutverlust wird auch noch Tage später bemerkbar sein.“
 

Der Arzt prüfte noch einmal den Verband und ließ die beiden zurück. Atsushi biss sich auf die Unterlippe. Unmöglich. Wie konnte er all die Zeit nichts bemerkt haben?
 

„Ich dachte immer, dass er sich mit den Verbänden interessanter machen wollte“, murmelte Kunikida und beugte sich vorsichtig über Dazai hinweg, strich ihm einige verirrte Haarsträhnen zur Seite und streichelte sanft über dessen Wange.
 

„Wir haben so einiges zu klären, sobald du wieder aufwachst, Partner.“
 

Kunikida, Atsushi und Kyouka saßen seit zwei Stunden vor dem Besprechungsraum. Immer wieder seufzten sie synchron. Krankenpfleger, Ärzte und Patienten huschten an ihnen vorbei und der Flur war erfüllt von Stimmen. Die kalten Neonlichter machten ihn müde. Atsushi zwang sich dazu, wach zu bleiben, doch irgendwann überkam ihn der Sekundenschlaf, sodass er mit dem Kopf zuerst auf den kalten Linoleumboden landete. Kunikida schnalzte empört mit der Zunge, während Kyouka aufsprang und ihn zurück auf den Platz half.
 

Fukuzawa und der Arzt waren immer noch da drin.
 

„Was besprechen die da drin?“, wunderte sich Atsushi laut, mehr um über sein Missgeschick hinwegzutäuschen und von seiner Tollpatschigkeit abzulenken. Kyouka schüttelte unwissend den Kopf.
 

„Die denken doch nicht etwa, dass wir ihm wehgetan haben... oder?“, kam es unsicher von Atsushi, der nun Kunikida flehend ansah und irgendetwas von ihm hören wollte.
 

„Du hast den Arzt selbst gehört“, knurrte Kunikida und verschränkte die Arme.
 

Plötzlich öffnete sich die Tür und Fukuzwa trat hinaus, verneigte sich noch einmal vor dem Arzt, ehe er sich in Bewegung setzte und den Ausgang ansteuerte. Atsushi lief ihm unbeholfen hinterher und stellte zig Fragen, doch der Präsident blieb stur, verlor kein einziges Wort. Als sie auf dem Rückweg waren, versuchte es Atsushi erneut.
 

„Fukuzawa-san! Bitte sagen Sie uns, was los ist“, flehte er und lehnte sich nach vorne, um dem Grauhaarigen näher zu kommen, da er hinter diesem saß. Kyouka, die neben Atsushi saß, tat es ihm gleich. Neugierig durchbohrten sie mit Blicken ihren Boss, der nur irgendwann seufzte.
 

„Er wollte wissen, wer Dazai-san diese Verletzungen zugefügt hat. Ich habe ihm alles gesagt, was ich wusste. Ich wage zu bezweifeln, dass er uns freiwillig verraten wird, was ihm widerfahren ist, also werde ich Ranpo darum bitten, zu ermitteln. Es betrübt mich maßlos, dass selbst mir nicht aufgefallen ist, wie schlecht es um ihn steht. Ich hätte es merken müssen“, sagte er im grimmigen Ton, als wollte er sich selbst bestrafen.
 

„Wenn sich jemand Vorwürfe machen muss, dann ich“, warf Kunikida ein. Sämtliche Blicke lagen auf ihn.
 

„Ich bin sein Partner. Ich dachte, ich hätte ihn durchschaut und habe seine kindischen Scherze nicht ernst genommen. Ich war wirklich der Überzeugung, dass er uns nur etwas vormacht.“
 

Kunikida biss sich auf die Unterlippe. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, als suchte er nach Halt.
 

„Hätte ich genauer hingeschaut, dann hätte ich es bemerkt. Ich hätte fragen müssen! Aber obwohl ich eine Ahnung hatte, habe ich nur an mich gedacht und mich darüber gefreut, endlich in Ruhe arbeiten zu können. Ich hätte es verhindern können–“
 

Kyouka unterbrach ihn.
 

„Dazai-san hat geschrieben, dass keiner von uns das hätte verhindern können. Es war nicht deine Schuld. Außerdem bringt es nichts, darüber nachzudenken, welche Fehler man gemacht hat. Unsere oberste Priorität ist es nun, sicher zu gehen, dass Dazai-san gesund wird und er merkt, wie wichtig er uns ist“, sagte sie und nickte sich selbst zu. Ihre Hand ballte sie zur Faust und ihre Augen leuchteten vor Tatendrang und Entschlossenheit.
 

„Sie werden ihn bereits übermorgen entlassen. Er wird sich sicher unwohl fühlen, also sollten wir auf jeden Fall nicht zu auffällig sein und ihn nicht zu sehr bemuttern“, meinte Fukuzawa.
 

Atsushi nickte zustimmend.
 

„Damit bist insbesondere du gemeint, Atsushi-kun“, fügte er noch hinzu und warf einen warnenden Blick in die Richtung des Silberhaarigen, welcher einen empörten Laut von sich gab.

Kapitel 3

Ranpo öffnete die Tür zu Fukuzawas Büro. Kunikida saß bereits dort und wartete ungeduldig. Er ließ die Tür ins Schloss fallen und setzte sich neben Kunikida, sie saßen ihrem Chef genau gegenüber und warteten ab. Dieser faltete die Hände und sah den Schwarzhaarigen an, wartete auf seinen Bericht.
 

„Kunikida-san, du bist dir im Klaren, warum du hier bist?“, wollte er wissen und warf einen Blick in die Richtung des Blonden, der langsam nickte.
 

„Weil ich der Vizepräsident und Dazais Partner bin“, sagte er daraufhin ohne den Blickkontakt abzubrechen. Fukuzawa nickte mit strenger Miene und überkreuzte die Arme, sah auch den Schwarzhaarigen mahnend an. Ranpo war der letzte, der Lust auf Arbeit hatte und ähnlich wie Dazai jegliche Chance nutzte, die sich ihm bot, um dieser zu entgehen und in Ruhe faulenzen zu können. Die beiden Exzentriker waren sich derart ähnlich, dass man manchmal meinen konnte, dass sie ein gemeinsames Gehirn teilten. Zumindest schienen sie oft dieselben Gedanken und Ideen zu haben und gemeinsam bildeten sie ein unschlagbares Team. Vermutlich fühlte sich Ranpo hintergangen. Denn obwohl er jedes Geheimnis mit nur einem Blick lüftete und auch nur die kleinste Spur witterte und bis zum Ziel verfolgte, hatte er Dazais Vorhaben nicht durchschaut.
 

„Ranpo?“, fragte Fukuzawa und hob eine Augenbraue, sah ihn eindringlich an und erwartete eine Reaktion. Ranpo schnalzte genervt mit der Zunge, warf ein Bein über das andere und formte mit seinen Lippen einen Schmollmund, ehe er laut hörbar ausatmete und sich wieder fasste.
 

„Ich will wissen, was Dazai dazu getrieben hat, so weit zu gehen! Das hier ist kein Fall der Agentur, sondern eine persönliche Angelegenheit. Es kann nicht sein, dass Dazai etwas vor mir verheimlicht. Vor mir! Wenn so eine geistige Null wie Atsushi nichts merkt – okay, gut, damit komme ich klar! Und auch ein Overarchiver wie Kunikida, dem etwas entgeht – auch das kann ich gerade noch so verschmerzen, aber was macht das denn aus mir?! HM? Mir, der beste Detektiv aller Zeiten, Edogawa Ranpo? Mir, dem die gesamte Krimi Welt zu Füßen liegt? Jemand, der bisher jeden Fall gelöst hat?!“
 

Ranpo wütete und blies beleidigt die Backen auf, grummelte weiter vor sich hin.
 

„Ranpo, es geht hier nicht um dich, sondern um Dazai“, bemerkte Fukuzawa, wurde jedoch jäh unterbrochen.
 

„Doch! Es geht hier auch um mich und meinen Ruf! Ein Detektiv, der sich damit rühmt, jeden Fall lösen und jedes Geheimnis auflegen zu können, weiß rein gar nichts über seinen jüngeren Kollegen?! Ich wusste ja schon damals, dass seine Akte nicht echt sein konnte, dafür war sie einfach zu aalglatt–“ begann Ranpo, doch ehe er weitersprechen konnte, sah ihn Kunikida fragend an.
 

„Du wusstest also, dass seine Akten gefälscht waren? Und hast die ganze Zeit über nichts gesagt?“
 

„Pffff~ war doch offensichtlich! Dazai hat noch nie eine Schule von innen gesehen, so wie er sich verhält, bezweifle ich, dass er einen Abschluss bekommen hätte. So einen Quälgeist will doch niemand unterrichten, außerdem warst du der einzige, der nicht gerafft hat, dass Dazai ein Ex-Yakuza ist. Selbst ein Laie würde das erkennen!“
 

Kunikida ließ den Kopf hängen.
 

„Also, ich will nicht sagen, dass du dumm bist, aber klug bist du auch nicht. Dass du so naiv warst und das nie hinterfragt hast, na ja, zeigt halt schon, dass deine Fähigkeiten als Ermittler noch ausbaufähig sind.“
 

Fukuzawa räusperte sich.
 

„Nun, was auch immer dein Grund ist, diesen Fall anzunehmen, ich bitte dich um äußerste Diskretion. Ich muss wissen, ob Dazai-kun sich immer noch in Gefahr befindet.“
 

„Moment! Glauben Sie etwa, dass Dazai in Gefahr sein könnte?!“, sprudelte es aus Kunikida heraus.
 

Was, wenn Fukuzawa recht hatte? Was, wenn Dazai tatsächlich in Gefahr schwebte und sich selbst aus dem Spiel nehmen wollte, um so sicher zu gehen, dass seinen Kollegen nichts geschah? Wollte Dazai sie etwa beschützen? Er schluckte hart und rieb sich angestrengt das Nasenbein. Er musste mit Dazai reden und herausfinden, was ihn so sehr bedrückte. Herausfinden, wer ihn so sehr verletzt hatte und warum er sich nicht an ihn gewandt hatte. Vertraute ihm der Brünette etwa so wenig? Der Gedanke, dass Dazai ihm nicht vertraute, war eigenartig schmerzlich. Er beschimpfte ihn, packte ihn am Kragen und wurde relativ häufig handgreiflich, doch für ihn war das einfach ihre Art zusammenzuarbeiten und miteinander umzugehen. Hatte Dazai dies vielleicht nie so empfunden? Hatten Kunikidas Wutausbrüche ihn dazu gebracht, so weit zu gehen?
 

Was ist, wenn ich ihn dazu getrieben habe? Hat er geglaubt, dass er sich mir nicht anvertrauen kann, weil ihn spaßeshalber eine verpasst habe? Ist es meine Schuld? Hätte ich anders reagieren sollen? Mit mehr Mitgefühl? Verdammt, ich weiß nicht, was ich denken soll! Was wäre die ideale Reaktion gewesen?
 

Plötzlich zweifelte er an seinem Ideal und an sich selbst.
 

„Nun, wer auch immer Dazai so sehr verletzt hat, wird ihm sehr nahe gestanden haben. Es ist durchaus möglich, dass er erpresst wurde und keinen anderen Ausweg sah“, ratterte Ranpo herunter und legte seine Stirn in Falten. Kunikida sah ihn flehend an, wollte mehr aus dem Mund des Detektivs hören, doch dieser schien diesen Gedanken nun im Stillen weiterzuverfolgen.
 

„Erpressung? Wer wäre dumm genug, einen Ex-Yakuza zu erpressen? Oder eher, was wäre brisant genug, das Dazai in Schwierigkeiten bringen würde? Er steht immerhin unter Taneda-sans und meinem Schutz. Ähnlich wie mit Kyouka hat er, solange er für uns arbeitet, Straffreiheit, selbst wenn man ihm etwas nachweisen könnte“, erklärte Fukuzawa und verlangte eine weitere Erklärung.
 

„Vielleicht geht es hier aber nicht um etwas, das ihn als Verbrecher belastet, sondern etwas persönliches? Etwas, von dem er unter keinen Umständen will, dass irgendjemand etwas erfährt. Etwas, das er so sehr behütet, dass nicht einmal Ranpo-san etwas erahnen könnte“, führte Kunikida auf und warf dem Schwarzhaarigen einen weiteren, bittenden Blick zu.
 

„Ich habe eine Ahnung, aber das wird dir nicht gefallen, Kunikida.“
 

„Was meinst du?“
 

„Ich gebe dir die Erlaubnis, alles zu tun, was nötig ist, um herauszufinden, wer Dazai-kun bedroht und sicherzustellen, dass er nichts verheimlicht, das ihn oder einen von uns in Gefahr bringt. Ich gestatte sämtliche Mittel“, kam es nickend von Fukuzawa. Ranpos Gesicht erhellte sich, dann sprang er vom Platz auf und lief aus dem Büro. Kunikida sah ihm perplex hinterher und ohne lange darüber nachzudenken, folgte er ihm. Auch als Ranpo das Gebäude verlassen hatte und wortlos in Richtung Innenstadt marschierte, machte er keinerlei Anstalten, sich zu erklären. Kunikida folgte ihm und warf ihm einen unschlüssigen Blick zu. Abwartend, prüfend. An einer Ampel blieben sie stehen. Er hatte absolut keine Ahnung, wo Ranpo hinwollte. Zudem war es ihm neu, dass er allein durch die Straßen lief und sich dabei nicht verlief. Seine Orientierung war dermaßen schlecht, dass er sich selbst auf dem Nachhauseweg verlief und stundenlang durch die Gegend irrte, wenn ihn keiner begleitete.
 

Plötzlich standen sie vor einem Süßigkeitenladen. Kunikidas Auge zuckte.
 

„DEIN ERNST?!“, brüllte er und seine Augen formten kleine spitze Dreiecke, während seine Zähne zu spitzen Stacheln mutierten und Feuer aus seinem Mund flammte. Die Wut, die sich in ihm auf braute, war für jeden zu erkennen, dann atmete er tief ein und folgte dem Schwarzhaarigen in den Laden, der begeistert die Probierschälchen leerte und den Verkäufer provozierte. Dieser lief ihm mahnend hinterher, doch Ranpo ließ sich auch von den bösen Blicken des Mannes nicht davon abschrecken, sich die nächsten Bonbons in den Mund zu schieben und gierig eins nach dem nächsten zu verzehren.
 

„Hey! Gehört der Knirps zu dir?!“, wollte der Verkäufer wissen und zeigte auf Ranpo, der immer noch begeistert Bonbons in sich stopfte und sich nicht ablenken ließ.
 

„V-Verzeihen Sie, mein Herr!“, kam es von Kunikida, der nun zum Tresen lief und sich mehrmals für das schlechte Betragen seines Kollegen entschuldigte, aber kein einziges Mal erwähnte, dass dieser älter war als er aussah. Am Ende ihres kleinen Ausflugs hatte Kunikida zwei Taschen voll mit Süßigkeiten in der Hand. Das Klingeln der Ladentür hinter ihm brachte ihm Erleichterung, so stöhnte er und flehte innerlich, dass er niemals wieder in eine so peinliche Situation geraten würde. Ranpo zeigte keinerlei Schuldgefühle und lutschte zufrieden an einem Lutscher und schlug erneut einen neuen Pfad ein.
 

„Was hast du vor? Wo willst du hin?“, fragte Kunikida und kämpfte gegen seinen inneren Drang, Ranpo anzuschreien und ihn am Ohr zu packen und zur Agentur zurückzuschleifen. Immerhin war auf Ranpos Gespür immer Verlass und auch solche unangenehmen Situationen verzieh man ihm, wo er immer Resultate brachte. Irgendetwas hatte Ranpo vor und er vertraute ihm und dessen Intellekt.
 

„Ist das nicht offensichtlich?“, kam es rhetorisch, dann leckte und lutschte er an der klebrigen Süßigkeit, warf Kunikida einen fragenden Blick zu.
 

„Ich bitte Sie, Herr Meisterdetektiv, klären Sie mich auf!“
 

Ranpo stöhnte genervt und zuckte mit den Schultern.
 

„Dazai ist ein Freund des Nachtlebens. Und wer kommt nachts auf die Straßen?“
 

„Kriminelle?“
 

„Oh, du kannst dein Hirn ja doch benutzen!“ Ranpo klatschte amüsiert in die Hände.
 

„Dazai kennt jeden in der Stadt und ist in Kontakt mit einigen Bossen der Unterwelt. Er kennt sich aus und hat einige Informanten, die ihm sagen, was gerade in der Stadt los ist. Als Ex-Yakuza weiß er, wo er Informanten her kriegt und wer vertrauenswürdig ist“, begann er und biss auf den Lutscher, so dass dieser laut knackte.
 

„Ich gehe von einem Verräter aus oder einer feindlichen Organisation, die wissen, wer er wirklich ist und dass er für die Port Mafia gearbeitet hat. Abschaum wie die zucken nicht mal mit der Wimper, wenn es um Geld geht, da kann man auch mal seinen Kameraden und Boss verraten“, sagte er dann und kaute die Reste des Lutschers, ließ diese zwischen seinen Zähnen so laut zersplittern, dass Kunikida mehrmals aufzuckte. Plötzlich bog Ranpo in eine Seitengasse ein, die vom Stadttreiben wegführte und in ein großes, abgesperrtes Baugebiet führte. Er quetschte durch die Lücke im Metallzaun, zog sich dann seine Mütze zurecht.
 

„Hier gibt’s Informanten, einer der größten Hotspots Yokohamas“, grinste Ranpo und zeigte mit dem Stiel des Lutschers auf die Gerüste eines Gebäudes, das seit Jahren nicht beendet worden war und seither ungenutzt verwitterte. Die Metallgerüste waren bereits tiefrot von all dem Rost und quietschten im Wind, als würden sie jederzeit in sich einbrechen.
 

„Woher weißt du das?“
 

Ranpo schnalzte empört mit der Zunge und fühlte sich zutiefst beleidigt.
 

„Du wagst es, meine Schlussfolgerungen anzuzweifeln?!“
 

„Niemals!“, entschuldigte sich der Blonde sofort und ließ dabei fast die Tüten mit den Süßigkeiten fallen.
 

„Dazai hat immer noch mit Leuten der Unterwelt Kontakt und vielleicht finden wir einen Hinweis auf seine Vergangenheit“, murmelte Ranpo, knabberte die kläglichen Überreste von dem Stiel, ehe er diesen achtlos auf den Boden warf. Kunikidas Auge zuckte. Umweltverschmutzung war alles andere als ideal! Doch er sagte nichts, hob den angeknabberten Stiel einfach auf und verstaute ihn in seiner Westentasche, folgte Ranpo, der den Gerüsten immer näher kam und die Umgebung inspizierte. Er schien irgendetwas zu vermuten und als Kunikida näher kommen wollte, streckte er seine Hand aus, um ihn aufzuhalten. Sofort hielt er inne.
 

„Nicht! Du verwischt noch die Spuren“, sagte er und beugte sich nach unten, fuhr mit seinen nackten Fingern über die Erde und sog dann scharf die Luft ein.
 

„Ein süßlicher Duft...“, sagte er dann und erhob sich, lief auf dem Gelände umher.
 

Er lief in Richtung eines kleinen Geräteschuppens, der ebenso verrostet war, wie der Rest des Geländes. Ein unangenehmer Geruch kam ihm entgegen. Die Tür zum Schuppen war leicht verbogen und nicht abgeschlossen, sodass irgendjemand mehrere Kisten davor gestellt hatte. Irgendjemand schien etwas verstecken zu wollen.
 

„Los, räum die Kisten da weg, die sind im Weg!“, schimpfte er dann. Eilig kam Kunikida näher, nickte und schob mit aller Kraft die Kisten weg, die weitaus schwerer waren, als er beim ersten Blick vermutet hatte. Stöhnend und keuchend schaffte er die letzte weg und ließ sich angestrengt auf den Boden fallen, rang nach Atem. Hätte Ranpo geholfen, hätte er sich nicht so verausgaben müssen, aber er durfte den Schwarzhaarigen nicht stören, sonst würde er seine Ermittlungen einfach einstellen und den Rest des Tages beleidigt sein. Ranpo öffnete die nun die Tür zum Schuppen und pfiff anerkennend.
 

„Na, was haben wir denn hier?“, sagte er und kicherte. Kunikida stand sofort kerzengerade und warf einen Blick über die Schulter seines Kollegen und schluckte hart.
 

„Der Mann hier wurde erschlagen. Sieht aus wie'n Schläger. Der Täter hatte keine Zeit, die Leiche zu verstecken und musste sich vom Acker machen, also hat er sie stümperhaft hier versteckt, weil er wusste, dass niemand den Kerl vermissen würde“, kam es von Ranpo, der gleichgültig mit den Schultern zuckte und auf ein Brecheisen zeigte.
 

„Da klebt sogar noch Blut dran, sicher sind da auch Handabdrücke drauf“, sagte er und ohne lange zu zögern, ergriff Kunikida sein Buch und brachte mithilfe seiner Fähigkeit ein Tuch zum Vorschein, in das er den augenscheinlichen Mordgegenstand wickelte. Daraufhin machte er sich Notizen, während Ranpo weiterhin den Tatort untersuchte. Er hockte sich hin und warf einen Blick auf den Boden, kramte dann in seiner Hosentasche herum und zog ein Paar Gummihandschuhe hervor, zog diese über und fuhr mit dem Zeigefinger über den modrigen Holzboden.
 

Das Blut ist bereits getrocknet und in den Boden gezogen, ich vermute, dass das Opfer seit mindestens zwei Tagen tot ist. Der Schädel wurde eingeschlagen, aber war das die Ursache für den Tod?, überlegte der Detektiv und wies Kunikida dazu an, die Leiche umzudrehen, damit er einen genaueren Blick auf den Körper werfen konnte.
 

Das Opfer trägt einen schwarzen Anzug, weißes Hemd und Lackschuhe. Die Haare sind so kurz rasiert, dass man die Kopfhaut durchsieht. Informant? Nein. Nicht in diesem Aufzug. Könnte jemand von der Port Mafia sein oder irgendein Möchtegern Yakuza. Ranpo untersuchte die Taschen, wühlte in diesen herum, als suchte er nach etwas. Aus der Innentasche der Jacke zog er einen Revolver heraus, den er in seinen Händen hin und her wendete, ehe er das Magazin prüfte. Erschrocken riss er die Augen auf. Das Magazin ist voll! Das Opfer kannte den Täter und hat keinen Angriff erwartet. Kam es zu einem Kampf? Ein Streit um die Beute oder die Bezahlung? Ein fehlgeschlagener Deal und eine Falle, analysierte er weiterhin und ließ seinen Blick schweifen.
 

Die Geräte liegen teilweise zerstreut am Boden – was ist denn das?!
 

Plötzlich erhob er sich und warf einen Blick auf einen zersplitterten Behälter. Ein kleines Fläschchen. Vorsichtig beugte er sich hin. Wieder dieser Geruch...! Das ist Trichlormethan. Aber warum sollte der Täter Chloroform nutzen und ihn dann erschlagen? Das ergibt keinen Sinn. Es sei denn, das Opfer ist in Wirklichkeit der Täter gewesen. Sein Blick wanderte erneut zur Leiche. Die Nase war gebrochen und Blut klebte in seinem Gesicht, sein Hemd war teilweise aufgeknöpft – bevor er weiterdenken konnte, sog er tief Luft ein. Seine Hose ist offen. Handelt es sich hier um ein Sexualdelikt? Wenn ich diesem Gedanken folge, macht auch das Chloroform Sinn. Der Täter war das Opfer, hat sich gewehrt und gekämpft, da es durch das Chloroform benebelt war, hat es dabei die Geräte herunter gerissen. Mit der Brechstange hat das Opfer ihn erschlagen. Schockiert von dieser Tat, wollte das Opfer dies verheimlichen und hat den Schuppen verbarrikadiert.
 

Ranpo sah sich weiterhin um, dann untersuchte er erneut die Leiche. In der rechten Hand der Leiche fand er eine ausgerissene Haarsträhne.
 

„Hier, Kunikida“, sagte er und wedelte mit den Haaren in den Luft umher.
 

„Pack das ein, das muss analysiert werden.“
 

„Die Haare stammen offensichtlich nicht von der Leiche. Vom Täter? Aber wir wissen nicht, wer der Täter war, selbst wenn wir die Haare analysieren, können wir sie nicht zuordnen. Wir können doch nicht auf gut Glück das gesamte Vorstrafenregister der Polizei durchgehen, wenn wir nicht einmal eine Ahnung haben, ob die Person überhaupt jemals auffällig geworden ist“, erklärte Kunikida missmutig, nutzte dennoch seine Fähigkeit, um einen kleinen Plastikbeutel hervorzuholen, in dem er das vermeintliche Beweismaterial steckte.
 

„Der Haarlänge nach, eine Frau mit Kurzhaarschnitt oder ein Mann“, murmelte Kunikida in seinen nicht vorhandenen Bart.
 

„Ich habe bereits eine Ahnung, nach wem wir suchen“, meinte er, kreuzte seine Arme hinter seinem Hinterkopf und dackelte zufrieden an seinem Kollegen vorbei, welcher ihn nur mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
 

„Du weißt bereits, wer der Täter war?!“
 

„Bist du dumm?“, fragte Ranpo, schüttelte dann den Kopf. „Stimmt, rhetorische Fragen sind ja unverschämt, sagte der Boss. Ich korrigiere: du bist dumm.“
 

Verwundert sah der Blonde ihn an. Was genau meinte Ranpo und was hatte er in diesen wenigen Minuten, die sie hier waren, bereits durchschaut, das seinem Blick verborgen blieb?
 

„Die Spuren eines Kampfes sind offensichtlich, der Boden hier“, begann Ranpo und zeigte auf den sandigen Boden, „ist stark aufgewirbelt. An einigen Stellen häuft sich der Sand, das ist kein natürliches Phänomen, weder Wind noch Wetter würde solche Veränderungen hervorrufen. Hier wurde gekämpft. Das Opfer wurde betäubt und in den Schuppen gebracht“, erläuterte Ranpo gelangweilt.
 

„Und dort wurde er ermordet“, fügte Kunikida nickend hinzu.
 

„BAKA[2]!“, schimpfte Ranpo und trampelte wütend auf und ab. Kunikida zuckte zusammen.
 

„Die Leiche ist nicht das Opfer, sondern der Täter! Vermutlich war es Notwehr. Das Opfer musste sich irgendwie wehren, doch aufgrund der Betäubung war es nicht in der Lage klar zu denken. Es hat Angst bekommen, wollte die Tat vertuschen und ist abgehauen, bevor irgendwer etwas mitbekommen konnte“, sagte Ranpo und machte sich darauf, die Absperrung erneut zu durchbrechen und zu gehen.
 

„Moment! Sollten wir nicht die Polizei rufen?“, fragte Kunikida und sah dem älteren Ermittler ungläubig hinterher.
 

„Gut, du lässt den Tatort untersuchen und rufst die Polizei. Und ich folge der Spur“, meinte er dann und grinste breit über seine Schulter hinweg.
 

„Was für eine Spur?“
 

„Ahhh~“, jammerte Ranpo und ließ enttäuscht den Kopf hängen.
 

Alles muss man allein machen! Es ist so anstrengend, wenn man von Hohlköpfen umgeben ist! Dabei ist es doch so offensichtlich, was hier passiert ist!“, schimpfte der Schwarzhaarige und stampfte wieder mehrmals auf, machte seinem Ärger Luft. Kunikida legte den Kopf schief und wagte es nicht, irgendetwas zu entgegnen, sondern schluckte nur seinen eigenen Zorn und die Demütigung wortlos runter.
 

„Bitte, Meisterdetektiv Ranpo! Ich bin doch Ihr Assistent! Ihr könnt mich doch nicht hier zurücklassen, ohne Euer Licht und Euren Intellekt, bin ich vollkommen aufgeschmissen!“
 

Ranpos Augen leuchteten und er grinste breit. Die Freude über dieses Lob war ihm anzusehen.
 

„Gut, Kunikida! Ich gestatte dir, mir zu folgen! Wir folgen erst der Spur und dann kannst du immer noch mit den faulen Polizisten dieser Stadt Manjū[3] essen und so tun, als würdet ihr einen Beitrag zu diesem Fall leisten~“, lachte er selbstbewusst und drehte sich auf den Absatz um, lief der unsichtbaren Spur hinterher, während Kunikida ihm wie ein getretener Hund folgte.
 

Ohne sich zu erklären stampfte Ranpo drauf los. Sie waren bereits mehrere Straßen weiter gelaufen, bis der Schwarzhaarige urplötzlich vor einer Kreuzung stehenblieb und die Straßenschilder studierte. Dann ein Grummeln. Ein laut hörbares, theatralisches Seufzen. Ranpo ließ den Kopf hängen. War er etwa einer falschen Spur gefolgt und nun frustriert? Aber es war unmöglich, dass Ranpo einen Fehler machen! Kunikida kam ihm näher und suchte nach den richtigen Worten, doch ehe er ihn aufheiternde Worte mitteilen konnte, fluchte Ranpo wieder und trampelte mehrmals auf und ab, machte seinen Ärger Luft.
 

„Ich habe mich verlaufen!“, meckerte er und sah Kunikida böse an, als hätte dieser Schuld an seinem Fehler.
 

„Wo wolltest du denn hin?“, fragte Kunikida ruhig und legte den Kopf leicht schief.
 

„Ins Krankenhaus“, meinte Ranpo nur eintönig und warf erneut einen Blick auf die Straßenschilder.
 

„Das ist aber in die entgegengesetzte Richtung“, murmelte Kunikida leise und zwang sich zu einem Lächeln. Sie waren nun eine halbe Stunde in die falsche Richtung gelaufen und weil Ranpo über seine Gedanken und Einfälle nie offen sprach, blieb dem Blonden ja nichts anderes übrig, als diesem zu vertrauen. Dass dieser einen unglaublich schlechten Orientierungssinn hatte, war eher zweitrangig.
 

„Du führst uns jetzt ins Krankenhaus!“, befahl der Detektiv und stemmte die Hände in die Hüften.
 

„In welches?“ Kunikida hob fragend eine Augenbraue. Es gab mehr als ein Krankenhaus in Yokohama.
 

„Wir gehen Dazai besuchen! Dem ist bestimmt langweilig~“, zwitscherte Ranpo breit grinsend.

Kapitel 4

Ranpo stürmte unangemeldet in Dazais Krankenzimmer, ließ die Tür laut aufknallen, sodass der Brünette augenblicklich zusammenzuckte und seinem unerwünschten Besuch einen bösen Blick zuwarf. Kunikida entschuldigte sich mehrmals für Ranpos Betragen, doch dieser ignorierte nicht nur Dazais verwirrten Blick, sondern machte auch keinerlei Anstalten Besserung zu geloben. Zügig stampfte Ranpo vor Dazais Krankenbett und sah ihn eindringlich an. Dazai lächelte. Wie immer. Dieses ekelhaft falsche Lächeln, das Ranpo von Anfang an durchschaute. Kunikida blieb direkt neben seinem Kollegen stehen und warf Dazai einen besorgten Blick zu. Wann war er aufgewacht? Wie ging es ihm?
 

Noch ehe er seinen Mund öffnen konnte, um etwas zu sagen, streckte Ranpo seine Hand aus und riss dem Brünetten einige Haare aus. Sofort klagte der Brünette.
 

„Was soll das?! Das tut weh!“, meckerte Dazai und hielt sich seinen Kopf genau da, wo Ranpo rücksichtslos eine ganze Haarsträhne ausgerissen hatte.
 

„Yeah, sorry, ich wollte eigentlich nur ein paar Haare und nicht einen Büschel. Keine Sorge, du bist noch jung. Die wachsen nach“, meinte er und verstaute die ausgerissene Haarsträhne in seiner Hosentasche, grinste dabei breit.
 

„Wie kann Ranpo-kun einem Patienten im Krankenhaus auch noch absichtlich Schmerz zufügen? Das Leben ist so ungerecht~“, wimmerte Dazai und ahmte einen sterbenden Schwan nach. Kunikida warf Ranpo einen finsteren Blick zu.
 

Ranpo verdächtigt Dazai, schoss es ihm durch den Kopf, doch anstelle seine Gedanken laut auszusprechen, nahm er Dazais Hand in seine und drückte sie sanft. Dazai beendete abrupt sein Schauspiel, errötete leicht und sah Kunikida mit großen, verwunderten Augen an.
 

„Du verlierst auch echt keine Zeit, was?“, grinste Dazai dann und klang dabei wie immer spielerisch provokant.
 

Kunikida sagte nichts, zog Dazais Arm noch etwas näher zu sich und streichelte seinen Unterarm behutsam. Dazai zeigte keinerlei Reaktion. Die Wunde war so tief gewesen. Dieser tiefe, klaffende Spalt auf diesem dünnen, zerbrechlichen Arm hatte sich in Kunikidas geistiges Auge gebrannt und er konnte nicht anders, als trotz des weißen, weichen Baumwollstoffes, in dem sein Arm bandagiert war, anzustarren. Er sah nicht den Stoff. Nicht die Fasern. Sondern lediglich Dazais vernarbten Arm und die tiefe Wunde.
 

„Tu das nie wieder“, hauchte Kunikida und sah nicht auf. Dass Ranpo den Raum verließ, bekam er gar nicht mehr mit.
 

„Sorry, aber ich war noch nie gut darin, Versprechen zu halten. Mal davon abgesehen, dass ich gar nicht gewillt bin, dir dieses Versprechen zu geben“, meinte Dazai nur und zog seinen Arm weg, drehte den Kopf zur Seite, um so den Blicken seines Partners nicht weiter ausgesetzt zu sein.
 

„Warum sprichst du nicht mit mir? Ich kann dir doch helfen“, erklärte Kunikida, doch Dazai schüttelte einfach nur den Kopf.
 

„Kunikida-kun, lass das. Ich möchte nicht darüber reden. Nicht jetzt. Nicht später. Niemals.“
 

„Aber ich will dir helfen!“, schimpfte Kunikida lauter. Dazais Beweggründe waren unergründlich. Er war ein Geheimnis, das niemand zu lüften vermochte.
 

„Und ich sagte dir, ich brauche deine Hilfe nicht! Ich will sie auch gar nicht! Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das!“
 

Dazais Hände ballten sich zu Fäusten, seine Handknöchel wurden weiß. Kunikida bemerkte, dass Dazai ausgezehrt war. Zu dünn, viel zu dünn! Wieso habe ich das nicht gesehen?! Seine Wangen waren leicht eingefallen und seine Augen waren gerötet, während die dunklen Augenringe von Übermüdung und Erschöpfung zeugten. Kunikida schluckte hart und senkte erneut den Blick. Wortlos stand er Dazai gegenüber. Dieser sah ihn nicht an, vermied jeglichen Blickkontakt.
 

„Es tut mir leid“, hauchte Kunikida dann, versuchte es erneut.
 

Dazai blinzelte verwirrt.
 

„Ich hätte dir gegenüber sanfter sein und deine Probleme ernst nehmen müssen. Kein Wunder, dass du mir nicht vertraust. Ich habe dir ja nicht unbedingt Grund gegeben, dich mir anzuvertrauen. Aber ich werde mich ändern und verspreche dir, dass ich meine Wut zukünftig nicht mehr an dir auslassen werde“, erklärte Kunikida mit gefasster Tonlage. Dazai sah ihn nun an.
 

„Kunikida-kun erlaubt mir tatsächlich, die Arbeit zu schwänzen?“, kam es begeistert von Dazai, der nun in die Hände klatschte und ihn mit großen, leuchtenden Augen ansah. Kunikida glaubte, dass die ganze Umgebung sich veränderte, die Atmosphäre quietschrosa wurde und Blümchen von der Decke segelten, während kleine Sternchen in der Luft zu schweben schienen und aufblitzten. Er schüttelte diesen Gedanken ab.
 

„Das habe ich nicht gesagt“, begann er. Dazai warf sich theatralisch in sein Kissen und jammerte wie eine Diva über die Ungerechtigkeit des Lebens, meinte, dass er lieber tot wäre, als Papierkram zu erledigen. Dieses unreife Verhalten zauberte dem blonden Ermittler ein kleines, amüsiertes Lächeln ins Gesicht, doch dann fasste er sich.
 

„Wir brauchen dich. Nicht deine Fähigkeit. Nicht deinen unglaublichen Verstand. Sondern dich. Dich als Person. Ohne dich wäre die Agentur einfach nicht mehr dieselbe und ich würde deine schrecklichen Lieder vermissen. Niemand hält mich so gut von der Arbeit ab, wie du. Du bist unersetzlich“, meinte er dann und setzte sich an die Bettkante. Dazai errötete erneut, senkte den Blick.
 

„Du bist schrecklich kindisch, frech, machst nie das, was man dir sagt und tust alles, um deinen Kollegen – insbesondere mir – auf die Nerven zu gehen und unsere Ermittlungen zu behindern. Du schläfst auf der Arbeit, faulenzt und isst regelmäßig meine mitgebrachten Sachen, die ich mir in den Kühlschrank lege. Deine makabren Witze über Selbstmord verderben einem den Appetit und deine Geheimniskrämerei macht mich wahnsinnig, so auch deine spitzzüngigen Bemerkungen und dein ewiger Sarkasmus“, ratterte Kunikida herunter. Dazai blies die Backen wie ein Kind auf und quittierte Kunikidas Aussage mit einem stumpfen: „Pah!“, dann verschränkte er die Arme und wandte den Blick ab.
 

Kunikida legte seine Hand auf Dazais Haarschopf. Dieser verkrampfte sofort und riss erschrocken, beinahe ängstlich, wie Kunikida fand, die Augen auf. Hatte Dazai Angst? Hatte diese plötzliche Berührung ihn aus dem Konzept geworfen? Dazai hielt den Atem an.
 

„Aber du bist mein Partner, erhellst unseren Alltagstrott und munterst uns mit deinem Charme auf. Auch wenn dein Lächeln nur aufgesetzt ist, erinnerst du jeden von uns daran, dass wir den Kopf hochhalten müssen und nicht einfach aufgeben müssen. Wir müssen unser Lächeln bewahren. Du bist mein Partner, Dazai. Du bist mir wichtig. Ganz egal, wie viele Dummheiten du machst, ich haue dich wieder raus. Und wenn du mal wieder in den Kanal springst, springe ich dir hinterher, nur um dich daran zu erinnern, dass ich dich nicht einfach gehen lasse. Du gehörst zu unserer Familie. Hast du das verstanden?“
 

Dazai sagte kein Wort, stieß jetzt den Atem aus und schlug Kunikidas Hand weg.
 

„Hör auf. Ich will das nicht hören.“
 

„Warum? Weil du dich gern im Selbstmitleid suhlst und dich so sehr daran gewöhnt hast, wie schlecht und schrecklich alles ist, dass du dir gar nicht mehr vorstellen kannst, dass es Menschen gibt, die dich wirklich mögen?“
 

In Dazais Augen blitzte etwas auf. Kunikida hatte einen wunden Punkt getroffen.
 

„Was weißt du schon von mir? Hm? Nichts. Du spielst dich als Samariter auf, heuchelst mir etwas vor, doch wenn ich dich brauche, bist du nicht da und lässt mich im Stich! Wie oft habe ich gesagt, dass es mir schlecht geht? Nie hast du mir geglaubt, sondern noch darauf herumgeritten und mein Leid runtergemacht! Hast du nicht selbst gesagt, dass ich mich nicht so anstellen solle?“
 

Kunikida wollte etwas erwidern.
 

„Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass es mir wirklich schlecht gehen könnte? Natürlich nicht. Die Wahrheit ist, dass es weder dich noch sonst irgendwen interessiert. Du willst gar nicht wissen, was mich so sehr quält, denn wenn du es wüsstest–“, Dazai unterbrach sich selbst, riss schockiert die Augen auf, während seine Hände die Bettdecke umklammerten und er nach den richtigen Worten suchte, geradezu herauszögerte, was er sagen wollte, ehe er weitersprach: „Denn, wenn du es wüsstest... wenn, du es wüsstest... dann würdest du...“, murmelte er und wiederholte diese Worte wie in Trance.
 

„Dazai?“, kam es besorgt vom Blonden.
 

„Was würde ich dann?“, fragte es schlussendlich und wartete ab.
 

„Du würdest mich hassen. Dann würdest du verstehen, warum ich nicht weiter leben darf... warum ich nicht weitermachen kann. Wenn du es wüsstest... wenn du wüsstest, was ich getan habe, du würdest mich verabscheuen.“
 

„Unsinn“, meinte Kunikida.
 

„Du würdest mich hassen!“, keifte Dazai und in seinem Blick lag Verzweiflung, Angst, Wut.
 

„Das kannst du nicht beurteilen“, entgegnete Kunikida.
 

„Doch, du wirst mich hassen. Du darfst es niemals erfahren.“
 

„Wer gibt dir das Recht, so über mich urteilen? Wieso bist du dir so sicher, dass ich dich nur hassen kann?“
 

Kunikida setzte sich um und griff nach Dazais Händen, streichelte sanft dessen Handrücken und schenkte ihm einen warmen und festen Blick. Dazai schüttelte den Kopf und flüsterte etwas, das Kunikida nicht wahrnehmen konnte. Er konnte lediglich mutmaßen.
 

„Dein Ideal“, murmelte Dazai, sah immer noch nicht auf und biss sich gequält auf seine Unterlippe.
 

„Was ist mit meinem Ideal?“, hakte Kunikida nach, zog fragend eine Augenbraue hoch und wartete geduldig auf eine Antwort.
 

„Ich habe es gelesen. Was du geschrieben hast, all deine Vorsätze, dein Glauben, deine unerschütterlichen Überzeugungen. Du strebst nach Perfektion, dem wahren Ideal... aber ich bin unvollkommen, minderwertig und bin all das, was du hasst. Deshalb weiß ich ganz genau, dass du mich hassen wirst und ich hasse mich selbst dafür. Ich habe ein schändliches Leben geführt“, nuschelte er und starrte emotionslos auf die Decke. Kunikida seufzte nur und zog Dazai wortlos in seine Arme.
 

„Idiot. Ich strebe nach einem Ideal, aber das heißt nicht, dass ich die Wirklichkeit, wie sie ist, nicht akzeptieren kann. Ein Ideal ist ein Leitfaden, eine Utopie – etwas, von dem man überzeugt ist, dass es das beste wäre, aber letztendlich ist sie illusionär. Es ist einfach, die Welt in schwarz und weiß aufzuteilen, aber die Wahrheit ist, dass es eben Grauzonen gibt. Es gibt keine klaren Linien zwischen gut und böse. Diese Grenzen verschmelzen oftmals.“
 

Er drückte Dazai näher an sich. Dieser zeigte keinerlei Reaktion.
 

„Ein Verbrechen ist ein Verbrechen, aber manchmal... auch wenn ich es ungern ausspreche, weil es so absurd ist, ist es dem Ideal und dem Recht zuträglich, wenn gewisse Verbrechen ungesühnt bleiben. Manche Verbrecher tun mit ihren Taten etwas Gutes, in dem sie andere ausschalten, die weitaus mehr Probleme machen würden.“
 

Er streichelte Dazai zaghaft über den Rücken. Dazai war wie ein verletztes Tier in seinen Armen. Er hatte nie gelernt zu vertrauen oder sich fallen zu lassen, selbst jetzt, wo er ihn schützend in seinen Armen hielt, verspannte er sich und schien nur darauf zu warten, dass Kunikida ihn erneut im Stich ließ und sich abwandte. Kunikida glaubte zum ersten Mal, Dazai ein wenig besser verstehen zu können. Dazai litt unter Verlustängsten. Er befürchtete stets, verraten und missbraucht zu werden. Er wollte sich keine Blöße geben und suchte daher immer nach Abstand.
 

„Ich mag ein Idealist sein, aber kein kindischer Träumer. Ich bin mir im Klaren, dass du in deiner Vergangenheit Verbrechen begannen hast, doch das ist vorbei. Ich arbeite jetzt mit dir zusammen. Wir sind Partner in der Gegenwart und ich beurteile dich danach, was du leistest und was du erreichst. Wer auch immer du in der Vergangenheit warst – du bist jetzt jemand anderes. Du hilfst bei unseren Ermittlungen und hast viele Fälle im Alleingang gelöst. Du hast vielen Menschen geholfen und wirst auch weiterhin vielen Menschen das Leben retten“, erklärte Kunikida und streichelte über Dazais Kopf. Dazai erwiderte die Umarmung nicht, sondern lauschte einfach nur seinen Worten.
 

„Du hast sicher schon mal vom Trolley-Problem[4] gehört“, warf Kunikida ein.
 

Dazai nickte.
 

„Ein moralisches Gedanken Experiment“, fügte er hinzu.
 

„Wenn du die Wahl hättest, zwischen einer Person und einer Gruppe Personen – wie würdest du entscheiden, wenn du allein die Hebel in der Hand hättest?“
 

Dazai seufzte.
 

„Ich würde... eine Person für das Allgemeinwohl opfern. Das wäre die rationalste Entscheidung mit den geringsten Opfern“, erklärte er ohne Gefühlsregung.
 

„Nur wenige Menschen sind in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen. Eine solche Distanz zu den Opfern zu bewahren, ist–“
 

Dazai unterbrach ihn jäh und drückte sich nun von Kunikida weg.
 

„Unmenschlich. Absolut unmenschlich. Jemand, der solche Entscheidungen treffen kann, ist ein Monster. Ich... bin ein Monster.“
 

Dann wandte er den Blick ab. „Ich bin als Mensch disqualifiziert. Nur ich kann den Hebel umlegen. Nur wenn ich verschwinde, können andere gerettet werden. Also muss ich–“
 

Dazais Blick war geistesabwesend. Mit seiner rechten Hand umfasste er seinen linken Unterarm und drückte die Wunde, verletzte sich erneut selbst. Kunikida überlegte nicht lang. Der Hall der Ohrfeige weckte Dazai aus seinem tranceähnlichen Zustand. Verwirrt blinzelte der Brünette, rieb seine heiße Wange und warf seinem Kollegen einen perplexen Blick zu.
 

„Ich lasse nicht zu, dass du so über meinen Partner sprichst. Glaubst du wirklich, dass dein Tod irgendetwas bezweckt? Der Tod ist endgültig. Kyouka und Atsushi sind am Leben, weil du sie gerettet hast. Sie leben und können lachen und das nur weil du lebst! Atsushi wäre ohne dich und dein spendables Verhalten mit meinem Geld vermutlich verhungert oder hätte die Kontrolle über seine Fähigkeit komplett verloren. Oder schlimmer noch: die Port Mafia hätte ihn geschnappt, man hätte ihn versklavt und ihm wer weiß was angetan!“
 

Dazai senkte den Blick.
 

„Und was ist mit Kyouka? Wenn du nicht gewesen wärst, wäre sie immer noch eine Marionette der Finsternis. Sie hat eine strahlende Zukunft vor sich. All das wäre nicht möglich gewesen, wärst du nicht hier. Vielleicht rettest du mit deinem Verschwinden ein paar einzelnen das Leben oder wischt dem ein oder anderen Yakuza eins aus, aber nur wenn du lebst, kannst du Entscheidungen treffen“, knurrte Kunikida und verschränkte die Arme.
 

„Das sagst du doch nur, weil du niemanden vor deinen Augen sterben lassen willst“, murmelte Dazai verärgert.
 

