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Angelo

von

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Was am Ende bleibt

Ein Lichtstrahl zerbrach den Himmel. Wie ein leuchtender Pfeil zog er seine Bahn und ging inmitten der Medusen nieder. Ein zweiter folgte, ein dritter, vierter, fünfter. Immer mehr der goldenen Speerspitzen durchstießen die Finsternis, die Stille, die Hoffnungslosigkeit. Durch die Reihen der gigantischen Himmelswesen ging ein Aufruhr. Explosionen blitzen zwischen ihnen auf wie ein Gewitter unter dem Meer. Eine Fackel, die in der rauschende Tiefe verschwand und dort nicht etwa verlöschte, sondern anfing heller und heller zu brennen, bis schließlich die erste der monströsen Quallen zu Boden ging. Wie in Zeitlupe neigte sich der riesige, durchscheinende Leib der Erde entgegen und als er sie endlich berührte und den Sand der toten Wüste aufwühlte, glaubte Michael, nie etwas Schöneres gesehen zu haben. Eine weitere Meduse wurde von der unbekannten Kraft zu Fall gebracht und dann noch eine. Und immer noch kamen die Lichtstrahlen.

„Seht!“ Gabriella deutete zu der Stelle, wo einst Belials Haus gestanden hatte.

Michael senkte das Schwert und drehte sich um. Zwischen den Ruinen des Anwesens, in denen die unheimlichen Lavamonster herumkrochen, war ein Kampf entbrannt. Jetzt endlich konnte Michael sehen, was oder vielmehr wer sich ihren Gegnern in den Weg stellte.

„Sind das …“

„Engel“, hauchte Crystal. Sie rückte näher an Marcus heran, der, wohl ohne es wirklich zu merken, den Arm um sie legte. Gemeinsam starrten sie zu den goldglänzenden Kriegern, die kurzen Prozess mit den feurigen Echsen machten. Eine nach der anderen wurden sie entweder niedergemäht oder zurück in den Höllenschlund geworfen, aus dem sie gekrochen waren. Auch die Reihen der Himmelsquallen lichteten sich nach und nach, wenngleich auch ungleich langsamer.

Michael wollte schon aufatmen, als einer der Lichtstrahlen in unmittelbarer Nähe den Boden berührte. Als das Licht verging, ließ es die Gestalt eines Mannes zurück. Eines Mannes, der in ihre Richtung sah.

„Iek“, machte Crystal und wich ein Stück zurück. Michael konnte es ihr nicht verdenken. Das, war er dort sah, war schrecklich und schön zugleich.

 

Der Mann, der in eine leichte, goldglänzende Rüstung gehüllt war, sah sie unverwandt an. Trotz der Panzerung, die sowohl seinen Körper, wie auch seine Arme und Beine schützte, trug er keinen Helm. Stattdessen wurden seine langen, dunkelblonden Haare von einem goldenen Reif zurückgehalten. Er wirkte wie ein Krieger und gleichzeitig wie jemand, der diese Bürde nur ungern trug. Seine Gesichtszüge waren weicher, als Michael es von einem Feldherrn erwartet hätte. Je länger er hinsah, desto gütiger wirkte er und auf einmal wusste Michael, wen er vor sich hatte. Ein einzelnes Wort fiel von seinen Lippen.

„Gabriel.“

Der Engel, dessen Blick immer noch unverwandt auf ihm lag, nickte langsam. „Du hast um Hilfe gebeten. Ich habe geantwortet.“

Michael spürte den Drang, einen Schritt auf den Mann zuzugehen. Ihn in die Arme zu schließen und ihm auf die Schulter zu klopfen. Ihn zu begrüßen wie einen alten Bekannten und Freund. Gleichzeitig hatte er das dumme Gefühl, sich vor ihm verneigen oder ehrfürchtig auf die Knie fallen zu müssen. Dieser Tumult in seinem Inneren führte dazu, dass er stocksteif dastand und sich nicht rühren konnte.