Es gefiel ihm nicht. Die Richtung, in die dieses Gespräch verlief, gefiel ihm überhaupt nicht. Kunikida, der mit netten und aufheiternden Worten jonglierte und dabei keine Miene verzog. Dieser Gegensatz machte ihn krank. Dabei durchschaute er den Blonden und so sehr er auch versuchte, seine wahren Gefühle zu verbergen, so konnte der Brünette in ihm lesen wie in einem offenen Buch. War sich Kunikida überhaupt bewusst, wie leicht er zu durchschauen war? Nach außen hin sprach er immer von seinem Ideal. Sein Ideal. Pah. Dass Dazai nicht lachte. Dieses achso schöne und noble Wort, das dort auf seinem edlen Notizbuch prangerte – die Striche des Kanji in perfekter Manier gezogen – war am Ende doch nichts weiter als Wort und Dazai hatte ihn durchschaut. Allein dieser Gedanke ließ ihn leise auflachen. Dieses Ideal! Hach, in keinster Weise bezog es sich auf Kunikida. Nein, jegliche Notizen bezogen sich stets auf andere. Das ideale Verhalten, das eine ideale Welt schaffte und allen zugute kam.
 

Du schreibst es nieder, dein Ideal, in schönen, bezaubernden Worten, um dich selbst zu überzeugen, doch in Wahrheit weißt du selbst am besten, wie sinnlos es ist, diesem Leitfaden zu folgen. Ideal und Realität sind in keinster Weise vereinbar, denn wenn es so wäre, dann würde dieses Buch in deiner Tasche gar nicht existieren. Du weißt, wie sinnlos es ist, dagegen anzukämpfen, aber du kannst es dir nicht eingestehen. Willst nicht akzeptieren, dass Menschen, die dir wichtig sind, einfach vor deinen Augen sterben.
 

Nichts von all dem sprach Dazai aus, aber er wusste, dass sie beide jemanden verloren hatten, den sie sehr geliebt hatten. Wenn es eines gab, dass dieses Buch verriet, dann war es, wie unglaublich schwach und zerbrechlich Kunikida war und dass er mit Verlust und Tod nicht umgehen konnte.
 

„Unterschätze mein Ideal nicht, Dazai“, kam es beinahe tonlos von Kunikida.
 

Dazai lachte auf. Sein Blick war finster und die Raumtemperatur schien auf einmal gesunken zu sein. Dem blonden Detektiv lief es eiskalt dem Rücken runter.
 

„Du weißt genauso wie ich, dass dein Ideal absolut nicht mit der Realität vereinbar ist“, kam es dann von Dazai, der dieses eiskalte Lächeln auf seinen Lippen trug, während jegliches Licht aus seinen Augen gewichen war. Kunikida erwiderte seinen Blick, ließ sich keinerlei Furcht ansehen.
 

„Und dennoch werde ich weiterhin danach streben und dafür kämpfen, meine Ziele zu erreichen und die Welt ein Stück besser zu machen“, sagte er mit fester Stimme und unerschütterlicher Entschlossenheit in seinem Blick. Dann packte er Dazai grob an seinem Krankenhaushemd und zog ihn näher.
 

„Und ich gebe nicht auf, also wirst du es auch nicht!“
 

Dazai blinzelte und starrte seinen Kollegen teilnahmslos an.
 

„Du hast mein Notizbuch gelesen, nicht wahr? Dann weißt du auch, was ich über dich geschrieben habe!“
 

„Stimmt, ich bin auf deiner To-do-Liste~“, kam es breit grinsend von Dazai, der dann mit seinen Lippen einen Kussmund formte, schmatzende Kussgeräusche von sich gab und für diese Geste direkt eine Kopfnuss erntete. Jammernd warf er sich ins Kissen, klagte einmal mehr über die Grausamkeit dieser Welt und wie gemein Kunikida war, einen Mann auf seinem Sterbebett auch noch zu verhauen. Kunikida räusperte sich. Immer diese Zweideutigkeiten von diesem Kerl! Das machte er doch mit Absicht.
 

„Ich gebe nicht auf, ehe du ein ehrliches und hart arbeitendes Mitglied unserer Detektei bist. Ich werde nicht ruhen, ehe dieser Tag kommt, also kann ich dich nicht sterben lassen. Wenn du stirbst, würde dieses Ding hier“, Kunikida holte sein Notizbuch heraus und zeigte auf das schön geschwungene Kanji auf dem Buchdeckel, „absolut wertlos werden! Du wirst nicht sterben, solange ich hier bin. Wir sind Partner! Du wirst mich nicht mehr los!“
 

Dazai drückte sich ins Kissen und seufzte laut hörbar, erwiderte nichts.
 

„Ich sage nicht, dass ich dich verstehe. Heilige Scheiße! Das werde ich wahrscheinlich niemals! Aber ich werde es weiterhin versuchen und auch wenn ich nicht begreife, was dich so sehr quält, dass du nicht drüber reden kannst, so werde ich dennoch nach dir suchen und dich nicht einfach in deiner Badewanne liegen lassen“, erklärte Kunikida und legte eine Hand auf Dazais Wange. Dieser zuckte kurz zusammen, ließ sich aber sonst nichts ansehen.
 

„Wir müssen nicht darüber reden, aber ich will, dass du verstehst, dass ich da bin und dass ich dir niemals verzeihen werde, wenn du mich einfach zurück lässt. Ich akzeptiere das nicht! Hörst du?!“
 

„Schon gut, schon gut! Du und deine ewigen Predigten, du hättest Priester werden sollen“, meckerte Dazai und warf dem Blonden einen beleidigten Blick zu.
 

Kunikida kramte etwas aus einer der Tüten, die er für Ranpo trug und überreichte Dazai ein kleines Bonbon mit dem Bild einer Kirsche. „Hier“, meinte er nur und griff nach Dazais Hand, drückte ihm die Süßigkeit in die Handfläche und schloss seine Hand in seiner eigenen, ehe er tief einatmete.
 

„Du wirst morgen schon entlassen. Versprich mir, dass du keinen Unsinn mehr machst.“
 

„Ich sagte doch, ich werde dir dieses Versprechen nicht geben“, flüsterte Dazai monoton.
 

„Wenn du brav bist, lade ich dich zum Abendessen ein.“
 

„Oh~ Kunikida-kun lässt wirklich nichts anbrennen!“, kicherte Dazai und zog seinen Kollegen auf.
 

Kunikida grummelte und war so verärgert, dass sein Haarzopf zu einem spitzen Dreizack mutierte.
 

„Warum muss bei dir immer alles so falsch klingen?! Das hört sich ja so an, als wollte ich dich verführen!“
 

„WAS? Ich dachte, darum geht es hier?! Etwa nicht? Kunikida-kun findet mich nicht attraktiv? Und ich habe mich so sehr auf ein Date mit dir gefreut~!“
 

Dazai warf sich theatralisch ins Kissen und weinte bittere Tränen, von denen sich Kunikida sicher war, dass sie genauso falsch waren wie sein aufgesetztes Lächeln und trotzdem war ihm diese ganze Situation peinlich und unangenehm.
 

„GUT, dann ist es eben ein Date! Wenn es dich glücklich macht!“, keifte er dann und im selben Augenblick saß Dazai wieder kerzengerade vor ihm, seine Augen leuchteten wieder und er wirkte entschlossener denn je, was Kunikida ebenso verwirrte, wie auch besorgte. Wie konnte jemand so schnell in seiner Persönlichkeit wechseln? Dazai zu verstehen war einfach unmöglich.
 

„Ich will ins Shikitei[5]~ ♥“
 

Kunikida ließ den Kopf hängen.
 

„Natürlich willst du in das teuerste Restaurant Yokohamas. Was habe ich nur erwartet? Wäre ja zu viel verlangt, so etwas wie Zurückhaltung von dir zu erwarten“, schimpfte Kunikida.
 

„Ist das also ein Ja~? ♥“
 

Dazai klimperte mit seinen Wimpern und mimte den unschuldigen Jungen.
 

„Von mir aus! Dann eben ins Shikitei! Aber nur unter einer Bedingung!“
 

Dazai sah ihn missmutig an.
 

„Wenn es dir schlecht geht, wirst du es mir sagen! Ich will dich nicht noch einmal halbtot aus der Badewanne ziehen“, meinte er dann und Dazai seufzte.
 

„Gut, ich werde es versuchen. Dafür kriege ich aber das teuerste Menü und ich will einen Platz am Fenster, mit Ausblick auf Yokohama und das Riesenrad“, forderte er ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
 

Kunikida sah ihn wütend an, sein linkes Auge zuckte gefährlich.
 

„Abgemacht“, zischte er dann und hielt Dazai seine Hand hin, wartete darauf, dass dieser einschlug. Breit grinsend reichte er ihm die Hand, doch bevor er einschlug, zog er sie noch einmal zurück und sagte mit fester Stimme: „Und das beste Dessert auf der Karte“, sagte er dann und wartete darauf, dass Kunikida nun einschlug, doch dieser packte ihn stattdessen am Kragen und schüttelte ihn durch.
 

„Du verdammter Schmarotzer! Hast du denn keine Scham?! Auch nur den leisesten Funken Anstand?! Sehe ich aus, als würde ich Geld scheißen?!“, fluchte er und Dazai wimmerte lauthals.
 

„Aber das erste Date muss doch besonders sein“, verteidigte sich Dazai.
 

Kunikida wurde knallrot und ließ Dazai los, dieser fiel wie ein nasser Sack zurück ins Kissen. Dazai war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, dass Dampf aus den Ohren seines Partners kam. Dieser erhob sich nun vom Bett und stampfte wortlos zur Tür, legte seine Hand auf die Klinke und räusperte sich.
 

„Wehe, du kommst zu spät!“, brüllte er, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
 

„Du hast aber lange gebraucht“, hörte er eine bekannte Stimme. Neben ihn stand Ranpo.
 

„Hast du uns belauscht?“, wollte der Blonde wissen.
 

„Ich bitte dich, man hört euch beide auch noch aus einem Kilometer Entfernung. Aber Glückwunsch zu deinem Date“, spöttelte Ranpo.
 

„Im Übrigen schuldest du mir ein Kirschbonbon“, sagte er eher beiläufig.
 

„Aber ich habe die Süßigkeiten bezahlt?!“
 

Ranpo erwiderte nichts, rümpfte die Nase und gab dann nur ein: „So kann ich nicht arbeiten!“ zum besten. Kunikida verdrehte die Augen und versprach Ersatz zu beschaffen, fluchte gedanklich über seine kindischen Kollegen, die er um nichts auf der Welt eintauschen wollte.

Kapitel 5

„Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Dazai-san so etwas getan hat“, wisperte der Tigerjunge und zog die Beine näher an sich heran. Es wurde bereits Abend. Yokohama war in sanften Orangetönen getaucht, der Sonnenuntergang brach Melancholie mit sich und ein unabschüttelbares Gefühl der Einsamkeit, das mit jedem Herzschlag nur noch betrübender wurde. Plötzlich eine Hand, die über seinen Kopf streichelte. Er sah auf. Kyouka lächelte ihn an. Ein aufgesetztes Lächeln, mit dem sie ihn aufheitern wollte, doch er wusste, dass sie genauso mitgenommen war wie er. Umso mehr fühlte er sich schuldig. Wieso konnte er nicht von sich aus die Stärke finden, wieder aufzustehen und weiterzumachen? Warum quälten ihn seine eigenen Gedanken so sehr und wieso saß die Furcht Dazai zu verlieren, so tief in ihm?
 

„Yosano-san sagte, dass manche Menschen so viel Leid erfahren haben, dass sie beginnen zu hassen. Sie wissen nicht wohin mit ihren Hass und verletzen sich selbst“, erklärte sie und warf einen Blick über den Spielplatz. Die bis eben lachenden Kinder verschwanden und verließen mit ihren Eltern den Platz. Die Abenddämmerung brachte ein nostalgisches Gefühl in ihm hervor. Ah, stimmt, kam es ihm in den Sinn und er schloss die Augen, erinnerte sich an die erste Begegnung mit Dazai. Er hatte diesen fremden Mann selbstlos aus dem Wasser gefischt. Obwohl er selbst auf sein eigenes Leben nicht klar kam, hatte er all seinen Mut zusammengefasst und war ins Wasser gesprungen, um jemanden zu retten, den er in seinem ganzen Leben noch nie begegnet war. Das Rot am Himmel erinnerte ihn an diesen einen schicksalshaften Moment, als er Dazai Osamu kennengelernt hatte.
 

Verärgert hatte er mit der Zunge geschnalzt und war empört über seine Rettung. Er hatte es für einen Scherz gehalten. Geglaubt, dass Dazais Todeswunsch ein schlechter Witz war. Ich wollte einfach nur leben. Obwohl ich so viel Schmerz erlitten habe, habe ich nie sterben wollen. Wie sehr muss Dazai-san gelitten haben, dass er glaubt, dass der Tod die einzige Lösung ist?
 

„Ich habe mir oft gewünscht, tot zu sein“, erklärte sie dann. Atsushi sah sie schockiert an, packte sie dann an den Schultern und sah sie flehend an.
 

„Kyouka-chan?! Was redest du denn da?“, entfuhr es ihm und er sah sie bittend an.
 

„Aber das hat sich geändert. Ich will nicht mehr sterben, sondern leben. Nur so lange ich lebe, kann ich für meine Verbrechen sühnen und zumindest etwas Gutes tun. Das ist es, was ich durch Dazai-san gelernt habe, dennoch kann ich es verstehen, wie es sich anfühlt sich selbst zu hassen und sich nicht verzeihen zu können. Diese Gedanken verschwinden nicht einfach“, sagte sie dann ruhig und sah Atsushi an, der immer noch voller Sorge war und nicht verstand, worauf sie hinauswollte.
 

„Es ist nicht einfach, solche Gedanken abzuschütteln, aber weil du für mich da bist – und auch die anderen – spüre ich, dass es mehr in meinem Leben gibt und dass ich weitergehen kann, weil es ein Ziel gibt, das ich irgendwann erreiche. Ich will mir selbst verzeihen können und das kann ich nur, wenn ich kämpfe und lebe. Ich kann kämpfen, weil ich Kameraden habe.“
 

„Aber Dazai-san hat doch uns!“
 

Kyouka senkte den Blick.
 

„Wir sind für ihn da! Reicht das denn nicht? Vertraut er uns denn nicht?“
 

„Das hat mit Vertrauen nichts zu tun. Manchmal sind die Wunden so tief, dass es nicht reicht, einfach nur da zu sein. Zumindest meinte Yosano-san, dass Dazai-san sehr viel verheimlicht und er mit seinen Traumata nicht umgehen kann. Er verdrängt seine Ängste und Erinnerungen, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen“, erklärte sie dann und schüttelte nun endlich Atsushi von sich.
 

Atsushi nickte zustimmend. Von unaufgearbeiteten Traumata konnte er eine Menge erzählen.
 

„Sein Abschiedsbrief“, hauchte Atsushi bedrückt.
 

„Der Morgen ist immer grau. Immer gleich. Immer leer“, begann er.
 

„Alles vergeht“, fügte Kyouka hinzu.
 

„Dazai-san hat uns... aber das reicht nicht. Glaubst du, dass er Angst davor hat, dass wir einfach verschwinden? Ihn zurücklassen? Ich wünschte, ich könnte ihn verstehen.“
 

„Eine Dunkelheit, die alle Lichter löscht“, murmelte Kyouka und erhob sich nun von der Bank, tappte unbeholfen einige Schritte vor und zurück. Der Silberhaarige sah ihr dabei zu.
 

„Wir sollten ihm eine Lampe schenken“, sagte sie dann und strahlte Atsushi an.
 

„Eine Lampe?“, wiederholte er fragend. Irgendwie fühlte er sich so schwer, als würde ein Stein auf seinem Kopf liegen und ihn daran hindern, einen klaren Gedanken zu fassen. Entweder war Kyoukas Vorschlag so genial, dass er den Sinn dahinter nicht verstand oder aber so abwegig, dass er den Kontext beim besten Willen nicht erkennen konnte.
 

„Dazai-san fürchtet, dass eine Berührung das Licht auslöscht, also braucht er eine Lampe, die ohne Berührung angeht. Wenn er eine Lampe mit Klatschfunktion hat, muss er keine Angst davor haben, dass das Licht ausgeht!“ Kyouka strahlte.
 

„Ich glaube nicht, dass das eigentliche Problem ist, Kyouka-chan...“
 


 

———————————
 

Mal wieder schwieg Ranpo und teilte seine Gedanken nicht mit dem blonden Ermittler. Es wurde bereits Nacht, die Straßenlaternen sprangen an und das Nachtleben Yokohamas lebte auf – bunte Neonschilder an allen Straßen und Ecken, die dazu einluden, die Etablissements zu besuchen und die besonderen Attraktionen der Stadt zu genießen. In der Ferne sah man das atemberaubende Riesenrad am Hafen, das in bunten Farben aufflackerte und in seiner prachtvollen Erhabenheit über die Stadt wachte. Kunikida atmete tief ein, folgte seinem Spürhund, der scheinbar immer noch auf der Fährte von irgendetwas war, das er nicht aussprechen wollte und seinen Blick nachdenklich hin und herschweifen ließ.
 

„Ich verstehe nicht, was du suchst. Du sagtest doch, dass das Opfer der eigentliche Täter war und dann hast du Dazai Haare ausgerissen, weil du ihn verdächtigst. Wonach suchen wir dann eigentlich noch?“
 

„Wer sagt, dass der Täter allein war? Ich gehe zu 97% davon aus, dass Dazai das Opfer war, auch die Haarprobe, die er mich freundlicherweise hat nehmen lassen, war identisch zu den Haaren, die wir bei der Leiche gefunden haben. Aber ein Puzzleteil fehlt noch“, grummelte Ranpo und lehnte sich nun an das Geländer, warf einen missmutigen Blick über das bunt aufleuchtende Wasser, dessen Wellen sanft hin und her wogen. Etwas fehlte. Dazai ist weder dumm noch schwach. Einen einzelnen Gegner hätte er locker selbst ausgeschaltet oder zumindest überlisten und fliehen können. Also wird der Täter noch Verbündete gehabt haben. Was wollten sie von Dazai? Oder: was wollte Dazai von ihnen? Was ist so wichtig, dass er sich in Gefahr bringt?
 

„Worüber wurde gehandelt und wer war am Deal beteiligt? Dass Dazai sich in der Unterwelt von Yokohama bestens auskennt, macht es ihm einfach, seinen Gegenüber zu durchschauen. Er wusste also, dass es sich um eine Falle handelt und ist das Risiko eingegangen, selbst verletzt zu werden, was wiederum heißt, dass die Information, die der Mittelpunkt des Ganzen ist, enorm wichtig ist. Es waren mindestens drei Leute am Tatort“, meinte er dann und seufzte.
 

„Drei? Also hat die Leiche Verbündete gehabt und diese Information ist so brisant, dass Dazai eher sterben würde, als sie mit irgendwem zu teilen“, fügte Kunikida hinzu und grübelte weiter.
 

„Die eigentliche Frage ist, mit was für eine Art von Information wir es zu tun haben. Wer ist betroffen? Was könnte so schlimm sein, dass Dazai auf keinen Fall will, dass irgendjemand etwas erfährt?“
 

Das war die alles entscheidende Frage. Was war es, das Dazai so sehr bedrückte, dass er es mit niemanden teilen wollte? Kunikida wusste nicht annähernd genug über den Brünetten, um dies mit Genauigkeit zu sagen. Wurde er erpresst? Aber von wem? Sein Kopf drehte sich bereits. Sollte er Dazai direkt darauf ansprechen?
 

„Du fragst Dazai morgen, warum er diesen Mann getötet hat und was er für Informationen zurückhält“, unterbrach Ranpo seine Gedanken.
 

„Wie bitte?! Dazai hat versucht sich umzubringen und ist psychisch labil! Es wäre absolut fahrlässig und taktlos, ihn jetzt damit zu behelligen!“
 

„Und wann ist deiner Meinung nach ein guter Zeitpunkt? Warten wir so lange, bis die Leiche verrottet ist und alarmieren nicht die Polizei, weil es Dazai aufwühlen könnte? Du wolltest doch die Polizei benachrichtigen und jetzt ist es dir egal?“
 

Kunikida fehlten die Worte. Ranpo hatte recht. Er ignorierte ein Verbrechen.
 

„Wir wissen doch gar nicht, was passiert ist und vielleicht hat Dazai ihn gar nicht ermordet“, sagte er dann, doch im selben Augenblick, wo er diese Worte aussprach, peitschten sie ihm unnachgiebig ins Gesicht. Ein Verbrechen war ein Verbrechen. Ein Mensch wurde ermordet. Die Umstände dessen waren unwichtig. War es nicht gegen sein Ideal, nicht zu handeln? Tu, was getan werden muss waren die ersten Worte in seinem heiligen Notizbuch, das den dunklen Pfad des Lebens für ihn erhellte, also woran lag es, dass diese Worte, die er einst selbst niedergeschrieben hatte, nun so fremd klangen? Lag es daran, dass es sich um Dazai handelte?
 

„Tut mir leid, Ranpo. Du hast recht. Ich habe mich von Gefühlen blenden lassen. Ich muss wissen, was geschehen ist, allein schon, um Dazai besser zu verstehen. Es ist nicht seine Art, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Was auch immer es war, was ihn so weit getrieben hat, es muss schrecklich gewesen sein. Das rechtfertigt natürlich nicht einen Mord, aber es würde mildernde Umstände mit sich bringen“, sagte er tonlos, schob seine Brille mit seinem Mittelfinger hoch, sodass sie im fahlen Licht der Laterne aufblitzte.
 

„Gut, dann stürzen wir uns jetzt ins Nachtleben! Auf nach Koganecho[6]!“
 

Kunikida fiel aus allen Wolken und starrte den Schwarzhaarigen leblos an. Koganecho war eines der Rotlichtviertel Yokohamas. Eine ganze Straße gewidmet dem Verbotenen, Frauen und Männer, die in in die chon-no-ma[7] einluden. Selbstverständlich war Prostitution verboten und auch diese kleinen Läden waren ein Schandfleck, den es zu beseitigen gab, doch konnte Gesetz und Recht nicht überallhin kommen und so bestand dieser Bezirk seit Jahren. Über 60 Läden waren bis heute in Betriebsnahme. Kunikida verstand nicht, was Ranpo dort wollte. Vor allem weil der Bezirk dafür bekannt war, Yakuza und Kleinkriminelle anzuziehen.
 

„Dort finden wir sicher Informationen~“, trällerte Ranpo vergnügt und marschierte drauf los. Kunikida zuckte zusammen, griff Ranpo an der Schulter und drehte ihn in die entgegengesetzte Richtung. Immer lief er ohne nachzudenken voraus und verwirrte sich. Koganecho war nicht unbedingt ein Ort, zu dem er hingehen wollte, aber wenn Ranpo der Ansicht war, dass es dort etwas zu finden gab, dann musste er ihm vertrauen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Koganecho war kein Ort für einen rechtschaffenen und ehrlichen Mann, erst recht nicht für einen Ermittler, dessen Aufgabe es war, für Recht und Ordnung zu sorgen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Ranpos Plan und die Fährte, die er nun wieder verfolgte, sie beide in Gefahr brachte.
 


 

———————————
 

Die kleine Straße mit den vielen Frauen und Männern, die vor den Gebäuden standen und nach potentiellen Kunden Ausschau hielten, war gut beleuchtet und hieß jeden willkommen, der sich hierher verirrte. Kunikida konnte dieses Gefühl immer noch nicht abschütteln. Er sollte hier nicht sein. Es widersprach seinem Ideal. Ranpo hatte keinerlei Schwierigkeiten erhobenen Hauptes durch diese Straße zu gehen, doch der Blonde starrte stur auf den Boden, während er glaubte, dass sein Gesicht in Flammen stand. Selbst seine Ohren mussten bereits so rot glühen, dass man ihn mit einer Straßenverkehrsampel hätte verwechseln können. Immer noch fröhlich trällernd lief Ranpo voran. Plötzlich blieb er stehen und tippte einen Mann an der Schulter an, der sich dann umdrehte und eine Augenbraue in die Höhe hob. Missmutig musterte er den Schwarzhaarigen.
 

„Hey, gehörst du zur Port Mafia?!“, fragte Ranpo dann selbstgefällig, als hätten diese Worte nicht mehr Gewicht, als würde er nach dem Weg zur nächsten Imbissbude fragen. Kunikida fiel aus allen Wolken. Schon wieder. Sein Körper verspannte sich. Der Mann vor ihnen legte nun den Kopf schief, immer noch sichtlich verwirrt über diese merkwürdige Frage.
 

„Sag Mal Kurzer, solltest du um diese Uhrzeit nicht schon im Bett liegen?“, fragte er dann breit grinsend. Er trug einen weißen Anzug, ein auffällig grelles pinkes Shirt, das zur Hälfe aufgeknöpft war und seine beharrte Brust offenbarte, während die Sonnenbrille in seinem Gesicht die bunten Neonlichter der Schilder reflektierte. Sein kurzes Haar war nach hinten gegelt und er erfüllte jeden Punkt des klischeehaften Gangsters. Mit nur einem Blick konnte Kunikida sagen, dass dieser Mann gefährlich war. Kein normaler Mensch würde auch nur im Traum daran denken, einen solchen Kerl direkt in die Augen zu sehen oder gar auf derselben Straßenseite entlang zu laufen. Aber was war denn schon normal? In dieser Agentur hatten doch alle ein Rad ab und so konnte Kunikida nicht anders, als tief einzuatmen und das Schlimmste zu erwarten, während sein Gesichtsausdruck sich verfinsterte.
 

„Hast du Bohnen in den Ohren?!“, schimpfte Ranpo und stampfte erbost auf.
 

„Ob du in der Port Mafia bist, habe ich gefragt! Ja oder Nein! Kann doch nicht so schwer sein?!“, grummelte der Schwarzhaarige weiter und verschränkte nun verärgert die Arme. Sein Gegenüber drehte sich nun komplett um. Schwer zu sagen, wie wütend er war, da die dunkle Sonnenbrille die Hälfte seines Gesichts verbarg, doch ehe Kunikida eingreifen konnte, flog Ranpo nach hinten, strauchelte einige Meter und plumpste dann auf seinen Hinterteil. Fluchend rieb er sich den Hintern. Nun sprang Kunikida zwischen die beiden, doch in dem Moment, wo er sein Notizbuch herauszog, um eine Waffe erscheinen zu lassen, legte sich ein Arm um seinen Hals und schnürte ihm die Luft ab. Sein Buch landete auf dem Boden. Im Dreck. Wieder dieses gefährliche Zucken in seinem Auge. Von einer Sekunde zur nächsten bildete sich ein Personenkreis um sie herum. Einige lachten und jubelten, erwarteten wohl eine Schlägerei und die anderen waren offensichtlich dazu kommen, um ebenfalls den ein oder anderen Schlag auszuteilen.
 

Kunikida hob seine Ellbogen, schlug nach hinten aus und rammte diese in die Brustgegend des ahnungslosen Mannes hinter ihm, dieser röchelte und lockerte den Griff, sodass Kunikida ihn problemlos packen und von sich wegschleudern konnte. Auch ohne sein Ideal konnte er kämpfen. Ranpo hatte sich in der Menge untergemischt und jubelte von all den Zuschauern am lautesten. Eine riesige Zornesader bildete sich auf Kunikidas Stirn, während sein kleiner Zopf zum Blitz mutierte, doch ehe er ein Machtwort sprechen konnte, kamen zwei Kerle auf ihn zu. Mit schnellen Bewegungen wich er ihnen aus, sodass sie aufeinanderprallten. Sie beschimpften sich gegenseitig und schlugen dann aufeinander ein. Noch ehe Kunikida realisieren konnte, was hier gerade geschah, kam der Mann im weißen Anzug auf ihn zu und wollte auf ihn einschlagen. Wieder wich Kunikida aus, machte einige Ausweichschritte nach hinten und hob seine Arme kampfbereit vor seine Brust.
 

Der Fremde stand auf seinem Ideal. Scharf sog er die Luft ein. Wie konnte dieser Kerl es wagen auf sein Ideal zu treten? Wut flammte nun in Kunikida auf, ein Gefühl, das ihm neue Kraft verlieh und so tauschte er einige Schläge mit dem großgewachsenen Möchtegern-Gangster aus, während Ranpos laute Jubelschreie noch in seinen Ohren widerhallten. Die Menge tobte begeistert.
 

„Frag ihn nochmal, ob er zur Port Mafia gehört!“, forderte Ranpo und nun riss Kunikidas Geduldsfaden.
 

„Nur wegen dir stecken wir überhaupt in diesem Schlamassel!!“, brüllte der Blonde, vernachlässigte seine Deckung, sodass er umgeworfen wurde und das schwere Gewicht des Mannes nun auf seinem Brustkorb spürte. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Mehrmals schlug ihm der Kerl ins Gesicht, leicht benommen versuchte er ihn irgendwie abzuschütteln, doch die Schläge vernebelten ihm sein Umfeld und Schwindel machte es ihm unmöglich den Kerl von sich zu drücken. Irgendwie schaffte er es mit einer Hand an die Brusttasche seiner Weste zu kommen und den angeknabberten Stiel des Lutschers rauszuholen, den Ranpo zuvor achtlos auf dem Boden entsorgt hatte.
 

Er hatte nur eine Chance. Alles oder nichts. Adrenalin rauschte durch seine Blutbahnen und er rammte den Stiel in das Auge des Mannes. Schreiend wandte sich dieser ab und warf sich auf den Boden, wimmerte und versuchte verzweifelt das lästige Stück Plastik aus seinem Auge herauszuziehen. Die Menge buhte ihn nun aus, doch Kunikida kümmerte sich nicht darum. Stattdessen spuckte er Blut und röchelte, rang nach Luft und drehte sich zur Seite. Er versuchte auf die Beine zu kommen, doch die Schläge, die er hatte einstecken müssen – was hauptsächlich Ranpos Schuld war, später würde er ihm gehörig die Ohren langziehen – führten dazu, dass er seine Umgebung nicht ganz klar wahrnehmen konnte.
 

Kunikida fiel zurück auf den Boden, kniete im Dreck, sein Blick auf sein Ideal gerichtet.
 

Er streckte seine Hand danach aus und hob es hoch. Er wollte einfach nur weg hier. Er hatte noch gar nicht realisiert, was geschehen war, doch nun schlugen die Zuschauer aufeinander ein und Massenschlägerei brach aus. Brüllend gingen die Leute aufeinander los. Hauptsächlich Männer, die hier als Kunden hergekommen waren und zu irgendwelchen Banden gehörten. Ranpo hielt ihm helfen eine Hand hin, wurde dann aber umgeschubst, fiel direkt in Kunikidas Arme. Fluchend rückte er sich seine Mütze zurecht.
 

Und plötzlich war es still. Sämtliche Leute flogen in der Luft und wurden in einem warmen, roten Licht getaucht. Keiner bewegte sich mehr, hier und da Laute der Verwunderung, dann hörte man die extrem lauten Schritte eines Mannes, der in diese Richtung ging. Der Boden bebte und Kunikida schoss es durch den Kopf, dass die Erde selbst diese Person fürchtete. Vor ihnen stand der Executive der Mafia Nakahara Chuuya. Er schnipste mit den Fingern und alle Beteiligten der Straßenschlägerei landeten nun krachend auf den Boden. Die meisten wagten es nicht einmal den Rothaarigen anzusehen und verkrümelten sich, machten ihm den Weg frei.
 

„Oh, da ist Mister Fancy Hat!“, meinte Ranpo und erhob sich nun, klopfte den Schmutz von seiner Kleidung.
 

Kunikida wischte sich das Blut, das aus seiner Nase strömte, mit seinem Ärmel weg und rückte seine Brille zurecht und atmete tief ein. Ausgerechnet dieser Kerl! Bevor Ranpo weiter auf den Executive zulaufen konnte, packte Kunikida ihn am Kragen und hob ihn leicht an, sodass er in der Luft strampelte und nicht vom Fleck kam. Chuuya kam weiterhin näher, zog eine Augenbraue hoch und sah die beiden Eindringlinge nur empört an. Als er stehenblieb, streckte er seine Hand aus und ließ das kleine Notizbuch in seine Hand schweben, drehte es vorsichtig hin und her und klopfte den Schmutz und die Fußabdrücke vom Deckel. Dann ein tiefer, lauter Seufzer.
 

„Was treibt ihr hier? Solltet ihr nicht wissen, dass dieser Bereich zur Port Mafia gehört?“
 

„Wissen wir! Deshalb sind wir hier!“, räumte Ranpo strahlend ein und grinste.
 

Chuuya sah ihn ungläubig an und hauchte nur leise: „Was?“, legte dabei den Kopf schief, sodass sein Hut ein kleines Stückchen nach vorne rutschte. Lässig schob er ihn mit einer Hand wieder hoch und kam den beiden Ermittlern näher. Wortlos streckte er das Buch in Kunikidas Richtung, hielt es ihm hin und sah den Schwarzhaarigen nur fragend an.
 

„Wollt ihr bei der Port Mafia einsteigen?“, wollte Chuuya wissen.
 

„Nö! Auf keinen Fall! Ich bin da an etwas Großem dran und muss wissen, ob bei euch Mitglieder verschwunden sind!“
 

„Selbst wenn das der Fall wäre, würde ich dir das doch nicht verraten“, sagte Chuuya und musterte den Schwarzhaarigen, den Kunikida nun endlich losließ. Sie waren ungefähr gleich groß und redeten somit auf Augenhöhe. Wortwörtlich. Chuuya mochte es sehr, wenn seine Gesprächspartner kleiner waren als er selbst und somit nicht auf ihn herabblicken konnten.
 

„AHA“, kam es siegessicher von Ranpo, der nun über beide Ohren strahlte.
 

„Ist einer euer Informanten nicht zurückgekommen? Groß gewachsen, ganz kurze Haare und schicker Anzug – ich meine, ihr seht alle gleich aus in euren schrägen Anzügen, ach, darum geht’s ja gar nicht – und bewaffnet mit einer Colt M1911[8]“, ratterte Ranpo herunter, sodass Chuuya ihn erstaunt ansah. Aufgrund des scharfen Waffengesetzes gab es nur wenige Mafiamitglieder, die Schusswaffen mit sich herumtrugen, da dies zu Problemen führen konnte. Nur Informanten, die im Verdeckten arbeiteten oder bei direkten Bandenkämpfen wurden Waffen getragen.
 

„Das ist merkwürdig spezifisch“, hauchte Chuuya und verschränkte die Arme.
 

„Nur die ganz großen Mafiavereinigungen haben überhaupt Schusswaffen und die Port Mafia Mitglieder führen größtenteils Waffen dieser Marke mit sich, daher ist es sehr einfach auf euch zurückzuschließen“, meinte Ranpo grinsend. Kunikida sah ihn erstaunt an. Wieder ein Detail, das er in nur wenigen Minuten erkannt hatte. Und somit wieder etwas, das seinem Auge verborgen blieb.
 

„Gut, einer unserer Informanten ist abtrünnig und meldet sich nicht mehr. Habt ihr etwa Informationen über seinen Standort und wollt mit uns verhandeln? Wenn das der Fall sein sollte, war es ganz schön dumm von euch, ausgerechnet in eines unserer Gebiete einzudringen.“
 

„Nee“, kam es lässig von Ranpo, der nur den Kopf schüttelte.
 

„Warum seid ihr dann hier?“
 

„Oh, ich wollte nur wissen, ob die Leiche wirklich von euch ist. Aber das war alles, was ich wissen wollte“, erklärte Ranpo breit grinsend und drehte sich um, machte auf den Absatz kehrt.
 

„OIII! Bleibst du wohl stehen!!“, keifte Chuuya und hielt ihn mit seiner Fähigkeit an der Stelle fest, ließ ihn zurück schweben und stellte ihn genau dort ab, wo er bis eben gestanden hatte.
 

„Was denn?“, empörte sich Ranpo, der die Backen aufblies und sichtbar verärgert die Brauen herunterzog.
 

„Ihr dringt in unser Gebiet ein, zettelt eine Massenschlägerei an und habt dann noch die Dreistigkeit hier Forderungen zu stellen! Seid ihr euch im Klaren, wer ich bin?“, begann Chuuya, wurde von Ranpo unterbrochen.
 

„Ein kleingewachsener Kerl mit zu großem Ego für seinen verhältnismäßig winzigen Körper?“
 

Kunikida und Chuuya starrten den Schwarzhaarigen an. Chuuya atmete tief ein, ehe er etwas weiter sagen konnte, lenkte sich nun der Blonde ein und verneigte sich leicht vor dem Rothaarigen, entschuldigte sich mehrmals für die Worte seines frechen Kollegen, der nicht einmal den winzigsten Hauch von Reue zeigte.
 

„Ich will ausnahmsweise so tun, als hätte ich nichts gehört“, kam es von Chuuya, der sich selbst dazu zwang, ruhig zu bleiben und nicht unnötig auf Provokationen einzugehen. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, dass nicht Ranpo sondern jemand anderes vor ihm stand. Dieser Ranpo-san und Dazai sind sich erschreckend ähnlich, dachte Chuuya und räusperte sich, verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich auf die Situation. Kunikida erzählte von der Leiche, die sie gefunden hatten.
 

„Ich lasse euch lebendig gehen. Aber nur weil ihr mir eine Menge Ärger erspart habt. Wenn die Polizei die Leiche finden würde, könnten sie unserem Boss auf die Spur kommen und jederzeit eine Razzia durchführen, das können wir echt nicht gebrauchen.“
 

Chuuya schob seinen Hut erneut zurück. Ranpo glaubte, dass er das tat, weil er einen ungesunden Tick entwickelt hatte, sagte aber nichts, da Kunikida ihm diesen bitterbösen Blick von der Seite zuwarf.
 

„Und jetzt haut ab, bevor ich es mir anders überlege“, zischte er dann, drehte sich um und verschwand in der nächsten Seitengasse. Es wäre ohnehin gegen unsere Abmachung. Ich würde meine Position gefährden, würde ich die Mitglieder der Detektei angreifen. Der Boss hat Kampfhandlungen ausdrücklich verboten, was auch immer er davon hat oder sich davon erhofft. Wäre doch viel einfacher, sie einfach auszuschalten. Das würde uns eine Menge Probleme ersparen und trotzdem verbietet es der Boss ihnen zu nahe zu kommen, überlegte Chuuya und machte sich auf den Weg zu einer der zahlreichen Yatai[9] der Stadt. Jetzt eine warme Schale O-den und gekochter Konbu. In seiner Hand hielt er zwei Tüten gefüllt mit Süßigkeiten.

Kapitel 6

Zufrieden grinsend verließ Ranpo Koganecho, während Kunikida hinterherschlurfte und sich über seine verdreckte Kleidung ärgerte. Durch die Schlägerei war sein Gesicht in Mitleidenschaft gezogen worden und seine Klamotten, die er nur zur Arbeit trug, waren verschmutzt und teilweise eingerissen. Trotzdem war Ranpo guter Laune. Kaum verwunderlich. Immerhin hatte er sich aus der Schlägerei rausgehalten und sich in der Menge untergemischt. Dann drehte sich Ranpo plötzlich um und starrte Kunikida hilflos an. Er musterte ihn mehrmals, umkreiste ihn dann wie eine hungrige Hyäne. Macht er sich Sorgen um mich?
 

„Schon gut, Ranpo, es sieht schlimmer aus als es ist“, meinte er und drückte seine Brille sein Nasenbein hinauf. Ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen, von dem er hoffte, dass es den Schwarzhaarigen beruhigen würde.
 

„Nein, es ist viel schlimmer als angenommen“, murmelte Ranpo und umkreiste ihn erneut.
 

Kunikida öffnete seine Lippen einen Spalt breit und wollte etwas sagen, doch urplötzlich befand sich Ranpo vor ihm, umfasste seine Oberarme und sah ihn flehend an.
 

„Wo sind meine Süßigkeiten?!“, fragte er verzweifelt.
 

Kunikida fühlte sich erschlagen. Sämtliches Anzeichen von Leben wich aus seinem Körper. Dann räusperte er sich und zwang sich dazu, seine Fassung zurück zu erlangen.
 

„Verdammt... die habe ich während der Schlägerei verloren“, versuchte er sich zu erklären.
 

„Dann müssen wir zurück und sie holen!“
 

„Garantiert nicht! Hast du etwa schon vergessen, was da gerade passiert ist? Ein zweites Mal lassen die uns nicht einfach so gehen!“
 

„Aber meine Süßigkeiten!!“, brüllte Ranpo und warf sich auf den Boden, jammerte wie ein kleines Kind, um das eiskalte Herz seines Kollegen zu erweichen. Doch Kunikida blieb standhaft.
 

„Ich kaufe dir neuen Süßkram! Also steh jetzt auf!“
 

Ranpo wollte etwas erwidern, doch der Klingelton von Kunikidas Smartphone stellte ihn ruhig. Kunikida ergriff sein Smartphone und hob ab. Er lauschte seinem Gegenüber und riss urplötzlich die Augen auf. Ranpo war indes aufgestanden und versuchte die Konversation am Telefon auszumachen, drückte sich näher an den Blonden. Kunikida legte auf und atmete tief ein.
 

„Dazai ist verschwunden“, hauchte er nur.
 

„Der ist schlimmer als jedes Kleinkind“, erwiderte Ranpo und verschränkte die Arme, erntete für diesen Kommentar einen mörderischen Blick seines Kollegen.
 

„Das sagt der Richtige“, flüsterte Kunikida und lief gedankenlos drauf los, hörte noch, dass Ranpo ihn aufforderte, ihm zu sagen, was er da gerade gesagt hatte. Sie liefen zurück in Richtung der Innenstadt von Yokohama. Die Müdigkeit ergriff Kunikida langsam und seine Beine zitterten. Kam diese plötzliche Müdigkeit von dem Herumlaufen oder von der Schlägerei? Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich das Blut von seiner geplatzten Lippe weg. Wie ein feiner Gentleman sah er gerade bestimmt nicht aus. Dennoch fand er keine Ruhe. Dass Dazai allein unterwegs war, machte ihn nervös. Dazais Aktionen und Gedanken waren einfach unverständlich und so extrem gegensätzlich von dem, was er sagte, dass es absolut unmöglich war, genau vorherzusagen, was er als nächstes tun würde. Ob Dazai gerade dabei war, sich von einer Brücke zu stürzen? Sprang er vor einen Zug? Nein. Er wollte einen fröhlichen Suizid, bei dem niemand reingezogen wurde. Allein bei diesem Gedanken kam Kunikida die Galle hoch. Fröhlicher Suizid – so etwas Bescheuertes konnte auch nur aus Dazais Mund kommen.
 

Ranpo hechelte ihm hinterher. Plötzlich wurde er an seinem Pferdeschwanz gezogen. Der Schwarzhaarige hielt ihn davon ab, noch weiter sinnlos durch die Gegend zu laufen.
 

„Wir wissen gar nicht, wo er ist“, sagte er und ächzte, stöhnte, musste erst wieder zu Atem kommen.
 

„Wir verschwenden unsere Zeit, wenn wir hier planlos durch die Gegend laufen“, fügte er noch hinzu.
 

„Und was soll ich jetzt tun? Nachhause gehen und Tee trinken? Eine Nacht drüber schlafen? Und was dann? Darauf warten, dass sich jemand bei der Detektei beschwert, weil sie einen Körper in ihrem Fischernetz gefunden haben? Ich kann jetzt nicht ruhig bleiben!“
 

„Kunikida Doppo!“, schrie ihm Ranpo entgegen. Seine ganze Aura hatte sich verändert und sein sonst so lässiger Gesichtsausdruck war todernst. Seine grünen Augen blitzten ihn gefährlich an. Es kam äußerst selten vor, dass Ranpo jemanden direkt in die Augen sah und wenn dies geschah, war dies meist kein gutes Zeichen. Trotzdem konnte er nicht anders. Ranpo hatte es nicht gesehen. Er war nicht dort gewesen, als er Dazais halbtoten Körper aus dem Wasser gezogen hatte. All das Blut. Diese tiefe Wunde auf Dazais viel zu dünnem Arm. Die tiefblauen Lippen und seine schneeweiße Haut. Hatte es nicht gefühlt. Diese Eiseskälte, die von Dazais Körper ausging. Er kämpfte mit der Erinnerung, mit diesen Gefühlen, die aufkamen, wenn erneut dieses Bild vor seinem geistigen Auge auftauchte.
 

„Schreib ihm eine Nachricht. Oder ruf ihn an. Wenn er rangeht, kannst du ihn fragen, wo er ist und wenn nicht, versuchen wir ihn mit dem GPS-System in der Detektei zu orten“, erklärte er ruhig.
 

„Stimmt“, murmelte Kunikida und wählte Dazais Nummer.
 

Die Sekunden vergingen und der Piepton war quälend lang, doch dann nahm jemand tatsächlich ab. Aufgebracht rief er Dazais Namen und fragte sofort, wo er war, erhielt aber keine direkte Antwort.
 

„Kunikida-kun?“, fragte Dazai dann überrascht.
 

„Wo bist du gerade?!“, brüllte Kunikida und konnte nicht sagen, ob er in Rage oder in Sorge war. Eine Mischung aus beidem vermutlich.
 

„Ah~“, meinte Dazai mit seiner üblich süßlichen verstellten Stimme und lächelte wie so oft. Kunikida konnte sein Gesicht nicht sehen, war sich aber sicher, dass er dieses ekelhaft falsche Lächeln auf seinen Lippen trug und ihm sagen würde, dass alles in Ordnung wäre, obgleich sie beide wussten, dass jedes Wort aus seinem Mund nichts weiter als eine Lüge war.
 

„Ich dachte, unser Date wäre erst morgen? Hast du es echt so eilig mich wieder zu sehen? Da werde ich ja ganz rot~“, kicherte Dazai ins Telefon.
 

„Ich will wissen, wo du bist, verdammt!“
 

„An einem ganz grausigen Ort, du solltest wirklich nicht kommen. Wir sehen uns Morgen~“, säuselte Dazai amüsiert.
 

„Wo bist du?!“, keifte Kunikida nur noch lauter.
 

„Ah! Da fällt mir ein! Um wie viel Uhr treffen wir uns? Hol mich morgen um 18 Uhr am Yokohama Museum of Art ab, ja? Ich freue mich schon auf dich~ ♥“, zwitscherte Dazai und legte einfach auf.
 

Kunikida platzte vor Wut der Kragen und ein Vulkan brach aus, heißer Dampf stieg aus seinen Ohren, während Ranpo ihn belustigt beobachtete und breit grinste.
 

„Ihm geht es gut, also müssen wir uns keine Sorgen machen. Ausschimpfen und ihm eine verpassen kannst du dann ja morgen“, meinte Ranpo und wandte sich zum Gehen.
 


 

———————————
 

Seine Schritte hallten im Flur wider, dann blieb er vor einer großen Tür stehen und klopfte zaghaft gegen diese. Man bat ihn herein. Ein letzter, tiefer Atemzug, um seine Nerven zu sammeln, dann drückte er die Türklinke nach oben und trat in das geräumige Büro ein. Die Lichter waren gelöscht und die riesigen verglasten Wände gaben ihm die Möglichkeit, die Skyline Yokohamas zu betrachten. Ein nostalgisches Gefühl machte sich in ihm breit, als er dem Schreibtisch näher kam. Wie damals. Aber irgendwie anders. Sein Magen verkrampfte sich und sein ganzer Körper schien unter Strom zu stehen. Direkt vor dem edlen Mahagoni Schreibtisch blieb er stehen. Er wartete darauf, dass sein Gegenüber sich umdrehte. Quietschend drehte er sich mit dem Lederbürostuhl zu ihm. Dieses süffisante Grinsen. Dieser stechende, alles durchdringende Blick. Dazai glaubte, in einen Spiegel zu sehen.
 

„Da bist du ja, Dazai-kun“, meinte der Mann. Als er seinen Kopf schief legte, fielen ihm einige seiner schwarzen Haarsträhnen ins Gesicht, was ihn auf merkwürdige Art und Weise jünger aussehen ließ, als er war. Dazai sagte nichts, sog scharf Luft ein und suchte nach den richtigen Worten. Er war diesen Weg so oft gegangen. Jeder Schritt fühlte sich vertraut an. Selbst die Luft in diesem Raum hatte etwas eigenartig Geborgenes an sich. Mori stützte seine Ellbogen auf dem Schreibtisch ab, verschränkte seine Hände und ließ sein Kinn auf seinen Handflächen ruhen, während er ihn musterte. Seine Augen funkelten wie die einer Bestie. Ein Blick, dem er sich nicht entziehen konnte.
 

„Du bist verletzt, Dazai-kun“, sagte er nach einer schieren Ewigkeit.
 

„Du sagst das so, als wäre das etwas Neues.“
 

„Hm~ soll ich einen Blick auf die Wunde werfen?“
 

„Ich bin bereits gut versorgt, trotzdem danke fürs Angebot, Mori-san.“
 

Mori kicherte amüsiert und warf einen Blick aus dem Fenster. Die bunten Lichter der Stadt erfüllten sein Büro. Yokohama war eine prachtvolle und lebendige Stadt und in der Nacht zeigte sie ihr wahres Gesicht, ihre absolute Schönheit. Wie wundervoll das mit Neonlichtern bekleidete Riesenrad am Hafen in der Nähe des Royal Park Hotels leuchtete. Diese Lichter waren verzückend. Auch Dazai warf einen Blick über diese Stadt. Er sah die Lichter. Doch er fühlte nichts bei diesem Anblick. Es war ihm absolut gleichgültig. Innerlich fragte er sich, ob er sich anders fühlen würde, wenn dieses Licht der Stadt durch lodernde Flammen ersetzt wurde, schüttelte diesen makabren Gedanken sofort ab.
 

„Hast du die Informationen?“, fragte Mori und unterbrach die Stille.
 

„Denk an unsere Abmachung“, murrte Dazai und sah ihn direkt an.
 

Moris Blick war immer noch auf die Stadt gerichtet. In den Augen des Mannes, den er so sehr hasste, wie auch vergötterte, spiegelten sich die bunten Lichter der Stadt wieder, wodurch seine Augen an ein Gemälde erinnerten. Dazai verlor sich in diesen Augen. Er hasste sich selbst dafür. Warum nur konnte er seinen Blick nicht einfach abwenden? Warum nur hatte er diesen Deal überhaupt zugelassen? Obgleich er sich selbst sagte, dass er hier nicht sein wollte, so fühlte er diese Verbundenheit zwischen ihnen und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Es machte ihn krank. Dass Mori diese Gefühle in ihm auslöste, verwirrte ihn. Plötzlich wandte Mori seinen Blick von der Stadt ab, lächelte gequält und sah seinen Gegenüber beinahe mitleidig an.
 

„Schon klar, ich lasse deine kleinen Freunde und den Tigerjungen in Ruhe, solange du mir Informationen zur Konkurrenz beschaffst. Hach, aber dass du dabei so herzlos sein musst! Das schmerzt mich sehr~“
 

„Ich bin nur hier, um dir das hier zu geben...“
 

Dazai zog einen kleinen USB-Stick aus seiner Jackentasche und legte ihn auf dem Schreibtisch ab.
 

„Oh? Ist das so?“, schnurrte Mori und erhob sich von seinem Platz, ergriff den kleinen USB-Stick und schloss ihn in seinem Schreibtisch ein, dann umwanderte er seinen Schreibtisch und blieb direkt hinter Dazai stehen, schlang seine Arme um den schmächtigen Körper und drückte sein Gesicht in dessen Halsbeuge.
 

„Du riechst nach Desinfektionsmittel und sterilen Verbänden“, flüsterte Mori und knabberte verführerisch an Dazais Ohrläppchen. Der Jüngere versteifte sich zwar, machte aber keine Anstalten, seinen ehemaligen Boss abzuschütteln, sondern wartete einfach nur. Mori schmiegte sich an ihn.
 

„Du hast stark nachgelassen, Mori-san“, grummelte Dazai leise, während Mori seine Seiten streichelte.
 

„Wie meinst du das?“, kam es verwundert vom Älteren, der ihm einen Kuss auf die Wange drückte.
 

„Als ich noch für dich gearbeitet habe, wäre so etwas nie passiert“, entgegnete Dazai kühl und schnalzte verächtlich mit der Zunge.
 

„Der Informant, den du geschickt hast“, begann er und machte eine kurze Pause, um Mori auf die Folter zu spannen.
 

„Was ist mit ihm?“, hauchte ihm Mori ins Ohr und sog den Duft seines Haars ein, drehte Dazai nun ruckartig zu ihm um, sodass er ihm direkt in die Augen sehen konnte, schob ihn direkt vor den Schreibtisch, sodass dieser gegen die Tischplatte stieß und sich widerwillig absetzte.
 

„Er war ein Spion. Als ich ihm den USB-Stick geben wollte, hat er Verstärkung gerufen“, grummelte Dazai und verschränkte die Arme.
 

„Aber ich nehme an, dass du sie besiegt hast~“, schnurrte Mori und küsste Dazai flüchtig auf die Lippen, legte seine Hände auf seine Wangen ab und zwang ihn dazu, ihm direkt in die Augen zu sehen.
 

„Ich habe deinen Informanten erledigt, aber der andere konnte fliehen. Aber er hat keine Informationen ergattern können, falls du dir deswegen Sorgen machst.“
 

„Ah, ich mache mir viel mehr Sorgen, dass du verletzt worden bist!“
 

Dazai senkte den Blick.
 

„Du wusstest es...“, flüsterte er und vermied es den Schwarzhaarigen anzusehen, „oder?“
 

„Ich war mir nicht sicher. Aber ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann~ ♥“
 

„Ich hasse dich... ich wollte niemanden unnötig töten und jetzt klebt wieder Blut an meinen Händen“, brachte Dazai heiser hervor.
 

„Hast du dich deshalb selbst verletzt? Weil du nicht ertragen kannst, was du wirklich bist?“
 

„Was bin ich? Sag mir, was bin ich, deiner Meinung nach?“
 

„Kein Mensch. Eine Waffe. Nur in den richtigen Händen kannst du dein Potential entfalten und das wirst du auch irgendwann selbst erkennen“, summte er und hinderte Dazai daran, ihm zu antworten, in dem er ihn in einen tiefen und leidenschaftlichen Kuss zog. Dann drückte er ihn grob auf die Tischplatte. Dazai schlang seine Beine um seine Hüften und wimmerte leise.
 

„No Longer Human“, spottete Mori und grinste, küsste seinen ehemaligen Executive erneut. Dazai konnte nicht mehr zurück. Er verlangte danach. Dem Schmerz. Die Lust. Alles war für ihn gleich, doch die Berührungen dieses Mannes gaben ihm das Gefühl, lebendig zu sein und entfachte ein Feuer in ihm, von dem er glaubte, es vor langer Zeit verloren zu haben. Er war süchtig danach. Diesem Gefühl, gebraucht zu werden. Nein. Überhaupt etwas zu fühlen. Ganz egal, wie oft er Mori berührte, das Licht dieses Mannes erlosch einfach nicht. Vielleicht weil sie sich so ähnlich waren.
 

„Bleib über Nacht, Dazai-kun“, stöhnte Mori und öffnete Dazais Hemd. Dazai nickte und griff gierig nach der Krawatte seines Gegenübers, zog ihn in einen leidenschaftlichen Kuss, biss in seine Unterlippe und drückte seine Hüften gegen die harte Beule des Mannes, den er so sehr hasste.
 

„Ich hasse dich“, flüsterte Dazai, doch Mori konnte nichts anderes als Liebe in seinen Worten heraushören.
 


 

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Als er am nächsten Morgen erwachte, warf er einen prüfenden Blick hin und her. Mori hatte sich an ihn gekuschelt und hielt ihn in seinen Armen. Dazai schluckte hart. Regungslos blieb er liegen und starrte Mori an. Wenn er schlief, sah er so friedlich aus. Beinahe liebenswert. Seine Gesichtszüge waren entspannt, nichts mehr zu erkennen, von dem eiskalten Geschäftsmann, der über Leichen ging. Im Schlaf hielt er den Brünetten fest an sich. Dazai drückte sein Gesicht gegen Moris Brust, folgte mit dem Zeigefinger der Tätowierung auf Moris Brust.
 

Das traditionelle Irezumi[10] auf Moris Brust strahlte bunt und sah genauso makellos und anziehend aus, wie am ersten Tag. Die Schlange Hebi schlängelte sich auf seiner Brust entlang. Hebi war der Schützer von Macht und Reichtum und ein loyaler Diener, ein Sklave dieser. Dazai konnte nicht anders, als zu glauben, dass Mori das menschliche Abbild der heiligen Schlange war. Seit jeher glaubten die Menschen daran, dass die Schlange den Menschen vor den Folgen ihrer fatalen Entscheidungen bewahrte. Die Schlange war an der Spitze und beschützte die Menschen, opferte sich selbst für sie auf und trug die schwere Bürde ganz allein. Sie war die Weisheit in Person und ihre Entscheidungen waren das beste für die Allgemeinheit.
 

Ich weiß, dass du ihn geopfert hast, um die Organisation zu schützen. Ich weiß, dass es rational betrachtet, die beste Entscheidung war. Trotzdem... ich kann dir nicht verzeihen, überlegte Dazai weiter, während sein Blick distanziert war und er sich an diesen einen Abend erinnerte, wo sein lieber Freund Odasaku seinen letzten Atemzug in seinen Armen aushauchte. Mori hatte Odasaku geopfert, weil es das beste für die Port Mafia war. Nur durch dieses Opfer hatten sie den Vertrag mit der Regierung bekommen. Doch die Leere, die sich in seiner Brust von Tag zu Tag ausbreitete, hinderte ihn daran, das Gute in dieser Tat zu sehen. Wäre es jemand anderes gewesen, jemand, mit dem er nie zuvor zu tun gehabt hätte, dann hätte er nicht so empfunden. Wäre es irgendein Mitglied gewesen, das er nicht kannte, wäre ihm dieses Opfer schlichtweg egal gewesen. Niemals hätte er in Betracht gezogen, die Mafia zu verlassen und Mori zu hintergehen. Doch das Opfer, das erbracht wurde, war nun mal jemand, den er schätzte und den er auf keinen Fall verlieren wollte.
 

Ich bin ein scheinheiliger Mistkerl, kam es ihm in den Sinn und er spürte, wie sein Herz plötzlich schneller schlug, wie sehr ihn diese Erinnerung quälte. Wäre nicht Odasaku gestorben, sondern irgendjemand, hätte es ihn nicht interessiert. Er war ein dreckiger Heuchler. Er sagte, dass er Mori hasste und ihn für diese Tat verabscheute und doch waren sie in Wort und Tat gleich. Es widerte ihn selbst an, wie ähnlich er Mori war. Jedes Mal, wenn er Mori seine Taten vorwarf und beteuerte, ihn zu hassen, wusste er genau, dass er diese Worte nicht an den Schwarzhaarigen richtete, sondern an sich selbst, dennoch hielt er an diesem Glauben fest. Solange er Mori die Schuld für diesen Verlust geben konnte, konnte er wieder aufstehen.
 

Aber in Wirklichkeit verstand er, dass von Moris Sicht aus, dieses Opfer sinnvoll gewesen war und er hasste sich selbst umso mehr dafür, weil er es nachvollziehen konnte. Wie viele Menschen hatte er selbst geopfert? Sogar getötet? Nie hatte er über die Konsequenzen nachgedacht. Es war für das Wohl der Port Mafia gewesen und er hatte nie bereut, sich für seinen Boss die Hände schmutzig gemacht zu haben. Nie hatte er innegehalten und darüber nachgedacht, wie es für andere sein musste, geliebte Menschen zu verlieren. Doch nun lag er hier, in Moris Armen und trauerte über seinen Verlust, wollte sogar bemitleidet werden, obgleich er selbst nie so etwas wie Mitgefühl für andere empfunden hatte. Er verabscheute sich selbst. Wie viel Leid er verbreitet hatte. Am schlimmsten war jedoch, dass er nicht einmal Reue empfand. Es war ihm einfach gleichgültig. Komplett egal. Und dennoch nahm er sich das Recht heraus, um Odasaku zu trauern.
 

Mori hatte recht. Er war kein Mensch. Ein Monster. Nur ein Monster konnte so denken. Vielleicht war das der Grund, warum er sich von Mori verstanden fühlte und sich zu ihm hingezogen fühlte. Mori und er waren sich ähnlich. Sie mussten nicht einmal Worte wechseln, um zu wissen, was in dem anderen vor sich ging. Vielleicht war das auch ein Grund, warum er Mori hasste. Mori verstand ihn besser als jeder andere. Mori verstand ihn, während er selbst damit kämpfte, seine Gedanken zu sortieren. Du bist weise und genauso abartig wie ich.
 

Dazai streichelte behutsam über das Irezumi, folgte den perfekt gesetzten Strichen und verlor sich in seinen Gedanken. Die Schlange war ebenfalls ein Symbol für Heilung und Wiederbelebung. Vielleicht war das der Grund, dass Dazai sich jedes Mal, wenn er eine Nacht mit diesem Mann verbrachte, wie neugeboren fühlte. Er hasste sich selbst dafür, dass er ständig nach Gründen suchte, nach irgendeiner Rechtfertigung, warum er immer wieder zu ihm zurückkehrte. Er wollte Mori hassen und ihn niemals wiedersehen, doch genauso sehr verzehrte er sich nach ihm und diesen Momenten, in denen er sich einfach fallen lassen konnte. Dazai erschrak, als er Moris Hand sanft über seinen Kopf streicheln spürte. Liebevoll küsste Mori seinen Haarschopf.
 

„Guten Morgen~ ♥“, säuselte Mori, wirkte aber immer noch recht verschlafen.
 

„Hast du gut geschlafen?“, fragte er dann. Dazai nickte. Tatsächlich fühlte er sich gut ausgeruht und bei vollen Kräften.
 

„Dazai-kun, bist du dir sicher, dass du nicht zurückkommen willst?“
 

„Es ist pure Zeitverschwendung, Fragen zu stellen, von denen man die Antwort bereits kennt.“
 

Mori kicherte und setzte sich auf, zwang Dazai somit, sich von ihm zu lösen. Ruckartig griff er nach Dazais Unterarm, sodass dieser vor Schmerz zusammenzuckte. Böse sah er ihn an und wollte sich lösen.
 

„Ich hätte das hier nicht zugelassen“, grummelte Mori und zog Dazais Arm näher zu sich, küsste seine Handknöchel und drückte sanft zu.
 

„Lass los“, zischte Dazai und riss sich los, drehte seinen Arm so von Mori weg, dass dieser ihn nicht mehr sehen konnte.
 

Du hättest mich in Ketten gelegt und mir meine Freiheit genommen. Du hättest mir auf deine eigene kranke Weise gezeigt, was Schmerz ist und mich für meine dummen Gedanken bestraft. In Wirklichkeit genießt du es doch, mich so zu sehen. Willst mit deinem Skalpell über meine Haut fahren und sehen, wie das Blut aus mir herausläuft.
 

Dazai erinnerte sich an die Dunkelheit des Verhörkellers, wo man ihn tagelang ohne Nahrung oder gar Wasser gefesselt hatte und ihn seinem eigenen Schicksal überlassen hatte. Mehr als einmal wurde er für seine „Sabotage“ – so nannte es zumindest Mori – auf diese Weise gezüchtigt. Obgleich Dazai der Ansicht war, dass es sich um Folter handelte, schwor Mori stets darauf, dass es sich lediglich um eine Erziehungsmaßnahme handelte. Der eiskalte Operationstisch unter seiner nackten Haut und der stechende Schmerz, wenn das Messer zum ersten Schnitt ansetzte und das Licht der grellen OP-Lampe, die direkt auf ihn gerichtet war und ihn blendete. Auch heute noch träumte er immer wieder von diesen „Erziehungsmaßnahmen“, von denen er ganz genau wusste, dass Mori lediglich seinen kranken Gelüsten nachging. Jeder, der in die Port Mafia abrutschte und diesen Weg einschlug, hatte schließlich eine unergründliche Finsternis in seinem Herzen. Dazai war nicht anders.
 

Er hasste Mori und er war ihm zu Dank verpflichtet. Schmerz war eine der wenigen Emotionen, die er bewusst wahrnahm und greifen konnte. Er hasste sich selbst dafür, wie gleichgültig er war und dass selbst die schönsten Momente keine dauerhafte Freude in ihm hervorrufen konnte.
 

„Du hattest schon immer diese selbstzerstörerischen Tendenzen und suizidale Neigungen, aber ich habe nie zugelassen, dass du wirklich stirbst“, meinte er dann und griff nach seinem Haargummi auf dem kleinen Nachtischchen neben dem Himmelsbett, band sich nun seine Haare zusammen. Einige Haarsträhnen fielen nach vorn und umrahmten sein Gesicht. Dazai wollte weg. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Mori Predigten hielt. Jedoch kam er nicht weit, da Mori ihn in seine Arme zog und ihn an sich drückte.
 

„Deinen Kollegen in der Detektei ist es völlig egal, dass es dir schlecht geht. Sie suchen nicht mal nach dir, wenn du tagelang verschwindest. Als man dich gefangen genommen hat, warst du tagelang in unserem Verhörkeller gefangen, aber keiner von ihnen hat einen Finger gerührt. Ich verstehe nicht, was du dir dort erhoffst“, grummelte Mori und zupfte an einen der zahllosen Verbände an Dazais Körper. Dieser zuckte zusammen.
 

„Ich weiß es auch nicht, deshalb bleibe ich bei ihnen. Sie... sind mir wichtig.“
 

„Aber keiner liebt dich so sehr, wie ich“, kam es beinahe beleidigt vom Älteren.
 

„Wenn du mich wirklich liebst, dann halte dich an unsere Abmachung.“
 

Mit diesen Worten löste sich Dazai von Mori und setzte sich an die Bettkante, suchte seine Klamotten zusammen. Mori legte sich auf die Seite und beobachtete den Jüngeren dabei, wie er sich wieder anzog und zum Gehen bereit machte.
 

„Ich werde deinen kleinen Freunden nichts tun, Dazai-kun“, begann er und seufzte theatralisch.
 

Dazai sah ihn an, hob missmutig eine Augenbraue.
 

„Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ihnen nichts passiert, wenn sie in Mafia kontrollierten Gebieten herumlaufen“, erläuterte der Ältere, setzte sich nun ebenfalls an die Bettkante. Dazai verstand nicht recht, was er meinte. Da Mori an seinem Gesichtsausdruck erkennen konnte, dass er nicht verstand, worauf er hinauswollte, lachte er leise amüsiert und erklärte sich weiter.
 

„Gestern sind zwei deiner kleinen Freunde in Kagenecho herumgelaufen und haben Streit angefangen. Chuuya-kun war so nett, die Situation zu entschärfen und hat mir das hier gebracht“, sagte er und zeigte auf zwei Tüten neben der Tür.
 

„Sei so gut und gib ihnen ihre Süßigkeiten zurück, die sie vergessen haben. Ich muss dich hoffentlich nicht daran erinnern, dass ich nicht immer und überall auf deine kleinen Freunde aufpassen kann. Es war reiner Zufall, dass Chuuya-kun in der Nähe war. Wäre er nicht dort gewesen, wäre die ganze Sache sicher anders ausgegangen“, schimpfte Mori und suchte nach seiner eigenen Unterhose, zog diese über und kam Dazai näher, stemmte seine Hände in die Hüften.
 

„Ich lasse deine Freunde in Ruhe und verbiete jegliche Angriffe, aber wenn sie wissentlich in meine Einflussgebiete eindringen, kann ich diese Abmachung nicht einhalten. Das verstehst du doch?“
 

„Ich werde sie nochmal daran erinnern, dass sie dort nichts zu suchen haben.“
 

Mori packte ihm grob am Arm und drückte ihn einen forschen Kuss auf.
 

„Hach, es schmerzt, dich wieder gehen zu lassen! Bleib doch zum Frühstück~ ♥“, schnurrte er, doch Dazai riss sich nun los und ließ ihn allein zurück, knallte die Tür hinter sich zu. Plötzlich ein süßes Kichern. Die Stimme eines Mädchens, die gehässig lachte und sich über ihn lustig machte.
 

„Ich schreibe eine Geschichte über euch zwei“, sagte sie dann und griff nach einem Schreibblock und zückte einen Kugelschreiber hervor.
 

„Hat sie ein gutes Ende?“, fragte Mori neugierig nach.
 

„Du sollst doch keine Fragen stellen, wenn du die Antwort schon kennst“, sagte sie und rümpfte ihre Nase.

Kapitel 7

Er fühlte sich taub. Den Weg zur Detektei nahm er wie in Trance. War er überhaupt wach? Er hatte die Kontrolle über sein Denken und Handeln verloren. Was nur hatte ihn geritten, sich erneut auf Mori einzulassen? Dabei wusste er doch, dass dieser es ihn lediglich vorhalten würde und es irgendwann gegen ihn nutzen würde, um ihn an sich zu binden. Dazai war mindestens genauso abartig wie Mori und er selbst würde nicht zögern, die Schwäche seines Gegenübers schamlos auszunutzen und zu seinem Vorteil zu nutzen. Obgleich er genau wusste, dass es ein Fehler war, mit Mori anzubandeln, so hatte er gestern Nacht einfach verzweifelt nach Nähe gesucht. Jemand, der ihm das Gefühl gab, am Leben zu sein und diese widerlichen Stimmen in seinen Kopf ausschaltete.
 

Was nur war es, dass Mori so mächtig machte? Mori brauchte nur seinen Namen auszusprechen und schon verlor er jeglichen Kampfgeist und lief auf ihn zu, ließ sich in dessen Arme fallen und suchte verzweifelt nach irgendeiner Form von Bestätigung, die Rechtfertigung gegenüber seinen eigenen verkorksten Verstand, dass er am Leben war. Mori vermochte die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Zumindest für einen Moment. Nie für immer. Dafür waren sie zu laut.
 

Die Stimmen in seinen Kopf sprachen erneut zu ihm. Nicht zur Detektei. In den Fluss. Zur Brücke. Eine scharfe Klinge. Ein Messer oder eine Rasierklinge. Diese düsteren Gedanken ließen ihn einfach nicht los. Er hasste diese Schwäche. Diese Hilflosigkeit, die ihn jeden Tag aufs neue fesselte und ihn zu irrationalen Entscheidungen zwang. Irrational? Das Leben als solches war freudlos und bedeutungslos, nichts vermochte diese alles verschlingende Leere in ihm auszufüllen, also was für einen Grund gab es, diese Existenz weiter zu führen? Alles war ihm gleichgültig.
 

Unfähig, mit Menschen zu leben, zu reden. Vollständiges Versinken in mich. Stumpf, gedankenlos, ängstlich. Ich habe nichts mitzuteilen, niemals, niemandem, quälten ihn diese Stimmen. Diese Stimmen, die er am liebsten anderen zuordnen wollte, doch letztendlich immer seine eigene war. Das Bewusstsein darüber ein „Sonderling“ zu sein, der alltägliche Kampf mit sich selbst und das zwanghafte Verstellen seines Seins. Er wurde es müde. Jeden Tag aufs Neue so tun zu müssen, als würde ihm irgendetwas auch nur ansatzweise reizen. Denn nichts entflammte seinen zermürbten Verstand.
 

Seine Schritte stoppten abrupt. Inmitten der belebte Fußgängerzone blieb er stehen und beobachtete die Menschen, die an ihm vorbeieilten, betrachtete das flüchtige Leben, das sich hier in Massen drängelte und versuchte einen Sinn hinter all dem zu erkennen, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass nichts von alledem auch nur im Entferntesten nachvollziehbar war. Sie alle folgten ihren Pflichten und erfreuten sich der Gesellschaft, die sie umgab, doch für ihn war es quälend, geradezu schmerzhaft, hier zu stehen und zu wissen, dass er niemals ein Teil dieser Welt sein würde, dass er für immer und ewig dazu verdammt war, als einziger von einem Logenplatz zuzusehen und stets als stiller Beobachter nur hinterfragen zu können. Was war es, dass diese Menschen antrieb?
 

Wieso fiel es ihnen so leicht, den nächsten Schritt zu gehen? Einem Ziel zu folgen? Wo doch alles letztendlich in der Bedeutungslosigkeit versank und nichts die Leere füllen konnte. Nein. Nicht diese Menschen waren falsch in ihren Beweggründen. Sondern er. Diese absolute Gleichgültigkeit, das Wissen, nichts zu wissen und niemals nachvollziehen zu können, was andere fühlten, war fesselnd und zog ihn herunter, wie schwere Ketten, die man an seinen Gliedmaßen befestigt hatte, die ihn in die Tiefen des Ozeans zogen. Kein Entkommen.
 

Alles war grau. Die Bewegungen der Menschen spielten sich in Zeitlupe ab. Die Geräusche seiner Umgebung verschwanden. Das einzige, was blieb, war das Nichts. Er selbst. Dazai Osamu war als Mensch disqualifiziert. Niemals würde er fühlen, was andere fühlten. Niemals würde er sehen, was andere sahen. Niemals würde er verstehen, was für andere so selbstverständlich erschien. Und trotzdem würde er ein Lächeln aufsetzen und die Rolle des exzentrischen Spaßvogels annehmen und sich eine Maske aufsetzen, die mit einem breiten, ekelhaften Grinsen verziert war, während er, versteckt hinter des falschen Gesichts, was er tagtäglich aufs Neue aufsetzte, bittere Tränen vergoss und verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Sein Akt war geradezu perfekt, so glaubhaft, dass er seine Umgebung täuschen konnte und an manchen Tagen er selbst fast glaubte, dass das Lachen, das seiner Kehle entsprang, echt war.
 

Nach außen hin konnte er sein Leiden verstecken, dafür musste er lediglich die Rolle spielen, die er sich hart erarbeitet hatte, doch in den Tiefen seiner Seele schlug die Entfremdung Wurzeln, ließ ihn zweifeln, an sich selbst und seinem Umfeld. An seiner Menschlichkeit. An seinem Recht am Leben zu sein. Odasaku hat mich immer verstanden und wusste immer Rat. Er war Balsam für die Seele.
 

Statt zur Detektei ging er zum Friedhof und besuchte das Grab seines Freundes. Die Zeit verging. Verloren betrachtete er die schön geschwungenen Buchstaben auf Odas Grab, während ein gequältes Lächeln den Weg nach außen fand. Ein Lächeln, das seine wahre Persönlichkeit widerspiegelte. Kraftlos fiel er auf die Knie und verblieb in dieser Position stundenlang.
 

Mori-san und Odasaku... sie haben es verstanden. Mich verstanden. Odasaku ist fort. Kommt niemals wieder zu mir zurück. Ich bin völlig allein. Auf mich gestellt, in dieser großen, einsamen Welt. Ich wünschte, ich könnte bei dir sein.
 

Dazai warf einen trübsinnigen Blick gen Himmel. Tränen hatte er keine mehr. Sie änderten ja ohnehin nichts. Auch sein ewiges Selbstmitleid hing ihm schon aus dem Hals heraus. Er hasste sich selbst dafür, dass er diese Gedanken nicht einfach abschalten konnte. Diese Stimmen liefen wie bei einer Dauerwerbesendung im Hintergrund, mal lauter, mal leiser, doch immer da und niemals völlig verschwunden. Mori und Odasaku hatten die Fähigkeit, diese Stimmen verstummen zu lassen. Nicht ewig. Nicht für lang. Aber für einen Augenblick waren sie weg und ließen ihn friedlich schlummern. Wie lange war es her, dass er zuletzt so richtig ausgeschlafen hatte? Diese schiere Müdigkeit wollte einfach nie verschwinden und fraß sich durch Mark und Bein.
 

Er konnte nichts ändern. Machtlos musste er mitansehen, wie er sich selbst in den Abgrund warf. Diese absolute Ohnmacht, die ihn anheimfiel, war die reinste Qual, die wohl schlimmste Folter. Nichtmal er selbst hätte sich das ausdenken können, dabei war sein Geist abartig und unmenschlich. Gedanken und Gefühle erschufen die Realität und beeinflussten diese, doch was, wenn man keine Gefühle hatte? Keine eigenen Gedanken? Nichts, das einen antrieb? War dann nicht auch die Welt, die Realität, in der man sich befand, absolut frei von Sinn? Warum leben, wenn alles, was einen erwartete, doch nur Schmerz war? Alles war vergänglich.
 

Odasaku hätte sicher die richtigen Worte gefunden. Er hatte dieses Charisma, diese Macht, diese Negativität zu verbannen. Doch ohne ihn bin ich völlig aufgeschmissen, überlegte er und seufzte, ließ sich nun nach hinten in den Dreck fallen, betrachtete die raschelnden Blätter des Baumes, der sich hinter Odas Grab befand. Eine sanfte Brise kam auf, die ihn kurz frösteln ließ. Kälte. Hitze. Schmerz. All das waren äußere Eindrücke, die er sehr gut verarbeiten konnte, doch seine mangelnde Fähigkeit Gefühle zu kommunizieren und richtig zu deuten, machte es ihm unmöglich, sich als Mensch zu betrachten.
 

Mori-san versteht es auch, aber ich kann nicht zu ihm zurück. Außerdem... ist er für Odasakus Tod verantwortlich. Er musste sich nur lange genug einreden, dass Mori Odasaku getötet hatte, dann würde er den Hass und die tiefe Abneigung in ihm erneut verspüren, die ihm Kraft zum Aufstehen gab. Er war gefangen in seinem eigenen Kopf. Gefangen in diesen Gedankenkreisen. Es gab einfach kein Entkommen. Er war nichts weiter als ein Gefangener seines Verstands, ein Besucher, der machtlos das Leben um sich herum vorbeiziehen sah, aber nie wirklich eingreifen konnte.
 

Er schlief ein. Geplagt von Albträumen. Verängstigt. Hilflos gegenüber seinem Unterbewusstsein, das ihn im Schlaf heimsuchte und ihn daran erinnerte, wie wertlos er war und dass sein Streben ein Teil der Detektei zu sein, niemals erfüllt werden würde.
 


 

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Er lief umher in der Dunkelheit. Er stolperte voran. Der Boden unter ihm schlug Wellen und in der Ferne befand sich ein kleines gedämmtes Licht. Vorsichtig tastete er sich heran. Als er dem Licht näher kam, veränderte sich seine Umgebung und er befand sich in einem abgedunkelten Raum wieder. Er brauchte nicht lang, um die Silhouetten, die ihn umgaben, richtig einzuordnen. Das hier war die Detektei. Die Lichter waren gedimmt und an den Plätzen saßen seine Kollegen. Sie waren gesichtslos, doch er konnte sie anhand ihrer Stimmen und Kleidung einordnen.
 

Zögerlich streckte er seine Hand aus, doch man bemerkte ihn nicht.
 

„Ohne Dazai geht’s uns viel besser!“, hörte er Ranpos Stimme, der daraufhin heiter lachte.
 

„Ach, wem sagst du das! Seit er weg ist, ist keine einzige Beschwerde mehr reingekommen“, stimmte Kunikida erleichtert zu.
 

„Dazai-san hat mich zwar gerettet, aber er wollte mir nie wirklich helfen. Er hat mir nur geholfen, um sich als Märtyrer aufzuspielen! Dieser scheinheilige Bastard hat mich nur ausgenutzt!“, grummelte Atsushi und schnaubte verächtlich.
 

„Und die Kosten für Verbandsmaterialien sind so stark gesunken, dass wir genügend Geld für eine Betriebsreise haben“, erklärte Yosano lächelnd und klatschte begeistert in die Hände.
 

„Ohne Dazai hat sich der Ruf meiner Detektei verbessert“, kam es von Fukuzawa, dessen Schritte dumpf widerhallten. „Hätte ich damals gewusst, was für ein Laster er sein würde, hätte ich ihn niemals aufgenommen. Hätte Taneda-san mir von Anfang an gesagt, dass er ein Mitglied der Port Mafia war, hätte ich sofort die Polizei verständigt und ihn abführen lassen. Dazai ist ein kranker Massenmörder, so jemanden kann ich ihn meiner Detektei nicht gebrauchen!“, sagte Fukuzawa noch lauter, eindringlicher und obwohl ihn niemand wahrnahm, waren diese Worte eindeutig an ihn gerichtet. Dazai schluckte hart.
 

„Ginge es nach mir, könnte er in der nächsten Gasse verrotten. Ständig macht er Ärger und macht, was er will! Der Kerl zerstört das Betriebsklima und behindert unsere Arbeiten“, fügte Kunikida hinzu.
 

Selbst Kyouka, die einen ähnlich dunklen Pfad im Leben beschritten hatte, nickte. Ihr Blick war kalt, doch Dazai glaubte, so etwas wie großen Schmerz in ihnen erkennen zu können.
 

„Dazai-san hat nie bereut, Menschen ermordet zu haben. Ich verstehe nicht, wie ein Mensch so etwas Grausames tun kann und nachts schlafen kann“, flüsterte sie und senkte den Blick betroffen. Zaghaft spielte sie an ihren Zöpfen, ehe sie ihr kleines Handy in die Hand nahm und es traurig ansah. Tränen waren in ihren Augenwinkeln zu sehen.
 

Dazai senkte den Blick, biss sich auf die Unterlippe. Plötzlich standen seine Kollegen um ihn herum, immer noch gesichtslos, doch sie alle trugen ein hämisches Grinsen, als würden sie ihn verspotten. Dazai hielt sich die Ohren zu. Ihre Stimmen prasselten auf ihn herab. Er wollte hier weg. Nichts mehr hören. Nichts mehr sehen. Er fiel auf die Knie. Doch das Lachen seiner Kollegen erreichte ihn dennoch.
 


 

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Nach Luft ringend erwachte er und riss die Augen auf. Die Sonne ging bereits unter. Schweißgebadet erhob er sich und wischte sich panisch die herunterlaufenden Schweißperlen vom Gesicht. Er hatte tatsächlich den ganzen Tag verschlafen. Dann atmete er tief durch. Nicht in Panik geraten. Rasch zog er sein Smartphone hervor. Shimatta[11]! Kunikida-kun hat zweimal angerufen!, fluchte er gedanklich und befand sich von einer Sekunde zur nächsten im Sprint, lief in die Richtung der Innenstadt. Dabei hasste er körperliche Anstrengung! Aber er hatte Kunikida ja selbst gesagt, dass er ihn am Museum of Arts abholen sollte und er durfte unter keinen Umständen zulassen, dass Kunikida aus Sorge eine große Rettungsaktion startete. Bei diesem Gedanken zog sich sein Magen zusammen. Er wollte ihnen nicht noch mehr zur Last fallen. All diese schrecklichen Ängste und diese Träume, die ihn plagten, zermürbten seinen Verstand, doch er durfte nicht zulassen, dass sein Unterbewusstsein sein Handeln diktierte. Er musste weiter funktionieren.
 

Dazai betrat den nächstbesten Bekleidungsladen, kleidete sich dort neu ein. Eine schicke himmelblaue Weste, mit versilberten Knöpfen, die im Licht seicht schimmerten, einen silbernen Krawattenschal aus feinster Seide, ein weißes Hemd mit leichtem Stehkragen und eine graue Hose, die einerseits lässig, aber andererseits elegant wirkte. Dazu ein schwarzer Mantel mit zweiknöpfiger Reihe und einem weißen Einstecktuch. Er betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Modisch, klassisch, aber in gewisser Weise auch extravagant. Die Lackschuhe, die er zu seinem Outfit aussuchte, waren nach vorne leicht gespitzt.
 

Ob Kunikida-kun etwas sagen wird? Vielleicht verliebt er sich in mich~, sagte er sich selbst vor seinem Spiegel und versuchte sich in seine selbstbewusste, gewohnte Rolle zurückzufinden, stets mit einem heiteren Lächeln bewaffnet und einer frechen Bemerkung auf der Zunge. Immer provokant, humorvoll und ein wenig sarkastisch.
 

Schnellen Schrittes trat er aus dem Geschäft und verstaute seine alten Klamotten in einem Schließfach am Bahnhof und bestieg den nächsten Zug in Richtung des Museums, wo er von Kunikida abgeholt werden wollte. Ein missmutiges Gefühl überkam ihm. Skeptisch sah er sich um. Wurde er verfolgt? Mehrmals ließ er seinen Blick hin und herschweifen, um sicher zu gehen, dass kein Feind in der Nähe war, doch er konnte dieses eigenartige Gefühl nicht abschütteln. Plötzlich waren ihm alle Personen verdächtig. Dann warf er einen Blick auf sein Smartphone. Eine Textnachricht. Nicht von Kunikida. Nicht von Atsushi. Keiner seiner Kollegen aus der Detektei hatte ihm geschrieben – Mori. Er atmete tief ein und schluckte, warf einen Blick auf die Nachricht.
 

Hey, mein süßer Dazai-kun~ ♥
 

Dazai verdrehte sich direkt der Magen. Mori hatte immer diese ekelhaft überschwängliche Art, von der er sich sicher war, dass er sie nur spielte, um ihn zu manipulieren. Dabei hätte ihm schon längst auffallen müssen, dass Dazai sich von seinem Süßholzgeraspel nicht um den Finger wickeln ließ. Angewidert las er die nächsten Zeilen.
 

Ich habe leider schlechte Nachrichten. Der Informant, den du getötet hast, gehört zu einer kleinen Bande, die sich in meine Geschäfte einmischt. Sie nennen sich Henkō[12] und sind bereits mehrmals auffällig geworden. Du hast den Spion zwar ausgeschaltet, aber du sagtest, dass sein Kollege entwischen konnte. Sei vorsichtig da draußen. Sie wissen, wie du aussiehst und es könnte sein, dass sie dich aufsuchen werden. Komm doch zum Abendessen vorbei, dann klären wir alles weitere~
 

Knurrend schaltete Dazai sein Smartphone aus.
 

Na toll, das kann ich ja mal überhaupt nicht gebrauchen! Sie nennen sich also Henkō – die Veränderung und legen sich mit der Port Mafia an. Entweder sind sie bescheuert oder haben ein Ass im Ärmel. Verdammter Mori-san! Dabei habe ich ihm gesagt, dass ich ihm Informationen beschaffe, nicht, dass ich für ihn kämpfe. Ich will mit dem ganzen Scheiß nichts zu tun haben... vor allem darf ich die anderen da nicht mit reinziehen, überlegte er und warf einen Blick aus der S-Bahn. Bei der nächsten Haltestelle stieg er aus und machte sich auf den Weg zum Museum, wo er weiterhin das Gefühl beobachtet zu werden, nicht abschütteln konnte und beinahe paranoid seinen Blick durch die Menge schweifen ließ.
 


 

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„Arg, dieser verdammte Dazai!“, keifte Kunikida so laut, dass das gesamte Büro zu beben schien.
 

Nichts als Ärger mit ihm! Immer musste man sich Sorgen machen. Konnte dieser Kerl nicht einmal, so wie jeder andere normale Mensch, zur Arbeit erscheinen? Pünktlich? Mehrmals hatte er seine Nummer gewählt und darauf gewartet, dass dieser endlich abhob, doch der Brünette ignorierte ihn. Grummelnd schlug Kunikida auf die Tischplatte und ließ dann den Kopf hängen.
 

„Du weißt doch, wie er ist“, versuchte Atsushi ihn zu beruhigen, doch Kunikidas Zorn flammte nur erneut auf.
 

„Das ist ja das Problem! Was ist, wenn er sich wieder in den Kanal geworfen hat?!“
 

„Hat er nicht“, meinte Ranpo nur nebenbei und biss von einem Schokoriegel ab. Er saß an seinem Schreibtisch, hatte die Beine übereinander geschlagen und die Füße auf der Tischplatte abgelegt, während auf dem Tisch sein Laptop heiß lief und in seinem Schoß ein Manga lag, in dem er gelangweilt blätterte. Kunikida verstummte und erhob sich von seinem Platz, blieb direkt vor Ranpo stehen. Mit den dreckigen Schuhen auf dem Tisch. Was für schreckliche Manieren! Aber er wagte nicht, etwas zu sagen, um Ranpo nicht zu verärgern.
 

„Er befindet sich am Friedhof, ist dort schon eine ganze Weile und bewegt sich nicht vom Fleck“, erklärte er und zeigte lässig auf den Laptop. Kunikida lief um den Tisch herum und warf einen Blick auf den Bildschirm, wo eine Karte der Umgebung angezeigt wurde und ein roter Punkt blinkte.
 

„Du hast sein GPS-Signal geortet“, murmelte Kunikida und zog überrascht die Augenbrauen hoch.
 

„Dazai ist ein anstrengender Typ. Ständig nimmt er die Wanzen ab, setzt sie irgendwelchen Hunden oder Ratten auf und führt mich in die Irre, aber die neue Wanze in seinem Smartphone hat er noch nicht gefunden“, grinste Ranpo und lachte böse.
 

„Wann...?“, fragte der Blonde, völlig überrumpelt.
 

„An dem Tag, als Dazai ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Du warst so nett und hast sein Smartphone mitgebracht und ich war so frei, eine kleine Wanze in der Größe eines Nadelohrs in die Elektronik einzuspeisen“, erklärte er, immer noch mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
 

„Warum befindet er sich auf dem Friedhof?“
 

„Meine Fähigkeiten als Ermittler sind geradezu überirdisch, aber das gehört zu den wenigen Rätseln, die ich noch nicht entschlüsseln konnte“, grummelte Ranpo und klappte nun den Manga zu, legte diesen auf dem Tisch und nahm die Beine vom Tisch.
 

„Oder anders gesagt... Dazai würde nicht wollen, dass ich ihm nach spioniere. Ein bisschen Respekt vor seiner Privatsphäre habe ich noch“, sagte er schulterzuckend.
 

„Du hast eine Wanze in sein Smartphone eingebaut...“, kam es von Atsushi, der ihn entgeistert ansah.
 

„Nur weil ich weiß, wo er ist, weiß ich nicht, was er gerade macht oder mit wem er sich trifft. Du tust ja so, als wäre ich irgendein kranker Stalker, der seinem Ex hinterherläuft!“
 

Kunikida schob sich die Brille hoch und seufzte. Traf sich Dazai mit jemanden? Mit einem Informanten? Oder war er allein an diesem Ort? War er in Gefahr und brauchte Unterstützung? Zu viele Fragen, auf die er keine Antwort finden konnte und die die Sorge nur noch größer werden ließ. Warum konnte Dazai nicht einfach mal sagen, was er vorhatte und was gerade in seinem Kopf herumgeisterte? Kunikidas Augenbraue zuckte. Den Gedanken musste er sofort verdrängen. Zu wissen, was in Dazais Kopf vor sich ging, wäre, als würde man eine Bombe zünden und sich selbst zerstören. Dennoch... warum schaffe ich es einfach nicht, Dazai zu einem ehrlichen und hart arbeitenden Mitglied zu machen? Ich werde heute Abend ein ernstes Wörtchen mit ihm reden müssen. Aber was mache ich, wenn er wieder abblockt?
 


 

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Mit mulmigen Gefühl in der Magengegend fuhr Kunikida mit seinem Auto in Richtung des Museums. Er hatte noch 20 Minuten Zeit und somit hatte er idealerweise noch genügend Zeit, sich einen Parkplatz zu suchen, seine Krawatte zu richten und dann Dazai abzuholen. Hoffentlich war sich dieser Träumer im Klaren, dass im Shikitei Anzugpflicht herrschte und man mit legeren Klamotten nicht einmal in die Nähe des Eingangs kam. So ein extravagantes Restaurant war überhaupt nicht Dazais Art. Oder doch? Er wusste einfach viel zu wenig über Dazai. Er hatte nie den Eindruck gemacht, irgendetwas überhaupt gerne zu essen. Krabbenfleisch in der Dose und Fertiggerichte – er war davon ausgegangen, dass er einfach gerne ungesundes Zeug in sich hineinstopfte, wo er ja auch nicht gerade einen gesunden Lebensstil verfolgte. Sofern man seine suizidalen Neigungen überhaupt als Stil bezeichnen konnte.
 

Reflexartig schob er sich die Brille hoch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Zu einer Verabredung war es stets ideal in einem Zeitrahmen von 15 Sekunden vor dem eigentlichen Termin zu erscheinen. Zufrieden stellte er fest, dass er noch drei Minuten hatte. Er sah sich um, betrachtete die Menschen, die aus dem Museum strömten, welches nun seine Pforten schließen würde. Er stand dort vor dem Eingang und wartete ungeduldig. Als Dazai auch nach zehn Minuten nicht aufkreuzte, sah er sich um und erkundete die Umgebung. Ob Dazai überhaupt erscheinen würde? Vielleicht verarschte er ihn nur wieder, beobachtete ihn aus der Ferne und lachte sich nun zufrieden ins Fäustchen, weil er Kunikida mal wieder aus der Reserve locken konnte. Bei dem Gedanken atmete er scharf Luft ein. Wäre ja nichts neues!
 

Auf dem großen Platz vor dem Museum blieben einige Menschengruppen stehen und sprachen laut in verschiedenen Sprachen. Touristen, überlegte er und sah sich weiter suchend um. Plötzlich spürte er eine Präsenz, die näher kam und sich von hinten anschlich, auf Gewohnheit packte er die Hände, die sich von hinten um ihn legen wollten und warf den unbekannten Angreifer voller Wucht von sich weg.
 

„AUUUU!!!!“, schrie die Person lauthals und wandte sich vor Schmerzen auf dem Boden.
 

Sämtliche Blicke der Touristen lagen nun auf Kunikida.
 

„Dazai?!“, entwich es dem Blonden erschrocken.
 

„Kunikida-kun ist sooo gemein! Immer schlägst du mich!“, jammerte Dazai und zupfte auf seiner Brusttasche das weiße Einstecktuch und tat so, als würde er sich Tränen fortwischen. Dann ließ er seinen Kopf nach hinten fallen und wimmerte in extra lauter Stimme.
 

„Zu Hilfe! Zu Hi–“, rief er, doch Kunikida hielt seinen Mund zu, um ihn daran zu hindern, weiterhin eine Szene zu machen.
 

Als die Menschenmenge wieder von ihnen abließ und sich ihren Gesprächen widmete, atmete Kunikida erleichtert aus. Nicht nur, dass dieser Taugenichts immer zu spät kam – obgleich er selbst die Uhrzeit und den Ort vorgeschlagen hatte – musste er selbstverständlich direkt die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nur um ihn zu blamieren und seinen guten Ruf durch den Dreck zu ziehen. Was würden diese Touristen nun denken? Dass er ein gewalttätiger Schläger war? Das würde ein schlechtes Licht auf ihre Agentur werfen!
 