Die hellen Brauen des Engels furchten sich leicht. „ Wo ist er?“

Es brauchte keine Erklärung, nach wem er sich erkundigte.

„Das ist … ein wenig kompliziert“, gestand Michael. „Er ist fort. Oder nicht wirklich. Er ist in mir. Er gibt das irgendeinen Sinn für dich?“

„Mhm“, machte der Engel.

Er kam einen Schritt näher. Michael hielt den Atem an. Die graublauen Augen des Kriegers musterten ihm und ihr Blick war ebenso intensiv wie der, mit dem Angelo ihn immer angesehen hatte. Nur dass dieses Wesen eine Aura ungleich größerer Macht umgab. Einer Macht, die Michael beinahe aufstöhnen ließ.

„Wie ist das möglich?“, murmelte der Engel, den Michael immer noch zögerte mit seinem Namen anzusprechen. Ja, ihn überhaupt nur zu denken. „Du bist es und auch wieder nicht.“

„Wir haben gekämpft. Belial … er steckt hinter all dem hier.“

„Der Herr der Lügen? Wo ist er?“

„Ich habe ihn getötet.“

Wie zum Beweis hob Michael das Schwert und reichte es Gabriel. Der nahm es entgegen und betrachtete die Waffe einige Augenblick lang. Anschließend richtete sich sein Blick auf die kleine Gruppe, die hinter Michael stand. Seine Gesichtszüge wurden härter.

„Du hast noch etwas vergessen“, sagte er. „Dieser dort, der Engelsblut in sich trägt, und diese, die aus dem Vermächtnis der Lilith stammt. Warum hast du sie verschont?“

Bevor Michael antworten konnte, trat Gabriella vor. „Marcus und Crystal sind unsere Freunde. Sie haben uns geholfen, diese Abenteuer zu bestehen. Ohne sie wären wir jetzt nicht hier.“

Der Engel neigte den Kopf ein wenig, um die Frau anzusehen, die sich ihm da so dreist in den Weg stellte.

„Ich kenne dich“, meinte er nach einigen Augenblicken, die Michael wie Stunden vorkamen. „Du wurdest unter meinen Schutz gestellt. Und ich sehe, dass du denkst, die Wahrheit zu sagen. Dies alles scheint Teil einer längeren Geschichte zu sein.“

Gabriella versuchte ein Lächeln. „Das ist es. Wenn du erlaubst, würden wir sie dir gerne erzählen.“

Gabriel überlegte, bevor er den Kopf schüttelte. „Dies ist nicht die Aufgabe, für die ich gekommen bin. Meine Aufgabe lautet, den Verräter zu finden und in Gewahrsam zu nehmen.“

Erneut drehte er sich zu Michael um und der verstand plötzlich.

„Aber Ang… er hat euch nicht verraten. Er kam hierher, um uns zu retten. Wie kann das ein Verrat sein?“

„Es war nicht seine Aufgabe.“

„Und doch etwas, das getan werden musste, wenn die Schöpfung nicht einen sinnlosen Tod sterben sollte. Ich mag gegen den Willen unseres Vaters gehandelt haben, aber ich bin der Überzeugung, dass es notwendig war. Wenn du musst, bring mich zu ihm. Dann werde ich selbst mit ihm sprechen und mich seinem Urteil beugen.“

Michael staunte über die Worte, die er ohne sein Dazutun von sich gab. Wie konnte er es wagen, so mit Gabriel zu sprechen? Der Engel wäre mit Leichtigkeit in der Lage gewesen, sie alle auszulöschen. Trotzdem zögerte er sichtlich.

„Wie?“, fragte er und blickte Michael unverwandt an.

„Du weißt wie.“

Erneut kam Michaels Antwort, ohne dass er das Gesagte beeinflussen konnte.

Gabriel nickte langsam. „So sei es.“

Er hob das Schwert und setzte die Spitze auf Michaels Brust. Der hielt erschrocken den Atem an, als sein Gegenüber zu sprechen begann.