„Du bist aber früh dran~“, kicherte Dazai und lief beinahe tänzelnd neben Kunikida her, als sie gemeinsam zur Hotelanlage liefen, die einige Wohnblöcke entfernt war.
 

„Mitnichten. Du warst zu spät“, grummelte Kunikida monoton.
 

„Ja, aber wenigstens verprügle ich mein Date nicht beim ersten Rendezvous“, stichelte Dazai zurück und verzog das Gesicht.
 

„Du hättest dich nicht von hinten anschleichen sollen. Das war deine eigene Schuld“, rechtfertigte sich Kunikida und räusperte sich.
 

„Trotzdem wollte ich dir nicht wehtun. Tut mir leid, dass ich dich geworfen habe“, fügte er seufzend hinzu und schloss kurz die Augen. Dazai machte einen gigantischen Ausfallschritt, vergrößerte den Abstand zwischen sich und seinem Kollegen und sah ihn als, als wäre er aus allen Wolken gefallen.
 

„Wer bist du?! Kunikida-kun würde sich nieeemals bei mir entschuldigen!“
 

„Hör auf so zu tun, als wäre ich der schlimmste Unmensch auf der Welt!“, keifte Kunikida und verpasste dem Brünetten eine Kopfnuss. Erneut jammerte Dazai. Daraufhin kicherte er amüsiert und lief summend neben dem Blonden her. Kunikida warf einen flüchtigen Blick auf Dazais Kleidung. Zumindest hatte er sich etwas herausgeputzt, obgleich Kunikida ja fand, dass Hellblau und Silber nicht unbedingt Dazais Farbe war.
 

„Warum eigentlich das Museum? Wir hätten uns doch direkt vor dem Eingang treffen können“, fragte Kunikida und zog eine Augenbraue in die Höhe, warf einen musternden Blick zu Dazai, der einfach nur vor sich hin lächelte und dann eine Eintrittskarte aus seiner Hosentasche zog, mit welcher er hin und her wedelte.
 

„Die Ausstellung war sehr interessant“, sagte er und grinste breit.
 

„Ich hätte dich jetzt nicht unbedingt für einen Kunstfan gehalten“, hauchte Kunikida erschrocken.
 

„Och! Kunikida-kun verletzt meine Gefühle!“
 

So etwas hast du doch gar nicht!, wollte er antworten, verkniff sich seinen Kommentar jedoch.
 

„Du erzählst nie etwas von dir. Woher soll ich wissen, dass du dich für Kunst interessierst?“
 

„Aber Kunikida-kun!“, meinte Dazai und seine Augen strahlten.
 

„Ein Selbstmord ist auch in gewisser Weise Kunst! Ich dachte, dass ich dort vielleicht eine neue Eingebung finde, eine Inspiration, weißt du?!“
 

„DAZAIII!!“, brüllte Kunikida und wollte seinen Kollegen packen, welcher nur kreischend davon lief, sodass sie die restlichen Meter bis zum Hotel rannten. Dazai warf sich atemlos auf den Boden und wimmerte. Wie konnte jemand, der so wenig Ausdauer hatte, so lange in dieser Welt überleben? Dazai ächzte und klagte lauthals darüber, wie grausam die Welt war. Kunikida indes grummelte auch. Immer benahm sich Dazai wie ein Kind. Dabei war er doch schon 22!
 

„Würdest du nicht immer so einen Unsinn von dir geben, müsste ich dich auch nicht erziehen! Anders lernst du ja nicht!“
 

Dazai wurde still und sah Kunikida emotionslos an. Seine Augen sahen durch ihn hindurch. Was war es, was Dazai sah, das seinem Blick verborgen blieb? Dazai nickte einfach nur und begab sich zum Rezeptionist an der Theke, wo er sich und Kunikida anmeldete, ehe er wortlos in den Aufzug stieg. Während der ganzen Fahrt nach oben sagte Dazai kein Wort.
 

Habe ich irgendetwas gesagt, das ihn verletzt hat? Verdammt... das fängt überhaupt nicht gut an. Dazai war schon oft schlecht gelaunt, aber er wirkt richtig verletzt. Was habe ich gesagt, das ihn dermaßen aus der Fassung gebracht hat?!, überlegte Kunikida und schluckte hart, warf immer wieder prüfende Blicke zum Brünetten, der gedankenverloren auf den Boden starrte und keinerlei Anstalten machte, irgendetwas zu sagen, um die angespannte Atmosphäre wieder zu lockern. Also war es an Kunikida, die Situation zu retten.
 

„Zu deiner Information... ich habe einen Fensterplatz ergattern können“, erklärte er zögerlich, warf erneut einen prüfenden Blick zu Dazai, welcher nun endlich aufsah und ein Lächeln auf den Lippen trug. Ein falsches Lächeln. So falsch, dass Kunikida schlecht wurde. Sein Magen drehte sich um. Dazai zeigte es nicht nach außen, aber irgendetwas bedrückte ihn und sämtliche Zahnräder in Kunikidas Kopf drehten und ratterten unaufhörlich, um dieses Rätsel zu lösen.
 

„Ahh~, wie schön! Da freue ich mich aber!“, erklärte Dazai und grinste breit.
 

Kunikida fühlte sich schuldig. Die Schuld, die auf seinen Schultern lastete, schien ihn herabzuziehen und er versank im Elend. Trotzdem erwiderte er dieses gespielte Lächeln und ließ sich auf dieses Schauspiel ein.

Kapitel 8

Während des Essens starrte Dazai die meiste Zeit verträumt aus dem Fenster, warf einen beinahe wehmütigen Blick über das Funkeln der Stadt. Kunikida hatte sofort bemerkt, dass er absichtlich ein Gericht ausgesucht hatte, dass keinen erwachsenen Mann sättigen würde. In seinem Kopf arbeiteten sämtliche seiner grauen Zellen auf Hochtouren und er überlegte fieberhaft, wie er aus Dazai mehr herausquetschen konnte, ohne diesem zu nahe zu treten und ihn erneut in ein tiefes Loch zu werfen. Das letzte, das er jetzt gebrauchen konnte, war, dass Dazai sich vom Dach des Hotels warf, nur weil er seine Wortwahl nicht überdacht hatte.
 

Es war anstrengend und all das Nachdenken machte ihn müde. Wie sollte er sich Dazai nähern, ohne dass dieser Verdacht schöpfte? Dazai spielte mit dem Whiskyglas und ließ den Eiswürfel mehrmals laut hörbar gegen das Glas schlagen, so dass ein dumpfer aber eindringlicher Klang entstand. Dazai war so gedankenversunken, dass er gar nicht mal bemerkte, dass Kunikida ihn anstarrte. Er sagte auch nichts, beobachtete ihn einfach nur und zückte dann sein Notizbuch hervor.
 

Dazai gedankenverloren – muss den Grund erfahren
 

Er schrieb seine Notizen nieder. Dazai grinste ihn belustigt an und warf ihn einen neugierigen Blick zu.
 

„Was schreibst du da?“, fragte er dann und gab einen nicht definierbaren Laut von sich, der Kunikida aufsehen ließ. Da Kunikida ihn einfach nur perplex ansah, wiederholte Dazai dieses Geräusch lauter und fordernder.
 

„Nyan~“, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. Als Kunikida klar wurde, dass der Brünette lediglich eine Katze nachahmte und ihn mal wieder an der Nase herumführte, ließ er den Kopf hängen. Ein lautes Knacken ließ sie beide zusammenfahren. Da hatte er doch glatt seinen Kugelschreiber in seiner Hand zerdrückt. Manchmal vergaß er, wie stark er eigentlich war. Seufzend verstaute er den Kugelschreiber und widmete sich erneut Dazai, der immer noch künstlich lachte.
 

„Wo warst du heute eigentlich?“
 

„Oh~, Kunikida-kun ist an meinem Privatleben interessiert? Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon bereit dafür bin“, quiekte er und spielte das verstohlene Schulmädchen, nur um im nächsten Moment mit dem Kugelschreiber abgeworfen zu werden.
 

„Das war eine ernste Frage“, knurrte Kunikida, der leicht rot um die Nase geworden war.
 

„Ich war im Museum~“, erklärte Dazai lächelnd.
 

Du lügst... ich weiß, wo du warst. Warum verheimlichst du mir das? Das schlimmste ist, dass wenn ich nicht genau wüsste, dass er lügt, ich ihm dieses Schmierentheater abkaufen würde. Er verzieht keine Miene.
 

Kunikida atmete tief ein. Wie konnte er Dazai dazu bewegen, ihm die Wahrheit zu sagen? Es musste eine Möglichkeit geben. Er warf einen Blick auf Dazais fast komplett leeres Glas. Viele Menschen gaben unerwartet viel von sich preis, wenn sie betrunken waren. Ob Dazai auch zu dieser Sorte Mensch gehörte?
 

„Oh, du hast ja schon ausgetrunken!“, sagte er grinsend und winkte eine Kellnerin heran, bestellte eine weitere Runde für seinen Kollegen, welcher ihn mit großen Augen betrachtete und die Welt nicht mehr verstand. Dabei war Kunikida doch immer so geizig! Und jetzt spendierte er ihm eine zweite Runde? Sehr suspekt. Irgendetwas war hier faul. Dazai kniff die Augen zusammen und sah Kunikida eingehend an.
 

„Willst du mich etwa abschleppen? Ich hätte dich nicht für jemanden gehalten, der seine Begleitung abfüllt, um eine heiße Nacht zu verbringen“, erklärte Dazai und grinste provokant.
 

„So etwas Barbarisches! Das würde ich niemals tun und das weißt du!“
 

„Echt? Wie schade! Ich habe mich schon auf eine unvergessliche Nacht gefreut~“, jammerte Dazai, warf seinen Kopf in den Nacken und unterstrich seine Gestik mithilfe einer abschüttelnden Handbewegung, während er so tat, als würde er Tränen vergießen.
 

„Bei dir klingt einfach alles... falsch. Sehe ich so aus, als würde ich dich abschleppen wollen? Hm? Man könnte ja fast meinen, dass du das mit Absicht machst und das deine verschrobene Art ist, mit mir zu flirten“, entfuhr es Kunikida, der sich leise räusperte und seine Brille hochschob.
 

Dazai war immer gut gelaunt, machte dumme Scherze und es war unglaublich schwer mit absoluter Sicherheit zu sagen, was wirklich in diesem vor sich ging. Vermutlich wollte er ihn einfach nur ärgern und amüsierte sich köstlich über die prüden Reaktionen seines Kollegen. Absolut ausgeschlossen, dass Dazai mit ihm flirtete oder dass seine Bemerkungen eine tiefere Bedeutung hatten. Das passte einfach nicht zusammen. Außerdem war Kunikida ein Mann. Dazai zeigte sonst nur Interesse an Frauen – gut, sein Interesse galt den Damen ausschließlich nur, weil er an einem Doppelselbstmord interessiert war. Je mehr Kunikida darüber nachdachte, desto schwerer fiel es ihm, sich an eine Situation zu erinnern, in der Dazai ehrliches Interesse am anderen Geschlecht gezeigt hatte. Er wirkte einfach nicht wie der Typ, der in der Lage war, sich mit den Pflichten und der Verantwortung einer Beziehung anständig auseinanderzusetzen.
 

Kunikida griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck des Kaffees, den er bestellt hatte.
 

„Ah, das tue ich jetzt seit zwei Jahren. Schön, dass es Kunikida-kun endlich auffällt!“, lachte Dazai.
 

Kunikida verschluckte sich an seinem Kaffee, rang nach Atem und hustete lauthals, versuchte verzweifelt wieder seine Fassung zu erlangen, während Dazai mit seinen Wimpern klimperte und ihm ein breites, unschuldiges Lächeln entgegen warf. Machte er sich über ihn lustig?! Das war überhaupt nicht witzig!
 

„Sehr witzig, Dazai“, knurrte er und trommelte verärgert mit seinen Fingern auf der Tischplatte, versuchte seinen Kollegen mit Blicken allein zur Vernunft zu bringen, wissend, dass dieser Kerl mit diesem aufgesetzten Lächeln niemals dazu lernen würde und es mit jeder Faser seines Körpers genoss, ihn leiden zu sehen.
 

„Das war kein Witz~“, antwortete Dazai und blinzelte.
 

„Dazai, hör auf mich zu verarschen.“
 

„Ich verarsche dich nicht. Ich bin schwul und ich mag Männer mit Idealen. ♥“
 

Kunikida erschrak. Ohne es verhindern zu können, stand er fluchtartig auf, warf seine Kaffeetasse dabei um, sodass die heiße Flüssigkeit sich quer über den Tisch ergoss und auf Dazais Schoß landete. Dieser sprang panisch auf und jammerte über die plötzliche Hitze. Kunikidas Herz machte einen Aussetzer und obgleich er um Dazai besorgt war und ihm dieser tollpatschige Fauxpas leidtat, traute er sich plötzlich nicht, seinem Kollegen näher zu kommen und blieb mit einer Serviette bewaffnet ratlos vor diesem stehen. Dazai riss ihm die Serviette aus der Hand und trocknete seine Hose.
 

„Heiß! Heiß! Heiß!“, quengelte er und tänzelte hin und her, bewegte sich schnell auf der Stelle, um die Hitze des Flüssigkeit auf diese Weise abzukühlen. Es war fraglich, ob diese albernen Bewegungen auch nur ansatzweise bei seinem Vorhaben halfen. Kunikida sah ihn an, war aber mit der gesamten Situation überfordert. Dazai glaubte, dass in Kunikidas Kopf gerade sämtliche Lichter ausgegangen war und in dessen Oberstübchen nichts weiter als Stille herrschte. Dann grinste er amüsiert.
 

„Dass du es so eilig hast, mir meine Kleider vom Leib zu reißen“, sagte er dann und kicherte amüsiert. Keine Reaktion. Aus Kunikida war sämtliches Leben gewichen. Er funktionierte nur noch auf Autopilot. Ein Glück, dass er nicht vergessen hatte, zu atmen, sonst hätte Dazai ein weiteres Problem, um welches er sich nicht wirklich kümmern wollte. Ein Kellner kam angelaufen und trocknete den Tisch ab. Da Kunikida wortlos in der Gegend rumstand, packte Dazai ihn an den Schultern und setzte ihn auf seinen Platz zurück, während er selbst zur Herrentoilette verschwand, um die Flecken aus seiner Hose zu entfernen.
 

Dazai. Schwul. Er mag Ideale, ratterte es in Kunikidas Kopf.
 

Unmöglich. Jetzt treibt er es eindeutig zu weit! Das ist echt nicht mehr lustig!
 

Kunikida versuchte sich zu sammeln, atmete tief ein und stützte seinen Kopf an seinen Händen ab, wiederholte Dazais Worte gefühlt zum hunderten Male, nur um sich selbst einzureden, dass dieser einen schlechten Witz machte und das nur gesagt hatte, um ihn zu provozieren. Immerhin liebte Dazai es, Streiche zu spielen und Kunikida zu veralbern. Kunikida war Dazais liebstes Opfer. Immer wollte er seine Aufmerksamkeit und stellte Unsinn an, nur um...
 


 

Kunikida knallte mit seinem Kopf auf die Tischplatte. Seine Seele flog in Geisterform aus seinem Körper.
 

Richtig. Dazai Osamu machte Quatsch und stiftete absichtlich Unruhe, damit Kunikida ihn beachtete und ihm hinterherlief. Er wollte Kunikidas Aufmerksamkeit haben. Und um diese zu bekommen, war ihm jedes Mittel recht. Telefonstreiche? Aus Versehen über das Stromkabel von Kunikidas Computer stolpern, um den Strom zu kappen und ihn somit an seinem Bericht zu hindern? Mal wieder Kunikidas Lunchbox aus dem Kühlschrank verzehren, damit dieser mit ihm ins Café ging?
 

Wie konnte ich nur so blind sein? Vielleicht wollte er mich gar nicht aufziehen... vielleicht ist das seine Art Zuneigung zu zeigen? Ich kenne mich mit Yakuza nicht aus, könnte ja gut sein, dass man das in der Mafia so macht.
 

Wie oft hatte Dazai die Arbeit verweigert, obwohl er genau wusste, dass Kunikida ihn deshalb ausschimpfen würde?
 

Ist das seine subtile Art mir zu sagen, dass ich mehr Zeit mit ihm verbringen soll? Was ist, wenn er es ernst meint? Was ist die ideale Reaktion in so einer Situation? Dazai ist labil, was ist, wenn eine Ablehnung meinerseits seinen Zustand verschlechtert? Aber bin ich bereit, sein Leid mitzutragen? Ist diese Verantwortung nicht etwas zu viel für mich? Mal davon abgesehen... ich und Dazai? Wir sind beide Männer. Das kann nicht funktionieren.
 

Tausende Gedanken kamen ihm in den Sinn und Fragen, die Antworten brauchten, aber wahrscheinlich niemals erhalten würden. Wie sollte er nur mit dieser Situation umgehen. Sein Notizbuch hatte nirgendwo einen Verweis darauf, wie er reagieren musste, wenn ein schwuler Mann ihm seine Zuneigung zeigte. Das war doch etwas zu viel verlangt. Kunikida hatte noch nie in seinem Leben darüber nachgedacht, ob er Interesse an Männern hatte. Immerhin war das ideale Paar Mann und Frau. Sechs Jahre prüfte man, ob die Beziehung funktionierte, dann heiratete man und brachte Kinder in die Welt. Das war es, woran er glaubte. Glauben wollte. Musste. Dass Dazai auf seine eigene Art und Weise anziehend war, konnte er nicht verleugnen.
 

In gewisser Weise ist Dazai schon fast niedlich, wie er versucht, die Arbeit zu umgehen und dass er unglaublich kreativ sein kann, vor allem wenn es ums Schwänzen geht, ist auch eine einzigartige Eigenschaft. Er ist klug, gebildet und wir verstehen uns blind. In Nahkämpfen kann ich mich immer auf ihn verlassen und ich kann nicht verleugnen, dass wir ein perfektes Team sind. Aber das muss nicht heißen, dass eine Beziehung mit diesem Chaoten genauso wäre. SCHEISSE. Kunikida Doppo! Wie kannst du es nur in Erwägung ziehen, mit diesem Taugenichts tatsächlich eine Beziehung zu führen!? Weg mit diesem Gedanken!
 

Kunikida stand plötzlich kerzengerade, raufte sich sein Haar und man hörte noch, wie der Stuhl zu Boden ging, sodass sämtliche andere Gäste in seine Richtung sahen. Erst jetzt bemerkte er, dass Dazai noch immer nicht zurück war. Er blinzelte verwirrt und lief in Richtung der Herrentoiletten. Vor der Tür blieb er kurz stehen, atmete noch einmal ein und sammelte seinen ganzen Mut. Ob Dazai sich hier eingeschlossen hatte, weil es ihm peinlich war, was er gesagt hatte? Befürchtete er, dass Kunikida ihn nicht mehr sehen wollte?
 

„Dazai?“, fragte er und ging hinein, sah sich um. Sämtliche Kabinen waren geöffnet und er stand auch nicht bei dem Pissoirs. Verdutzt sah er sich um. Dazai war nicht hier. Hoffentlich machte der Kerl keinen Unsinn! Mehrmals lief er den Gang entlang und ging zurück zu ihrem Tisch, musste jedoch mit Erschrecken feststellen, dass Dazai noch immer nicht zurückgekehrt war. Was war, wenn er so aufgewühlt war, dass er einfach gegangen war oder sogar in Erwägung zog, sich tatsächlich vom Dach zu schmeißen? Viel zu hastig machte sich Kunikida auf den Weg zum Aufzug, wo er bis ins oberste Geschoss fuhr. Als die Hotelangestellten ihn aufhalten wollte, wies er sich mit seinem Namen aus und erklärte, dass er ein Privatdetektiv aus der Armed Detective Agency war. Dies reichte aus, um ihm Zutritt zu bewähren. Er sah sich auf dem Dach um.
 

Eine sternenklare Nacht. Eine kühle Brise. Der Anblick der leuchtenden Stadt ließ sein Herz höherschlagen. Dazai war auch nicht auf dem Dach. Nackte Panik machte sich in ihm breit. Hatte Dazai die Hotelanlage verlassen? Plötzlich erinnerte er sich daran, dass Ranpo eine Wanze in Dazais Smartphone versteckt hatte. Zügig drückte er die Tasten und wartete ungeduldig darauf, dass der Schwarzhaarige abhob.
 

„HEY! Kunikida, was machst du denn?! Dazai hat das Hotel vor einer halben Stunde verlassen!“, keifte ihm Ranpo entgegen, ohne dass Kunikida auch nur irgendetwas sagen konnte, um seine momentane Lage zu erklären. Erschrocken hielt er das Smartphone etwas weiter weg. Noch immer hörte man Ranpo, der wütete und schimpfte und Kunikida als absoluten Trottel darstellte.
 

„Wo ist er hingegangen?!“, wollte Kunikida wissen, als sich Ranpo endlich beruhigt hatte.
 

„Nicht gegangen! Er fährt! Er ist bereits am Museum of Art vorbei, ich weiß nicht, wo er hinwill, aber er befindet sich gerade auf der Ichi-Dori Ave! Verdammt, du bist ja immer noch im Hotel?!“
 

„Ich laufe so schnell wie ich kann! Ich habe am Museum geparkt!“
 

„Weiß ich doch!“, zischte Ranpo und man hörte im Hintergrund das Quietschen von Rädern. Natürlich hatte Ranpo Kunikidas Auto verwanzt. Was auch sonst. Er hatte keine Zeit, um diesen Gedanken weiter zu folgen und lief erneut zum Fahrstuhl, machte sich auf den Weg, das Hotel zu verlassen und rannte geradewegs auf die Hauptstraße, als er sein Auto beinahe an ihm vorbeirauschen sah, welches dann eine Vollbremse machte und in einen Laternenpfosten donnerte. Schockiert sah er sein Auto an, welches dann kurz rückwärts fuhr. Die Beifahrertür wurde aufgerissen und Ranpo winkte ihn heran. Kunikida packte Ranpo und warf ihn aus seinem Auto, setzte sich selbst ans Steuer.
 

„Wo müssen wir hin?!“, wollte er wissen. Er hörte Atsushi, der von hinten eine Anweisung gab.
 

„Dazai-san befindet sich auf der Minatomirai Brücke, direkt über den Katabira Fluss! Er bewegt sich nicht, entweder hat er dort angehalten oder es gibt einen Stau“, erklärte er und verfolgte fokussiert das GPS-Signal auf dem Laptop.
 

„Wo will er hin?“, grummelte Kunikida und raste davon.
 

„Dazai ist nicht allein. Entweder ist er freiwillig eingestiegen oder er wurde entführt“, stöhnte Ranpo genervt und verschränkte die Arme. Zumindest hob Dazai nicht ab und beantwortete auch seine Textnachrichten nicht.
 

„Am Ende des Minatomirai Odori Boulevard gibt es doch eine Polizeistation – sollten wir nicht um Verstärkung bitten?“, fragte Atsushi schüchtern nach.
 

„BAKA“, keifte Ranpo genervt, sodass Atsushi zusammenfuhr.
 

„Sollen wir aufgrund einer Ahnung die Polizei benachrichtigen? Was ist, wenn es Dazai gut geht und er freiwillig gegangen ist? HM? Weißt du, wie teuer so ein unnötiger Polizeieinsatz ist? Und überhaupt! Bei einem Fehlalarm müsste sich Fukuzawa verantworten und das würde bedeuten, dass wir die Rechnung zahlen müssten und das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass meine Süßigkeitenrationen verringert oder“, Ranpo machte eine dramatische Pause, schluckte hart und kämpfte mit den nächsten Worten, ehe er weitersprach, „sogar gestrichen werden würden!“
 

Dann ließ er den Kopf hängen. Allein der Gedanke ließ sein Herz brechen. Ranpo versank im Beifahrersitz, während Kunikida so schnell fuhr, wie es ihm möglich war.
 

Als er zum Stau kam, biss er sich auf die Unterlippe. Er musste Dazai einholen. Ob Dazai auf der Flucht war, weil er sich schämte, ihm gesagt zu haben, schwul zu sein? War ihm sein Outing peinlich? Kunikida hatte ihm auch nicht gerade das Gefühl gegeben, kein Problem mit einem schwulen Kollegen zu haben. Vielleicht hatte er geglaubt, dass Kunikida ihn nicht mehr bei sich haben wollte? Ranpo hatte recht. Es war denkbar, dass Dazai auf der Flucht war, um weitere Gespräche zu vermeiden und keine weitere Auseinandersetzung fürchten zu müssen.
 

„Er ist wieder zum Stehen gekommen, in der Nähe des Postamts... sie scheinen sich zu dem großen Wohngebiet zu bewegen. Eindeutig! Sie sind im Portside Lower Ichibankan“, erklärte Atsushi nun.
 

„Das ist ein Privatgrundstück, da können wir nicht einfach reingehen“, knurrte Kunikida erbost.
 

„Wir müssen ja nicht nur die Eingangstür stürmen, wir suchen uns einen Hintereingang“, grinste Ranpo und kicherte böse.
 

Kunikida hatte erneut so viele Fragen, auf die er keine Antwort kannte und es machte ihn rasend. Dieser Abend würde unvergesslich werden. Nicht, wegen dem teuren Abendessen im Shikitei, sondern vor allem weil er bereits jetzt die Rechnung für die Reparatur seines Autos vor Augen hatte. Die Beifahrertür war so stark verbeult, dass das Warnlicht blinkte und er hörte, dass er unterwegs einen Außenspiegel verloren hatte. Er flehte inständig darum, dass man ihn nicht an der Polizeistation anhielt, um ihm einen Strafzettel zu verpassen.
 

Sie fuhren an der Polizeistation vorbei. Niemand hielt ihn an. Erleichterung kam auf. Erleichterung, die im selben Moment wich, als sie auf den Parkplatz des Postamts fuhren und dort anhielten. Er warf einen Blick auf das gigantische Hochhaus vor ihnen, in dem sich Dazai mutmaßlich befand. Es war ein Privatgrundstück und das Grundstück selbst war von einer vier Meter hohen Mauer umgeben, sodass niemand Unbefugtes eintreten konnte. Ranpo schien das nichts auszumachen. Fröhlich pfeifend stieg er aus, knallte die Beifahrertür zu, die im nächsten Moment aus den Angeln flog und krachend zu Boden ging. Er zog die Augenbrauen hoch.
 

„Ich an deiner Stelle würde damit ja zur Werkstatt fahren“, erklärte Ranpo und zeigte mit dem Finger auf die am Boden liegende Tür. Kunikida kämpfte mit dem Zorn. Er war kurz davor zu explodieren, dann packte er Atsushi am Kragen und schüttelte ihn durch, warf ihn dann geschickt über seine Schulter und ließ diesen gegen die Mauer donnern. Kunikida schrie vor Zorn. Zum Verrückt werden! Atsushi wimmerte und klagte. Wieso ließ sein Kollege seine Wut an ihm aus?! Ranpo hatte am Steuer gesessen! Wie unfair!
 

Wenige Sekunden später hatte Kunikida sich wieder beruhigt, räusperte sich und holte sein Notizbuch heraus.
 

„Könnte gut sein, dass er beschattet wurde“, murmelte Ranpo und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.
 

Dazai war im Museum gewesen. War er vielleicht dort nur untergetaucht? Vielleicht hat er sich unter die Menschen gemischt, um unentdeckt zu bleiben. Oder hat er dort einen Informanten getroffen? Dieser Kerl macht mich wahnsinnig! Ranpo trampelte wütend auf und ab und befahl Kunikida nun, einen Weg über die Mauer zu finden. Das Haupttor am Eingang war verschlossen. Am Eingang gab es mehrere Kameras, die sämtliche Personen, die das Grundstück betraten oder verließen, aufnahm, also war es der klügste Weg, sich von hinten hineinzuschleichen.
 

Atsushi kam näher und sah seine Kollegen hilfesuchend an.
 

„Wie kommen wir da rein?“, wollte er wissen und sah abwechselnd zu Kunikida und dann zu Ranpo.
 

„Ja, genau! Wie kommen wir da rein, Kunikida?“, kam es von Ranpo, der frech grinste.
 

„Klettern ist keine Option“, grübelte der Blonde und überlegte.
 

„Tja, könntest du mit deiner Fähigkeit eine Leiter erschaffen, hätten wir ein Problem weniger“, seufzte Ranpo theatralisch, sah dann zu Atsushi, welcher kurz zusammenzuckte. „Lassen wir doch den Stubentiger ein Loch graben“, sagte er und wackelte verwegen mit den Augenbrauen. Einmal mehr fühlte sich Atsushi erschlagen, als würde ein gigantischer Stein ihn in den Boden rammen, dann ein tiefer Seufzer.
 

Ohne weiter auf Ranpos Provokationen einzugehen, öffnete Kunikida sein Notizbuch und kramte seinen Ersatz Federhalter heraus, schrieb die Worte „Greifhaken“ und „Seil“ nieder, ließ diese durch seine Fähigkeit nacheinander entstehen und befestigte das Seil an der Ringschnalle, stellte mehrmals sicher, dass der Knoten fest war. Einmal mehr schob er sich die Brille zurecht, näherte sich der Mauer und überlegte, wie er seinen Greifhaken werfen sollte, damit dieser sich ordentlich verkeilte und er beim Hochklettern nicht wieder runter fiel.
 

Beim zweiten Wurf blieb der Greifhaken oben. Prüfend zog Kunikida am Seil und kletterte die Mauer hoch. Ranpo machte eine abfällige Handbewegung und schnalzte dann mit der Zunge.
 

„Sorry, das ist mir zu anstrengend. Ich warte hier“, erklärte er und ließ sich auf den Boden plumpsen, zog den Laptop näher zu sich heran und holte aus seiner Jackentasche mehrere Headsets, verband diese mit dem Laptop und überreichte Atsushi seine Ausrüstung.
 

„Die Dinger funktionieren nicht in Funklöchern wie Kellergewölben, Höhlen oder Tunneln. Könnte also sein, dass wir zwischendurch den Kontakt verlieren, dann müsst ihr improvisieren und zusehen, wie ihr allein zurecht kommt. Wenn der Kontakt länger als 20 Minuten ausfällt, gebe ich ein Notsignal an die anderen Mitglieder ab“, erklärte Ranpo und erhielt ein folgsames Nicken als Antwort. Atsushi warf einen Blick über die Schulter, dann kletterte er das Seil hinauf.

Kapitel 9

Kunikida öffnete die Hintertür und sah paranoid hin und her, setzte dann das Headset auf, das Atsushi ihm reichte.
 

„Immer macht dieser Kerl Ärger“, grummelte er, als er in das Gebäude eintrat. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich zu. Planlos stand Atsushi neben ihn, der nicht so recht wusste, wo genau sie nun hin mussten. Plötzlich meldete sich Ranpo.
 

„Seid ihr drin?“, hörte er Ranpos Stimme in seinem Ohr. Er nickte. Natürlich konnte der Schwarzhaarige das nicht sehen und so zuckte er zusammen, als Kunikida antwortete und nach weiteren Anweisungen bat. Kyouka hätte sicher gewusst, was zu tun gewesen wäre. Manchmal fragte sich Atsushi, ob er für diesen Job überhaupt gemacht war. Dann schüttelte er den Gedanken wieder ab. Dazai hatte ihn vorgeschlagen und ihm eine zweite Chance ermöglicht. Er durfte nicht so negativ denken und musste sich bemühen, sich als Ermittler und als vollwertiges Mitglied der Agentur zu beweisen. Die Anweisung war leicht verständlich und der Plan ebenso banal wie lebensgefährlich. Reingehen, Dazai rausholen und abhauen.
 

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage. Als sie oben ankamen, ließ Kunikida eine Waffe erscheinen und übernahm die Vorhut. Mit dem Revolver vor seiner Brust trat er in den Flur. Niemand da. Die Lichter waren ausgeschaltet und die Wände nicht einmal tapeziert. Das Gebäude wirkte von draußen ziemlich neu, vermutlich waren noch nicht alle Geschosse fertig renoviert. Einige Wohnungen hatten noch keine Türen, sodass man in die leeren Räume blicken konnte.
 

„Ranpo-san, bitte kommen!“, murmelte Atsushi und wartete auf eine Reaktion.
 

Man hörte ein lautes Knuspern, dann antwortete Ranpo erst.
 

„Was gibt es?“, fragte er und man hörte, dass er irgendetwas kaute. Wie konnte er jetzt naschen?
 

„Wo müssen wir lang?“
 

„Ihr seid im richtigen Geschoss, Dazai ist ungefähr 300 Meter von euch entfernt. Müsste die letzte Wohnung im Flur sein“, erklärte er und legte auf, warf einen weiteren Blick auf den Bildschirm. Dazai bewegte sich nicht. Er überlegte fieberhaft, was Dazai gerade tat. Hatte man ihn gefesselt? Das würde für eine Entführung sprechen. Oder saß er vielleicht nur an einer Stelle? Lag er in einem Bett und schlief? Das würde bedeuten, dass er freiwillig hier war und sie unbefugt ein Privatgrundstück betreten hatten, was wiederum Hausfriedensbruch mit sich brachte. Aber Fukuzawa hatte sämtliche Mittel erlaubt, um herauszufinden, was Dazai zu verbergen versuchte. Seine Süßigkeiten waren somit sicher... oder?
 

Kunikida blieb vor der letzten Wohnung stehen. Im Gegensatz zu allen anderen Wohnungen hatte diese hier eine Tür, weshalb er darauf schloss, dass irgendjemand sich hier drin befand. Es gab keine Bewachungskameras und niemand war im Flur. Die Stille nagte an seinem Verstand und ließ ihn glauben, dass irgendetwas passieren musste. Vielleicht sprang ihm gleich ein Geist entgegen oder ein verrückter Massenmörder? Bei dem Gedanken wurde ihm ganz bange. Ganz ruhig, Kunikida. Das ist ja kein Horrorfilm. Es wird wohl kaum jemand mit einer Kettensäge hinter dieser Tür auf dich warten, versuchte er sich zu beruhigen und lächelte gequält. Aber warum ausgerechnet eine Stahltür? Wer oder was sollte hier drin festgehalten werden? Oder eher: ausgeschlossen?
 

Er versuchte die Tür zu öffnen, doch dieses Mal ließen ihn seine Fähigkeiten im Stich. Dazai hätte die Tür sicher in Nullkommanichts geöffnet. Ob das nun gut oder schlecht war, vermochte Kunikida nicht mit Sicherheit sagen. Ein rechtschaffener Mann knackte nun mal keine Schlösser oder verschaffte sich überhaupt unerlaubt Zutritt in fremde Gebäude.
 

„Ranpo-san? Wir stehen vor einer verschlossenen Stahltür“, funkte Atsushi durch.
 

„Tja, könnte Kunikida mit seiner Fähigkeit ein Schweißgerät erschaffen, hättet ihr ein Problem weniger. In anderen Worten: sucht euch einen anderen Weg! Duh!“
 


 

———————————
 

Er schlug die Augen auf und ächzte. Seine Umgebung blieb verdunkelt. Ah. Er war also gefesselt und man hatte ihm die Augen verbunden. Er zischte abfällig. Was für Amateure! Sie hatten ihm lediglich die Augen mit einem Tuch – das vermutete er zumindest – verbunden. Nicht einmal die Mühe hatten sie sich gemacht, seinen Mund zu verkleben, damit er nicht um Hilfe schreien konnte, sollte er aufwachen. Der dumpfe Schmerz in seinem Hinterkopf war gerade nebensächlich. Er ärgerte sich um diese stümperhafte Entführung, hätte er es gewollt, hätte er dem Angriff locker ausweichen können und der Schlag, mit dem man ihn ausgeknockt hatte, brachte nicht einmal Nebenwirkungen wie Übelkeit mit sich. Enttäuschend! Eine reine Tortur! Eine Blamage für diese Möchtegerngangster, die dumm genug waren, in Moris Gebiets einzumarschieren und den großen Macker zu markieren.
 

Hatten diese Kerle überhaupt den leisesten Schimmer, wie mächtig und grausam ihr Gegenspieler war? Verärgert rümpfte Dazai die Nase. Seine Hände waren an die Stuhllehnen gefesselt, während seine Beine an den Stuhlbeinen befestigt waren. Es war nicht das erste Mal, dass er sich in so einer Situation befand und jeder andere normale Mensch wäre jetzt sicher in Panik verfallen, so aber nicht Dazai, der eher gelangweilt analysierte, was geschehen war. Diese Kerle hätten ihn doch zumindest einen Stoffsack über den Kopf ziehen sollen.
 

„Hey, Leute! Ich muss pinkeln!“, jammerte er dann und lachte auf.
 

„Wie zum...?“, hörte er eine Stimme von hinten. Eine Tür wurde geöffnet. Unglaublich! Diese Kerle hatten ihn in einen separaten Raum gesperrt? Man zog ihm die Augenbinde runter und er blinzelte mehrmals, als das helle Licht ihn blendete und er seine Umgebung endlich wahrnehmen konnte. Ein normales Apartment mit Aussicht auf die Stadt. Er blinzelte lieb und lächelte so süß wie er konnte.
 

„Ah~! Wie schön, dass mein Hilferuf erhört wurde!“, sagte er, doch ehe er weitersprechen konnte, packte ihn der Mann und zerdrückte seine Wangen.
 

„Das ist absolut unmöglich, dass du nach dem Schlag wieder wach bist! Was bist du?!“, schimpfte er und drehte Dazais Kopf hin und her, begutachtete das mit Blut verklebte und immer noch offene Loch an seinem Hinterkopf. Kein Mensch, so viel steht fest, beantwortete Dazai diese Frage in Gedanken und ließ zu, dass der fremde Mann ihn weiterhin untersuchte. Grob wandte man seinen Kopf hin und her, dann starrte der Kerl in sein Gesicht und sah Dazai in die Augen.
 

„Wie romantisch~“, witzelte Dazai und kicherte. Verärgert ließ der Kerl ihn los. Dazai warf einen prüfenden Blick zu ihm. Ein Seidenhemd, das im Licht glänzte, eine goldene Kette und gebräunte Haut. Er bezweifelte, dass dieser Mann Japaner war. Vermutlich irgendjemand, der illegal eingewandert war. Hieß das, dass die Mitglieder von Henkō allesamt aus dem Ausland stammten? Die Haare waren kurz rasiert und er konnte Muster erkennen, die man in die kurzen Haare hinein rasiert hatte. Ah, da steht’ s... direkt auf seinem Hinterkopf. Das Zeichen Henkō. Wie dumm kann man sein? Und die legen sich mit Mori-san an? Ich bin enttäuscht! Jeder echte Yakuza tätowiert sich das Logo seiner Gruppe und trägt es für immer mit sich. Die meinen es wohl nicht wirklich ernst, grummelte er und versuchte über die Schulter hinweg zu sehen, um zu erkennen, wo der Kerl hingelaufen war.
 

Mehrere Männer kamen hinein. Allesamt wirkten erschrocken darüber, dass ihr Opfer bereits wach war.
 

„Schön, jetzt wo wir alle versammelt sind, sollten wir uns einander vorstellen, meint ihr nicht auch?“
 

„Du bist Dazai Osamu, ein Mitglied der Port Mafia. Es gibt keinerlei Anlass für uns, dir zu sagen, wer wir sind“, knurrte der Mann, der bis eben Dazai so grob betatscht hatte.
 

„Ich gehöre aber gar nicht zur Port Mafia“, sagte Dazai zwinkernd und lächelte.
 

Getuschel erfüllte den Raum. Ungläubig blickten sie den Brünetten an. Noch ehe irgendjemand etwas sagen konnte, hörte man, wie ein Glas im anderen Raum zu Bruch ging. Man hörte die dumpfen Schritte eines Mannes, der näher kam. Er blieb direkt hinter Dazai stehen und legte fast behutsam seine Hände auf die schmalen Schultern ihres Opfers. Dazai sah neugierig hoch, lächelte immer noch und versuchte in das Gesicht des Fremden zu sehen. Eine große Narbe zierte sein Gesicht. Eine Brandwunde. Die Narbe war so tief, dass sie sein sonst markantes Gesicht verformte. Seine leicht gebräunte Haut und seine schmalen Augen ließ Dazai vermuten, dass er aus Vietnam oder den Philippinen stammte. Er brauchte mehr Informationen, um dies mit Genauigkeit zu sagen.
 

„Ah, du bist also der Boss, ja~? ♥“, sagte Dazai mit heller Stimmlage und lächelte.
 

Der Kerl drückte etwas fester zu – eine Geste, die ihn ermahnen sollte und jeder normale Mensch auch als Drohung wahrgenommen hätte – aber Dazai ließ sich nicht beirren und sprach weiter.
 

„Deine Leute haben gar keine Manieren! Sie wollen mir ihre Namen nicht nennen! Das ist doch total fies! Ist das nicht schon Mobbing?“
 

„Für jemanden, der aus der Port Mafia ist, hast du ein ganz schön loses Mundwerk. Falls es dir nicht aufgefallen ist, bist du eine Geisel und wir werden dich gegen eine hübsche Summe Lösegeld tauschen“, sagte der Mann, sah nun auf Dazai herab und grinste frech. Jetzt sah Dazai, dass er eine Sonnenbrille trug. Und das in einem Gebäude. Mitten in der Nacht. Schrecklicher Modegeschmack! Fast so schlimm wie ein gewisser Zwerg, den er aus der Port Mafia kannte. Aber noch nicht ganz auf dem selben Level. Er haderte damit, ob er ihm dies direkt ins Gesicht sagen sollte, entschied sich dann aber dagegen, da er dieses Missverständnis aus der Welt schaffen musste.
 

„Aber ich gehöre nicht zur Port Mafia“, erklärte Dazai und blinzelte verwirrt.
 

„Sicher, deshalb hast du auch die Nummer des obersten Boss auf deinem Smartphone gespeichert. Er hat dir sogar eine Warnung geschrieben, weil er schon eine Ahnung hatte, dass wir es auf dich abgesehen haben. Ich hätte ja ein bisschen mehr Vorsicht von einem hochrangigen Mitglied der Mafia erwartet, aber ich schätze, das sagt so einiges über diese Lackaffen aus“, sagte er und lachte dann amüsiert über seinen Spruch, streichelte Dazai beinahe liebevoll über den Kopf und lief um diesen herum.
 

„Gefällt mir gar nicht, dass du an mein Smartphone gehst. Da sind private Fotos und Nachrichten gespeichert!“, grummelte Dazai und seufzte theatralisch.
 

„Aber recht hast du schon. Seit ich nicht mehr da bin, haben sie echt nachgelassen. Ein wahres Trauerspiel“, stimmte Dazai nickend zu. Der Mann sah ihn verblüfft an und zog eine Augenbraue hoch.
 

„Du willst das also durchziehen? So zu tun, als hättest du mit der Port Mafia nichts am Hut?“
 

„Ich tue nicht nur so, es ist so~ ♥“
 

„Hör mal, wenn ich es befehle, lasse ich meine Jungs auf dich los und lass so lange auf dich einprügeln, bis du die Wahrheit sagst. Ist es das, was du willst?“
 

„Ne, ich mag Schmerzen nicht so. Aber ich lüge nicht. Ich gehöre zur Armed Detective Agency und Kunikida-kun wird echt böse sein, dass ihr seinen Terminplan durcheinander bringt. Der ist immer so streng“, erklärte Dazai grinsend.
 

„Soll ich also in dieser Detektei anrufen und dort um das Lösegeld bitten? Ist es das, was du sagen willst?“
 

„Bloß nicht! Kunikida-kun dreht mir den Hals um, wenn wieder eine Beschwerde reinkommt! Das letzte Mal musste ich deswegen länger arbeiten! Unglaublich, oder?!“
 

„Du plapperst aber viel“, bemerkte der Mann.
 

„Oh, ich hatte drei Gläser Whiskey und hab großen Redebedarf“, meinte Dazai grinsend. Absolute Amateure. Lächerlich. Bereits jetzt hatte er mehr Informationen zusammengetragen, als er anfangs für möglich gehalten hatte. Wie viel würde er noch herausfinden können? Und würde es ausreichen, um die Sicherheit der Detektei zu gewährleisten?
 

„Du hast einen meiner Männer umgebracht“, begann der Boss, wies mit einer Handbewegung seine Untergebenen dazu an, den Raum zu verlassen und zog einen Stuhl zu sich, den er mit der Stuhllehne voraus direkt vor Dazai positionierte, nur um sich dann auf diesen zu setzen und seine Arme auf der Lehne zu verschränken und Dazai tief in die Augen zu sehen. Man hörte noch, wie die Tür geschlossen wurde. Dazais Miene erhellte sich. Keine Spur von Angst.
 

„Wenn du nicht zur Port Mafia gehörst, wie du gesagt hast, warum hast du dann den Informanten getötet? Deine Aussagen sind wirr und werfen nur noch mehr Fragen auf“, begann er und zog eine Augenbraue in die Höhe. Dazai lächelte, bemühte sich darum, weiterhin die Fassade des fröhlichen Exzentrikers zu bewahren.
 

„Oh, das war eine persönliche Angelegenheit und hat mit alldem hier rein gar nichts zu tun~“, säuselte Dazai, hörte im nächsten Moment ein ohrenbetäubendes Klingen, während der Geschmack von Blut sich in seiner Mundhöhle ausbreitete. Eine Ohrfeige. Eigentlich hatte er ja mit einem Faustschlag gerechnet. Was für ein Waschlappen. Ohne das Gesicht zu verziehen, spukte er das Blut auf den Boden und drehte seinen Kopf wieder nach vorne, sah seinen Gegenüber immer noch lächelnd an, zog seine Aussage nicht zurück.
 

„Lass mich das ganze mal zusammenfassen: du arbeitest nicht für die Port Mafia.“
 

„Richtig!“
 

„Aber du erledigst Botengänge für sie, triffst dich mit Informanten und versorgst sie mit Informationen über den Untergrund von Yokohama, verrätst dem Boss, wo und wann Gelder fließen werden und illegale Geschäfte abgeschlossen werden. Und du beschafft ihnen Insider Informationen über die Konkurrenz.“
 

„Der Kandidat hat 100 Punkte!“
 

„Du weißt schon, dass das, was du tust, der Port Mafia hilft, an Wachstum und Macht zu gewinnen...“ Er zog verwirrt die Augenbraue hoch.
 

„Weiß ich. Warum?“
 

„In anderen Worten: du arbeitest für die Port Mafia.“
 

„Falsch! Ich bin bei der Armed Detective Agency angestellt. Ich stehe sogar auf der offiziellen Website als Mitglied gelistet“, sagte Dazai und strahlte über beide Ohren hinweg, war selbst erstaunlich stolz auf diese Tatsache.
 

Gut, das Foto, das er ausgewählt hatte, war vielleicht nicht unbedingt das beste, da man ihn aufgrund der falschen Brille – mitsamt falscher Plastiknase, aufgeklebten Augenbrauen und Schnurrbart – nicht wirklich erkennen konnte. Der knallbunte Fischerhut in Stroh- und Flechtoptik tat sein übriges, von dem bunt gesprenkelten Poncho mal ganz abgesehen, war seine Tarnung zwar in erster Linie „albern“ (so hatte es Kunikida ausgedrückt), aber vor allem effektiv. Immerhin hatte ihn aufgrund des Fotos noch niemand wieder erkannt. Und Dazai Osamu machte häufig bescheuerte Fotos, die die anderen Mitglieder zum Lachen (in Kunikidas Fall eher zum Weinen) brachte.
 

Der Mann ließ den Kopf hängen und stöhnte. Dann zog er sein eigenes Smartphone hervor und überprüfte die Angaben seiner Geisel. Ein noch lauteres Stöhnen entwich seiner Kehle. Ungläubig starrte er Dazai an, dessen Augen immer noch voller Elan strahlten.
 

„Tolles Foto, nicht wahr?! Trifft meine Schokoladenseite, oder?“
 

„Ich gehe jetzt einfach davon aus, dass du ein Doppelspion bist und entweder für die Port Mafia arbeitest und dem Bastard Mori Infos über die Detektei überbringst oder aber die Port Mafia bespitzelst und für die Regierung arbeitest.“
 

„Beides falsch. Ich arbeite für die Detektei! Ich gebe ja zu, dass ich die meiste Zeit schlafe oder Musik höre, aber ich bin ganz sicher nicht auf der Seite der Port Mafia. Und für die Regierung arbeiten?! Pffff~“
 

Dazai blies die Backen auf und seufzte theatralisch.
 

„Das wäre ja total anstrengend! So viel Arbeitseifer habe ich echt nicht. Dann müsste ich ja jeden Morgen früh aufstehen“, fügte er sich selbst zustimmend nickend hinzu.
 

„Müsstest du das nicht sowieso?“, entgegnete der Mann und sah Dazai entgeistert an.
 

„Komisch, so etwas ähnliches sagt Kunikida-kun auch immer! Von wegen, ich solle doch innerhalb der Öffnungszeiten des Büros auftauchen... Aber morgens früh aufstehen? Neee, ich schlafe lieber bis 10 Uhr oder länger“, sagte er breit grinsend, wirkte auch noch stolz auf diese Aussage.
 

„Wenn du tatsächlich für die Detektei arbeitest, tut mir dein Boss und dein Kollege leid.“
 

„Wieso?“
 

Keine Antwort.
 

„Ah~ Mister Entführer, ich weiß ja deinen Namen gar nicht! Ich glaube, wie können gute Freunde werden. ♥“
 

Der Boss erhob sich, rieb sich den Hinterkopf und verließ den Raum. Dazai gab einen empörten Laut von sich, dann kam der Boss zurück und klebte ihm den Mund mit einfachen Paketkleber zu. Zwei weitere Männer kamen in den Raum.
 

„Wir haben Mori angerufen und ihm gesagt, dass wir Dazai Osamu haben“, entgegnete einer.
 

„Und?“
 

„Er sagte, das sei nicht sein Problem... dann hat er einfach aufgelegt.“
 

Dazai klimperte liebreizend und vielsagend mit den Wimpern.
 

„Auf der offiziellen Website der Detektei steht eine Telefon Nummer, ruft dort an und sagt ihnen, dass wir ihren geschätzten Kollegen als Geisel genommen haben.“
 

„Verstanden.“
 


 

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„Boss“, flüsterte einer der Männer. Die Anspannung war ihm anzusehen.
 

„Und? Gehen sie auf unsere Forderungen ein?“
 

„Nun, es war nur der Anrufbeantworter dran“, murmelte er und senkte betroffen den Blick.
 

„Dann versucht es so lange, bis jemand abhebt.“
 

„Darüber haben wir auch nachgedacht, aber...“ Er wählte die Nummer erneut und schaltete den Lautsprecher ein, um so die folgenden Nachricht gut hörbar wiederzugeben.
 

Sie sind mit dem Büro der Armed Detective Agency verbunden. Sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an. Gerne sind für Sie von Montag bis Donnerstag von 9 Uhr bis 17 Uhr für Sie da. Am Freitag von 9 Uhr bis 12:30 Uhr.
 

Daraufhin eine kurze Pause. Dann hörte man die Stimme eines aufgebrachten Mannes.
 

Dazai, wenn du das bist: von mir aus kannst du bleiben, wo der Pfeffer wächst! Ich habe genug von deinen kindischen Streichen und wehe dir, du machst Ärger! Wenn du dich umbringen willst, kannst du das gerne tun, aber denk daran, deinen Organspendeausweis mitzunehmen, damit du wenigstens zu etwas taugst!
 

„Boss, ich glaube nicht, dass sie ihn zurückhaben wollen“, sagte er dann und sie sahen einander verwirrt an, dann sahen sie abwechselnd zu ihrer Geisel, die immer noch vielsagend mit den Wimpern klimperte, aber durch den Kleber nichts sagen könnte.
 


 

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Kunikida observierte den Flur, mehrmals ging er den Flur auf und ab, während Atsushi ihn hilflos zusah und sich fragte, was sein Kollege vor hatte. Er fand einfach keine Antwort. Seine Hände zitterten und waren schweißnass. Dazai ging es gut. Ganz sicher. Warum also konnte er das Gefühl der Sorge nicht einfach abschütteln? Dazai war sein Mentor und wusste genau, was zu tun war. Das war immer so gewesen. Atsushi schluckte bei dem Gedanken, denn es war nur wenige Tage her, wo er das wahre Gesicht des sonst immer lachenden und gut gelaunten Dazai Osamu gesehen hatte. Dazai ging es nicht gut. Dazai ging es nie gut. Irgendetwas lastete auf seinem Herzen und ließ seine Seele bersten. Atsushi wusste, wie es sich anfühlte, in ein tiefes Loch ohne Hoffnung zu fallen und wie grausam die eigene Stimme sein konnte.
 

Ob Dazai sich mit Absicht hatte gefangen nehmen lassen? Andererseits hatte Ranpo erwähnt, dass die Möglichkeit bestand, dass Dazai freiwillig hier war. Er warf einen missmutigen Blick auf die Stahltür. Warum dann diese Tür? Wer oder was sollte draußen gehalten werden? Kunikida schlich den Gang entlang, blieb neben ihm stehen und drückte dann sein Ohr an die Wand. Mehrmals klopfte er an dem Gemäuer, suchte nach einer Aushöhlung.
 

Es handelt sich um keine tragende Wand und es scheinen auch keine Wasser oder Stromleitungen entlang zu gehen, überlegte er und sah dann nach oben, begutachtete die Wand vor sich erneut. Das Stockwerk war noch nicht vollständig fertig und demnach müsste es möglich sein, von einer Wohnung zur nächsten zu kommen. Atsushi folgte ihm schweigend, als er in die nächste Wohnung ging, die direkt neben der verschlossenen Stahltür war. Vorsichtig klopfte er gegen die Wand. Laut genug, um einen dumpfen Widerhall vernehmen zu können, aber zu leise, um in das andere Apartment überzugehen. Er atmete tief ein, dann griff er nach seinem Notizbuch, schrieb rasch etwas nieder. Atsushi warf einen neugierigen Blick auf ihn.
 

„Doppo Poet – ND-SV006“, sagte er, riss ein Blatt seines Notizbuches heraus und plötzlich wurde das leerstehende Apartment in einem warmen, grünen Licht getaucht, während sich in Kunikidas Hand ein technisches Gerät manifestierte, von dem Atsushi glaubte, dass es sich um eine Kamera handeln musste. Mehrmals blinzelte er. Eine Wärmekamera?
 

„Ist das eine Wärmekamera?“, fragte er und sah seinen Kollegen unwissend an. Dieser schnaubte verärgert und schob seine Brille elegant mit dem Mittelfinger hoch, ehe er wortlos das Gerät anschaltete und man ein leises, gleichbleibendes Piepen vernehmen konnte.
 

„Wärmebildkameras können nicht durch Wände blicken, das ist ein breit verbreiteter Hollywood Mythos“, murmelte er und richtete das kleine Gerät nun auf die Wand. Atsushi legte den Kopf schief.
 

„Du darfst nicht alles glauben, was du im Fernsehen siehst oder in Büchern liest. Das hier ist eine ND-SV006, ein Taschenscanner für die Ortung von Personen durch Wände hindurch. Man nutzt diese Geräte häufig bei Geiselnahmen oder Verschüttungen. Zum Glück sind die Wände hier relativ dünn und noch nicht isoliert“, begann er und zeigte auf den Bildschirm der kleinen Kamera, die in Atsushis Augen nicht anders als eine herkömmliche Digitalkamera aussah.
 

„Hier“, begann Kunikida und tippte nun auf den Bildschirm, um Atsushis Aufmerksamkeit auf den richtigen Punkt zu fokussieren.
 

„Eine Gruppe Personen, zwei befinden sich in einem separaten Raum. Vier weitere direkt vor uns.“
 

Kunikida gab eine Nachricht an Ranpo durch.
 

„Hast du auch einen GSM Sender in Dazais Smartphone gespeist?“
 

Man hörte Ranpo böse auflachen. Na klar, war seine Antwort.
 

„Soll ich ihn aktivieren?“, fragte Ranpo nach. Kunikida brauchte einen Moment, um nachzudenken und einen klaren Kopf zu bekommen. Was, wenn sie sich irrten und es Dazai gut ging? Was, wenn sie sich unnötigerweise in sein Privatleben einmischten und etwas zum Vorschein brachten, was Dazai für sich behalten wollte? Bei dem Gedanken, seine Nase zu tief in die Angelegenheiten seines Partners zu stecken und dies niemals wieder gutmachen zu können, drehte sich sein Magen um. Dazai war eine Nervensäge. Ein Taugenichts. Immer, wenn er seinen Namen hörte, bekam er eigenartige Stressschmerzen in der Bauchgegend, sodass es ihm schwerfiel, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Dazai sorgte immer für Unruhe und Chaos. Aber Dazai war ein wertvolles Mitglied ihrer Detektei und somit ein Teil ihrer verschrobenen Familie, die verrückter nicht hätte sein können.
 

Aber verdammt nochmal! Wenn Dazai in Gefahr war, musste er ihm helfen! Immerhin hatte Fukuzawa diesen streunenden Vagabunden ihm aufgehalst und somit waren Dazais Fehler und Versagen auch seine Verantwortung. Es blieb ihm also nichts weiter übrig, als diesen Schritt zu gehen, wenn er sicher sein wollte, dass Dazai in Sicherheit war. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, gab er Ranpo die Erlaubnis den GSM Sender in Dazais SIM-Karte zu aktivieren, die es ihnen ermöglichte, eine Übertragung der Geräusche und Gespräche aus dem Umfeld des GSM-Senders zu ermitteln und somit unerkannt alles mithören zu können, was gesagt oder getan wurde. Der Sender aktivierte sich heimlich. Der Besitzer des Smartphones bekam nichts davon mit.
 

Kunikida lief es eiskalt den Rücken runter. Rechtlich gesehen war dies nicht erlaubt. Das Abhören und jegliche Form der Schnüffelei, sowie die Computerüberwachung, waren Maßnahmen, zu denen nur Spezialeinheiten der Regierung, die für Recht und Ordnung zuständig waren, befähigt waren. Somit war das, was sie hier gerade taten, in höchster Form illegal. Doch Fukuzawa hatte ihnen sämtliche Mittel erlaubt, also taten sie hier ihre Pflicht. Warum also fühlte er sich dermaßen schlecht dabei?
 


 

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Der Mann riss ihm den Kleber vom Mund und warf seiner Geisel einen mörderischen Blick zu.
 

„Weder deine Kollegen von der Armed Detective Agency wollen dich wieder haben, noch interessiert es den Boss der Port Mafia, dass du in Gefahr schwebst“, begann er, wurde aber jäh von Dazai unterbrochen.
 

„Ich schwebe in Gefahr?! Seit wann?“, fragte er nach und erntete für diese Aussage eine Kopfnuss, die er mit einem weiteren unverschämten Kommentar quittiere: „Du bist fast genauso schlimm wie Kunikida-kun! Der schlägt mich auch immer!“
 

„Bist du etwa ein Spion einer dritten Macht? Eventuell jemand aus der Regierung? Vielleicht verrätst du mir ja mehr über dich, wenn ich dich ein bisschen kitzele“, sagte er und packte Dazai grob am Hals, drückte fest zu, schnitt ihm die Luft ab. Doch Dazai zeigte keinerlei Reaktion. Weder rang er panisch nach Luft, sonst ließ er sich auch nur den leisesten Hauch von Angst ansehen. Stattdessen lächelte er nur provokant und schloss dann die Augen. Da Dazai nicht die erwünschte Reaktion zeigte, ließ der Boss ihn wieder los.
 

„Ich kenne deinen Namen ja immer noch nicht“, keuchte Dazai und sah zu dem Mann hoch.
 

„Galos–“ Wieder wurde er unterbrochen.
 

„Also doch aus den Philippinen!“
 

Ein fester Tritt in seine Magengegend. Dazai flog mitsamt des Stuhls einige Meter nach hinten. Er grinste nur amüsiert. Galos. Narbe. Was für ein einfallsloser Name! Ausländer, die nach Japan kamen und die Macht der Port Mafia infrage stellten? Dachten sie wirklich, dass sie mit einer Geiselnahme genug Geld zusammen kriegen würden, um Waffen und Ausrüstung zu kaufen? Dazai überlegte. Wäre er immer noch ein Teil der Port Mafia, wäre dies viel einfacher. Es kostete ihn weitaus mehr Überwindung, seine Gedanken zu sortieren. Jede Idee, jeder Plan, der ihm in den Sinn kam, führte in die Finsternis. Das waren nicht die Mittel der Detektei.Zu seiner Zeit wäre eine solche Gruppierung wie Henkō schon längst Geschichte gewesen. Gnadenlos hätte er sie ausgemerzt und alles an Informationen aus ihnen gequetscht, bevor sie überhaupt zu einem Widersacher werden konnte.
 

„Ah, du musst schon fester zuschlagen, wenn ich etwas merken soll~“, scherzte Dazai und zwinkerte.
 

Galos richtete ihn wieder auf und legte seine Hand unter sein Kinn, um somit Dazai in die Augen sehen zu können.
 

„Sag mir, zu wem du gehörst. Wer schickt dich? Wenn du nicht zur Port Mafia gehörst – was erhoffst du dir von einer Zusammenarbeit mit diesen Bastarden?“
 

„Ich dachte, du wolltest die Informationen aus mir heraus kitzeln? Ich merke noch gar nichts.“
 

Galos zückte ein Taschenmesser hervor und setzte es an Dazais Adamsapfel an, doch auch dies brachte seine Geisel nicht ins Schwitzen.
 

„Galos, du bist echt ein Anfänger. Du bist viel zu nachsichtig!“
 

„Ach, was sollte ich deiner Meinung nach tun?“
 

„Zunächst einmal könntest du damit anfangen, mir meine Fingernägel zu ziehen. Und dann brichst du mir einen Finger nach dem anderen“, ratterte Dazai hellauf begeister herunter. Galos sah ihn erstaunt an. Eine Mischung aus Ekel und Abscheu lag in seinem Blick. So und nicht anders sollte man mich sehen, ermahnte die niederträchtige Stimme in seinem Kopf ihn und plötzlich fiel es ihm so einfach.
 

„Aber du könntest mich auch gefügig machen“, kicherte er dann und warf Galos einen verführerischen Blick zu, leckte sich lasziv über die Lippen.
 

„Mich unter Drogen setzen, mich vergewaltigen und dann meine Genitalien verstümmeln“, flüsterte er ihm entgegen, sein Blick fixierte das Messer in Galos Händen, dann sprach er weiter, „Schau, das Messer hast du doch schon in der Hand, also warum Zurückhaltung zeigen? Mich würde niemand vermissen, also ramme mir das Messer in den Bauch und lass mich ausbluten, wie ein Schwein, das auf den Tod wartet~“
 

„Du bist krank. Was stimmt nur nicht mit dir?“, fragte Galos erschrocken und verstaute nun das Messer zurück in seiner Hosentasche.
 

„Das sollte ich dich und deine kleine Bande fragen... wenn ihr etwas verändern wollt, dann sicher nicht indem ihr euch Hals über Kopf mit der Port Mafia anlegt. Ihr seid absolut naiv, wenn ihr glaubt, dass ihr einen Hauch einer Chance gegen sie habt.“
 

„Dann sag mir, was ich tun soll, du Wahnsinniger.“
 

„Sucht euch treue Verbündete im Untergrund. Es gibt einige Verbrechersyndikate, die die Port Mafia herausfordern wollen, sammelt Informationen und infiltriert eure Feinde, zerstört sie langsam aber sicher von innen heraus, streut Misstrauen in die oberen Reihen und blockiert ihre Handelswege“, erklärte Dazai ruhig, während sein Blick eiskalt war und keinerlei Gefühlsregung wahrzunehmen war.
 


 

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„Gut, ich habe die Frequenz eingeschaltet! Ihr solltet jetzt mithören können“, meinte Ranpo und im nächsten Moment konnte Kunikida die Stimme eines Fremden hören. War Dazai bei diesem Mann? Wieso fühlte er sich bei diesem Gedanken so schrecklich unwohl?
 


 

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„Du bist wahnsinnig... intelligent, Dazai Osamu. Du solltest bei mir einsteigen“, erklärte Galos und zog erneut das Messer hervor, löste dieses Mal die Seile, die Dazai an den Stuhl fesselten, griff dann nach Dazais Händen und zog ihn vorsichtig auf die Beine.
 

„Ich bin zwar wütend, dass du meinen Informanten getötet hast, aber durch sein Opfer ist mir ein wahrer Diamant in die Arme gelaufen“, sagte er mit einem breiten, begeisterten Grinsen und ergriff Dazais Hände, streichelte seine Handrücken und kam ihm näher. „Und hübsch bist du auch“, hauchte er und drückte Dazai gegen die Wand, presste seinen Unterkörper gegen Dazais Unterleib, sodass dieser die Luft scharf einsog. Diese Nähe machte ihn krank. Vorsichtig legte er seine Arme um Galos, ließ zu, dass dieser ihn einen gierigen Kuss aufdrückte und über seine Lippen leckte, während er grob über seine Seiten streichelte. Er schmeckte eine Mischung aus Blut, Speichel und Zigaretten – es kostete ihn alles an Überwindung, sich nicht auf der Stelle zu übergeben.
 

Doch er spielte mit und schaffte es, dass eine Hand unbemerkt in Galos Tasche wanderte...
 

„Oh, ich habe weitaus mehr zu bieten, als ein hübsches Gesicht“, flüsterte Dazai, kam Galos Ohr näher und hauchte ihm drei Worte ins Ohr: „Unterschätze mich nicht.“
 

Plötzlich hatte Dazai Galos Messer in der Hand, drückte den großen Philippiner von sich und holte zum Schlag aus, trat ihm mit voller Wucht in den Bauch. Auge für Auge. Zahn für Zahn. Oder in diesem Fall, ein Kick für einen Kick. Dazais Augen waren wir tot, absolut leblos. Galos klagte und richtete sich auf. Die Stimme in seinem Kopf sprach lauter. Töte ihn. Lass ihn nicht gehen. Nicht nur, dass dieser Kerl dumm genug war, sich mit der Port Mafia anzulegen, so hatte er seine Geisel losgelöst und sich von süßen Worten bezaubern lassen.

Kapitel 10

Tu es. Nur eine schnelle Bewegung. Ein gezielter Schnitt. Menschen starben so schnell. Das Leben als solches war so zerbrechlich, nur ein falscher Schritt und man stand dem Ende gegenüber. Jedes Leben endete irgendwann. Der eine starb früher, der andere später. Nur eines war gewiss: ein jeder würde den Preis zahlen. Dazai kämpfte mit dem Verlangen, diese kindische Scharade endlich zu beenden und sicher zu gehen, dass dieses kleine Verbrechersyndikat, das glaubte ausgerechnet in Yokohama auf fruchtbaren Boden zu stoßen, niemals wachsen konnte. Wenn ich ihren Boss jetzt erledige, werden sie niemals wieder Ärger machen. Auch Mori-san würde das sicher gutheißen, schoss es ihm durch den Kopf. Er riss schockiert die Augen auf, stolperte einige Schritte nach hinten und starrte ungläubig auf das Messer in seiner Hand.
 

Nein, das bin ich nicht! Ich bin das nicht! Er umklammerte den Griff des Messers noch fester, während sein Blick auf Galos gerichtet war, der sich nun langsam aufrichtete. Er hatte seine Sonnenbrille verloren. Durch den Aufprall war das Glas gesprungen. Dazai analysierte seine Umgebung. Im Angesicht der Tatsache, dass er von hier aus die Skyline der Stadt sehen konnte, war das Fenster nicht der optimale Fluchtweg. Durch die Vordertür? Hah. Nicht nur, dass Galos’ Untergebene im anderen Raum auf ihn warteten, sondern auch die Tatsache, dass er den Gebäudeaufbau nicht kannte, brachte deutliche Nachteile mit sich.
 

Galos stand ihm gegenüber, holte zum Schlag aus. Keine Zeit zum nachdenken. Handeln. Nicht trödeln. Wer in so einer lebensbedrohlichen Situation auch nur eine Sekunde zum Planen verschwendete, schaufelte sich sein eigenes Grab. Kampf oder Flucht. Jetzt zählte jeder Moment und ohne dass Dazai einen weiteren Gedanken verschwendete, wich er dem Angriff aus und rammte seinem Feind die Klinge in den Bauch. Schreiend fiel dieser auf die Knie, hielt sich seinen durchbohrten Unterleib, während er nach Luft rang. Die Tür wurde aufgerissen, im Raum standen nur sämtliche Mitglieder dieser kleinen Möchtegerngang. Dazai zog das Messer eilig aus dem Körper seines Gegners und hielt es diesem nun an die Halsschlagader. Die Männer richteten ihre Schusswaffen auf ihn.
 

„Keiner rührt sich oder euer Boss ist Gulasch!“, drohte er. Unsicher sahen sie ihn an.
 

Galos keuchte. Sie waren in einer zu schlechten Situation um zu verhandeln und Dazai wusste genau, dass diese Männer ohne ihren Boss komplett aufgeschmissen waren. Ihm jetzt die Halsschlagader zu durchtrennen und auf den Boden fallen zu lassen, wäre ein Akt der Gnade, denn wenn die Mitglieder von Henkō von der Port Mafia geschnappt werden würden, würden sie alle um ihren Tod winseln. Dazai wusste das so genau, da er das Flehen seiner Gefangenen oft genug nicht erhört hatte und auch dann weitermachte, wenn seine Opfer keine Reaktion mehr zeigten. Galos zu töten, würde aber auch bedeuten, dass er mit allen Kugeln durchbohrt werden würde, die diese Pistolen geladen hatten. War es das wert? Mit seinem Tod würde er Mori einen Gefallen tun. Denn dann würde er die Konkurrenz zerschlagen. Die Vernichtung von Henkō würde als Warnung im Untergrund zu verstehen sein. Niemand legte sich mit der Port Mafia an und kam ungeschoren davon.
 

Wenn ich hier und jetzt sterbe, kann ich mit Mori-san nicht mehr verhandeln... unsere Abmachung wäre nichtig und er würde sicher wieder die Detektei angreifen. Doch Atsushi-kun ist noch nicht bereit, er ist noch nicht stark genug, um sich selbst und andere zu verteidigen. Wenn ich jetzt sterbe... wer beschützt dann die anderen?
 

Und warum kam ihm dieser Gedanke erst jetzt? Wieso war es ihm vor einigen Tagen so egal gewesen, was geschehen würde? Woher kam sein Sinneswandel? Lag es daran, dass Kunikida ihn darum gebeten hatte, zu leben? Kunikida hatte zum ersten Mal in all der Zeit, in der sie zusammenarbeiteten, Sorge gezeigt. Als Kunikida ihn mit diesen Augen ansah, so voller Angst und Unsicherheit, da hatte sich sein Magen umgedreht. Zunächst war er wütend gewesen. Hatte seinen Zorn an seinem Kollegen ausgelassen und ihn beschuldigt, dass es ihm in Wirklichkeit nicht interessieren würde, doch in Wahrheit war es so, dass es ihn aus der Bahn geworfen hatte. Kunikida wollte, dass Dazai lebte. Nicht seine Fähigkeit machte ihn besonders, sondern seine durchgeknallte Art.
 

Ich bin nicht mehr in der Port Mafia. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen. Nicht mehr zu ihm. Ich darf nicht mehr dieselben Fehler machen! Wann nur lerne ich endlich, dass Gewalt nicht die einzige Lösung ist? Verdammt!
 

„Das ist eine ganz schön blöde Situation“, kicherte Dazai amüsiert. Seine Augen funkelten leicht rötlich im Licht.
 

„Also, wenn ihr schießt, trefft ihr vielleicht sogar euren heiß verehrten Boss. Wenn ich ihn jetzt kalt mache, schießt ihr auf mich, also meine Herren~“, säuselte er dann und grinste provokant.
 

„Was machen wir jetzt?“
 

Galos gurgelte und spukte Blut.
 

„Euer Boss braucht dringend einen Arzt, ansonsten verblutet er noch, aber er ist auch zugleich meine Geisel und mein Ticket zur Freiheit“, seufzte er dann theatralisch.
 

Plötzlich eine Erschütterung. Die Wand im anderen Raum wurde eingerissen, Teile des Gemäuers flogen durch die Wohnung und eine riesige Staubwolke vernebelte ihnen die Sicht. Dazai hustete und versuchte sich wieder zu orientieren. Dann ein Schuss. Er krümmte sich vor Schmerz. Einer der Männer hatte abgedrückt – vermutlich aus Panik, weil er nicht wusste, was los war. Dazai röchelte. Er schmeckte Blut. Dann weitere Schüsse. Ein Schlagabtausch. Man hörte wie Waffen gegeneinander klirrten und das Brüllen eines Tigers. Dazai ließ das Messer fallen und ging zu Boden, rang nach Atem, während der Boden unter ihm immer wärmer wurde. Sein eigenes Blut war warm und erinnerte ihn schamlos daran, dass er immer noch am Leben war. Langsam legte sich der Staub.
 

Er sah wie Kunikida auf ihn zugelaufen kam, dann verschwamm alles und eine wohltuende Finsternis hüllte ihn ein.
 


 

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„Er hatte großes Glück“, erklärte der Arzt und schenkte Fukuzawa ein zaghaftes Lächeln.
 

„Ich danke Ihnen, wenn Sie nicht gewesen wären, wäre Dazai nun tot“, hauchte Fukuzawa und verbeugte sich leicht.
 

„Glücklicherweise hat Kunikida-san alles richtig gemacht. Nur durch seine Erste Hilfe konnte Dazai überleben. Viele Menschen ziehen eine steckende Kugel ohne nachzudenken heraus und beschädigen dabei Blutgefäße.“
 

Fukuzawa nickte leicht und warf dem Arzt noch einen wehmütigen Blick hinterher, als er die Intensivstation verließ. Dazai wurde direkt zwischen Brustbein und Schlüsselbein getroffen. Die Knochen hatten verhindert, dass die Kugel weiter eindringen konnte, hatte jedoch eine Arterie verletzt, wodurch Dazai stark geblutet hatte. Ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf, der den Schädelknochen durchbrochen hatte. Man hatte ihn gewarnt, dass Dazai nach dem Aufwachen Zeichen der Desorientierung und Verwirrung aufweisen würde. Eine so schwere Kopfverletzung durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Durchaus möglich, dass er einen Gedächtnisverlust erlitten hatte. Noch konnte man nichts sagen. Fukuzawa stieß seinen Atem laut hörbar aus. Sein Blick lag immer noch auf dem Brünetten.
 

Der Grauhaarige strich seinem Angestellten sanft den Pony aus dem Gesicht. Es war nun das zweite Mal in einer Woche, dass er Dazai im Krankenhaus besuchte und um sein Leben bangte. In der Intensivstation war viel los. Von allen Seiten hörte man, wie Pfleger und Pflegerinnen durch die Gänge eilten und das stetige Piepen von Überwachungsgeräten war zu jederzeit wahrzunehmen. Der sterile Geruch von Desinfektionsmitteln in der Luft.
 

Du dummes Kind..., überlegte Fukuzawa und zog einen Stuhl näher an das Bett, warf einen nachdenklichen Blick auf den Brünetten, der durch Narkose immer noch schlief und wie tot auf dem Bett lag. Ein Blick auf das EKG verriet jedoch, dass er noch am Leben war. Vorsichtig umfasste Fukuzawa Dazais Hand und umschloss sie in seiner eigenen. Warum nur musst du dich ständig in Gefahr bringen? Du bist nicht mehr in der Mafia, du gehörst jetzt zu uns und es gibt keinen Grund für dich, alles allein schaffen zu müssen. Was hat man dir nur angetan, dass du immer glaubst, alles allein bewältigen zu müssen? Ich wünschte, du würdest uns endlich vertrauen. Mir vertrauen. Ranpo hat auch lange gebraucht, um aus sich heraus zu kommen, aber er war damals deutlich jünger als Dazai.
 

Fukuzawa konnte nicht anders, als gewisse Parallelen zwischen den beiden Genies zu ziehen. Ranpo hatte geglaubt, dass die Welt ihn hasste, weil er die Blicke und Gedanken der anderen Menschen in eine falsche Richtung interpretierte. Er wollte sich selbst als Außenseiter sehen, damit sein Leben erträglicher wurde. Dazai tickte in dieser Hinsicht genauso. Ranpo dazu zu bringen, sich zu öffnen, war ein hartes Stück Arbeit und hatte ihm sehr viel Geduld gekostet, doch er hatte es geschafft, dass Ranpo ihm vertraute. Ranpo war wie sein eigenes Kind für ihn und er hatte geschworen, diesen Jungen zu beschützen. Jedes Mitglied der Detektei brauchte seinen Schutz und hatte eine schwere Last zu tragen und Fukuzawa hatte geschworen, ihnen einen Teil dieser Last abzunehmen, damit sie mit erhobenem Haupt durchs Leben gehen konnten. Dazai jedoch bürdete sich immer mehr auf und mit jeder verstreichenden Sekunde erdrückte ihn das Gewicht, zog ihn in ein tiefes Loch.
 

Dazai ging nie auf seine Kollegen ein, erzählte nie von sich. Und dann noch diese Narben. Seine Vergangenheit mit Mori. Fukuzawa wusste, dass Mori ein kranker Psychopath war, der gerne Menschen an ihre Grenzen brachte und sie so lange für seine Zwecke missbrauchte, bis sie wie ein perfekter Roboter jeden Befehl befolgten oder an ihren seelischen Verletzungen zerbrachen. Yosano war nur eines der vielen Opfer, die er in seiner Detektei aufgenommen hatte. Sie war apathisch, misstrauisch und nur Ranpo hatte es geschafft, bei ihr durchzudringen. Dazai und Yosano mussten ähnliches erlebt haben. Zumindest hatte Fukuzawa eine ungefähre Vorstellung dessen, was Mori Dazai angetan haben musste.
 

Was nur hat dieses barbarische Schwein dir angetan? Der Arzt meinte, dass Dazai in seiner Kind und Jugendzeit Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sein musste, aber ich brauche Namen und Daten... ich brauche Hinweise. Ich schwöre, wenn Mori-sensei damit etwas zu tun hat, dann...!
 

Er warf einen prüfenden Blick auf Dazais Verband. Die Kugel aus seiner Brust war entfernt worden, doch man hatte die Einschusswunde erweitert, um das Projektil, das im Gewebe steckte, zu entfernen. Einige Rippen waren bei dem Aufprall gebrochen worden und sicher würde Dazai einige Wochen ausfallen. Es war natürlich nicht so, dass Dazai unbedingt gebraucht wurde. Die Detektei hatte auch lange vor Dazais Eintritt gut funktioniert, doch Fukuzawa war es lieber, wenn der Brünette in der Nähe blieb, wo er ein wachendes Auge auf ihn werfen konnte. Seine selbstzerstörerischen Tendenzen und suizidalen Neigungen waren zu akut, um ihn allein zu lassen.
 

Es war bereits einiges an Zeit vergangen. Fukuzawa hing seinen Gedanken nach und überlegte fieberhaft, was er tun musste, um sicher zu gehen, dass Dazai sich nicht erneut in Gefahr brachte.
 

Dann murmelte Dazai etwas im Schlaf. Unruhig drehte er seinen Kopf hin und her. Fukuzawa drückte Dazais Hand fester, als wollte er ihm schützend zur Seite stehen. Urplötzlich riss Dazai die Augen auf, saß kerzengerade im Bett und zog verängstigt seine Hand weg. In diesem Moment erkannte er seinen Arbeitgeber nicht, sah ihn an, als wäre dieser ein Jäger und er seine Beute. Pure Todesangst war in Dazais Augen zu erkennen, seine ganze Körperhaltung verriet, dass er flüchten wollte, doch aufgrund der Kabel und seiner Verletzungen nicht in der Lage war, aufzustehen und wegzulaufen. Das EKG schlug laut aus und im nächsten Moment standen mehrere Pfleger im Raum, die um Dazais Bett herumliefen und sofort die Dosis des Beruhigungsmittels erhöhten, sodass dieser kraftlos zurück in die Kissen fiel. Man schnallte ihn fest, ohne ein Wort der Erklärung. Benebelt lag er im Bett und sah Fukuzawa an.
 

„Er ist sicherlich verwirrt, großer Blutverlust kann zu Halluzinationen führen“, meinte einer der Pfleger und sah Dazai ins Gesicht und sprach ihm gut zu, während er die Schnallen an seinen Händen noch fester machte, um ihn an der Flucht zu hindern.
 

„Ist das wirklich nötig?“, wollte Fukuzawa wissen.
 

„Er ist bereits einmal geflohen. Hören Sie, Dazai-san hat in den letzten Tagen viel zu viel Blut verloren, das kann zur Atemnot führen oder sogar zu einem Herzstillstand. Außerdem müssen wir sicher gehen, dass er ausreichend Flüssigkeit zu sich nimmt. Blutverlust führt immer zu Dehydration und das wiederum greift das Gehirn an, wodurch Patienten Wahnvorstellungen erleiden. Und das könnte nach einer so schweren Kopfverletzung zu Langzeitschäden führen.“
 

Fukuzawa bedankte sich und schenkte Dazai ein Lächeln. Dieser sah ihn an, sah genau in seine Richtung, schien ihn aber nicht wahrzunehmen. Er sah irgendetwas anderes.
 

„Weißt du, wo du bist?“, fragte Fukuzawa. Dazai nickte.
 

„In deinem Labor“, hauchte er und versuchte sich von den Fesseln zu lösen.
 

Verwirrt sah Fukuzawa ihn an. Labor?!, wiederholte er nachdenklich, sah vor seinem geistigen Auge jedoch nur die Untergrundklinik von Mori, in der ihn zum ersten Mal getroffen hatte.
 

„Es tut mir leid, Mori-san, ich konnte den Auftrag nicht erfüllen“, flüsterte Dazai und senkte den Blick.
 

Dazai war leichenblass und seine Lippen und Fingerspitzen blau. Großer Blutverlust führte zu Halluzinationen, Wahnvorstellungen. Fukuzawa schluckte. Dazai sah nicht ihn. Er sah seinen alten Boss vor sich sitzen und glaubte, dass dieser irgendetwas mit ihm vor hatte. Hatte Mori etwa Dazai als lebendes Forschungsobjekt benutzt? Ihn an ein Bett gefesselt, um illegale Substanzen an ihm zu testen? Ihn auf abartige Weise gefoltert, um ihn für das Versagen bei Missionen zu bestrafen? Fukuzawa wurde schlecht. Allein die Vorstellung, dass Dazai ihn nun mit Mori verwechselte, setzte seinem Selbstwert enorm zu. Auch ich habe einmal gemordet und mich darüber gefreut, meine Fertigkeiten zu testen. Ich kann es nicht einmal bestreiten... früher waren Mori-sensei und ich uns ähnlich und dieses Wissen macht mich krank. Ich muss alles tun, was in meiner Macht steht, um Buße zu tun.
 

„Bitte mach mich wieder los“, stammelte Dazai und versuchte sich zu befreien, wodurch sich die Lederschnallen in seine Handgelenke schnitten. Eilig ergriff Fukuzawa Dazais Unterarme und drückte ihn vorsichtig runter, damit er aufhörte, sich zu bewegen, doch diese plötzliche Bewegung und Nähe führte dazu, dass Dazai zusammenfuhr, die Augen zusammenkniff und vor Angst zitterte. Erwartet er Schläge?
 

„Es tut mir leid“, flüsterte Dazai mehrere Male. Panisch. Ängstlich.
 

„Dazai, es ist alles in Ordnung. Ich werde dir nicht wehtun“, meinte Fukuzawa mit fester Stimme.
 

„Das sagst du jedes Mal und dann tust du mir doch wieder weh!“, schimpfte Dazai und vermied es seinen Gegenüber anzusehen, biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, noch lauter zu werden und den Zorn seines Bosses auf sich zu ziehen.
 

„Und was glaubst du, werde ich dir antun?“ Fukuzawa musste es wissen. Vielleicht kann ich ihn so dazu bringen, etwas zu sagen... damit ich ihn endlich besser verstehe und herausfinden kann, wie ich ihm helfen kann.
 

„Das weißt du doch am besten“, nörgelte Dazai. Fukuzawa haderte damit, diese Frage erneut zu stellen. Sein ganzes Wesen sträubte sich dagegen. Jede einzelne Zelle in seinem Körper schien zu brennen. Dazai so zu sehen schmerzte ihn. Den sonst immer gut gelaunten, zu Scherzen aufgelegten Exzentriker, der nichts und niemanden ernst nahm und am liebsten auf der Besuchercoach im Eingangsfoyer schlief, während seine Kollegen ihre Arbeiten erledigten, so zu sehen, ließ ihn an sich selbst zweifeln. Verängstigt. Misstrauisch. Voller Furcht vor der Welt und ihm. Der Brünette senkte erneut den Blick.
 

„Bitte, ich tue alles, was du willst“, flüsterte er wie ein gebrochener Mann.
 

„Du musst mich auch nicht unter Drogen setzen, damit ich mit dir schlafe“, fügte er dann hinzu. Dazai zitterte am ganzen Körper.
 

Fukuzawa löste die Schnallen an seinen Gelenken und zog den Brünetten in seine Arme, hielt ihn einfach fest. Dazai zeigte keine Reaktion. Minutenlang hielt er ihn fest. Fukuzawa wusste nicht, was ihn am meisten verärgerte. Die Tatsache, dass Dazai zu geistesabwesend war, um ihn wieder zu erkennen und ihn fälschlicherweise für den perversen Doktor Mori hielt oder aber, dass Dazai so offensichtlich seine Ängste vor seinen Kollegen verheimlichte und er dies nie hinterfragt hatte. Beruhigend streichelte er ihm über den Rücken. Dazai drückte sein Gesicht in seine Halsbeuge, sagte nichts, suchte jedoch instinktiv nach Trost und Zuneigung.
 

„Es tut mir schrecklich leid, Dazai. Ich lasse nicht zu, dass Mori-sensei dir noch mal wehtut. Du gehörst zu meiner Familie und wenn nötig werde ich die gesamte Port Mafia in den Boden stampfen, um meine Familie, meine Kinder, zu schützen“, erklärte er. Dazai zuckte zusammen. Er war verwirrt. Realisierte er langsam, dass nicht Mori sondern Fukuzawa sich in diesem Raum befand? Zögerlich presste sich Dazai nun an ihn, erwiderte seine Umarmung. Sein Körper bebte.
 

Dazai... weint?
 

„Du klingst genauso wie Odasaku“, hauchte er, drückte sich dann von Fukuzawa weg. Er weinte nicht. Ein breites Lächeln zierte sein Gesicht. So falsch, dass dem Silberhaarigen schlecht wurde.
 

„Am Ende sterben sie alle, weil sie mir helfen wollen. Man kann mir nicht helfen. Niemand kann das“, erklärte er und zwang sich weiterhin zu seinem Lächeln.
 

Fukuzawa legte seine Hand auf Dazais Wange, dieser zuckte sofort zusammen.
 

„Unterschätze mich nicht, Dazai. Unterschätze nicht den Mut deiner Kollegen. Vertraue deiner Familie.“
 

Dazai wollte etwas erwidern, hinderte sich jedoch selbst daran, in dem er sich auf seine Unterlippe biss.
 

„Du bist ein wichtiger Teil meiner Detektei und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich zu schützen, doch das kann ich nur, wenn du mir verrätst, was geschehen ist. Wieso haben diese Kerle dich entführt?“
 

Dazai sagte nichts, wandte stattdessen den Blick ab.
 

„Du hattest Informationen, die nicht nach draußen dringen durften, nicht wahr?“
 

Keine Antwort.
 

„Die Polizei hat herausgefunden, dass diese Männer aus der neuen Untergrundorganisation Henkō sind. Sie haben wochenlang versucht, sie aufzuspüren, hatten jedoch keine Hinweise auf ihren Verbleib. Sie haben nicht nur Waffen illegal ins Land geschmuggelt, sondern auch Drogen, haben mehrere Lagerhäuser anderer Verbrechersyndikate ausgeraubt und das Klima aufgeheizt“, meinte Fukuzawa. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Seine Stimme fest.
 

Dazai nickte und öffnete dann seine Lippen einen Spalt breit.
 

„Ich weiß“, war alles, was er über die Lippen brachte.
 

„Du hast einen Bandenkrieg verhindert, der viele Zivilisten hineingezogen hätte und dank dir haben wir eine Schmugglerbande geschnappt, die Kinder und Jugendliche als Ziel ausgesucht hatten. Bist du dir im Klaren, was das bedeutet?“
 

Dazai nickte.
 

Dass ich Mori-san in die Hände gespielt habe und ihm geholfen habe, noch mehr an Macht und Territorium zu gewinnen.
 

„Richtig, du hast Menschen gerettet, die hätten sterben können. Ich bin nicht einverstanden damit, dass du dein eigenes Leben in Gefahr bringst und ich möchte, dass du zukünftig solche Aktionen mit mir und deinen Kollegen absprichst, aber ich bin stolz auf dich. Du hast das richtige getan“, meinte er. Dazai blinzelte verwirrt.
 

„Aber... ich habe indirekt Mori-san und der Port Mafia geholfen. Du solltest wütend sein und mich feuern“, erklärte er. Fukuzawa nahm Dazais Hand in seine, drückte sie sanft.
 

„Eine Familie hält zusammen. Niemals würde ich dich bestrafen. Du hast in deinem Leben bisher nur Hass und Angst erlebt, aber ich bin anders als Mori-sensei. Anders als all jene, die dir das angetan haben... Auch wenn du einen dummen Fehler machst – ganz egal, ob du mal wieder deine Rechnung nicht zahlen konntest oder einen Sachschaden verursacht hast – kannst du immer zu uns zurückkommen. Du bist jederzeit willkommen.“
 

Dazais Gesicht spiegelte Misstrauen wider. Dann senkte er den Blick. Fukuzawa glaubte ein rötliches Funkeln in seinen Augen erkennen zu können. Dieselbe Aura ging von ihm aus, wie von seinem verhassten Rivalen Mori. Doch Dazai war anders.
 

„Ich bin ein Mörder. Was wenn ich jemanden töte? Wirst du mich auch dann noch mit offenen Armen empfangen?“
 

„Dazai.“ Fukuzawas Stimme war mahnend. Er wollte nicht, dass Dazai weitersprach, doch dieser ignorierte seine Drohung.
 

„Du weißt, dass ich ein kaltblütiger Mörder bin. Ranpo-san hat dir sicher schon gesagt, dass ich diesen Mann ermordet habe. Ja. Ich war es. Ich habe ihn getötet. Diesen gar schäbigen Kerl! Und ich würde es wieder tun.“
 

„Es war Notwehr.“
 

„Spielt das eine Rolle? Ich bin ein Mörder! Ein Monster!“
 

Dazai war aufgebracht.
 

„Hättest du dich nicht gewehrt, hätte er dich getötet. Auch wenn du es dir einredest, du bist kein Monster. Du bist ein Mensch. Eine Person, die Hilfe braucht. Dazai. Ich werde dir nun etwas erzählen, was ich bisher keinem anderen erzählt habe. Vertraust du mir?“
 

Dazai wusste nicht, worauf Fukuzawa hinauswollte.
 

„Bevor ich die Detektei gegründet habe, war ich ein Assassine. Ich habe Menschen ermordet. Ich habe es geradezu genossen, meine Stärke unter Beweis zu stellen und ehe ich mich versah, haftete der Gestank von Tod und Verderben an mir. Eines Tages musste ich mich der Realität stellen. Weshalb arbeitete ich als Assassine? Um meine Fertigkeiten für das Gute einzusetzen oder... weil ich Freude am Töten hatte? Als mir dieser Gedanke kam, wusste ich, dass ich nicht anders war als Mori-sensei, den ich so sehr für seine abartigen Handlungen hasste. Ich habe nicht getötet, weil ich es musste, sondern weil ich tief in mir drinnen Spaß daran hatte.“
 

„Unmöglich“, wisperte Dazai und sah Fukuzawa schockiert an. Das war eine Lüge.
 

„Diese Erkenntnis machte mir Angst und ich befürchtete, dass ich meine Menschlichkeit verlöre, würde ich noch länger in diesem Job verweilen. Als ich Ranpo kennenlernte, war er gerade mal 16 Jahre alt. Ein dummes, aufmüpfiges Kind mit einer großen Klappe und gesegnet mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz. Als ich dieses verlorene Kind sah, da stellte ich mir tief in mir drinnen eine Frage: habe ich diesem Kind seine Zukunft geraubt, in dem ich achtlos seine Eltern tötete?“
 

Dazai wusste nicht so recht, worauf Fukuzawa hinaus wollte. Zumindest redete er sich das ein. Mit jedem Wort, das Fukuzawa aussprach, verstand er immer mehr. Er wollte es nicht verstehen. Vor langer Zeit meinte Mori zu ihm, dass er ihn an jemanden erinnerte. Endlich konnte er die Verknüpfung aufbauen, sah die Zusammenhänge, die ihm all die Zeit verborgen blieben. Mori wollte damals sagen, dass Dazai Fukuzawa ähnlich war. Denn sie beide sahen einen Wert im Leben. Fukuzawa hatte seinen Dienst als Assassine gekündigt und stattdessen eine andere Richtung eingeschlagen, hatte Reue gezeigt und geschworen, seine Verbrechen wiedergutzumachen. Er kümmerte sich um die Befähigten dieser Stadt, gab Waisenkindern ein Zuhause und brachte ihnen bei, für sich selbst einzustehen und zu kämpfen.
 

Auch Dazai konnte nicht anders, als seine Taten zu hinterfragen. Obwohl er und Mori sich so ähnlich waren und sich durchschauten und in Wort und Tat sich gegenseitig zu manipulieren versuchten, so gab es immer etwas, das sie unterschied: Dazais Vermögen andere Menschen in sein Herz zu lassen und sein logisches Denken beeinflussen zu lassen. Oda hatte Dazais geschundenes Herz bewegt und ihm Licht in der Finsternis geschenkt. Dass Oda sterben musste, hatte Dazai aus der Bahn geworfen. Das Schlimmste war, dass er Moris Beweggründe verstand und er wusste, dass er, aus der Sicht eines Anführers einer solch großen und mächtigen Organisation, das richtige getan hatte. Doch sein Herz blutete. Sein Verstand sagte ihm, dass Odas Tod im Sinne der Organisation gerechtfertigt war. Sein Herz sagte ihm, dass es falsch war, dass er auf keinen Fall an Moris Seite verweilen durfte. Vor allem wenn er nicht noch mehr Menschen verlieren wollte. Er wollte diese Gefühl der Reue und der tiefen Trauer niemals wieder erleben müssen.
 