„Exorcizo te, immundissime spiritus …“

Etwas passierte. Michael konnte es fühlen. Die fremdartigen Worte waren wie eine Klinge, die tief in sein Inneres fuhr. Er zuckte, als heißer Schmerz durch seinen Geist schnitt.

„Omnis incursio adversarii, omne phantasma …“

Nein …. nein, nein, nein, nein nein. Das durfte er nicht. Das konnte er nicht machen.

Michael wollte schreien. Wollte Gabriel anflehen, damit er aufhörte, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er war gefangen in der uralten Magie der Formel, die unaufhörlich weiter in ihn vordrang und ihn auseinanderriss.

„Omnis legio, in nomine Domini nostri …“

Er wand sich, er wehrte sich. Wollte die Kräfte zurückdrängen, die versuchten, seine Seele in zwei Hälften zu spalten. Er durfte das nicht zulassen. Wenn er das tat, würden sie beide sterben. Er musste ihn beschützen.

'Michael', flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. 'Vertrau mir und lass los. Ich bitte dich. Lass mich gehen.'

'Nein', schrie er zurück und kämpfte gegen sein eigenes Ich. 'Ich lasse dich nicht los. Ich beschütze dich. Deswegen bist du doch zu mir gekommen. Damit ich dich beschütze.'

'Du hast alles getan, Michael. Lass jetzt los. Du musst mich gehen lassen.'

'NEIN!'

Wie im Wahn klammerte er sich an das Gefühl, das durch seinen Geist toste. Er wusste, wenn er ihn losließ, würde etwas Schreckliches geschehen. Er würde sterben. Vergehen. Verglühen wie ein Funke, der in die Nacht hinausschwebte und noch einmal aufleuchtete, bevor er für

immer erlosch. Ein letzter Lichtstrahl, bevor die Finsternis eintrat. Er würde ihn nicht gehen lassen. Niemals.

Doch je länger es dauerte, desto mehr spürte er, wie sein Griff schwand. Wie ein Finger nach dem anderen seiner Hand entglitt, bis die Verbindung sich schließlich löste. Bis es unwiederbringlich vorbei war.

 

„NEIN!“

Die Worte entkamen jetzt wieder aus seinem Mund, als die Starre, die ihn befallen hatte, verschwand. Er fiel auf die Knie. Ein Aufschrei begleitete seinen Sturz. Schmale Hände griffen nach ihm und als er den Kopf hob, sah er in Gabriellas tränenüberströmtes Gesicht.

„Michael“, flüsterte sie und sah dabei so verzweifelt aus, dass es ihm das Herz abdrückte. „Ich dachte, ich hätte dich verloren.“

„Was …?“

Er stockte, als er sich der Reihen goldgerüsteter Krieger bewusst wurde, die sich um ihn versammelt hatten. Sie bildeten einen perfekten Kreis um die kleine Gruppe herum. Wann waren sie hierher gekommen? Wann hatten sie die restlichen Medusen zu Fall gebracht? Die letzte Echse besiegt? Wann war der Schlachtlärm verstummt und hatte wieder die tonlose Stille hinterlassen, in der sein Schrei immer noch nachzuhallen schien wie ein geisterhaftes Echo?

„Es war schrecklich“, schluchzte Gabriella. „Er hat … er …“

Gabriel, der mit stoischer Miene vor ihm stand, senkte das Schwert. Der blaue Stein am Griff glomm ein letztes Mal auf, bevor der Schein erstarb und die Wirkung des Zaubers endgültig verflog.

„Der Exorzismus war erfolgreich“, verkündete er mit tonloser Stimme. „Der unreine Geist beherrscht nicht mehr deinen Körper.“

„Unreiner … Geist?“ Michael hörte die Worte, aber sein Verstand weigerte sich, sie zu begreifen. „Wie kannst du das sagen? Angelo war nicht … Er war mein Freund.“

Mein Geliebter.

„Und ich hoffe, ich bin es immer noch.“

Erschrocken fuhr Michael herum und starrte die leuchtende Gestalt an, die inmitten des Bannkreises stand, den jemand in den Sand geschrieben hatte. Magische Symbole glühten rund um sie herum auf und goldglänzende Ketten wanden sich um ihre Glieder. Sie lächelte leicht.

„Angelo!“

So schnell es ihm möglich war, kam Michael auf die Füße und wankte auf den Engel zu, der jetzt gefangen von Seinesgleichen nur noch ein Schatten seiner Selbst war. Durch ihn hindurch konnte Michael den Wüstensand sehen.

„Du bist …“

„Ein Geist. Oder etwas in der Art. Es ist nicht mehr genug von mir übrig, um mir einen Körper zu geben. Selbst diese Form zu erhalten ist ein wenig ermüdend.“

Das goldene Leuchten flackerte kurz, bevor Angelo sich wieder in der Gewalt hatte.

„Aber dann …“

„Ich werde heilen. Oder vergehen. Das zu entscheiden steht nicht mehr in meiner Macht.“

„Aber du bist …“ Michael verstummte. Alles, was er hatte sagen wollen, erschien ihm mit einem Mal lächerlich. Was wusste er denn schon? Er hatte ja nicht einmal erkannt, wen er vor sich gehabt hatte.

„Du bist …“, hub er erneut an. „Du bist Michael, nicht wahr? Also der Michael. Bist es die ganze Zeit gewesen.“

„So scheint es wohl, auch wenn ich dir versichere, dass ich das nicht wusste. Ich hatte mich schlichtweg selbst vergessen.“

„Wie konnte das passieren?“

Angelos Lächeln wurde traurig. „Es ist nur ein Name. Er ist … nicht von Bedeutung.“

„Du lügst.“ Michael war sich plötzlich so sicher, wie er sich noch nie wegen irgendetwas sicher gewesen war. „Du wagst es mir ins Gesicht zu sehen und mich so anzulügen? Nach all dem? Ich habe gesehen, wie erschüttert du warst, als es dir klar wurde. Es war diese Geschichte, die Belial erzählt hat, nicht wahr? Durch sie hast du erkannt, wer du wirklich bist. Nicht irgendein Engel, sondern der verdammt nochmal mächtigste Scheißerzengel, der da oben rumfliegt.“

Mit der Zeit war Michael immer lauter geworden und am Ende hatte er geschrien. Er sah, wie Gabriella erschrocken die Hand vor den Mund schlug und auch Crystal und Marcus rückten ein wenig von ihm ab. Einzig Gabriel beobachtete ihn ohne jegliche Gefühlsregung. Sein Anblick machte Michael nur noch rasender, weil er wusste, dass Angelo einst genauso gewesen war.

Er ballte die Hände zu Fäusten.

„Was hast du dir denn dabei gedacht?“, herrschte er den gefangenen Engel an. „Dass du dir mal eben die Flügel abschneidest und hier runterkommst und die Welt rettest? Hast du dir eigentlich überlegt, was passiert wäre, wenn die Dämonen dich tatsächlich mitgenommen hätten? Du hättest der dunklen Seite einen neuen, nahezu unbesiegbaren Champion geliefert. Auf einem verdammten Silbertablett. Der ganze Plan, von dem du immer gefaselt hast, war ein einziges Vabanquespiel, nur darauf aufgebaut, dass du vielleicht irgendwo den entscheidenden Hinweis erhältst, der dich möglicherweise in die richtige Richtung führt, damit du dort unter ganz besonderen, nicht sehr wahrscheinlichen Umständen dann eventuell doch noch den Weltuntergang aufhalten kannst. Und komm mir nicht damit, dass dich jemand geschickt hat. Den verdammten Erzengel Michael schickt niemand außer dem Allmächtigen höchstpersönlich. Und wage es nicht mich zu fragen, woher ich das alles weiß. Ich war DU verdammt nochmal, und ich kenne all deine kleinen Geheimnisse. Du hast mich angelogen und zwar von Anfang an.“

Schwer atmend stand Michael vor Angelo und hätte ihn am liebsten geschlagen. Fest geschlagen, damit er wusste, dass es ihm mit jedem, aber auch wirklich jedem verdammten Wort von dem, was er gerade gesagt hatte, ernst gewesen war. Und es war ihm wirklich scheißegal, dass er gerade im Angesicht des wohlgemerkt zweitmächtigsten aller Engel herumgeflucht hatte wie ein Droschkenkutscher. Er war so verdammt wütend auf Angelo, dass er nicht einmal mehr dessen Anblick ertrug.