„Durch den Krieg haben wir alle viel verloren. Nicht nur Yokohama ist voll von Waisen, auch heute noch ist der Wiederaufbau an vielen Ecken noch nicht abgeschlossen. Doch die Vergangenheit darf unsere Entscheidungen der Zukunft nicht beeinflussen. Ich war auch ein Mörder. Ich kann das nicht ungeschehen machen, kann niemanden zurückbringen, aber ich kann aus meinen Fehlern lernen und einen anderen Weg einschlagen. Wir alle haben die Freiheit uns zu entscheiden, was wir zukünftig machen wollen.“
 

„Ich hätte Galos beinahe umgebracht, weil ich mich nicht unter Kontrolle hatte. Was ist, wenn das wieder passiert?“, murmelte Dazai, wagte es nicht mehr, Fukuzawa ins Gesicht zu sehen.
 

„Dazai.“
 

„Ich habe keine Kontrolle über mich selbst! Ich bringe nicht nur mich, sondern auch euch in Gefahr. Ich bin nicht so wie du, Fukuzawa-san. Ich bin ein gesuchter Mann im Untergrund und solange ich lebe, wird meine Vergangenheit mich immer und immer wieder einholen! Ich kann nicht davonlaufen und einfach einen Schlussstrich ziehen.“
 

Dazai“, wiederholte Fukuzawa lauter.
 

„Ich hasse es“, hauchte er, verzog dann wütend das Gesicht, ballte seine Hände zu Fäuste.
 

„Ich verdiene all das Gute nicht. Ich hasse mich dafür, wie einfach es mir fällt, das Leben anderer auszulöschen. In der Hinsicht bin ich genauso wie Mori-san! Ich verdiene es nicht, dass irgendjemand sich um mich sorgt, mir helfen will oder gar für mich da ist. Es ist nicht nur meine Vergangenheit, die mich verfolgt, sondern auch mein eigener Schatten.“
 

„Dazai Osamu!“, kam es nun noch lauter von Fukuzawa. Sein Gesichtsausdruck war todernst.
 

„Du wirst mir nun aufmerksam zuhören. Du hast viele schreckliche Dinge in deinem Leben getan. Du hast Menschen verletzt, getötet und gequält. Das macht dich zu einem schlechten Menschen!“
 

Dazai sah ihn an, stimmte ihm tonlos zu. Endlich verstand Fukuzawa ihn!
 

„Auch du bist ein Mensch, man hat dich verletzt und gequält. Du hast das getan, was du zu diesem Zeitpunkt für das richtige hieltest. Du wusstest es nicht besser, deshalb werde ich dir deine Vergangenheit nicht vorwerfen. Ich habe nicht das Recht dazu. Ich möchte aber, dass du weißt, dass nur du und du allein entscheiden kannst, auf welcher Seite zu stehst. Es ist nie zu spät, sich dafür zu entscheiden, das Richtige zu tun. Du kannst immer noch ein Teil dieser Welt sein.“
 

„Heh.“ Dazai ließ den Kopf hängen. Er lachte verächtlich.
 

„Ich kapier es einfach nicht“, wisperte er und schüttelte den Kopf.
 

„Du musst das nicht alleine tun. Wenn du denkst, dass du das nicht alleine kannst – deine Familie steht hinter dir und wird dir helfen. Auch wenn du es nicht begreifen kannst, wir vertrauen dir und du kannst dich auf uns verlassen.“
 

Keine Reaktion.
 

„Das ist irrational.“
 

„Dazai?“
 

„Ganz egal, wie sehr ich meinen Grips anstrenge und drüber nachdenke... welchen Vorteil schlägst du daraus, einen Mörder wie mich in deiner Detektei beizubehalten? Ich ziehe den Ärger magisch an. Solange ich am Leben bin, wird es immer wieder Feinde geben, die uns angreifen werden. Ich bin eine potenzielle Gefahr für die Detektei und darüber hinaus koste ich dich Unmengen an Geld. Allein meine Behandlungskosten! Wie hoch ist die Rechnung dieses Mal? Wenn du mich in deiner Detektei behältst, wirst du irgendwann Insolvenz anmelden müssen, dann kann dir auch die Regierung nicht mehr helfen–“
 

„Ango-san hat die Kosten übernommen, es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst. Und die finanziellen Dinge lass meine Sorge sein. Wir haben genug Aufträge, da macht auch die ein oder andere Anklage wegen Sachbeschädigung nichts aus“, meinte Fukuzawa, versuchte Dazai zu beruhigen.
 

„Ich verstehe es einfach nicht“, hauchte er und starrte gedankenverloren die Bettdecke an.
 

„Dazai“, begann Fukuzawa. Etwas tropfte von Dazais Wange hinab. Er legte behutsam eine Hand unter Dazais Kinn und zwang ihn aufzusehen. Dazai Osamu weinte.
 

„Hey, du musst nicht weinen. Es ist alles in Ordnung. Hör auf, dich selbst als Last zu sehen“, versuchte es Fukuzawa erneut.
 

„Was? Warum? Tränen? Ich habe noch nie geweint! Ich... ich will das nicht“, wimmerte er und schlug nun Fukuzawas Hand weg, wischte sich die Tränen weg. Wieso weinte er? Was hatte das zu bedeuten? In seinem ganzen Leben hatte er nie Tränen vor anderen vergossen, also wieso verriet ihn sein Körper auf diese Art und Weise? War das sein Unterbewusstsein, das verzweifelt nach Halt suchte und Fukuzawas Worten Glauben schenken wollte? Sein tiefer Wunsch nach Sicherheit und einem Zuhause? Sein Verlangen danach, anderen Menschen vertrauen zu können?
 

„Was stimmt denn nur nicht mit mir? Verdammt! Warum kann ich nicht aufhören zu heulen?“
 

Dazais raufte sich nun die Haare, während sein Blick verriet, wie verzweifelt und hilflos er war.
 

„Menschen weinen, wenn sie traurig sind. Du bist ein Mensch.“
 

„Das stimmt nicht! Ich bin ein Monster! Eine Schande! Sieh mich doch nur an!“
 

Dazai keuchte und zeigte auf seine Verbände, wollte den Verband von seinem linken Arm abreißen, doch Fukuzawa hielt ihn auf. „Ich bin kein Mensch... ich bin kaputt, habe ein schändliches Leben geführt...“

Kapitel 11

Kunikida saß im Flur des Krankenhauses, wartete darauf, dass Fukuzawa endlich mit guten Nachrichten zurückkehrte. Es waren Stunden vergangen. Und die Zeit verstrich erbarmungslos weiter. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte er sich nur noch machtloser. Hätte er etwas tun können, um Dazai sicher aus dem Gebäude zu bringen? War es seine eigene Schuld gewesen, dass Dazai angeschossen wurde? Es gab zu viele Fragen, auf die er einfach keine Antwort fand. Zu viele Unstimmigkeiten. Ungereimtheiten, die ihn davon abhielten, einen klaren Gedanken zu fassen.
 

Er senkte seinen Blick, starrte den Linoleumboden unter sich an, betrachtete das Muster unter sich. Das Muster war unsymmetrisch. Mit nur einem Blick konnte er sagen, dass an mehreren Stellen Punkte gehörten, um ein gleichbleibendes Bild zu schaffen. Wieso hatte der Konstrukteur das nicht gesehen? Auch diese Art von Imperfektion war ärgerlich, beinahe unerträglich zu betrachten. Kunikida gehörte zu der Sorte Mensch, die die Bodenkacheln auf dem gefliesten Badezimmerboden genau studierten und sich über Abweichungen der Norm aufregten, da ein geschultes Auge die Unterbrechung des Musters mit nur einem Blick erkennen konnte. Es waren Kleinigkeiten, die Kunikidas Alltag bestimmten. Der Drang nach Perfektion. Ordnung. Routine. Pünktlichkeit. Sein Ideal war voll von diesen schönen Wörtern und seinem dringenden Bedürfnis dies zu erreichen.
 

Dazai war nichts davon. Chaotisch, unpünktlich, schlampig und machte nichts als Ärger. In den letzten zwei Jahren hätte er sicherlich zwanzig Bücher damit füllen können, was ihn an diesem Kerl gegen den Strich ging. Es gab so viele Dinge, die ihn aus der Haut fahren ließen und jedes Mal, wenn er Dazais Namen nur hörte, verkrampfte sich seine Magengegend. So war es zumindest immer gewesen. Doch irgendetwas hatte sich geändert. Dadurch, dass Dazai sein direkter Partner war und sie häufig zusammenarbeiteten, musste er sich anpassen. Kunikida musste sich einem hoffnungslosen Chaoten unterordnen, denn jegliche Art von Predigt prallte bei diesem ab.
 

Wann nur war es so natürlich für ihn geworden, mit Dazai zu arbeiten? Wann nur hatte er begonnen, ihm derartig zu vertrauen, dass er sogar sein eigenes Leben in dessen Hände legte? Kunikida und Dazai waren grundverschieden. Dazai nahm nichts ernst, machte dumme Scherze und war ein absolut hoffnungsloser Fall. An Regeln konnte er sich einfach nicht halten. Zu Terminen kam er immer zu spät oder erschien erst gar nicht. Trotzdem bewahrte er sich ein Lächeln, auch wenn es falsch war. Dazai machte unglaublich viele Fehler, doch er ließ sich nicht beirren. Es war ihm schlicht und ergreifend egal. Vielleicht war es diese Eigenschaft, diese Fähigkeit von Dazai, die Kunikida in gewisser Weise so sehr beeindruckte.
 

Kunikida war ein Perfektionist. Jede Minute war durchgeplant. Von dem Moment, in dem er morgens aufstand, bis zu dem Augenblick, wo er abends nach Hause kam und sich ins Bett legte. Auch seine freien Tage waren rigoros durchgeplant. Jede Sekunde seines Alltags war verplant. Es gab keine Freiheiten oder gar Platz für Spontanität. So war es immer gewesen. Bis zu dem Tag als Dazai Osamu die Detektei betrat und seinen strengen Tagesplan durcheinanderbrachte. Bis dahin hatte er nicht einmal bemerkt, dass er unter seinem Ideal litt. Dazai machte, worauf er Lust hatte. Und obwohl er alles andere als Arbeitseifer zeigte, erledigte er seinen Job effektiv und löste auch die kniffligsten Fälle, sah kleine Details, die Kunikida verborgen blieben.
 

Perfektion führte zu einem Tunnelblick und war im höchsten Maße ineffektiv, geradezu kontraproduktiv. Dazai hatte viele Fälle gelöst, an denen er wochenlang getüftelt hatte. Grinsend hatte Dazai Dinge ausgesprochen, die ihm nie in den Sinn gekommen wären. Kunikidas ewige Suche nach Perfektion war ein Teufelskreis: ganz egal, was er tat, es war nie gut genug. Er konnte sich mit dem, was er erreicht hatte, nie zufrieden geben. Es war nur ein Punkt auf seiner Agenda. Er neigte dazu, sich über die kleinsten Fehler seiner Kollegen maßlos aufzuregen, weil er mit sich selbst so streng ins Gericht ging. Er sah Fehler, die niemand anders sah. Und diese Kleinigkeiten führten dazu, dass er oft das Gefühl hatte, dass eine gesamte Mission gescheitert war.
 

Kunikida wusste selbst am besten, dass er kein einfacher Mensch war. Niemand in der Detektei arbeitete gerne mit ihm zusammen, weil er so streng war. Juunichirou hatte größten Respekt vor ihm. Das war es, was er nach außen hin ausstrahlte, aber Kunikida glaubte, dass er in Wirklichkeit Angst hatte. Angst davor, dass Kunikida seinen Zorn an ihm ausließ. Bis zu dem Zeitpunkt als Dazai in die Detektei kam, hatte er stets allein gearbeitet. Auch als früherer Lehrer hatten seine Schüler Respekt vor ihm. Nein, wahrscheinlich sahen sie ihn als grausamen Choleriker, der wegen jeder Kleinigkeit direkt an die Decke ging. Perfektionisten wie er neigten dazu, mit sich selbst so hart ins Gericht zu gehen, dass ihnen jegliche Zufriedenheit abhanden kam und diesen Frust ließen sie an Kollegen aus.
 

Mit Dazai zusammenzuarbeiten war das schlimmste und gleichzeitig das beste, was ihm je geschehen war. Durch ihn hatte er gelernt, den Teufelskreis zu durchbrechen und kleine Fehler nicht mehr so viel Gewicht beizumessen. Er hatte verstanden, dass Fehler passierten. Hatte endlich eingesehen, dass vieles in seinem Ideal einfach unerreichbar war. Dass nicht alles, was er niedergeschrieben hatte, mit der Realität vereinbar war. Kunikida hatte durch diesen Chaoten gelernt, dass sein Streben nach Perfektion ungesund war. Es gab gute Perfektion. Und die schlechte Form. Die krankhafte Form, die in etwa so zielführend war, wie stundenlang im Kreisverkehr hin und her zu fahren. Man wiederholte immer dieselben Muster.
 

Kunikida war willensstark mit einer harten Schale aber einem äußerst sensiblem Kern. Er gab immer sein Bestes, wollte immer 100% geben und beweisen, dass er sämtliche Herausforderungen in seinem Leben meistern konnte, doch dies führte ihn lediglich in eine Abwärtsspirale aus Streben, Stress und Scheitern. Dazai hatte ihm die Schönheit des Unvollkommenen gelehrt. Nötigte ihn dazu, Pausen einzulegen. Selbst wenn er dafür außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen musste und er einen Sachschaden verursachte. Hoppla! Da ist mir doch glatt mein Kaffeebecher auf deiner Tastatur ausgelaufen! Jetzt solltest du aber schnell den Strom ausschalten! Dabei hatte Dazai absichtlich seinen Becher direkt vor seinen Augen auf der Tastatur ausgegossen! Selbst jetzt platzte er noch vor Zorn, wenn sich diese Szene vor seinem geistigen Auge wiederholte.
 

Dazai war es offenbar egal, was andere von ihm dachten. Aber Kunikida wollte Anerkennung, wollte gefallen und durch seine Leistungen auffallen. Vielleicht hatte er diese Leistungen mit seinem Selbstwert gleichgesetzt und daher menschlichen Fehlern einen zu großen Wert beigemessen. Ohne Dazai würde er in sein altes Muster verfallen. Ein Leben ohne Dazai Osamu. Nach zwei Jahren Zusammenarbeit mit diesem Kerl konnte er sich das nicht mehr vorstellen. Wollte nicht einmal daran denken. Und dennoch hatte er die Gefahr nicht erkannt, sie in seiner eigenen kindlichen Naivität für Unsinn abgestempelt.
 

„Kunikida-kuuun~!“, trällerte Dazai vergnügt und lief dem Blonden hinterher.
 

Der Arbeitstag war vorbei. Zeit nach Hause zu gehen und sich auszuruhen, neue Kraft zu tanken. Doch Kunikida hatte mehrere Akten unter seinem Arm geklemmt. Er nahm einmal mehr Arbeit mit nach Hause. Etwas, das für ihn so normal war, dass er nie hinterfragt hatte, ob dieses Verhalten schädlich für ihn sein könnte. Für Kunikida waren Überstunden ein selbstverständlicher Teil seines Arbeitsalltages. Danach nahm er noch die restliche Arbeit mit nach Hause mit, um dort weiterzuarbeiten. Vielleicht kam ihm der Geistesblitz genau dann, wenn er noch einmal in Ruhe die Unterlagen durchging. Für die meisten Menschen ein Ausnahmefall. Für Kunikida Routine. Er scheute nie davor zurück, an seine eigenen Belastungsgrenzen zu gehen, um eine Mission zu erfüllen und vermeintliche Fehler auszubessern. Eine Gewohnheit. Ein Teil seines Ideals.
 

Und jetzt nervte ihn der Brünette schon wieder, tapste ihm unbeholfen hinterher. Hatte der Kerl kein eigenes Zuhause?! Sah er denn nicht, dass Kunikida seine Ruhe haben wollte? Weiterhin jaulte sein Kollege seinen Namen. Immer lauter, schräger und provokanter. Dazai wusste genau, dass sich Kunikida irgendwann umdrehen und...
 

Kunikida packte ihm am Hals und würgte ihn, schimpfte lauthals und schüttelte ihn hin und her.
 

…. anschreien würde. Das war auch ein Teil seines Arbeitsalltages. Nichts zu ändern. Dazai gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die durch nette Ermahnungen dazu lernte, sondern erinnerte viel mehr an einen pubertierenden Teenager, der ständig seine Grenzen austestete.
 

„Komm schon, Kunikida-kun! Nur einen Drink! Sei doch nicht so!“
 

„Ich sagte NEIN! Und jetzt lasse mich in Ruhe!“
 

„Aber das machen doch Kollegen so?! Nach getaner Arbeit geht man etwas trinken!“
 

„Nach getaner Arbeit! Aber du hast den ganzen Tag nur auf der Coach gelegen und geschnarcht!“
 

„Das stimmt ja gar nicht! Kunikida-kun weiß gar nicht, was alles in meinem Kopf vor sich geht.“
 

„Oh, glaube mir, mein werter Kollege, das will ich gar nicht wissen.“
 

„Bitte! Trink einen mit mir! Kunikida-kun ist immer so gemein!“
 

Dazai wimmerte und klagte so laut, dass einige Passanten, die ebenfalls auf den Nachhauseweg waren, sich umdrehten und begannen zu tuscheln. Kunikida fuhr es eiskalt den Rücken runter. Was dachten sich diese Leute jetzt wohl? Verdammt! Warum nur musste Dazai mitten auf der Straße so eine Szene machen?
 

„Aber nur ein Glas! Danach gehst du nach Hause und benimmst dich!“
 

Dazai jubelte. Und sie gingen in die nächstbeste Bar. Aus einem Glas wurden zwei. Dazai plapperte sinnloses Zeug. Absoluter Nonsens. Kunikida wollte ihn ausblenden und wünschte sich, dass es eine Möglichkeit gab, sich wegzuteleportieren. Dazai hatte nun schon sein fünftes Glas Whiskey bestellt und wurde immer redefreudiger. Kunikida hörte nur noch mit halben Ohr zu. Trotzdem nahm er Informationen auf. Dazai sprach über eine Geiselnahme, über einen Dealer, der hier in den Straßen sein Unwesen trieb und über einige Firmenleiter, die dieses oder jenes verbrochen hatten. Typischer Klatsch und Tratsch eben. Glaubte Kunikida.
 

Am nächsten Morgen blätterte er durch die Akten. Verflucht war Dazai, dass er ihn bei der Arbeit gestört hatte und seinen Rhythmus durcheinander gebracht hatte. Er genehmigte sich einen Schluck Kaffee, blätterte durch die Akten und verschluckte sich an seinem heißen Getränk. Geiselnahme. Dealer. Korrupte Firmenleiter. Dazai hatte gestern Abend wichtige Informationen für diesen heiklen Fall herausgesprudelt! Plötzlich sah Kunikida Details, die ihm am vorherigen Abend verborgen geblieben waren. Und das nur, weil er zwangsweise eine Pause eingelegt hatte. Zeit mit seinem Kollegen verbracht hatte, der ihn mit seiner bloßen Anwesenheit in den Wahnsinn trieb...
 

Kunikidas Unterbewusstsein hatte sich auf Dazai eingestellt, gelernt sich auf dessen Informationen zu verlassen und weiterhin den nötigen Abstand zu ihm zu halten. Er hätte früher nachdenken sollen. Woher hatte Dazai diese Informationen? Wieso verschwand er manchmal tagelang und meldete sich nicht? Es war offensichtlich, dass sich Dazai mehr als einmal für diese Art der Informationen in Gefahr gebracht hatte. Er ermittelte auf eigene Faust.
 

Plötzlich wurde die Tür der Intensivstation geöffnet. Kunikida blickte auf und sah ihn Fukuzawas Gesicht. Er wirkte erschöpft. Müde. Als hätte irgendetwas sämtliche Energie aus seinem Körper gezogen, als wäre lediglich seine menschliche Hülle in dieser Welt, während seine Seele sich in einer anderen astralen Ebene befand. Da Dazai keine Verwandten hatte, hatte nur Fukuzawa Zutritt zur Intensivstation. Niemand anders durfte zu Dazai. Kunikida wollte wütend werden, wusste aber, dass es nichts brachte, die Regeln des Krankenhauses zu durchbrechen. Für die Ärzte waren sie nichts weiter als Kollegen.
 

„Und?“, hauchte Kunikida und erhob sich.
 

Fukuzawa sah ihn an. Wie immer war sein Blick ernst, durchdringend und autoritär.
 

„Dazai hat geweint“, flüsterte er beinahe tonlos. Kunikida fühlte, wie sein Herz in Stücke gerissen wurde.
 


 

———————————
 

Mehrere Tage waren vergangen. Dazai wurde auf die normale Station verlegt und seine Kollegen durften ihn endlich besuchen. Jedes Mal setzte er dieses entsetzlich falsche Lächeln auf und lenkte vom Thema ab. Es war beinahe unmöglich, Antworten aus ihm zu kriegen. Wieso war Dazai entführt worden? Sobald Dazai genug von der ewigen Fragerei hatte, zog er aufmüpfig die Bettdecke über den Kopf und tat so, als wäre niemand mehr im Raum. Kunikida unterdrückte jedes Mal erfolgreich den Drang ihm den Hals umzudrehen. An einem Morgen rief ihn Fukuzawa in sein Büro.
 

„Wir wissen nun mit Sicherheit, dass Dazai immer noch Verbindungen zum Untergrund hat“, erklärte Fukuzawa und legte seine Stirn in Falten, wies seinen Schüler dazu an, sich hinzusetzen.
 

„Er hat sicher einige Feinde, die ihn an dem Kragen wollen.“
 

„Ich weiß, dass das eine schwierige Aufgabe ist und du hast mehr als einmal gesagt, dass du es nicht ausstehen kannst, mit Dazai zusammenzuarbeiten“, begann Fukuzawa ruhig, während sein Blick weiterhin todernst und durchdringend war, sodass Kunikida sich gar nicht traute, ihn zu unterbrechen und nur hart schluckte, dann sprach Fukuzawa weiter: „Ich kann Dazai nicht mit guten Gewissen allein lassen.“
 

Ich weiß. Er ist labil und in Gefahr, antwortete Kunikida gedanklich, ließ sich jedoch keinerlei Gesichtsregung ansehen.
 

„Ranpo hat mir einige wichtige Informationen gegeben. Offenbar hat Dazai Kontakte zu einigen Bossen in der Unterwelt und sammelt dort Informationen. Doch ich glaube, dass Ranpo mir nicht alles gesagt hat. Henkō hat seit Längeren ihr Unwesen in Yokohama getrieben. Mir fehlt die Verbindung. Warum würde Dazai sich mit Informanten treffen, obwohl er so viele Feinde im Untergrund hat?“
 

„Er ist ein hoffnungsloser Exzentriker. Vieles, was er sagt und tut, ergibt keinen Sinn. Vielleicht sucht er auf diese Weise einen Kick?“
 

„Dies wäre in der Tat eine Möglichkeit. Trotzdem zweifle ich an dieser These.“
 

„Oder er sucht nach einem Weg sich umzubringen. Wenn die Gangster der Unterwelt ihn entdecken, knallen sie ihn ab und er braucht sich nicht in den nächstbesten Kanal zu werfen.“
 

Kunikida überlegte weiter. Doch er haderte seine nächsten Ideen auszusprechen. Der immer grinsende Dazai mit den dummen Sprüchen war nur die Rolle, die er auflegte. Wer war Dazai wirklich? Dazai war der Mann, der sich selbstbestimmt die Pulsader durchtrennt hatte. Ein Mann am Abgrund, der gefährlich nahe über diesen baumelte und furchtlos in die Finsternis blickte, sie geradezu ersehnte. Dazai war ein Mann, der voller Verzweiflung war und Tränen verbarg. Kunikida brachte es fortan nicht mehr übers Herz, ihm zu sagen, dass er in den nächsten Kanal springen sollte. Irgendetwas hatte sich in Gang gesetzt. Er fürchtete um Dazais Leben, denn jetzt, wo er wusste, dass seine Faszination mit Selbstmord kein makabres Hobby war, sondern bitterer Ernst, konnte er nicht mehr einfach nur genervt mit den Schultern zucken.
 

„Dazais Motto ist ein fröhlicher und ästhetischer Selbstmord. Würde er einen schnellen Tod wollen, könnte er doch direkt ins nächste Hauptquartier laufen, wo sie direkt ein Dauerfeuer starten würden.“
 

Fukuzawas Blick war weiterhin ernst.
 

„Sie werden Dazai in einigen Tagen wieder entlassen und ich möchte, dass du dich um ihn kümmerst. Ich war gestern in seiner Wohnung. Nicht nur, dass er keine Lebensmittel im Haus hat, die Gegend schreit ja geradezu nach feindlichem Territorium. Ich habe nicht das Recht, mich in das Privatleben meiner Mitarbeiter einzumischen, dennoch denke ich, dass diese Gegend zu gefährlich für ihn ist.“
 

„Genau dasselbe habe ich mir auch gedacht. Die Gegend ist komplett runtergekommen und scheint ein Sammelpunkt für Gangster und Kriminelle zu sein.“
 

Moment. Kunikida drehte sich der Magen um. Dazai lebte in der Höhle des Löwen. Er wusste genau, dass er dort jederzeit angegriffen werden konnte. Warum? Warum zum Teufel lebte er ausgerechnet in einer Gegend, die ihn zum Ziel seiner Feinde machte? Kunikida verstand gar nichts mehr! Warum nur war es so unglaublich schwierig, Informationen aus Dazai herauszubekommen? Was nur musste er tun, damit sich Dazai endlich öffnete?
 

„Es ist viel verlangt... doch ich bitte dich darum, dass du Dazai für die nächste Zeit bei dir wohnen lässt.“
 

NIEMALS, schrie alles in Kunikidas Organismus. Allein die Vorstellung diesen Chaoten in seine wunderschöne, perfekt ausgerichtete Wohnung zu lassen, wo er alles durcheinanderbrachte und vielleicht sogar kaputtmachte, war der reinste Albtraum! Das konnte doch nicht Fukuzawas Ernst sein?! Mit Dazai zusammenwohnen? Unmöglich. Stattdessen nickte er einfach nur. Vor seinem geistigen Auge sah er Dazai, der ihn Vorwürfe machte.
 

»Was weißt du schon von mir? Hm? Nichts. Du spielst dich als Samariter auf, heuchelst mir etwas vor, doch wenn ich dich brauche, bist du nicht da und lässt mich im Stich! Wie oft habe ich gesagt, dass es mir schlecht geht? Nie hast du mir geglaubt, sondern noch darauf herumgeritten und mein Leid runtergemacht! Hast du nicht selbst gesagt, dass ich mich nicht so anstellen solle?«
 

„Ich werde auf ihn aufpassen und ihm beweisen, dass er ein Teil unserer Detektei ist.“
 

„Ich danke dir, Kunikida. Du bist der einzige, der bisher zu ihm durchdringen konnte. Lass nicht zu, dass er sich unnötig in Gefahr bringt.“
 


 

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Grummelnd lief Kunikida durch die Fußgängerzone. Wortlos hatte Fukuzawa ihm einen Schlüssel übergeben. Für ein Schließfach. Dazais Schließfach. Dazais nagelneuer Anzug war bei der Entführung nicht nur durchlöchert worden, sondern dermaßen von Blut verschmiert, dass selbst die beste Reinigung der Stadt dies nicht mehr hätte retten können. Der Anzug war somit hin. Eine Schande. Dabei sah der Anzug nicht gerade billig aus und Kunikida musste sagen, dass Dazai in einem schicken Anzug weitaus mehr hermachte, als in seinen abgetragenen Klamotten und dem beigen Mantel.
 

Vorsichtig öffnete er das Schließfach. Darin befanden sich Dazais Klamotten. Perplex starrte er die kleine weiße Tüte in dem Schließfach an. Mehrmals blinzelte er, ehe er die Tüte hinauszog, sie öffnete und den Inhalt betrachtete.
 

Das sind die Süßigkeiten, die ich in Kagenecho verloren habe. Wieso hat Dazai die? Das ist absolut unmöglich! War Dazai an dem Abend auch dort? Habe ich ihn bei der Prügelei einfach nur übersehen? Das ergibt keinen Sinn. Was nur übersehe ich hier? Er nahm die Sachen an sich, bezahlte widerwillig die Gebühr und machte sich auf den Rückweg. In der Detektei angekommen, sah er, wie Ranpo ihm ein breites und strahlendes Lächeln entgegen warf. Bevor er überhaupt irgendetwas sagen konnte, riss ihm Ranpo die Tüte aus der Hand und bediente sich an dem Inhalt.
 

„Du schuldest mir trotzdem noch ein paar Kirschbonbons!“, schimpfte er, während er eine Packung Taiyaki[13] aufriss und laut hörbar von der Waffel abbiss. Ranpo strahlte und gab undefinierbare Laute des Glücks von sich. Wahrscheinlich strahlte er sogar noch stärker als ein Atomkraftwerk. Kunikida fehlten die Worte. Angestrengt rieb er sich das Nasenbein. Ohne weiter auf Ranpos kindische Forderungen einzugehen, verließ er die Detektei und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus. Heute würde er Dazai abholen. Man hatte ihm erlaubt, zu gehen. Kunikida und Fukuzawa waren strikt dagegen gewesen, doch das Krankenhauspersonal und die Pfleger hatten alle Hände voll zu tun und sie konnten ihnen unmöglich Dazai aufbürden, der jede Möglichkeit ausnutzte, die sich ihm bot, um zu fliehen. Zweimal war er aus dem Fenster geklettert. Nur im OP Hemd bekleidet.
 

Schon wieder dieser eigenartige Schüttelfrost, der ihn anheimfiel.
 

Dazai war doch ein erwachsener Mann, benahm sich aber meistens wie ein Kind. War das normal für Menschen, die hochintelligent waren? Dass sie nicht in der Lage waren, sich an die Regeln der Gesellschaft zu halten und nur Unsinn trieben? Dazai und Ranpo waren sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich. Nur dass Ranpo nicht ständig Ärger anzog oder hunderte Feinde hatte, die ihm an den Kragen wollten. Kunikida fuhr mit seinem Auto auf den Parkplatz des Krankenhauses. Als er die Tür zuschlug, flog die andere Tür aus den Angeln. Er hatte erst für nächsten Monat einen Termin in der Werkstatt bekommen und solange musste er die Tür, die Ranpo bei seinen Fahrversuchen ramponiert hatte, selbst reparieren. Mit Kraft drückte er die abgebrochene Tür ins Schloss und solange keine große Erschütterung stattfand, hielt dies sogar. Keine Dauerlösung. Ihm platzte fast der Kragen. Er atmete tief durch und zählte bis zehn... so der Plan. Bei der Zahl fünf brüllte er doch ungehalten drauflos.
 

„So eine verfluchte Scheiße!!“, keifte er und sein kleiner Zopf verformte sich zu einem Blitz, zudem formten seine Ponyspitzen kleine Zacken und man hätte meinen können, dass er Feuer spie. Dann räusperte er sich, zählte weiter und drückte die herausgefallene Tür rein, machte sich auf den Weg zum Eingang des Krankenhauses. Er brachte Dazai Klamotten. Er lief durch die viel belebten Gänge. Hier und da lagen Menschen auf ihren Krankenbetten mitten im Gang, warteten darauf, behandelt zu werden. Notfälle. Viel zu fiele Notfälle. Kaum ein Arzt beachtete ihn. Die Pfleger rannten an ihm vorbei. Selbst die Rezeption stand leer. Vermutlich ein großes Verkehrsunglück. Bei dem Gedanken wurde Kunikida mulmig.
 

Als er Dazais Zimmer öffnete, stand dieser am Fenster und sah nur flüchtig über die Schulter, widmete dann seinen Blick dem Außenleben. Er trug einen geliehenen Pyjama. Viel zu groß für Dazais dünne Statur. Dazais körperlicher Zustand war besorgniserregend. Kunikida hasste sich selbst dafür, dass er nie bemerkt hatte, wie sehr Dazai in letzter Zeit abgemagert war. Dazai seufzte und drehte sich dann um, stemmte die Hände in die Hüften und grinste breit.
 

„Kunikida-kun ist zu spät!“, lachte er dann und wiederholte in spielerischer Manier diese Worte noch einige Male, nur um Kunikida zu provozieren. Kunikida verdrehte nur die Augen und drückte ihm seine Klamotten in die Hand.
 

„Zieh dich an, du bist offiziell entlassen“, grummelte er und schenkte Dazai einen verärgerten Blick.
 

„Ich weiß~ ♥“, sagte dieser breit grinsend. Es war nichts Neues für Kunikida, seinen Kollegen in Verbänden zu sehen, doch der Kopfverband warf ihn aus der Bahn. Dazai hatte eine schwere Kopfverletzung erlitten. Trotzdem beharrte der Brünette darauf, entlassen zu werden, machte dem ganzen Personal im Krankenhaus das Leben schwer, nur um zu beweisen, dass er bereits geheilt war. Kunikida hätte ihn am liebsten direkt ans Bett gefesselt und ihm den Mund zugeklebt, damit er endlich zur Vernunft kam und einsah, dass er Ruhe brauchte. Niemand schüttelte eine solche Verletzung einfach ab. Auch ein Dazai Osamu nicht. Auch ein Selbstmordfanatiker nicht, der jeden Versuch, sich selbst im Fluss zu ertränken, auf magische Art und Weise überlebt hatte. Dazai mochte zwar der Ansicht sein, „geheilt“ zu sein, doch Kunikida war sich sicher, dass all dies wieder nur Show war.
 

„Kunikida-kun? Willst du mir etwa zusehen?“, sagte Dazai, drehte den Kopf leicht zur Seite und öffnete die ersten zwei Knöpfe seines Hemdes und zwinkerte mehrmals auffällig mit seinen Wimpern, wackelte zweideutig mit den Hüften. Bis zehn zählen. Nicht möglich. Kunikida packte die Klamotten und drückte sie Dazai ins Gesicht, sodass dieser erschrocken aufquikte, dann verließ er dampfend das Zimmer, knallte die Tür laut hörbar hinter sich zu. Einatmen. Ausatmen. Dazai macht das mit Absicht. Er provoziert mich. Testet, wie weit er gehen kann. Einatmen. Ausatmen. Shimatta. Er ist in mich verknallt und ist schwul. Vielleicht provoziert er gar nicht, sondern meint es ernst und will mich verführen? Unsinn. Bleib ruhig. Rational denken. Dazai ist einfach nur Dazai. Wir sind Kollegen. Das ändert sich nicht.
 

Dazai öffnete breit grinsend die Tür.
 

„Und? Wie sehe ich aus? ♥“
 

Kunikida musterte ihn, schüttelte dann nur den Kopf.
 

„Wie ein obdachloser Vagabund. Also wie immer.“
 

„Uff, das tut weh! Du könntest wenigstens versuchen, mir ein Kompliment zu machen!“
 

„Ja, aber Komplimente muss man sich verdienen.“
 

Dazai blies seine Backen auf, wie ein beleidigtes Kind und drehte dann den Kopf weg, gab ein lautes „Pah!“ von sich und verschränkte die Arme. Gemeinsam verließen sie das Krankenhaus.
 

Auf dem Parkplatz angekommen, legte Dazai amüsiert den Kopf schief, kommentierte das Offensichtliche: „Dein Auto ist kaputt!“ Und im nächsten Moment stieg Kunikida wortlos ein, knallte die Tür dermaßen laut zu, dass die Beifahrertür erneut aus den Angel flog. Ein schadenfrohes Grinsen auf Dazais Gesicht. Ein Vulkan in Kunikida, der kurz vor dem Ausbruch stand. Bereits jetzt fiel es ihm schwer, Dazais unverschämte Art zu ignorieren. Wie sollte er es aushalten mit diesem Chaoten für unbestimmte Zeit zusammenzuwohnen? Das konnte ja heiter werden.
 

Während der Fahrt summte Dazai vergnügt ein Liedchen vor sich her. Irgendwann verstummte seine Stimme. Er warf einen prüfenden Blick in die Umgebung, drehte sich dann fragend zu Kunikida.
 

„Wo fahren wir hin? Hier geht’s nicht zu meiner Wohnung“, erklärte er und warf Kunikida einen verwirrten Blick zu.
 

„Du wohnst für nächste Zeit bei mir“, meinte er trocken.
 

„OH MEIN GOTT! Das geht aber schnell! Hast du auch schon einen Hochzeitstermin? Unsere Flitterwochen will ich auf den Malediven verbringen!“
 

Kunikida fuhr rechts an, bremste abrupt ab und packte Dazai am Hals, würgte ihn und schüttelte ihn hin und her.
 

„Hast du sie noch alle?!“, keifte er, ließ Dazai endlich los, räusperte sich und umklammerte dann das Lenkrad erneut. Dann fuhr er weiter, während sein linkes Auge gefährlich zuckte. Dazai wimmerte wie gewohnt und klagte über die Ungerechtigkeit des Leben.
 

„Wir sind noch nicht mal verheiratet und schon beginnt die häusliche Gewalt, also so habe ich mir unser zukünftiges Zusammenleben nicht vorgestellt“, murrte Dazai und grummelte in seinem Sitz, während Kunikida einfach nur schneller fuhr, sich nicht auf Dazais weitere Provokationen einließ.
 

„Anweisung von Fukuzawa. Er will nicht, dass du allein bist“, entgegnete er dann, stieß seinen Atem aus, von dem er nicht einmal bemerkt hatte, ihn angehalten zu haben. Warum nur musste jede Konversation mit Dazai derart ausarten? Dazai war nicht einmal einen Tag aus dem Krankenhaus entlassen und bereits jetzt konnte Kunikida seine Anwesenheit nicht mehr ertragen. Dabei hatte er sich vorgenommen, netter zu ihm zu sein.
 

Ist ja nicht meine Schuld, wenn er immer so einen zweideutigen Stuss von sich gibt!, rechtfertigte er sich vor sich selbst. Dazai holte sein Smartphone heraus und daddelte.
 

Eine halbe Stunde lang standen sie nun im Stau. Kunikida fühlte sich schlecht. Sein Gewissen zermürbte seinen Verstand. Dazai hat dir sein Herz ausgeschüttet und du stößt ihn direkt von dir weg. Er ist verletzt und du packst ihn trotzdem grob an... verdammt, wieso nur kann ich mich nicht kontrollieren, wenn es um Dazai geht? Kein Wunder, dass er mir nicht vertraut und mir nichts von sich erzählt.
 

„Dazai. Es tut mir leid“, sagte er dann und schaltete den Motor aus. Der Stau löste sich nicht auf, also würden sie hier ohnehin noch einige Minuten vielleicht sogar Stunden stehen.
 

Dazai hob überrascht den Blick und sah ihn an.
 

„Was meinst du? Du hast doch nichts gemacht, weshalb du dich entschuldigen müsstest.“
 

„Ich hätte dich nicht so grob anfassen sollen. Du bist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden und auf dem Weg zur Genesung. Ich weiß, dass du absichtlich provozierst und deine Grenzen austestest, also sollte ich mich zusammenreißen. Tut mir leid, dass ich dich gewürgt habe.“
 

Dazai errötete und wandte den Blick ab, spielte nervös mit seinen Haaren.
 

„Ich bin es ja gewohnt, also kein Problem“, flüsterte er dann und setzte dieses Lächeln auf, das Kunikida sofort den Magen umdrehte.
 

„Es ist ein Problem.“
 

„Nein, Gewalt ist eine Erziehungsmaßnahme. Du hast selbst gesagt, dass ich anders nicht lernen würde. Das ist dein gutes Recht mich zu bestrafen. Und du hast recht damit.“
 

„Ich habe das nicht so gemeint. Niemand verdient es, geschlagen zu werden. Auch wenn du Unsinn redest und manchmal einfach nur eine Nervensäge bist, die ich am liebsten ins Exil verbannen würde, dich zu schlagen ist nicht richtig. Es tut mir wirklich leid.“
 

„Du musst dich wirklich nicht entschuldigen. Kunikida-kun ist aufbrausend und ich mag dich so, wie du bist. Außerdem“, begann Dazai, brach seinen Satz jedoch ab und schüttelte den Kopf, als wollte er einen unliebsamen Gedanken verwerfen. Mori-san ist viel schlimmer, wenn er wütend ist. Kunikida-kun ist dagegen... nein. Nein. Hör auf. Hör auf nach Parallelen zu suchen. Du bist nicht mehr dort. Kein Teil der Port Mafia. Du bist jetzt hier. Lebe im Hier und Jetzt.
 

„Nein, lassen wir das. Was glaubst du, wie lange wir hier noch stehen werden?“, wechselte er das Thema.
 

„Keine Ahnung. Gab es einen Unfall?“
 

„Nein, eine Explosion. ♥“
 

„Was?!“, keifte Kunikida und sah Dazai ungläubig an.
 

„Habe ich aus dem Krankenzimmer beobachtet. Da ist eine Lagerhalle hochgegangen. BUMM! Riesige Flammen und ein lauter Knall.“
 

„WAS?“, wiederholte Kunikida empört, völlig von der Rolle.
 

„Ich schätze, die Detonationswelle lag bei ungefähr 100mbar, somit werden die Sachschäden sicherlich umfangreich sein. Aber es sollte niemand umgekommen sein, sofern keiner in der Nähe der Explosion war“, ratterte Dazai herunter und zog nun sein Smartphone wieder hervor, tippte auf dem Bildschirm und wollte sein Spiel fortsetzen, doch Kunikida zog ihm das Gerät aus der Hand und sah ihn todernst an.
 

„Du hast das gewusst und kein Wort gesagt?!“
 

„Huch? Kunikida-kun hat es nicht gewusst?“, fragte Dazai und klimperte lieb mit den Wimpern, mimte den Unschuldsengel.
 

„Woher denn?!“
 

„Das ist aber eigenartig! Ist Kunikida-kuns Brille nicht mehr stark genug? Im Krankenhaus sind doch ganz viele Notfälle eingeliefert worden. Hast du das gar nicht mitbekommen?“
 

Kunikida überlegte, drehte seinen Kopf zur Frontscheibe und warf einen Blick auf den stockenden Verkehr vor sich, dann sah er Dazai an, seufzte tief und bat ihn ruhig um weitere Informationen.
 

„In der Nähe ist eine ganz alte Lagerhalle, da hat Henkō Waffen und Granaten gelagert. Ich gehe davon aus, dass ihre Rivalen ihre Abwesenheit genutzt haben und nun ihre Vorräte an sich nehmen und das hochjagen, was sie nicht mehr brauchen. Wäre ja blöd, wenn sie nach einer Entlassung einfach weitermachen könnten. Vermutlich sind die Schäden in der Umgebung massiv, zerbrochene Fenster und Scheiben, Schäden an Stahlkonstruktionen und umherfliegende Splitter und Gestein. Der ein oder andere Passant hat wohl was abbekommen“, erklärte Dazai und sah nun flehend auf Kunikidas Hand und sein Smartphone, versuchte dann danach zu schnappen, doch Kunikida zog das Smartphone wieder weg und hielt es möglichst weit von ihm weg, damit er nicht dran kam.
 

„Und du wusstest, dass so etwas passieren würde“, hakte Kunikida ruhig nach.
 

Dazai nickte und strahlte über beide Ohren.
 

„Mochiron[14]!“, rief der Brünette begeistert aus.
 

„Warum hast du dann nichts gesagt?!“
 

„Zu deiner Information: ich war eine Woche lang auf der Intensivstation und alles, was ich gesagt habe, wurde nicht ernst genommen. GUT. Ja, ein paar Sachen waren vielleicht komisch, aber ich schwöre, dass ich vor den Folgen gewarnt habe.“
 

Dazais Blick war nun wieder ernst.
 

„Aber wie kann das sein?“
 

„Das Pflegepersonal dachte vermutlich, dass ich Halluzinationen habe und mir etwas ausdenke. Aber ich bin mir sicher, dass ein fliegender Wal durch die Intensivstation geflattert ist und mit einem Krokodil Tango getanzt hat! Das habe ich mir garantiert nicht eingebildet!“
 

Ah. Ja. Stimmt. Er hatte es ja mit Dazai Osamu zu tun. Kein Wunder, dass niemand seine Aussagen so richtig ernst genommen hatte. Kunikida überreichte ihm sein Smartphone und knallte mit seiner Stirn gegen das Lenkrad, ließ einen tiefen Seufzer aus, während Dazai zufrieden sein Spiel spielte und konzentriert über den Bildschirm blitzschnell mit seinen Fingern herwischte.

Kapitel 12

Plötzlich hörten Dazais rasante Bewegungen auf, dann packte er sein Smartphone weg und sah zu Kunikida rüber, der immer noch genervt vor sich hingrummelte und die Kompetenz seines Kollegen bezweifelte. Er zupfte an Kunikidas Ärmel und grinste.
 

„Mir ist langweilig! Komm, lass uns einen Blick auf die Explosionsstelle werfen ♥“, kicherte er.
 

„Wieso das auf einmal?“, knurrte Kunikida erbost, sah seinen Brünetten Kollegen nicht einmal an.
 

„Hab keine Stamina Punkte mehr und muss jetzt fünf Stunden warten, bis ich das nächste Level spielen darf“, seufzte er theatralisch, erhielt jedoch kein Mitleid, sondern nur einen eiskalten, stechenden Blick des Blonden.
 

„Außerdem gehe ich davon aus, dass der Bombenleger noch nicht fertig ist“, fügte er nebenbei hinzu.
 

Kunikida saß urplötzlich aufrecht und sah Dazai schockiert an. Der Bombenleger war noch auf freiem Fuß und würde erneut zuschlagen? Das konnte Kunikida nicht zulassen. Das war viel zu gefährlich. Zivilisten könnten verletzt werden oder sogar umkommen. Es war reiner Zufall, dass das Lagerhaus von bewohnten Gebieten entfernt war und niemand tödlich verletzt wurde, doch wer konnte ihm versichern, dass es beim nächsten Mal auch so sein würde? Kunikida durfte nicht untätig rumsitzen, sondern tun, was getan werden musste. Aber Dazai war gerade erst entlassen worden und noch nicht genesen. Es war überhaupt keine gute Idee, ihn mitzunehmen. Er sollte eigentlich im Bett liegen und schlafen. Dazai starrte ihn vorfreudig an.
 

Dazai machte überhaupt nicht den Anschein, verletzt zu sein, sondern wirkte genauso agil wie immer. Konnte er dieses Risiko eingehen? Unmöglich. Dazai war bereits beim letzten Mal verletzt worden, weil er unüberlegt in eine Situation hineingeplatzt war, von der er zu wenig Ahnung hatte. Er brauchte Informationen. Wer legte die Bomben? Wie bewegte sich der Bomber fort? Handelte es sich um eine Einzelperson oder um eine Gruppierung? Und vor allem: welches Verbrechersyndikat steckte hinter den Angriffen? Oder handelte es sich um einen Amateur? Der Blonde schluckte hart. Was, wenn sie sich ungewollt mit der Port Mafia anlegten und dabei einen erneuten Krieg riskierten? Es war schon viel zu lang ruhig gewesen. Der nächste Angriff der Port Mafia ließ viel zu lange auf sich warten.
 

„Ku-ni-ki-da-kuuuun“, jaulte Dazai und betonte jede einzelne Silbe extra laut, um den Bogen zu überspannen und den Geduldsfaden seines Kollegen zum Reißen zu bringen.
 

„Nein. Wir bleiben hier. Du bleibst hier“, antwortete er dann.
 

Keine unnötigen Kampfausschreitungen. Die Lage war zu unsicher. Er konnte nicht riskieren, dass Dazai noch einmal verletzt wurde. Besser er informierte Fukuzawa und erzählte ihm von der Lage. Dazai löste seinen Gurt und öffnete die Beifahrertür, die krachend zu Boden fiel, sodass beide kurz zusammenfuhren und auf die am Boden liegende Tür sahen.
 

„Wenn wir nichts unternehmen, wird es zu Opfern kommen. Kunikida-kun... ist das nicht gegen dein Ideal? Wirst du etwa zulassen, dass Unschuldige verletzt werden, nur weil du Angst hast, dass mir etwas zustoßen könnte?“
 

Dazai sah ihn durchdringend an. Nichts mehr zu sehen, von dem sonst so faulen Kollegen, der unmotiviert in der Gegend rumlag und den man am Kragen hinterher ziehen musste, damit er überhaupt zum Arbeitsplatz erschien.
 

„Du bist gerade erst entlassen worden! Verdammt! Du bringst dich schon wieder unnötig in Gefahr! Du gehörst nicht mehr zur Mafia, also halte dich gefälligst an unsere Regeln! Keine Alleingänge, hörst du?!“, schimpfte Kunikida, der nun ebenfalls ausstieg, um das Auto herumlief und direkt vor Dazai stehenblieb.
 

„Wenn du mitkommst, bin ich nicht alleine... oder?“
 

Kunikida gefror das Blut und er spürte, wie sein Herz einen kleinen Hüpfer machte.
 

„Trotzdem ist das zu gefährlich. Du bist nicht in der Verfassung dich direkt ins Kampfgetümmel zu stürzen“, mahnte Kunikida.
 

„Dafür habe ich ja dich, oder etwa nicht? ♥“
 

Dazai grinste und drehte sich um, bahnte sich seinen Weg durch die stehenden Autos, während einige Leute ihre Hupen betätigten. Der Brünette ließ sich nicht beirren und führte seinen Weg fort. Sein Kollege lief ihm hinterher, packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich um. Dazai blinzelte paar mal verwirrt, wirkte aber keineswegs überrumpelt. Immer noch ein schönes Lächeln auf seinen Lippen. Kunikida wollte ihn anschreien und den Hals umdrehen. Nie hörte er auf irgendjemanden und setzte seinen eigenen Kopf durch!
 

„Kunikida-kun wird mich also beschützen? Wie ein wahrer Gentleman~“, kam es dann von ihm und er riss sich los, packte Kunikidas Hand und zog ihn hinterher.
 

Gemeinsam verließen sie die Straße und kamen einer abgelegenen Wohngegend näher. Deutlich weniger Leute befanden sich auf den Straßen und man erkannte mit einem Blick, dass sie sich von der viel belebten Innenstadt entfernten. Dann ein großer Stacheldrahtzaun und feste Mauern, die ein verlassenes Firmengrundstück umzäunten. Dazai lief weiter, führte Kunikida zu einem kleinen Loch im Stacheldrahtzaun und quetschte sich hindurch. Das Grundstück wurde offenbar schon seit Jahren nicht mehr offiziell genutzt. Überall wucherte Unkraut. Alte Holzpaletten, die man auf dem Gelände hatte stehen lassen, moderten vor sich hin und Fässer und Kisten waren hier und da verteilt. Kunikida wollte etwas sagen, denn immerhin betraten sie hier ein abgeriegeltes Grundstück, wo niemand Zutritt hatte und somit traten sie erneut auf Recht und Ordnung. Dazai jedoch packte ihn, warf ihn auf den Boden und drückte sich auf ihn, hielt ihm den Mund zu. Dazai war ihm so nahe, dass er leicht in Panik geriet. Er konnte Dazais Hüfte auf seinem Oberschenkel spüren, konnte tief in dessen Augen blicken. Kunikidas Herz klopfte so wild, dass er befürchtete, dass Feinde ihn direkt aufspüren konnten, sofern sich welche hier befanden.
 

Dann hörte er mehrere Stimmen, die an ihnen vorbei gingen. Sie lauschten dem Gespräch.
 

„Hast du gehört? Sie haben Galos dingfest gemacht“, erklärte ein Mann. Seine Schritten waren fest, Kunikida ahnte Springerstiefel und eine volle Kampfausrüstung, konnte sich jedoch nicht sicher sein, da er sich nicht wagte, sich zu bewegen. Das hohe Gras versteckte sie und solange er ruhig blieb, würde man sie nicht aufspüren können.
 

„Ich sag dir eins: Henkō ist endgültig erledigt! Lass uns auch abhauen. Der Job lohnt sich nicht mehr. Hab keinen Bock mich in einen Mileukrieg einzumischen, sollen sich die Obergangster dieser Stadt doch gegenseitig die Schädel einschlagen... damit will ich nichts zu tun haben“, grummelte der andere.
 

„Aber Henkō ist unser Auftragsgeber und sie haben bereits im Vorfeld gezahlt... es ist unser Job die Ware zu bewachen und sicher zu gehen, dass keiner hier reinkommt.“
 

„Ich werde doch nicht mein Leben für einen Boss aufs Spiel setzen, der im Knast sitzt. Du bist noch viel zu jung und unerfahren... ich sag dir eins: Yokohama ist anders. Wenn hier einer Schwäche zeigt, nutzen das alle aus. Wenn wir Pech haben, murkst man uns ab, weil wir zum falschen Zeitpunkt auf der falschen Seite gekämpft haben.“
 

„Wenn wir jetzt abhauen, wird man uns als Deserteure ansehen. Dann kriegen wir nie wieder ein Angebot.“
 

Die beiden Wachen liefen vorbei. Dazai warf den beiden Wachen einen prüfenden Blick hinterher, machte aber keinerlei Anstalten von seinem Kollegen runterzugehen. Kunikida räusperte sich leise, wartete darauf, dass Dazai ihm wieder Beachtung schenkte. Dazai lächelte und stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose, doch Kunikida war sich sicher, dass ihm diese plötzliche Nähe genauso peinlich gewesen war wie ihm. Oder hatte er sich mit Absicht auf ihn geworfen? Kunikida wusste gar nicht mehr, was Dazais Intentionen waren!
 

„Wir schleichen uns ins Gebäude, stellen den Bombenleger, setzen ihn außer Gefecht und gehen dann einen trinken“, erklärte Dazai den Plan, nickte Kunikida bestimmend zu.
 

„Nein, wir schleichen uns ins Gebäude, setzen den Bombenleger ohne direkte Konfrontation außer Gefecht und gehen dann wie normale Menschen nach Hause“, korrigierte Kunikida.
 

„Spaßbremse“, murrte Dazai nur und schlich über das Gelände. Kunikida folgte ihm.
 

Moment. Dazai schien bereits genau zu wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Aber woher? Kunikida war sich nicht sicher, was ihm mehr Sorge machen sollte, die Tatsache, dass Dazai sich auf diesem abgeriegelten Grundstück wie in seiner eigenen Westentasche auskannte oder aber, dass er wusste, mit wem sie es zu tun hatten und sein Wissen wie so oft nicht mit seinem Kollegen teilte. Dazai zeigte ihm den Weg. Er wusste, wo man sich am besten verstecken konnte. Sie kamen dem alten Gebäude näher und schlichen vorsichtig zur Hintertür hinein. Ein altes Lagerhaus. Die Stahlträger waren stark verrostet, Dreck, Schutt und Asche lag überall verteilt. Staub wirbelte in der Luft empor, als sie durch die Halle streiften. Kunikida ermahnte sich selbst, nicht zu husten und hielt sich ein Taschentuch vor dem Mund.
 

Vor einigen Kisten blieben sie stehen. Dazai grinste, beugte sich zur Holzkiste vor und strich über die Oberfläche des Holzes. Plötzlich zuckte er zusammen, was Kunikida ermahnte, sodass er sofort in Kampfstellung überging, bereit jeden Gegner zu erledigen. Dazai wimmerte und hob seinen Zeigefinger, schniefte gespielt und formte mit seinen Lippen einen Schmollmund.
 

„Ich hab mir einen Splitter zugezogen“, jammerte er und sah Kunikida an.
 

Dieser stöhnte nur genervt, beruhigte sich jedoch wieder. Keine Alarmstufe. Nur mal wieder einer von Dazais kindischen Ablenkungsmanövern, um von der Mission abzulenken. Insgeheim wunderte sich der Blonde, ob Dazai – der selbst vorgeschlagen hatte, den Bombenleger aufzuhalten – bereits das Interesse verloren hatte, doch er schüttelte den Gedanken ab. Es war einfach unmöglich, Dazai zu verstehen. Kunikida verkniff sich einen spitzzüngigen Kommentar, packte Dazais Hand grob und begutachtete den Splitter. Das Stück war groß genug, es mit bloßer Hand hinauszuziehen, was er auch sofort tat. Im nächsten Moment zog Kunikida sein Stofftaschentuch hervor und umwickelte Dazai Finger damit. Dieser sagte kein Wort, blinzelte verwirrt und sah Kunikida erstaunt an, als könnte er seinen eigenen Augen nicht trauen. Der Blonde war sich selbst nicht sicher, warum er so behutsam Dazais kleines Wehwehchen behandelte.
 

„Sei gefälligst vorsichtiger“, mahnte der Blonde, räusperte sich und errötete. Die Verlegenheit stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben und Dazai grinste über beide Ohren hinweg.
 

„Kunikida-kun~ ♥“, trällerte Dazai und tänzelte auf der Stelle.
 

Kunikida ließ ihn nicht weitersprechen.
 

„Muss ich dich daran erinnern, dass wir einem Bombenleger auf der Spur sind und dass das hier nicht nur im höchsten Maße illegal ist, sondern dass wir unser beider Leben hier aufs Spiel setzen ohne auch nur eine verlässliche Information zu haben?“
 

„Stimmt doch gar nicht. Ich bin mir zu 99% sicher, dass er hier auftauchen wird.“
 

„Was macht dich so sicher?“ Kunikida beäugte ihn misstrauisch.
 

Dazai zeigte grinsend auf die Kisten. Fragend hob Kunikida eine Augenbraue, öffnete dann die Kiste und stolperte erschrocken zurück.
 

„Waffen sind in Japan verboten, was machen dann diese Gewehre hier?!“
 

„Das sind Sturmgewehre der Art HK433. Ziemlich beliebt auf den Schwarzmarkt und in den anderen Kisten lagert auch so einiges illegales Zeug. Möchte Kunikida-kun diese auch öffnen und einen Blick reinwerfen?“
 

Kunikida atmete tief ein und wandte sich dann von der Kiste und ihrem abscheulichen Inhalt ab. Waffen waren in diesem Land verboten. Henkō war eine philippinische Bande, die hier Fuß fassen wollte und dessen Mitglieder entweder als Zeitarbeiter oder illegal ins Land eingewandert waren. Sie hatten die größte Untergrundorganisation Yokohamas – die Port Mafia – herausfordern wollen und waren bei diesem wahnwitzigen Versuch gescheitert. Es macht durchaus Sinn, dass Ausländer Waffen mitbringen und sie hier auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollen.
 

„Was ist in den anderen Kisten?“, fragte Kunikida neugierig, blieb möglichst ruhig. Es war ihm durchaus suspekt, dass Dazai so viel Ahnung hatte und es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er sich in diesen Kreisen bewegte, aber er musste zugeben, dass Dazais Informationen immer verlässlich waren und dass einige Fälle nur aufgrund von Dazais Insiderinformationen gelöst werden konnten. Auch das hier.
 

„Cannabis, Marihuana, Ganja, Pillen... allerhand Drogen, die man gut an Jugendliche verticken kann. Der Drogenhandel ist für kriminelle Vereinigungen eine lukrative Einnahmequelle und eine sichere Geldquelle. Die meisten Kunden kommen immer wieder“, erklärte Dazai in ernster Tonlage.
 

„Das ist doch abartig... wie kann man Kindern und Jugendliche absichtlich abhängig machen? Was ist, wenn sie erwischt werden?“
 

„Oh, du kennst doch die Strafe für den Besitz von Drogen. Ein paar Jahre Gefängnis sind schon drin.“
 

„Und das rührt dich nicht?“
 

Kunikida war aufgebracht. Warum blieb Dazai so ruhig?
 

„Kunikida-kun scheint vergessen zu haben, dass ich in der Port Mafia war“, kicherte dieser amüsiert, drehte sich dann einfach weg und tapste weiter durch das Lager. Kunikida schnaubte, lief Dazai hinterher und packte ihn am Kragen, drehte ihn zu sich herum.
 

„Das beantwortet meine Frage nicht! Wie kannst du dabei so gleichgültig bleiben?!“, schimpfte er. Dazai blieb weiterhin ruhig, verdrehte lediglich die Augen, ehe in gleichbleibender Tonlage Kunikidas Frage beantwortete. Keinerlei Gefühlsregung zu sehen.
 

„Das interessiert mich nicht. Man kann nicht jedem helfen und wenn Jugendliche blöd genug sind, sich zum Drogenkonsum verleiten zu lassen und abhängig zu werden, dann ist es ihre eigene Schuld.“
 

„Wie kannst du das nur sagen?!“
 

„Du hast also Mitleid mit Abhängigen?“
 

„Natürlich! Sie sind jung und brauchen eine führende Hand! Niemand nimmt Drogen, nur weil er gerade Lust darauf hat, das hat immer Gründe, die im sozialen Umfeld anfangen und auf eine psychische Schwäche zurückzuführen ist. Diese Jugendliche brauchen Hilfe und nicht Ablehnung“, erklärte der Blonde, ließ Dazai nun endlich los. Dieser sagte kein Wort. Sein Blick war leer, wieder dieses gefährliche Funkeln in seinen Augen. Kunikida wusste nicht, was gerade in Dazais Kopf vor sich ging. War er wütend? Traurig? Irgendetwas musste er doch denken und fühlen! Doch Dazais Blick blieb weiterhin unverändert. Es war ihm offenbar komplett egal, dass Kinder und Jugendliche von diesen schäbigen Banden in eine Abhängigkeit verführt wurden, die ihr ganzes Leben zerstören würde. Doch Kunikida konnte das nicht zulassen.
 

Dazai sagte nichts weiter mehr. Sie wanderten durch die Lagerhalle. Stunden vergingen. Die Söldner draußen wurden zunehmend weniger. Sie waren ihrem Boss und der Gruppe Henkō offenbar nicht treu ergeben. Geld war eine große Motivation. Da Galos eingesperrt worden war, gab es keinen Arbeitgeber mehr und der Großteil der Söldner zog von dannen, ließen die Lagerhalle komplett unbewacht. Dazai setzte sich auf eine der Kisten ab. Kunikida zückte sein Notizbuch und schrieb alles auf, was ihm hier widerfahren war. Die mutmaßlichen Täter, die Verbindungen. Dazai zog die Beine an den Körper, stützte seinen Kopf auf seinen Knien ab und beobachtete seinen Kollegen, der so fleißig arbeitete und rasant mit seinem Füllfederhalter über das Papier segelte.
 

Sie brauchen Hilfe... keine Ablehnung, wiederholte Dazai gedanklich und schloss seine Augen.
 

Er schüttelte den Gedanken ab. Er durfte jetzt nicht die Konzentration verlieren. Er warf einen Blick auf sein Smartphone. Fast 16:00 Uhr. Dazai schluckte. Er wird gleich da sein...
 

„AHH!“, schrie Dazai plötzlich auf und Kunikida fuhr erschrocken zusammen, warf einen Blick zu seinem brünetten Kollegen, der von der Kiste sprang und sich seinen Schritt hielt.
 

„Ich muss ganz dringend mal wohin!“, erklärte er dann und lief an Kunikida vorbei.
 

„Was? Wo musst du hin?!“, fragte der Blonde perplex. Das konnte doch nicht Dazais Ernst sein? Dazai rief ihm über seine Schulter hinweg noch etwas zu, doch Kunikida schüttelte nur noch genervt den Kopf. Natürlich musste er ausgerechnet jetzt pinkeln. So typisch für Dazai. Manchmal fragte sich Kunikida, ob Dazai auch als Kind zu der Sorte gehörte, die beim Einkaufen ganz plötzlich zur Toilette musste, obwohl sie vorher ausreichend Zeit gehabt hätten, zu gehen. Kunikida warf einen Blick durch die Lagerhalle, notierte weiterhin alles, was ihm auffiel. Fußspuren. Blut am Boden. Diese Kisten.
 


 

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Dazai verließ das Gebäude, stellte sicher, dass die Lagertür hinter sich geschlossen war und atmete noch einmal tief ein, dann sah er sich um und analysierte seine Lage. Es waren insgesamt nur noch fünf Wachen hier, verteilt auf dem großen Grundstück und glücklicherweise weit genug von der Lagerhalle selbst entfernt. Dazai wusste genau, was ihn erwartete. Nein, wer ihn erwartete. Und ohne, dass er dessen Namen aussprechen musste oder seinen Gedanken zu Ende führen konnte, hörte er Schritte neben sich, ein dumpfes Klacken. Er wusste sofort, dass sein Gegner Getas trug. Er ließ sich nichts anmerken und tapste zu einem Baum, summte vergnügt vor sich hin. Die Person folgte ihm. Er fühlt sich sicher und glaubt, ich hätte ihn nicht bemerkt, dachte und öffnete laut hörbar seinen Reißverschluss von der Hose, wartete nur auf den richtigen Augenblick.
 

Der Fremde stürzte sich auf ihn, doch Dazai bückte sich und wich elegant zur Seite aus. Der weiße Laborkittel flatterte hin und her und im nächsten Moment trat Dazai ihm in seine Kniekehlen, sodass dieser hilflos nach vorne strauchelte, dann packte Dazai den grüben Schal und schnürte ihm die Luft ab.
 

„Motojirou Kaijii, nicht wahr?“ Keine Frage. Eher eine Aussage. Sein Gegner war nicht in der Lage zu sprechen. Er hockte auf den Knien und rang nach Luft, während Dazai erbarmungslos den Schal noch fester zuschnürte. Motojirou lief bereits knallrot an und irgendwann hörte er auf zu kämpfen. Erst als seine Arme reglos an seinen Seiten baumelten, lockerte Dazai den Griff und kickte ihn in den Rücken, sodass er vornüber ins Gras fiel. Dann hockte er sich neben ihn, legte seine Hand auf Motojirous Hinterkopf und drückte sein Gesicht in den Dreck, ließ ihn aber noch die Möglichkeit, wieder Luft zu schnappen und wartete geduldig darauf, dass sein Gegner wieder aufnahmefähig genug war.
 

„Ich bin verdammt schlecht gelaunt und ich habe wirklich keinen Bock einen unwichtigen Handlanger wie dich töten zu müssen, aber wenn du dich in Geschäfte einmischt, die dich nichts angehen, lässt du mir keine Wahl.“
 

„Ich handle auf Befehl vom Boss.“
 

„Nein. Ich kenne Mori-san weitaus länger als du schäbige Made und das Verletzen von Zivilisten ist noch nie ein Bestandteil einer Mission gewesen. Die Port Mafia arbeitet im Verborgenen und wir beschützen Yokohama bei Nacht. Das Töten von unschuldigen Bürgern geht gegen die Prinzipien und Leitregeln“, knurrte Dazai und schlug Motojirous Gesicht auf den harten Boden. Man hörte, wie das Glas seiner getönten Sicherheitsbrille splitterte.
 

„Ich habe niemanden getötet“, verteidigte sich der verrückte Möchtegernwissenschaftler.
 

„Aber du nimmst in Kauf, dass Menschen verletzt werden könnten. Das ist genauso ekelhaft. Ich sollte wohl ein ernstes Wörtchen mit Mori-san sprechen, damit er dir die Leviten liest.“
 

„Ich führe lediglich Befehle aus“, hauchte er, doch weiter konnte er nicht sprechen, denn Dazai schlug sein Gesicht erneut auf den Boden, grinste dabei amüsiert und kicherte leise.
 

„Du verschwindest von hier und überlässt das Beseitigen der Ware echten Profis, bevor ich mich vergesse und deinen Schädel einschlage“, sagte er dann ruhig. Motojirou wollte noch etwas entgegnen, doch Dazai ließ ihn nicht zu Wort kommen, schlug sein Gesicht erneut auf den Boden. Das Glas seiner Sicherheitsbrille war komplett gesprungen und die einzelnen Splittern steckten in seinem Gesicht. Blut und Dreck klebte in seinem Gesicht. Dann ließ Dazai seinen Haarschopf los, erhob sich und drehte ihn auf den Rücken, beugte sich mit einem zuckersüßen Lächeln zu ihm herunter und klimperte mit seinen Wimpern.
 

„Sag deinem Boss, dass The Demonic Prodigy sich um diese Angelegenheit gekümmert hat“, dann wandte er sich ab.
 

„Warte... du bist...?!“, keuchte Motojirou, doch Dazai schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit mehr und machte sich auf den Weg zu seinem Kollegen zurück, während sein beiger Trenchcoat im Wind flatterte und er vergnügt eine Melodie summte, die der Bombenleger wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen noch hören würde.
 


 

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„Du hast aber lange gebraucht“, grummelte Kunikida und schob sich seine Brille mit dem Mittelfinger hoch.
 

„Ich bekam unangemeldeten Besuch“, meinte Dazai nur und setzte sich wieder auf dieselbe Kiste, auf der er zuvor gesessen hatte. Sein Kollege warf ihm einen Blick zu.
 

„Was? Hat einer der Wachen dich gesehen?“
 

„Ahhh~ macht sich Kunikida-kun etwa Sorgen um mich? ♥“
 

„Wurdest du gesehen oder nicht?“
 

„Nein, die Wachen haben mich nicht gesehen, aber der Bombenleger hat mich überrascht“, meinte Dazai nur und machte es sich bequem, während Kunikida kurz vorm Explodieren war und sich direkt vor ihm positionierte.
 

„WAS?!“, keifte er dermaßen laut, dass er im Nachhinein befürchtete, dass spätestens jetzt, sämtliche Wachen alarmiert waren, doch Dazais Art regte ihn derart auf, dass es ihm unmöglich war, seine Wut zu zügeln.
 

„Nun, ich war gerade am pieseln, weißt du? Also konnte ich ihm nicht hinterher laufen, aber er scheint geflohen zu sein“, meinte Dazai nur und lächelte lieb.
 

„Du hast ihn gehen lassen?!“
 

„Entschuldige?! Hat Kunikida-kun etwas in den Ohren? Ich war am pinkeln! Es ist doch eine Sache der Hygiene mindestens zweimal abzuschütteln, bevor man den trockenen Penis zurücksteckt!“
 

„Das kann schon sein, hat aber absolut nichts damit zu tun, dass du nicht sofort zurückgekommen bist, zum mir Bescheid zu geben! Stattdessen setzt du dich hier wieder hin und machst es dir gemütlich?! Sag mal, hast du noch alle Latten am Zaun?“, keifte Kunikida nun noch lauter.
 

Dazai formte einen Schmollmund und gab ein empörtes „Pah“ von sich und drehte beleidigt den Kopf weg.
 

„Und selbst jetzt hältst du es nicht für nötig, etwas zu unternehmen?!“
 

„Wieso denn auch? Der Kerl ist über alle Berge und ich habe keine Lust mehr. Mir tun die Beine weh und ich hatte echt genug Auslauf für heute. Morgen ist auch noch ein Tag.“
 

„Ich schwöre, ich verliere den Verstand! Wie kann ein Detektiv so viele Fehler auf einmal machen?“
 

„Oh, ich bitte dich, Kunikida-kun!“ begann Dazai mit fester Stimme und sprach dann stolz weiter: „Fehler sind für Anfänger. Ich bin Profi und produziere Katastrophen.“
 

Von draußen hörte man, wie einige Kisten zu Bruch gingen...

Kapitel 13

Die Tage vergingen und der Alltag kehrte zurück zur Armed Detective Agency. Das Telefon klingelte unbarmherzig, Fallakten stapelten sich und ein jeder ging seinen Aufgaben nach. Lautes Geplapper im Büroraum, surrende Computer und das Rascheln der Vorhänge bei jeder aufkommenden Brise. Ein ganz normaler Tag. Wie immer. Aber irgendwie auch nicht. Beinahe wehmütig warf Atsushi einen Blick auf die unbesetzte Couch. Dann zu Kunikidas Schreibtisch. Kunikida Doppo hatte in seinem ganzen Leben keinen einzigen Krankheitstag. Doch seit Dazais Entlassung hatte er sich Urlaub genommen und Fukuzawa hatte dies sofort bewilligt. Dazai wohnte derzeit bei seinem blonden Kollegen und war seit seiner Entlassung kein einziges Mal im Büro gewesen.
 

Daraufhin linste er zu Dazais Schreibtisch. Bis vor ein paar Tagen war ein großer Stapel Akten und Unterlagen auf seinem Schreibtisch gewesen – unbearbeitet, darauf wartend, endlich geöffnet zu werden. Kunikida hatte den Großteil erledigt, in der Zeit, als Dazai auf der Intensivstation lag. Und nun waren beide Schreibtische leer. Atsushi vermisste die beiden Streithähne. Ohne Dazai war die ganze Atmosphäre anders und da Kunikida nicht vor Ort war, blieben die meisten Akten ungeöffnet. Notfälle wurden sofort angenommen. Jedes Mal, wenn die Polizei anrief und um Verstärkung und Hilfe bat, machten sich Atsushi, Kyouka und Tanizaki auf den Weg.
 

Und schon wieder ein eingehender Anruf. Schon wieder ein brennendes Gebäude. Tanizaki und Atsushi machten sich auf den Weg, um die Ort des Verbrechens zu untersuchen und nach Hinweisen auf den Täter zu suchen.
 

„Schon wieder Brandstiftung? Hört das denn nie auf?“, grummelte Tanizaki, der seinen Kopf hängen ließ und mit Atsushi losgegangen war, um den Tatort nach weiteren Spuren zu untersuchen. Der Silberhaarige schluckte. Er kannte die Gegend. Tanizaki führte ihn direkt in Dazais Wohngegend. Man hatte zur Sicherheit große Teile abgeriegelt und die Polizisten hießen die beiden Detektive willkommen. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam Atsushi. Das war nicht irgendeine Wohnung, sondern Dazais Apartment, das dort lichterloh brannte. Die Außenwände des Gebäudes brachen langsam in sich hinein und eine riesige Staubwolke verhinderte ihnen die Sicht. Keuchend rang er nach Atem. Der Rauch und der aufkommende Staub ließen seine Augen tränen.
 

Der Polizist, der den Einsatzort abgeriegelt hatte, erklärte ihnen, was geschehen war und aufmerksam hörten die beiden zu.
 

„Ein Glück, dass niemand im Gebäude war“, meinte der Mann und verschränkte die Arme. Die Löscharbeiten der Feuerwehr hielten weiterhin an. Noch immer konnte Atsushi nicht fassen, was geschehen war. Dazais Wohnung war nichts weiter mehr als eine Ruine.
 

„Wir gehen von Brandstiftung aus, aber es könnte durchaus eine Gasexplosion gewesen sein“, hieß es und Atsushi fröstelte es am ganzen Körper.
 

Er hörte nur das Wort Brandstiftung und vor seinem geistigen Auge sah er den schwerverletzten Dazai, der Blut spuckend und röchelnd am Boden lag, als er angeschossen wurde. Er senkte den Blick. Unmöglich. Seine Konzentration war komplett weg. Tanizaki hörte den Männern aufmerksam zu, doch Atsushi starrte teilnahmslos auf den Boden. Kein einziges Wort drang zu ihm durch. Stattdessen sah er Bilder vor sich, die ihn lähmten. Genau hier hatten sie Dazai vor einigen Wochen halb tot aus seiner Badewanne gezogen. Und nun war nichts mehr übrig. Flammen, die sich ausbreiteten und drohten, auf die anderen Häuser überzugehen und das Rauschen von Wasser, das unnachgiebig gegen das alles auslöschende Feuer ankämpfte.
 

Atsushi sah auf, warf einen Blick in die Flammen, sah den aufkommen Qualm und den Bauschutt, der Staubwolken in die Luft transportierte und fühlte sich genauso hilflos wie an dem Abend, an dem er und Kunikida Dazai zur Rettung kommen wollten. Sämtliche Mitglieder von Henkō hatte er mit seinen mächtigen Tigerpranken niedergerissen und besiegt, während Dazai reglos am Boden lag. Ein verirrter Schuss. Nur eine Patrone, die sich gelöst hatte und Dazai traf. Und all das, weil wir uns eingemischt haben. Es war meine Schuld, dass Dazai beinahe gestorben wäre. Ich habe die Wand eingerissen. Die Schuldgefühle, die Atsushi verfolgten, ließen ihn nicht los.
 

An jenem Abend hatte er unüberlegt gehandelt...
 


 

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„Dazai-san ist in Gefahr!“, rief Atsushi erschrocken aus und lauschte den Worten. Dazai war umzingelt und wenn sie nicht ihm nicht schnellstmöglich zur Hilfe kamen, würde er vielleicht umkommen. Seine Hände verwandelten sich in Tigerpranken und ohne großartig weiter zu überlegen, riss Atsushi die Wand nieder, während er irgendwo aus weiter Ferne noch Kunikidas mahnende Worte hörte, die ihn nicht mehr erreichten, sondern nichts weiter waren als ein Teil der Geräuschkulisse. Brüllend hetzte er in den Raum und rang die Männer nieder. Dann ein Schuss. Er sah aus dem Augenwinkel heraus, wie Kunikida mit bloßen Händen zwei Männer niederschlug. Elegant wich er ihren Angriffen aus, nutzte ihre eigene Kraft gegen sie und rang sie zu Boden. Der Staub legte sich langsam.
 

Als er endlich den Raum um sich herum erkennen konnte, sah er, wie Dazai zu Boden ging. Wie in Zeitlupe sah er, wie Dazai dem Boden immer näher kam, auf seinen Lippen ein Lächeln, während seine Augen eine merkwürdige Zufriedenheit ausstrahlten. Röchelnd lag er am Boden. Nur wenige Sekunden später bildete sich ein Blutlache unter ihm. Reglos betrachtete er die Decke. In diesem Moment gab es keine quälenden Gedanken mehr. Eine innere Ruhe kam in ihm auf. Seine Lunge gab auf und er konnte genau spüren, wie sein Herz immer langsamer schlug. Völlige Benommenheit. In Dazai herrschte eine Leere und obwohl er genau sehen konnte, dass sich Atsushi schreiend und weinend über ihn beugte, so nahm er ihn dennoch nicht wahr.
 

Immer war da diese Hand gewesen, die sein Herz umklammerte, es in der Faust zerdrückte und ihn quälend bewusst machte, dass er am Leben war. Dieser eigenartige Schmerz in seinem Herzen, das Bewusstsein am Leben zu sein und dieses schwarze Loch, das ihn tagtäglich erneut zu verschlingen drohte. Die Hand ließ sein Herz endlich los. Kein Schmerz. Sein Herz hörte auf zu schlagen und die Finsternis überkam ihn. Atsushis Wehklagen erreichte ihn nicht. Dass Kunikida ihre Gegner fesselte, die Polizei und den Notdienst rief, bekam er auch nicht mit. Selbst wenn er seine Umgebung noch wahrgenommen hätte, wäre es ihm egal gewesen, denn endlich kam er zur Ruhe. All die negativen, quälenden Stimmen verstummten mit einem Mal.
 

„Verdammt, weg da!“, brüllte Kunikida und schubste den weinenden Atsushi weg. Mit verheulten Augen sah er zu, wie Kunikida Dazai wiederbelebte. Minutenlang beatmete er ihn und massierte Dazais Herz, riss sich seine Weste und sein Hemd vom Leib, drückte seine Kleider auf die große Schusswunde in Dazais Brustkorb und ließ nicht locker, weiterhin Maßnahmen zu ergreifen, um seinen Kollegen am Leben zu erhalten.
 

Atsushi hockte am Boden. Hilflos. Machtlos. Er war nichts weiter als eine Last. Nichts konnte er tun. Nur zusehen, wie Kunikida um Dazais Leben kämpfte. Und was tat er? Nichts. Er saß hier, während die Sirenen immer lauter wurden. Die Rettungskräfte nahmen Dazai und Galos mit, die beide so schwer verwundet waren, dass sie das Bewusstsein verloren hatten. Die Polizisten, die ihm Fragen zu dem Geschehen stellten, waren für ihn nichts weiter als schemenhafte Gestalten. Ihre Stimmen hörte er nicht. Obwohl er als Menschentiger sich sonst damit rühmte, fast jedes Geräusch noch aus weiter Entfernung zu hören, so fühlte er sich in diesem Moment, als hätte man ihn in Watte getaucht. Es war Kunikida, der Dazais Leben gerettet hatte.
 


 

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An Ort und Stelle eingefroren. Kein Muskel bewegte sich. Ein trüber Blick auf die Überreste des Gebäudes. Atsushi stand bereits seit Stunden hier und beobachtete die Feuerwehrleute bei ihrer Arbeit, starrte unentwegt in die Flammen, die das Gebäude eingeschlossen hatten und langsam nachließen. Ein ausgebranntes und halb eingefallenes Gebäude war alles, was übrig blieb. Wie fühlte es sich an, ein geliebtes Heim zu verlieren? Atsushi kannte die Antwort nicht. Denn er hatte nie materielle Gegenstände besessen. In dem Waisenhaus, in dem er Jahre verbracht hatte, hatte er nicht mal ein eigenes Zimmer und den Großteil der Zeit hatte er im Kellergeschoss verbracht. Angekettet wie ein Tier. Hinter Gittern. Oft hatte er sich gewünscht, etwas zu haben, das nur ihm gehörte und das niemand ihn wegnehmen konnte. Obgleich er wusste, dass der Heimleiter ihn niemals erlauben würde, etwas als sein Eigentum zu bezeichnen.
 

„Es ist nichts übrig“, hauchte Tanizaki und legte tröstend eine Hand auf Atsushis Schulter.
 

„Dazai-san“, flüsterte Atsushi und biss sich auf die Unterlippe.
 

„Wir müssen den Brandstifter finden“, knurrte Tanizaki dann, ehe er seinen Griff um Atsushis Schulter verstärkte und ihn endlich aus seinem tranceähnlichen Zustand herausholte.
 

Es gab keinerlei Hinweise auf einen Täter. Alles, was sie hatten, waren Spekulationen. Wage Informationen von denen man nicht einmal sicher sein konnte, dass sie der Wahrheit entsprachen. Der komplette Bezirk war heruntergekommen. Ein Milieu in dem hauptsächlich einkommensschwache Menschen und Kriminelle lebten und das erst bei Anbruch der Nacht sein wahres Gesicht zeigte. Tagsüber befand sich niemand auf den Straßen. Man hätte meinen können, dass es sich um eine Geisterstadt handelte, doch bei einigen Fenstern konnten die beiden Ermittler Bewohner erkennen, die neugierig heraus linsten und dem Spektakel zusahen.
 

Atsushi schüttelte den Kopf. Hier ging es um seinen Mentor! Einen Freund! Ein geliebter Mensch, der bereits am Boden war und Hilfe brauchte und wer auch immer es gewagt hatte, sein Heim niederzubrennen, würde dafür bezahlen. Ein warmes Licht umgab Atsushi und er nutzte die Macht des Tigers. Seine Pranken erschienen, seine Augen leuchteten und sein Gesicht verzerrte sich, nahm Merkmale eines Tigers an. Dann schloss er die Augen und schnupperte. Der Gestank des Rauches war unerträglich, aber er war sich sicher, etwas anderes wahrzunehmen. Ein süßlicher Duft. Parfüm? Oder eher ein After-Shave? Er schnüffelte weiter und folgte einer Fährte. Tanizaki lief ihm wortlos hinterher. Das Bezirk ließen sie hinter sich.
 

Noch immer folgte Atsushi dieser Spur, während Tanizaki seinen Blick aufmerksam hin und herwandern ließ, um verdächtige Personen zu erkennen. Es war bereits Nachmittag und die vielen Menschen, die nun auf die Straßen strömten, machten es Atsushi weitaus schwerer, dem Geruch zu folgen, also hechtete er voraus. Tanizaki riss erschrocken die Augen auf und erhörte ebenfalls das Tempo. Keuchend lief er dem Tigerjungen hinterher. Tanizaki war nie sonderlich sportlich gewesen und seine Ausdauer war alles andere als rekordverdächtig. Bereits jetzt quälten ihn Seitenstiche und er rang nach Atem. Dann preschte Atsushi in eine kleine Seitenstraße. Hier waren kaum mehr Menschen unterwegs. Graffiti verzierte sämtliche Wände und der Boden war voller Müll. Vor allem die Bierflaschen und zerbrochenen Gläser sprangen ihm direkt ins Auge.
 

Eine kleine Treppe führte in das Kellergeschoss eines Gebäudes. Eine Klubtür?
 

„Tanizaki-kun... ist es möglich mithilfe deiner Fähigkeit ungesehen hereinzukommen?“
 

Angesprochener nickte.
 

„Bist du dir sicher, dass wir da einfach reinstürmen sollten?“
 

„Beim letzten Mal wurde Dazai-san verletzt, weil ich unüberlegt gehandelt habe. Aber dieses Mal bist du hier und wir mischen uns nicht ein, sondern sammeln Informationen. Wenn wir etwas Brauchbares finden, rufen wir Verstärkung“, erklärte Atsushi selbstbewusst.
 

Lag es an seiner Tigerkraft, die ihm mit diesem Elan und Selbstbewusstsein ausstattete oder daran, dass er eine persönliche Motivation bei diesem Fall verfolgte? Immerhin wollte er den Täter finden, der es gewagt hatte, Dazais Heim in Flammen aufgehen zu lassen! Die beiden Ermittler nickten einander zu. Tanizaki aktivierte seine Fähigkeit und zog sich seine Haarspange heraus, mit der er versuchte das Schloss zu knacken. Bei Dazai sah das immer so leicht aus, doch er kam hierbei wirklich an seine Grenzen. Angestrengt wendete er das kleine Stück Metall hin und her, hoffte auf das erlösende, klickende Geräusch, das ihm bestätigte, dass die Tür nun offen war, doch mit jeder verstreichenden Sekunde wurde er ungeduldiger und er machte mehr Fehler.
 

Beim vierten Versuch schaffte er es. Keine Leistung, auf die er stolz sein sollte, trotzdem fühlte er sich so gut bei diesem Verbrechen, als hätte er eine Eins in Mathe geschrieben. Als die Tür sich vor ihnen öffnete, war dies ein unglaublich belohnendes Gefühl. Sie traten hinein. Die Lichter waren gedimmt. Auch hier konnte man an den Wänden Graffiti erkennen. Leuchtende Neonröhren, die den weiteren Abstieg in den Keller erhellten. Die Treppenstufen waren aus Stein und mussten schon ziemlich alt sein. Erst jetzt wurde ihnen klar, dass es sich hierbei um eine kleine Kellerdiskothek handelte oder gehandelt haben musste. Mit Sicherheit konnten sie nicht sagen, ob hier gefeiert oder doch eher illegal gehandelt wurde.
 

Ein schmaler Gang führte zu mehreren Türen. Stimmen waren zu vernehmen. Atsushi schluckte hart, sammelte sich dann wieder und lauschte. Lautstarkes Lachen, das Klirren von Gläsern und stimmungsvolle Jazzmusik im Hintergrund, die es ihm erschwerte, jedes Wort genau zu verstehen. Vorsichtig öffnete Tanizaki die Tür einen Spalt breit. Der Raum war in einem pinken Licht erfüllt, über der Bar hingen pinke Neonröhren und an den Sitzhockern an dem Tresen konnte man mehrere Personen erkennen, die Gläser in der Hand hielten und auf irgendetwas anstießen.
 

„Wo schlagen wir als nächstes zu?“, fragte einer mit einer besonders tiefen Stimme, die Atsushi an einen wütenden Grizzlybären erinnerte.
 

„Das Zentrallager der Mori Corporation wäre ein super Ausgangspunkt“, sagte ein anderer und leerte sein Glas mit einem Zug.
 

„Wäre das nicht zu auffällig? Wir wollen die Port Mafia aus der Reserve locken und sie ein bisschen sticheln, aber wenn wir direkt ihre Scheinfirma attackieren, werden sie sämtliche Geschütze hochfahren.“
 

„Wenn wir sie herausfordern wollen, müssen wir da angreifen, wo es richtig wehtut. Die Mori Corporation ist eine der reichsten Immobilienverwaltungsfirmen in ganz Japan und hat hunderte Kunden weltweit, wenn wir sie angreifen, wird es zu starken Verzögerungen bei ihren zukünftigen Projekten kommen und dann muss Mori reagieren und sein Augenmerk auf seine Firma richten“, erklärte der andere und orderte eine weitere Flasche, die er öffnete und gierig zur Hälfte leerte, dann grinste er breit und lachte amüsiert.
 

„Und wenn er mit dem Ruf seiner Firma beschäftigt ist, zünden wir ihre Lagerhallen an und schnappen uns ihre Handelsgebiete“, fügte er hinzu. Ein anderer lachte daraufhin lauthals los, schlug begeistert auf die Tischplatte.
 

„Demon Prodigy ist ausgeschaltet, aber wir müssen noch die anderen Executives ablenken“, sagte einer und gestikulierte wild mit seinen Händen drauflos.
 

„Was? Du hast das Schnuckelchen gekillt?“
 

„Was denn? Du stehst auf den kleinen Dämon?“
 

„Ich habe ihn einmal persönlich getroffen, er hat ein wunderschönes Gesicht! Könnte glatt ein Model sein!“
 

„Ach, stimmt ja! Du hast ja als Informant agiert und sowohl für Henkō als auch für uns Informationen beschafft“, sagte der eine und sie lachten drauf los. An der Aussage war nichts Lustiges zu erkennen, doch sie hatten scheinbar so viel Alkohol intus, dass sie selbst über einen vorbeifliegenden Staubfusel gelacht hätten.
 

„Dieser Idiot Mori denkt, er hätte den Krawallmacher endlich erledigt, aber er weiß nicht, dass Henkō lediglich ein Ablenkungsmanöver war. Der dumme Galos und seine Truppe sitzen jetzt hinter Gittern und kommen so schnell nicht mehr auf freien Fuß und jetzt haben wir freies Spiel.“
 

„Ich hab die Wohnung vom Dämon angezündet, aber er war nicht zuhause. Vielleicht versteckt er sich irgendwo, also wenn du ihn flachlegen willst, musst du ihn nur finden“, sagte er und man hörte in seiner Tonlage ein breites, angeheitertes Grinsen heraus.
 

Atsushi und Tanizaki schluckten beide und hielten den Atem an. Sie hatten eindeutig die Brandstifter gefunden. Verstärkung rufen? Rückzug? Sie brauchten eine Strategie. Sie durften nicht das Risiko eingehen, verletzt zu werden. Tanizaki wirkte angespannt und drückte Atsushi vorsichtig zur Seite, um so seinen Kopf durch den Spalt zu drücken und mehr von der Umgebung und den Personen im Raum sehen zu können. Sein Herz raste. Auf keinen Fall durfte er die Tür noch weiter öffnen, wenn er keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Auch wenn seine Fähigkeit sie unsichtbar machte, bedeutete das nicht, dass laute Geräusche oder plötzliche Veränderungen in der Umgebung, nicht zu sehen waren. Eine Tür, die sich auf magische Art und Weise öffnete, würde jeden alarmieren.
 

Angewidert verzog Tanizaki das Gesicht, als die Männer weiter über ihre Abenteuer tratschten. Dieser große Kerl hat einen Narren an Dazai-san gefressen. Wir sollten ihn besser warnen, bevor wirklich etwas passiert, dachte Tanizaki, bewegte sich dann vorsichtig zurück und schloss die Tür leise hinter sich, nickte seinem Kollegen entschlossen zu. Zumindest wussten sie nun, wo diese Kerle als nächstes zuschlagen würden. Dennoch war er sich nicht sicher, ob es nicht besser wäre, sich aus dieser Angelegenheit rauszuhalten. Das hier waren Gangster, die sich mit der Port Mafia anlegten. Wäre es nicht besser, die Probleme des Untergrunds dort zu lassen, wo sie hingehörten? In den Schatten?
 

Sie verließen das Gebäude. Als sie draußen ankamen, dämmerte es bereits und die bunten Straßenlichter erleuchteten die Straßen in vielen bunten Farben. Das Nachtleben erblühte und die Stadt zeigte ihre andere Seite. Tanizaki und Atsushi riefen bei der Detektei an und erklärten Fukuzawa, was sie ans Tageslicht bringen konnten. Fukuzawa seufzte tief.
 

„Wir sollten uns nicht in die Angelegenheiten der Mafia einmischen, aber bitte warnt Dazai und stellt sicher, dass er sich nicht unnötig in Gefahr bringt“, lautete Fukuzawas Befehl und die beiden Ermittler nickten. Endlich würden sie Dazai sehen und Atsushi stellte aufgeregt fest, dass er noch nie in Kunikidas Wohnung gewesen war. Wie er wohl lebte?
 


 

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Nach jedem Mahl stand der Abwasch bevor. Für Kunikida war es das Normalste auf der Welt, sein gebrauchtes Geschirr exakt fünf Minuten im Wasser aufweichen zu lassen und dann mit einem Schwamm fein säuberlich zu reinigen. Das Wasser musste exakt 45° Grad Celsius haben, die Menge des Schaumes bestimmte die Reinigungskraft und je nach Material des Gegenstandes änderte sich die Länge des Schrubbens. Klare Richtlinien. In Kunikidas Wohnung gab es Regeln. Feste Regeln. Unumstrittene Regeln, die Hygiene ebenfalls regelten.
 

Kunikidas Augen zuckte gefährlich.
 

Als er seinen neuen Mitbewohner zum ersten Mal abwaschen ließ, wurde schnell klar, dass er niemals wieder auch nur einen Finger an sein Geschirr legen würde, geschweige denn in die Nähe des Abwasches kommen würde. Drei Teller waren seinem Mitbewohner heruntergefallen. Klirrend waren sie zu Boden gegangen und die Scherben waren in der ganzen Küche verteilt. Beim ersten Teller hatte er noch ein Auge zugedrückt. Das konnte jeden Mal passieren. Beim zweiten Teller ein schmerzerfülltes Lächeln. Wortlos hatte er die Scherben weggeräumt. Nur um im nächsten Moment wieder durch ein lautes, klirrendes Geräusch aufgeschreckt zu werden. Da hatte es ihm gereicht und er hatte Dazai lauthals angeschrien, ihm den Schwamm aus der Hand gerissen und laut fluchend den Rest des Abwasches selbst erledigt.
 