„Ich bin fertig mit dir“, knurrte er und war versucht auf den Boden zu spucken. „Meinetwegen können sie dich mitnehmen und irgendwo anbinden, bis du schwarz wirst. Ist mir egal.“

Abrupt drehte er sich um und wollte wütend in irgendeine Richtung davonstapfen – im Stillen hoffte er, dass einer der gesichtslosen Engel ihm einen Grund gegen würde, wenigstens ihn zu schlagen – als er Angelos leise Stimme hörte.

„Michael, bitte warte. Es … es tut mir leid.“

Michael blieb stehen.

„Was tut dir leid?“

„Dass ich dich so enttäuscht habe.“

„Enttäuscht?“

„Ich wollte nicht, dass es so kommt. Ich … mein Plan war ein anderer. Ich wollte nie …“

„Dein Plan?“ Michael musste sich beherrschen, um nicht laut aufzulachen. „Was genau war denn dein Plan? Das musst du mir mal erklären. Was genau hat dich zu dieser absolut hirnrissigen Aktion verleitet? Und warum musstest du mich mit dort hineinziehen. Hättest du dir nicht irgendeinen anderen Dummen suchen können, der für dich den Hampelmann spielt? Es gibt doch bestimmt jede Menge Gläubige, die gerne zu deiner Schachfigur hätten werden wollen. Warum bist du ausgerechnet zu mir gekommen? Oder war das auch nur ein Versehen?“

Angelo schwieg eine Weile, bevor er leise sagte: „Das glaubst du? Dass es alles nur ein Zufall war?“

Michael schnaubte nur.

„Was soll ich denn sonst glauben? Im Endeffekt warst es doch du, der Belial getötet hat. Ich war nicht mehr als deine willige Hülle.“

„Michael!“ Gabriella drängte sich in sein Sichtfeld, das seltsam verschwommen war. „Siehst du denn nicht, was du ihm antust? Er leidet. Und du hast nichts Besseres zu tun, als wieder einmal deiner Wut über deine eigene Hilflosigkeit nachzugeben. Mach die Augen auf und sieht hin. Dann erkennst du vielleicht, dass du ihm Unrecht tust.“

Michael schloss die Augen und atmete tief durch, bevor er sich langsam wieder zu Angelo herumdrehte. Der stand immer noch in dem goldenen Kreis. In seinen Augen stand ein tiefer Schmerz.

Der Anblick ließ Michael schwer schlucken.

„Also schön. Erzähl es mir. Von Anfang an. Und wehe du lässt etwas aus.“

Ergeben senkte Angelo den Kopf.

„Ich … also gut. Ich werde versuchen, es dir zu erklären.“

Für einen Moment flackerte Angelos Gestalt erneut, bevor er leise zu sprechen begann.

 

„Als ich gerufen wurde und Er mir verkündete, dass er die Welt beenden wolle, war ich tief bestürzt. Ich dachte an all die Leben, die damit zerstört werden würden. Fragte, ob ich nicht etwas tun könne. Ob es einen Feind gäbe, den es zu bekämpfen gälte. Ein Heilmittel für das, was die Schöpfung bedrohe. Er jedoch antwortete mir, dass jegliche Bemühungen, das Problem auf diese Weise aufzuhalten, es nur noch verschlimmern würden. Ich solle gehen und tun, was er mir befohlen hatte.