Dazai war beschämt (vermutlich spielte er dies auch nur) und griff nach einem trockenen Tuch und unterstützte seinen Kollegen nach besten Gewissen, nur um im nächsten Moment ein Glas fallen zu lassen, welches glücklicherweise nicht in seine Einzelteile zersprang, doch Kunikidas Geduldsfaden endgültig reißen ließ. Seitdem hatte Dazai Küchenverbot. Nach einigen Tagen hatte er dieses gelockert. Dazai durfte seine benutzten Gläser in die Spüle zum Einweichen legen. Doch der Brünette tat genau dies nicht. Stattdessen stapelten sich mehrere benutzte Gläser neben dem Spülbecken. Mit Entsetzen stellte der Blonde fest, dass die Reste des Getränkes am Glasboden bereits getrocknet war.
 

Er zählte bis zehn. Ruhe bewahren. Dazai schlief auf der Coach. Die letzten Tage hatte Dazai nicht viel gemacht. Außer schlafen. Und nörgeln. Vor allem nörgeln! Die Coach wäre viel zu unbequem und Kunikida herzlos, da er einen verletzten Mann, ein weiches Bett verwehrte und ihn dazu verdonnerte, sein Leben mit endlosen Rückenschmerzen zu beenden. Dazai neigte eindeutig dazu überzudramatisieren und fand jeden Tag etwas Neues, das ihm gegen den Strich ging. Kunikida achtete sehr darauf, dass er liegen blieb und regelmäßig Mahlzeiten zu sich nahm – gerade letzteres war ein großes Streitthema.
 

Kunikida rieb sich angestrengt das Nasenbein. Wie konnte ein Mann in diesem Alter nur so wählerisch sein? Der Reis zu hart, die Soße zu scharf, das Gemüse zu bitter, der Fisch ungenießbar, der Kaffee nicht süß genug und das Wasser zu kohlensäurehaltig. Und wenn er mal etwas aß, dann so kleine Portionen, dass Kunikida zweifelte, dass ein Mann dieser Größe davon satt werden konnte. Doch ihn zum Essen zu zwingen, hatte beim letzten Mal zu einem Streit geführt. Zwei Tage hatte Dazai kein Wort mit ihm gewechselt und immer nur die Nase gerümpft, wenn er in seine Nähe kam und weil er einen schweigenden Dazai weitaus unerträglicher empfand, als einen sinnlos daher plappernden Dazai, hatte er beschlossen, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen und seinem Kollegen diesen Sieg zu schenken.
 

Das nächste Problem war, dass Dazai sich langweilte und ständig aufstand und nach Beschäftigung suchte. Ruckzuck hatte er seine Buchsortierung durcheinander gebracht. Jedes Buch, das er aus dem Regal zog, kommentierte er mit: „Langweilig“ oder „Kenne ich in und auswendig!“, nur um es dann achtlos neben sich fallenzulassen und das nächste herauszuziehen. Nachdem er ihn ausgeschimpft hatte, hatte er die Bücher ins Regal zurückgestellt. Unsortiert! Was für ein Ärgernis! Dabei hatte Kunikida peinlichst genau darauf geachtet, die Bücher nach Erscheinen einzusortieren und die für ihn wichtigsten Autoren nebeneinander einzugliedern, um Nachschlagewerke, von denen er wusste, sie öfter zu brauchen, schnell zur Hand zu haben.
 

Nichts blieb unkommentiert. Die Gardinen zu weiß, die Tapete zu hell, der Boden nicht bequem genug (bis jetzt wunderte sich Kunikida, warum dies überhaupt wichtig war, andererseits hätte es ihn nicht verwundert, Dazai auf dem Boden liegend schlafend vorzufinden) und die Badewanne zu klein, die Hygieneartikel nicht nach seinem Geschmack und eigentlich fand Dazai überall etwas, woran er etwas auszusetzen hatte und was er als Grund vorschob, endlich nach Hause gehen zu können. Doch Kunikida ließ nicht locker. Ließ seinen Kollegen nicht gehen und achtete weiterhin darauf, dass der Brünette sich ordentlich erholte. Dazai so zu bemuttern war anstrengend. Nervenaufreibend. Die wohl schwierigste Mission, die er je erhalten hatte.
 

Er ließ die angetrockneten Gläser im Wasser aufweichen und entschloss nach Dazai zu sehen, um sicherzugehen, dass er nicht schon wieder Unsinn trieb. Er warf einen Blick ins Wohnzimmer. Dazai schlief immer noch auf der Coach. Kunikidas Auge zuckte. Dazai hatte seine Socken auf dem Boden verteilt! Und die Hose direkt vor der Coach auf dem Boden abgelegt. Typisch! Leise grummelnd hob Kunikida die Kleidungsstücke auf, faltete sie zusammen und legte sie auf den Coachtisch ab, dimmte das Licht etwas und deckte seinen Kollegen zu. Einen Moment verharrte er in seiner Position, beobachtete Dazais friedliches Gesicht, der das große Coachkissen an seine Brust gedrückt hielt und seine Beine angewinkelt hatte.
 

Kunikida hatte eines gelernt, seit er mit Dazai ein Dach teilte: es kam äußerst selten vor, dass Dazai ruhig schlief. Meistens wachte er mitten in der Nacht auf. Manchmal schrie er und wimmerte, doch Kunikida brachte den Mut nicht auf, ihn nach dem Grund seiner Alpträume zu fragen. Stattdessen setzte er sich mitten in der Nacht zu ihm und las aus seinen Büchern vor, solange bis Dazai sich wieder beruhigt hatte. Sie sprachen nicht darüber. Sie vermieden es über Dazais Schlafprobleme zu reden. Dazai reagierte gereizt, wenn Kunikida versuchte, das Thema anzuschneiden und Dazai blockte ohnehin nach nur wenigen Fragen ab.
 

Seit fünf Tagen lebten sie nun zusammen. Kunikida seufzte und ging in sein Schlafzimmer, wo er seinen Laptop hochfuhr und die neuesten Nachrichten durchging. Brandstiftung. Raub. Festnahme von Dealern. Beschlagnahmung von Drogen. Bis auf die Brandstiftung keine Nachricht, die ihm sonderlich ins Auge sprang. Er grübelte, was das zu bedeuten hatte und ob dies etwas mit dem Bombenleger zu tun haben könnte, den Dazai hatte entwischen lassen.
 

Sein Smartphone vibrierte. Tanizaki und Atsushi kündigten sich an. Eigentlich wollte er die beiden direkt abwimmeln, doch es schien so, als hätten sie wichtige Informationen, die sie unbedingt teilen mussten. Kunikida konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Im Zeitalter von Smartphones und Internet hätten sie ihn jederzeit erreichen können und ihm sofort sagen können, was sie zu sagen hatten, aber er wusste genau, dass die beiden in Wirklichkeit nach Dazai sehen wollten.
 


 

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Kunikida ließ seine beiden Besucher in seine Wohnung.
 

„Seid aber bitte leise, Dazai schläft“, meinte er und führte die beiden in seine Küche.
 

Atsushi sah sich neugierig um und versuchte in das Wohnzimmer zu sehen, welches jedoch so abgedunkelt war, dass er kaum etwas erkennen konnte. Etwas enttäuscht, Dazai nicht gesehen zu haben, setzte er sich zu den anderen beiden. Kunikida hatte grünen Tee vorbereitet und bereits Tassen mit Untersetzern hingestellt. Er wirkte etwas angespannt.
 

„Was war so wichtig, dass es nicht bis morgen warten konnte?“
 

Tanizaki und Atsushi fuhren in sich zusammen, denn zu deutlich war der Vorwurf herauszuhören.
 

„Seit einigen Tagen gibt es einen Fall von Brandstiftung“, murmelte Tanizaki, sichtbar eingeschüchtert.
 

„Dazai-sans Wohnung wurde niedergebrannt und wir haben die Täter ausfindig gemacht“, sagte Atsushi selbstbewusst. In seinen Augen leuchtete Zorn und der Drang nach Gerechtigkeit.
 

Kunikida stellte seine Tasse laut hörbar ab und sah seine beiden Kollegen ungläubig an. Dazais Wohnung wurde verbrannt?! Das heißt, er wird wohl oder übel solange bei mir wohnen müssen, bis er eine neue Wohnung hat, überlegte er. Wäre Dazai ein etwas besserer Mitbewohner, der seine Regeln beachtete, hätte er kein Problem damit, ihn bis auf Weiteres in seiner Wohnung leben zu lassen, aber Dazai zeigte mit seiner Art ziemlich deutlich, dass er selbst nicht hier bleiben wollte. Es war ihm unangenehm, Kunikida den ganzen Tag an seiner Seite zu haben und seine zerbrechlichen Seiten zu offenbaren, die er unter allen Umständen zu verstecken versuchte.
 

„Das ist schrecklich“, hauchte Kunikida und rieb sich sein Kinn, überlegte, warum der Täter es auf Dazai abgesehen haben könnte. Nicht, dass dieser bereits den gesamten Untergrund auf seiner Feindesliste stehen hatte. Die Auswahl war somit gigantisch.
 

„Es scheint mit Henkō in Verbindung zu stehen“, begann Tanizaki und erzählte, was sie heute Nachmittag gesehen hatten.
 

„Ich kann es nicht gutheißen, dass ihr euch auf diese Weise in Gefahr gebracht habt, aber ihr habt richtig gehandelt. Dazai scheint immer noch in Gefahr zu sein“, fasste Kunikida zusammen und griff nun nach seiner Tasse, trank mehrere große Schlücke, mehr um sich wieder zu fassen, als um seinen Durst zu stillen. Es wurde leise. Tanizaki und Atsushi waren verwirrt.
 

„Der Präsident meinte, wir sollen uns nicht in die Angelegenheiten des Untergrundes einmischen“, meinte Atsushi, der seine Hände zu Fäuste ballte und ziemlich offensichtlich zeigte, dass er mit dieser Entscheidung nicht einverstanden war.
 

„Und das ist die beste Entscheidung“, kam es trocken von Kunikida. Atsushi sah ihn aufgebracht an.
 

„Aber!? Die haben Dazai-sans Wohnung niedergebrannt und einer von denen hat es ihn abgesehen, da können wir doch nicht einfach nur abwarten. Wir müssen etwas tun!“
 

„Nakajima Atsushi“, mahnte Kunikida und verschränkte seine Arme, sah dem Silberhaarigen tief in die Augen.
 

„Lass dich nicht von deinen Gefühlen leiten, du gehst viel zu emotional an diese Sache heran. Muss ich dich daran erinnern, was das letzte Mal passiert ist, weil du Befehle missachtet hast?“
 

Atsushi senkte betroffen den Blick, schluckte hart und wagte es nicht einmal, nach einer Ausrede zu suchen. Er hatte überstürzt gehandelt und Dazais Leben unnötig in Gefahr gebracht.
 

„Bist du dir überhaupt im Klaren, wie viele Verbrechersyndikate im Untergrund agieren? Wir haben uns bereits einmal eingemischt und somit einen Milieukrieg verhindert, aber bei Henkō handelte es sich um eine relativ kleine Gruppierung, die keine Verbündete hatte. Was denkst du, passiert, wenn wir uns einmischen und diese Kerle, die ihr belauscht habt, zu einer größeren Organisation gehören? Die vielleicht hunderte oder gar tausende Mitglieder haben?“
 

„Ich“, murmelte Atsushi und biss sich auf die Unterlippe.
 

„Yokohama war einer der ersten Hafen in Japan, der für das Ausland geöffnet wurde und ist bis heute eine der bedeutendsten Industrie- und Handelsstädte ganz Japans. Wenn du dich unüberlegt mit einer kleinen Organisation anlegst, die zufällig gute Verbindungen hat, provozierst du einen Bandenkrieg und das würde bedeuten, dass wir einen weiteren Untergrund Konflikt hervorrufen könnten. Ryū'zu Kōsō[15] hat damals hunderte Menschen das Leben gekostet und das auch auf Seiten der Zivilisten“, erläuterte Kunikida weiter. Seine Stimme monoton.
 

„Bist du bereit die Verantwortung für einen weiteren Ryū'zu Kōsō zu tragen?“
 

„Nein“, kam es kleinlaut von Atsushi. Tanizaki wirkte ebenso niedergeschlagen und wagte es nicht, ein Wort zu sagen.
 

„Wir halten uns aus diesen Streitigkeiten heraus und schreiten nur dann ein, wenn es nötig ist. Dazai ist bei mir sicher. Ihm wird schon nichts passieren, außerdem unterschätzt ihr ihn.“
 

„Wie geht es Dazai-san?“, fragte Atsushi und sah nun endlich hoch und warf dem Blonden einen bittenden Blick zu.
 

„Es geht ihm gut. Das Zusammenleben mit ihm ist eine Herausforderung, aber ihr müsst euch keine Sorgen machen“, antwortete er und atmete tief ein. Das Wort Herausforderung war wirklich am passendsten. Ganz sicher wäre Kunikidas nächster Wutausbruch eine größere Gefahr für Dazai als jede Yakuza Organisation in ganz Yokohama.

Kapitel 14

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 15

Die darauffolgende Woche brachte den normalen Alltag zurück, denn Kunikida weigerte sich, noch länger zuhause zu bleiben und auf seinen Kollegen aufzupassen, welcher ohnehin nur Unsinn trieb und jede Sekunde nutzte, um ihn in den Wahnsinn zu treiben.
 

Am frühen Morgen schleifte er also seinen brünetten Mitbewohner ins Auto und fuhr mit ihm in Richtung des Büros. Dazai schlief auf dem Rücksitz, schnarchte absichtlich laut, um Kunikida zu provozieren und ihm zu signalisieren, dass sämtliche Form von Predigt an ihm abprallen würde und er nicht vorhatte, auf seine tollen Vorschläge zu hören. Als sie ankamen und vor der Tür standen, hörte man bereits aufgeregtes Tuscheln hinter der Bürotür. Kunikidas Auge zuckte gefährlich. Was hatte er auch nur erwartet? Anstatt zu arbeiten und ihre Pflichten zu erfüllen, hatte dieser Trupp einfach nur gefaulenzt und das bedeutete mit Sicherheit, dass sämtliche Missionen und Anfragen der Polizei unbearbeitet auf seinem Schreibtisch liegen würden. Zum Durchdrehen.
 

Bei diesem Gedanken platzte ihm der Kragen. Seine Hand ruhte immer noch auf der Türklinge und ein gähnender Dazai stand hinter ihm, der sein Kinn auf seiner Schulter ablehnte und sich anschmiegte, um seine Müdigkeit und sein Desinteresse an der Arbeit zu demonstrieren. Innerhalb weniger Sekunden riss er nun die Türklinge herunter, riss die Tür ebenso schnell auf und warf Dazai erbarmungslos inmitten des Raumes, welcher laut jammerte.
 

Im nächsten Moment flog Dazai Konfetti entgegen und all seine Kollegen versammelten sich um ihn.
 

„Willkommen zurück, Dazai!“, riefen sie aus und sie alle klatschten in die Hände.
 

Verwirrt betrachtete Dazai die lachenden Gesichter um sich herum, legte den Kopf leicht schief und versuchte zu verstehen, was hier gerade vor sich ging. Warum flog Konfetti im Raum? Wieso trugen seine Kollegen bunte Partyhütchen und was sollten die Luftballons an allen Ecken und Enden? Dazai blinzelte einfach nur, brachte kein Wort heraus und machte keinerlei Anstalten sich zu erheben. Er spürte, dass Kunikida sich ihm näherte und hinter ihm stehen blieb. Er zeigte auf seine Kollegen vor sich, sah dann hilfesuchend zu Kunikida, welcher ebenfalls provokant grinste und ihn dann dabei half, wieder auf die Beine zu kommen.
 

Kaum hatte Dazai wieder festen Boden unter den Füßen und stand aufrecht im Raum, warf sich Atsushi in seine Arme.
 

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht, Dazai-san!“, schrie er aus und zerquetschte seinen Mentor, der nach Luft rang und mit geistesabwesenden Blick immer noch durch die Gegend blickte und kein einziges Wort fand, das er über die Lippen brachte. Eine Feier. So viel stand fest. Aber für wen? Es war absolut abwegig, dass irgendjemand eine Feier für ihn warf und sich darüber freute, dass er zur Arbeit kam und doch wollte irgendetwas in ihm fest daran glauben, dass diese Menschen, die seit zwei Jahren sein Leben begleiteten, sich über seine Anwesenheit freuten. Er biss sich auf die Unterlippe. Absolut regungslos stand er da und als Atsushi bemerkte, dass der Brünette diese feste Umarmung nicht erwidern würde, ließ er ihn endlich los, tapste unbeholfen einige Schritte zurück und gestikulierte wild mit seinen Händen umher.
 

„Sumimasen![18]“, sagte er und wiederholte seine Worte mehrere Male. Dazai sah ihn einfach nur perplex an.
 

Plötzlich stand Kyouka vor ihm. Sie hatte ein buntes Päkchen in ihren Händen – ein Geschenk. Mit einem Lächeln hielt sie es Dazai hin und wartete geduldig darauf, dass dieser ihr das Geschenk abnahm. Doch Dazai legte nur den Kopf schief und zeigte mit zittriger Hand auf das Päkchen.
 

„F-für mich?“, fragte er unsicher nach. Kunikida schlug ihm hart auf die Schulter, sodass er kurz strauchelte. Grummelnd sah er den Blonden an, welcher die Arme verschränkt hatte und nun den Kopf abwandte, weil es ihm sichtbar peinlich war, dass Dazai so verlegen war. Er selbst hatte nichts von dieser kleinen Feier gewusst. Selbst Fukuzawa, der sonst immer in seinem Büro saß, stand inmitten des Raumes. Sein Gesichtsausdruck war ernst, aber seine Augen sanftmütig. Auch wenn er kein Lächeln hervorbringen konnte, so war sein Blick gezeichnet von Freude.
 

Zögerlich öffnete Dazai das Päckchen, betrachtete den Inhalt.
 

„Eine Lampe?“, fragte er und sah Kyouka an, die seinen Blick mit funkelnden Augen erwiderte.
 

Sie nickte eifrig. Atsushi stand neben ihr und rieb sich verlegen den Nacken.
 

„Na ja, die Lampe hat eine Klatschfunktion, also kannst du sie jederzeit von überall anschalten“, meinte er und wusste sich nicht so recht zu helfen, da sein Mentor einfach nur verwirrt dreinblickte und nicht nachvollziehen konnte, was er damit sollte.
 

Ranpo trat dazu, breit grinsend.
 

„Du hast doch deine Wohnung verloren, also ist das doch ein klasse Anfang!“
 

Dazai lächelte und kicherte leise. Ihm war bewusst, dass Kyouka ihm diese Lampe aus einem anderem Grund geschenkt hatte, aber er wagte es nicht, diesen Gedanken auszusprechen, da er das Thema seines gescheiterten Selbstmordversuchs umgehen wollte und nach Möglichkeit auf andere Gedanken kommen wollte.
 

Sie feierten gemeinsam Dazais Rückkehr, aßen Kuchen und scherzten. Die Arbeit ließen sie liegen. Dazai war es unangenehm, der Mittelpunkt dieser Feier zu sein und wie hartnäckig seine Kollegen sich aufdrängten und immer wieder Fragen stellten, um sicher zu gehen, dass es ihm gut ging. Als selbst Yosano mehrmals nach seinem Befinden fragte, dämmerte es ihm so langsam. Seine Kollegen mussten den Abschiedsbrief gefunden haben, den er niedergeschrieben hatte, als er sich in einem depressiven Loch befand und mithilfe des Alkohols den Entschluss gefasst hatte, sein Leben endgültig zu beenden und seine Pulsadern zu durchtrennen. Dass seine Kollegen diesen Brief gefunden hatten, war ihm unangenehm. Aber er konnte es nicht mehr ändern. Stattdessen zwang er sich zu einem Lächeln und kämpfte um Haltung, um bloß nicht noch mehr seiner Schwächen zu offenbaren.
 

Fukuzawa legte eine Hand auf seine Schulter.
 

„Dazai, ich würde gerne unter vier Augen mit dir sprechen“, erklärte der Grauhaarige und bat ihn in sein Büro. Die anderen Mitglieder der Detektei sahen den beiden schluckend hinterher. Irgendwie hatten sie das Gefühl, dass die Atmosphäre sich geändert hatte und Kunikida glaubte, rockige Musikklänge vernehmen zu können, aber das musste Einbildung sein. Es war einfach Fukuzawas Präsenz, die ein jeden einschüchterte und dieser strenge Blick ließ jeden vor Respekt zusammenschrumpfen und in die Knie gehen. Dennoch fragte sich Kunikida, was Fukuzawa mit Dazai besprechen wollte. Am Wochenende hatte er ihn telefonisch über Dazais Zustand informiert und seit dessen Einweisung schriftlich mit ihm korrespondiert.
 

„Wie ich sehe, sind deine Verletzungen gut verheilt. Das freut mich sehr“, sagte er sanft und Dazai nickte nur, während er wie angewurzelt einige Meter von dem Schreibtisch entfernt stand und sich nicht traute ungefragt näher zu kommen. Mit einer raschen Handbewegung wies Fukuzawa ihn dazu an, Platz zu nehmen, was er auch sofort tat. Trotzdem verschwand die Anspannung nicht.
 

„Ich habe mit Kunikida über E-Mail Kontakt gehalten. Er schrieb, dass du Alpträume hast und sehr schlecht schläfst“, meinte er und sah Dazai durchringend an. Dazai schüttelte den Kopf und lächelte.
 

„Jeder hat doch Alpträume, das ist ganz normal“, sagte er und versuchte das Thema zu wechseln, doch Fukuzawa schlug mit seiner flachen Handfläche auf den Tisch, sodass Dazai erschrocken zusammenfuhr und ihn unsicher ansah.
 

„Kunikida hat vorgeschlagen, dass du eine Therapie machst und ich denke, dass dies eine gute Idee ist. Doch wenn du das nicht willst und dich weigerst, kann ich dich nicht zwingen, deine Meinung zu ändern. Ich respektiere dich und will deinen Zustand nicht unnötig verschlechtern.“
 

Dazai senkte betroffen den Blick.
 

„Mein Zustand?“, wiederholte er fragend und verschränkte die Arme, schnaufte verächtlich.
 

„Ich bin beeindruckt, dass offenbar jeder besser über meinen Zustand Bescheid weiß, als ich selbst“, nörgelte er dann und versuchte weiterhin Haltung zu bewahren. Er musste seine Worte genau überlegen und nicht zu viel verraten.
 

Du musst mich auch nicht unter Drogen setzen, damit ich mit dir schlafe“, sagte Fukuzawa trocken und komplett tonlos, sein Blick war unverändert, als hätte er eine Zeile aus einem Buch vorgelesen.
 

Dazai riss erschrocken die Augen auf und sah Fukuzawa an. Er wirkte sofort angespannt.
 

„Das hast du zu mir gesagt, als du aus der Narkose aufgewacht bist. Du warst verwirrt, aber ich wusste, dass diese Aussage eine Bedeutung hatte. Ich bin mir jetzt sicher, dass dein Verhältnis zu Mori-sensei dir weitaus mehr geschadet hat, als du es dir eingestehen willst. Du wurdest jahrelang ausgenutzt und erniedrigt und ich kenne Mori-sensei gut genug, um zu wissen, dass er deine emotionale Instabilität für sich zum Vorteil genutzt hat. Du warst noch zu jung und unerfahren, um solche Entscheidungen zu treffen und auch wenn du dir selbst einredest, dass du es gewollt hättest, warst du noch nicht erwachsen genug, um die Konsequenzen deines Handels abzuschätzen.“
 

Dazai sagte daraufhin nichts, vermied es jedoch Fukuzawa direkt in die Augen zu sehen.
 

„Es war nicht deine Schuld. Das war es nie. Du bist von Mori-sensei manipuliert worden. Der Dazai Osamu von damals war ein Opfer des kranken Geistes eines abartigen Arztes, deshalb darfst du dich nicht selbst hassen. Du musst deinem damaligen Ich endlich verzeihen und loslassen“, erklärte er und seufzte tief.
 

„Das kann ich nicht“, antwortete Dazai leise.
 

„Ich kann mir niemals vergeben. Nur meinetwegen musste er sterben. Wenn ich Mori-san nie von ihm erzählt hätte, hätte er ihn niemals für diese Mission ausgewählt. Ich war es, ich allein habe seinen Tod zu verantworten. Ich verdiene keine Erlösung.“
 

„Er hätte nicht gewollt, dass du dich so sehr quälst. Ich weiß nicht, was für eine Beziehung du zu diesem Mann hattest, aber ich sehe, dass du dir selbst die Schuld an seinem Tod gibst. Aber warst du es, der ihn in den Tod geschickt hat? Oder war es Mori-sensei? War auch dies nicht wieder eines seiner abartigen Spielchen, um dich zu testen? Vielleicht sogar abzuhärten? Etwas aus dir zu machen, was du nicht bist?“
 

„Ich... weiß es nicht.“
 

„Kunikida hat mir vage Informationen gegeben und ich denke, dass er recht hat. So wie es momentan läuft, kann es nicht weitergehen. Aber wir sind für dich da und werden dich auffangen, deshalb bitte ich dich inständig darum, uns Bescheid zu sagen, wenn du Hilfe brauchst oder einfach nur jemanden, der für dich da ist.“
 

Fukuzawa verbeugte sich, um seine Bitte zu unterstreichen.
 

„Es tut mir leid“, flüsterte Dazai nur. Er war komplett überfordert.
 

„Ich weiß, dass es nicht einfach für dich werden wird. Aufgrund des gängigen Gesellschaftsbildes eines Mannes ist es schwierig, sich selbst einzugestehen, das Opfer einer Gewalttat geworden zu sein. Das männliche Selbstbild und die Opferidentität passt nicht zusammen, aber Dazai: Männer sind auch nur Menschen und es geht nicht darum, dich zu stigmatisieren, sondern dir eine Möglichkeit zu geben, dich frei zu entfalten und ein Leben ohne Angst zu führen.“
 

„Ich denke nicht, dass ich die Kraft habe, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Mir wäre es lieber, ich könnte einfach weiterhin so tun, als wäre nie etwas passiert. Das hat bisher immer funktioniert und ich denke, dass es am sinnvollsten wäre, nie wieder über dieses Thema zu sprechen.“
 

„Und dann?“
 

Dazai zwang sich zu einem Lächeln.
 

„Was dann?“, fragte Fukuzawa erneut, hob fragend eine Augenbraue und durchbohrte Dazai mit seinen ernsten Blick. Unnachgiebig beäugte er ihn, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
 

Dazai biss sich auf die Unterlippe.
 

„Dann... ist alles so wie vorher und wir können zum normalen Alltag zurück.“
 

„Oh, verstehe“, kam es schnaubend von Fukuzawa, der den Kopf leicht schüttelte und seine Abneigung und seinen Widerwillen ob Dazais Aussage zu unterstreichen.
 

„Also wir kehren zurück zum normalen Alltag, ja? Du verletzt dich weiterhin selbst, schmeißt dich in die Flüsse Yokohamas, in der Hoffnung, dort zu ertrinken und von niemanden gefunden zu werden, während du dich Nacht für Nacht von einer Bar zur nächsten schleifst und dich hemmungslos betrinkst, nur um weiterhin von Alpträumen deiner Vergangenheit verfolgt zu werden, die die nachts nicht schlafen lassen und dann am nächsten Tag auf deinem Arbeitsplatz zu dösen. Klingt nach einer produktiven Einstellung, die uns alle weiterbringen wird. Es ist ja nicht so, dass irgendjemand in dieser Detektei sich Sorgen um dich macht oder gar Tränen vergießen würde, würdest du verletzt werden. Nicht wahr?“
 

Der Sarkasmus in Fukuzawas Stimme war so stechend wie die Klinge eines Katanas, das in die Bauchhöhle des Gegners gerammt wurde. So konnte Dazai nicht anders, als verlegen zur Seite zu sehen und sich leise zu entschuldigen.
 

„Atsushi war nicht der einzige, der um dich geweint hat. Selbst Ranpo war fassungslos! Wir alle haben uns Sorgen gemacht und jeder einzelne von uns ist bereit dich auf deinem Weg der Heilung zu unterstützen. Allem voran Kunikida, mit dem ich bereits am Wochenende telefoniert habe.“
 

Dazai sah ihn mit großen, fragenden Blicken an.
 

„Es wird nicht einfach, aber du bist nicht allein. Wir stehen das gemeinsam durch. Atsushi und auch du, Dazai, ihr habt beide Gewalt in eurem Leben erfahren, aber im Gegensatz zu dir, versucht er wenigstens einen Neuanfang zu machen. Und ich bitte dich darum, dass du es ebenfalls versuchst. Mit uns allen gemeinsam.“
 

„In Ordnung.“
 

„Wie? Du stimmst einfach so zu?“, kam es perplex vom Grauhaarigen.
 

„Jep.“
 

Fukuzawa beäugte ihn misstrauisch.
 

„Wenn ich an Atsushi-kun denke, wird mir klar, dass ich ihn nicht hängen lassen darf. Ich will versuchen, in Richtung Zukunft zu gehen und etwas zu ändern. Er hätte es so gewollt“, hauchte er und lächelte traurig.
 

Denn so langsam dämmerte es ihm. Er und Odasaku waren sich ähnlich, sie beide hatten einen Schützling, den sie über alles beschützen wollten. Nur deshalb hatte sich Dazai in diese gefährliche Situation gebracht. Um sicher zu stellen, dass Atsushi nichts geschah, dass er ausreichend Zeit hatte, stärker zu werden, bevor es zu einem unnachgiebigen Kampf gegen die Port Mafia kam. Der Gedanke, dass Atsushi verletzt werden könnte oder sich gar selbst verletzte, war unerträglich. Odasaku ginge es sicher genauso. Er wusste, dass ich mich selbst verletze und sterben will und deshalb war er immer bei mir und hat mich abgelenkt. Mit ihm war die Welt bunter, schöner und die Luft nicht so drückend. Es muss ihn sehr geschmerzt haben, mich so zu sehen. Odasaku, so langsam verstehe ich, was du wolltest.
 

„Dann kann ich darauf bauen, dass du uns zukünftig sagen wirst, wenn du Hilfe brauchst?“
 

Dazai nickte leicht.
 

„Gut. Kunikida! Du kannst aufhören zu lauschen und reinkommen!“, rief der Grauhaarige dann und man hörte von draußen ein Rumpeln. Verlegen öffnete Kunikida die Tür. Hinter ihm standen auch die anderen Mitglieder der Detektei. Nicht nur der Vizepräsident hatte gelauscht, sondern alle wollten wissen, was Dazais Entscheidung war und wie es weitergehen sollte. Kunikida kam rein, wies die anderen dazu an, sich zu benehmen und die Feier weiterhin zu genießen, dann stolperte er räuspernd in Richtung des Bürotisches, blieb dort stehen und verneigte sich tief und demütig.
 

„Kunikida, ich kann mich darauf verlassen, dass du dich um unseren Querkopf kümmerst?“
 

„Selbstverständlich, Präsident!“
 

Dazai kicherte amüsiert.
 


 

———————————
 

Mitten in der Nacht. Kunikida schlief bereits und Dazai lag wach auf der Coach, in seiner Hand sein Smartphone, dessen Licht nicht nur ihn, sondern den ganzen Raum in ein blaues Licht taufte. Dann setzte er sich auf. Nervös tippte er über den Bildschirm.
 

Mori-san,
 

ich habe neue Nachrichten. In der alten Kellerdisco haben sich ein paar Gangster niedergelassen, die dich angreifen wollen. Das Zentrallager der Mori Corporation ist ihr Ziel, sie wollen dich aus der Reserve locken.
 

Er atmete laut hörbar aus. Der Deal beschützte die Mitglieder der Detektei und er musste sichergehen, dass niemand unnötig verletzt wurde. Nicht auszudenken, würde die Port Mafia sich plötzlich dazu entscheiden, aus dem heiteren Himmel anzugreifen und auszunutzen, dass sie nicht so viele erfahrene Kämpfer auf ihrer Seite hatten. Sein Smartphone vibrierte. Sein ganzer Körper versteifte sich, dennoch öffnete er die eingehende Nachricht, ohne weiter nachzudenken.
 

Mein süßer, süßer Dazai-kun! ♥
 

Ich danke dir für deinen unermüdlichen Einsatz und die Information! Komm doch zum Abendessen vorbei, ich will dich gerne wieder sehen.
 

Typisch für diesen Mann. Er wusste genau, wie er Dazais Schwächen am besten ausnutzen konnte und hätte er Kunikida und dem Präsidenten nicht versprochen, an sich selbst zu arbeiten und sich seiner Vergangenheit zu stellen, hätte er vermutlich diese Einladung nicht widerstehen können. Dann hätte er zugelassen, dass Mori ihn erneut demütigt, im Glauben, dies verdient zu haben. Schmerz und Lust waren nah beieinander und beides eine Form von Liebe. Das hatte er all die Jahre glauben wollen. Mittlerweile wusste er natürlich, dass das Unsinn war. In seinem naiven Denken, von diesem Mann gebraucht zu werden, hatte er ihm alles durchgehen lassen. Immerhin wollte Mori ja nur das Beste für ihn. Er ließ sich beschmutzen und missbrauchen, weil er sich in seiner Einsamkeit geradezu krankhaft an Mori klammerte. Bei diesem Gedanken lachte er leise auf.
 

Stockholm Syndrom.
 

Er hatte tatsächlich geglaubt, dass die Misshandlung, die er erfahren hatte, ein Zeichen von Zuneigung war. Aber woher hätte er es denn besser wissen sollen? Er hatte keine Familie. Oder gar Freunde. Seit seiner Kindheit hatte er um das Überleben gekämpft, lebte in den Slums von Suribachi, tagtäglich auf der Suche nach etwas, das ihm einen Grund zum Leben gab. Dort war er unsichtbar. Die Menschen sahen ihn an, doch sie sahen nicht ihn, sondern ein Ding. Ein weiteres Opfer, ein weiteres ungewolltes Kind, abgeschoben und weggeworfen. Er wusste nicht, was es bedeutete, geliebt zu werden.
 

Er wollte kein Mensch sein, wollte über diesen Menschen stehen, die sich gegenseitig niederschlugen und sich mit Gewalt nahmen, was sie wollten. Suribachi kannte keine Moral, keine Regeln, der Stärkste überlebte. So einfach war das. Und so hatte Dazai gelernt, die Menschen zu hassen und auf sie herabzublicken, in der Hoffnung niemals so zu werden wie sie.
 

In einer Nacht im September hatte sich jedoch etwas geändert. Drei Männer waren über ihn hergefallen. Er schrie um Hilfe. Vollkommen egal, wie sehr er sich wehrte, er brachte nicht die Kraft auf, diese erwachsenen Männer von sich zu schubsen. Aus dem Augenwinkel konnte er Passanten erkennen. Keiner half. Man überließ ihm seinen Schicksal. Benutzt und verdreckt warf man ihn in eine Seitengasse. Da hatte er den Entschluss gefasst, alles zu beenden. Sein eigener Körper war kein Teil mehr von ihm, nur eine schäbige Hülle, die einfach nur Ekel und Hass in ihm erzeugte. Zwei Tage später durchtrennte er seine eigenen Pulsadern. Die Schnitte waren stümperhaft, aufgrund des stechenden Schmerzes, konnte er den starken Druck nicht aufrecht erhalten. Der Anblick des Blutes hatte ihn beruhigt.
 

Es war ein schwarzhaariger Mann mit einem weißen Kittel, der ihn rettete. Mori kümmerte sich um seine Wunden, redete ihm gut zu und beteuerte ihm, dass nun alles gut werden würde. Ohne, dass er es hätte ändern können, wurde Mori zum Mittelpunkt seiner Welt. Also hatte er verzweifelt daran geglaubt, dass Mori, der sein Leben gerettet hatte und ihn liebevoll über den Kopf streichelte und sanft seine Stirn küsste, ihn schätzte.
 

Mori hatte seine Unerfahrenheit ausgenutzt. Aus einer harmlosen Berührung wurde schon bald ein intensives und intimes Streicheln und Dazai, der geglaubt hatte, bereits erwachsen zu sein und die Welt verstanden zu haben, hatte sich mitreißen lassen. Hatte zugelassen, dass der Doktor ihm immer näher kam und obgleich sein Körper sich gegen diese Berührungen sträubte, hatte er eine gewisse Sympathie und ein Vertrauen zu ihm aufgebaut. Mori näherte sich ihm an, versicherte ihm, dass er nur seinen Befehlen folgen musste, um Glück erfahren zu können. Bis dahin hatte Dazai nur Hass und Ablehnung gekannt. Die Welt war einfach nur grau. Schäbig. So häßlich, dass sie seine Augen blendete und seinen Geist verpestete. Menschen als solche waren einfach nur abscheulich.
 

Aber Mori half ihm. Er verletzte ihn, schnitt tiefe Wunden in sein Fleisch und doch glaubte Dazai, ganz genau verstehen zu können, warum er das tat. Er vertraute Mori, sah etwas in ihm, das nicht da war. Eine Form von Sympathie und Zuneigung, die er zuvor in seinem Leben nicht erfahren hatte. Auch wenn Mori ihm schreckliche Dinge antat, verteidigte er ihn.
 

Jetzt wo er die Welt der Finsternis hinter sich gelassen hatte und bereit für einen Neuanfang war, hatte er verstanden, dass alles, woran er in der Vergangenheit geglaubt hatte, nichts weiter als Lug und Trug war. Doch er konnte seine Entscheidungen nicht rückgängig machen. Niemanden zurückbringen.
 

Das geht nicht. Ich werde nicht mehr vorbeikommen.
 

Mehr schrieb er nicht. Mehr gab es nicht zu sagen. Dazai war aufgewacht, endlich zur Vernunft gekommen. Um einen Schlussstrich ziehen zu können und seine Vergangenheit endgültig ruhen zu lassen, musste er die Verbindung zu diesem Mann abbrechen. Mori hatte Dazai nie geliebt. Mori hatte ihn ausgenutzt und unterdrückt. Ein Teil seiner Heilung war, zu akzeptieren, dass er missbraucht und manipuliert worden war. Im Nachhinein schämte er sich sogar dafür, Mori verteidigt zu haben. Kunikida hatte Recht gehabt.
 

„Mori-san hat mich missbraucht. Nichts, was geschehen ist, war in meinem Interesse. All die positiven emotionalen Gefühle, die ich durch Mori-san erfahren habe, waren reiner Selbstschutz und führten zu einer Wahrnehmungsverzerrung“, sprach er laut aus und atmete tief ein. Die Worte des Psychologen hatten ihn bereits bei der ersten Therapiestunde zu denken gegeben.
 

Verstanden. Schlaf gut, mein Prinz. Ich werde dich immer lieben. ♥
 

Er blinzelte, schluckte hart. Dann schüttelte er den Kopf.
 

„Er liebt mich nicht, sondern will mich nur benutzen. Das ist keine Gnade, keine Liebe, sondern reiner Egoismus. Er versucht mich zu kontrollieren und“, begann er, doch seine Stimme verstummte, stattdessen starrte er geistesabwesend auf Moris Nachricht. Dass sein Mitbewohner in den Raum getreten war, bemerkte er nicht einmal. Kunikida trug ein Hemd und eine Pyjamahose. Abwartend stand er unter dem Türrahmen, flehte innerlich darum, dass Dazai diesen Satz zu Ende brachte, doch Dazai schwieg. Kunikida kam näher.
 

„Mori-san versucht dich zu kontrollieren, er will, dass du mit ihm sympathisiert. Es ist ein Denkfehler deinerseits und du hast jahrelang krampfhaft versucht, dieses falsche, verdrehte Weltbild als Realität zu sehen, um dich und deine Psyche zu schützen.“
 

Dazai schaltete sein Smartphone aus und hob seinen Kopf, lächelte Kunikida an.
 

„Du bist ja noch wach“, meinte er nur. Kunikida setzte sich neben ihn.
 

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Nach dem ersten Termin bei der Beratungsstelle wirktest du extrem angespannt und während des Gespräches hast du kaum etwas gesagt. So kenne ich dich gar nicht. Du hast doch immer irgendetwas, das du nicht für dich behalten kannst“, erklärte er und sah Dazai durchdringend an, dieser zog die Augenbrauen in die Höhe, kratzte sich verlegen an der Wange und wurde rot um die Nase. Er lachte, mehr um sich selbst zu beruhigen.
 

„Von einem Ermittler aus der Detektei kann man auch nichts verheimlichen, nicht wahr?“
 

„Hattest du wieder einen Alptraum? Soll ich dir Tee machen?“
 

Dazai schüttelte den Kopf.
 

„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“
 

Kunikida stand urplötzlich kerzengerade, sein Gesicht glich einer Tomate, während seine Augen ungläubig versuchten einen Punkt zu fixieren. Er plapperte unverständliches Zeug. Er war sich sicher, dass Laute aus seinem Mund kamen, aber waren dies tatsächlich verständliche Wörter? Sein Kopf dampfte und er gestikulierte wild umher.
 

„Ich! Du?!“, sagte er dann und räusperte sich, immer noch nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen.
 

„Ich weiß nicht, ob ich mir nicht doch wieder etwas antue“, flüsterte Dazai nur und senkte den Blick.
 

Von einer Sekunde zur nächsten befand sich Kunikida vor Dazai und nahm dessen Hände in seine, drückte sie sanft.
 

„Selbstverständlich kannst du bei mir schlafen“, sagte er dann und zog Dazai in Richtung seines Schlafzimmers, wartete darauf, dass Dazai sich ins Bett legte, ehe er das Licht löschte. Mit Dazai in einem Bett. Eigenartiges Gefühl. Dazai hatte sich von ihm weggedreht und lag an der äußersten Kante. Minuten vergingen. Schlief Dazai etwa schon? Vorsichtig drehte er sich auf die Seite, um nach Dazai sehen zu können. Dazais schmächtige Figur zitterte. Kunikida wusste, dass er das, was er jetzt tun würde, am nächsten Morgen bereuen würde und dass Dazai ihm das noch tagelang vorhalten würde, trotzdem konnte er nicht anders, als näher zu kommen und einen Arm um Dazai zu legen, dieser sanft an seine Brust zu schieben. Dazai hielt die Luft an.
 

Sie hatten noch nie derartigen Körperkontakt gehabt. Dazais Rücken an seiner Brust, sein Arm um seinen Oberkörper fühlte sich jedoch vertraut an, sodass das erst unangenehme Gefühl langsam wich und Geborgenheit sich in ihm breit machte. Fühlte es sich so an, jemanden zu umarmen und ein Bett mit ihm zu teilen?
 

„Schlaf gut, Dazai“, hauchte er in dessen Schopf und Dazai murmelte leise: „Danke“, ehe er tatsächlich einschlief und seit langem eine ruhige und erholsame Nacht erlebte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Der Morgen ist immer grau. Immer gleich. Immer leer. Alles vergeht.

Der findige Leser merkt sofort, dass dies Worte vom Autor Dazai Osamu sind. Hin und wieder sagt Dazai Dinge, die auch sein reales Vorbild niedergeschrieben hat. Wer das Buch No Longer Human, im Deutschen Gezeichnet, gelesen hat, wird sicher auch die Referenzen wiedererkennen. ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Tochter des echten Schriftstellers Mori Ougai schrieb in ihren literarischen Werken über homosexuelle Liebe zwischen Männern. Da ich Elise als Tochter von Mori ansehe bzw. sie so darstelle, fand ich die Idee witzig, dass sie Yaoi Geschichten über Dazai und Mori schreibt. (─‿─) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
»Unfähig, mit Menschen zu leben, zu reden. Vollständiges Versinken in mich. Stumpf, gedankenlos, ängstlich. Ich habe nichts mitzuteilen, niemals, niemandem.«

Ein Satz, der prägt und aus Franz Kafkas Tagebuch stammt, er verfasste diesen Eintrag am 27.4.1915. Auch heute taucht dieser Satz in dieser Psychologie auf, beim Thema Schizoide Persönlichkeitsstörung. Dieser Satz skizziert das Störungsbild einer psychischen Erkrankung, die oftmals Gefühlsarmut, Dysphorie und Zurückgezogenheit mit sich bringt. Viele Betroffene leiden unter der Gleichgültigkeit, die sie empfinden und der Leidensdruck führt dazu, dass sie sich in eine neue Rolle einfinden, um sich anzupassen. Wer mehr wissen will, kann Psychosoziale Gesundheit.net besuchen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Me: Ich schreib einen Oneshot!
Also me: *ist nach 10 Kapiteln immer noch nicht fertig mit dem "OS"*

𝕊𝕠𝕞𝕖𝕓𝕠𝕕𝕪 𝕙𝕖𝕝𝕡 𝕞𝕖... Σ(っ゚Д゚;)っ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Für den Fall der Fälle, dass jemand nicht weiß, was Getas sind: Geta (下駄) bezeichnen japanische Holzsandalen, die zusammen mit traditioneller Kleidung wie zum Beispiel dem Kimono getragen werden. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kennt jemand die offizielle Bezeichnung des Ryū'zu Kōsō (Dragon's Head Conflict) auf Deutsch? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Offene Enden sind meine Spezialität~ ヽ(⌐■_■)ノ♪♬

Einige Fragen sind offen geblieben, weil ich darüber nachdenke, über diese einen weiteren OS zu schreiben.

Gerade die Reise in das Ryokan (nur die beiden ♥) fände ich spannend, jetzt, wo Kunikida Dazai in sein Herz lässt.

Ach ja, wenn ihr wollt, sehen wir uns in Fading Echoes oder Strange Addictions wieder. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  _Zirkonia_
2020-05-29T19:17:06+00:00 29.05.2020 21:17
Ich gab heute die ganze FF am Stück gelesen und muss sagen eine wirklich tolle Geschichte sie ist so emotional und man kann sich in alle Beteiligten gut rein versetzen es hat mir wirklich viel Freude gemacht die Geschichte zu lesen und früe mich weiterhin was von dir lesen zu können da mir dein Schreibstils sehr gefällt
Von: Hinata_Shouyou
2020-04-15T00:21:33+00:00 15.04.2020 02:21
Der Drachenkopfkonflikt (龍頭 抗争, Ryū'zu Kōsō ) ist ein Untergrundkonflikt in Yokohama zwischen verschiedenen Untergrundorganisationen. Es dauerte 88 Tage und wird als der dunkelste Konflikt in der Geschichte von Yokohama bezeichnet.
Von:  Votani
2020-02-09T21:56:19+00:00 09.02.2020 22:56
Hey du. :D
Es ist so selten, dass jemand hier ueber BSD schreibt, da musste ich einfach reinschauen. *-* Ich geb zu, dass ich Kunikida/Dazai selbst als Multishipper noch nie wirklich auf dem Plan gehabt habe, aber... ich habe auch absolut nichts dagegen!
Jedenfalls finde ich das erste Kapitel schon ziemlich toll. :) Dein Schreibstil ist super und passt auch sehr gut zum Fandom. Ich bewundere dich, dass du Kunikida so wunderbar hinbekommst. Seine Wut ist foermlich greifbar, aber auch seine Produktivitaet. :D Er ist schon immer einer meiner Lieblinge gewesen und es ist toll, mal eine FF mit ihm (und eben Dazai) in der Hauptrolle zu lesen.
Besonders lustig fand ich die Moment mit Atsushi, dessen Verhalten du auch sehr gut beschrieben hast. Kunikida kann eine unsicher machen, wenn er genervt oder sauer ist. XD
Jedenfalls bin ich gespannt, wie sich die Beziehung zwischen Kunikida und Dazai entwickelt. Dazai hat Liebe auf jeden Fall verdient, ganz besonders nach dieser Aktion. D:

Liebe Gruesse!


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