Als ich ihn verließ, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich konnte nicht glauben, welch furchtbaren Auftrag ich gerade erhalten hatte. Um mich zu sammeln und zu beruhigen tat ich, was ich oft tue. Ich beobachtete die Leben der Sterblichen. Ich hoffe, das klingt jetzt nicht überheblich, aber sie bei ihren alltäglichen Problemen zu betrachten, erschien mir tröstlich in Anbetracht des Ende aller Tage, das auch sie für immer auslöschen würde. Während ich so auf sie hinabsah, begriff ich jedoch urplötzlich, wie falsch ich lag. Das Problem konnte nicht in einem großen, übermächtigen Gegner begründet sein. Wenn ja, wären wir wie so oft in der Lage gewesen, ihn aufzuhalten. Es musste irgendwo dort unten verborgen sein zwischen all diesen winzigen Wesen, über die man in Anbetracht göttlicher Allmacht nur allzu leicht hinwegsehen konnte. Zumindest hoffte ich das, denn die Alternative war einfach zu schrecklich, um sie wirklich in Betracht zu ziehen. Aber was sollte ich tun? Wo sollte ich anfangen zu suchen?

Erneut wollte ich mich an unseren Vater wenden, wollte ihm von meiner Idee erzählen, doch er ließ mich nicht zu sich. Ich weiß nicht, warum er sich von mir zurückzog. Vielleicht war auch er von der Trauer überwältigt worden. Einsam und auf mich gestellt entschloss ich mich, auf eigene Faust zu handeln. Mir war klar, dass ich damit gegen das Gesetz verstieß, doch ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Also schlich ich mich in aller Heimlichkeit weg und …“

Angelo verstummte. Michael sah, dass sein Blick zu Gabriel gewandert war. Mit einem Mal verstand er, dass Angelo bei seinem Weggang auch ihn verraten hatte. Er konnte zwar nur erahnen, in was für einer Beziehung die beide Engel zueinander standen, aber die Tatsache, dass sie oft genug in einem Atemzug genannt wurden, sprach für eine engere Bindung.

Als Gabriel jedoch keine Regung zeigte, fuhr Angelo schließlich fort, auch wenn er jetzt noch leiser sprach als zuvor.

„Ich wusste, dass ich gefunden werden würde, wenn ich meine Kräfte behielt. Ich musste unsichtbar werden, wenn ich Erfolg haben wollte. Daher entschloss ich mich zu fallen und dabei mehr von meiner Macht aufzugeben, als es jemals ein Engel getan hatte. Wenn ich gewusst hätte, dass ich allein mit dieser Überlegung der Lösung des Problems schon so nahe gekommen war … Im Nachhinein kann ich nur den Kopf darüber schütteln, was für ein Tor ich gewesen bin.“

Wieder verstummt Angelo, offenbar überwältigt von der Verzweiflung über seine eigen Dummheit. Michael konnte es ihm nicht verübeln. In Anbetracht so viel göttlicher Weisheit erschien seine Entscheidung wirklich nicht besonders klug. Trotzdem gab es da noch etwas, dass er wissen musste.

„Und wieso kamst du dann ausgerechnet zu mir?“

„Nun … das war tatsächlich eine Art Glücksspiel. Ich hatte dich schon früher beobachtet. Ich wusste um deine Vergangenheit. Dass ein Dämon deinen Freund getötet hatte und dass die Umstände seines Tods nie vollkommen entschlüsselt worden waren. Rund um diesen Vorfall gab es noch eine Reihe weiterer Vorkommnisse, deren Aufklärung uns nie ganz gelungen war. Es war … nenn es Intuition, aber ich hatte das Gefühl, dass du ein guter Startpunkt für meine Nachforschungen sein konntest. Ich war auf der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen und du schienst mir ein kleines Aufblitzen zu sein, das vermutlich nur mir aufgefallen war. Immerhin warst du durch deinen Namen unter meinen Schutz gestellt worden. Ich beschloss, mit meiner Suche bei dir zu beginnen.“

„Und das war alles?“ Michael versuchte, die Enttäuschung aus seiner Stimme herauszuhalten, aber es gelang ihm nicht so recht. „Es lag also im Grunde genommen nur an Jeff, dass du zu mir gekommen bist. Michael heißen schließlich viele Leute.“

Er sah Angelo an, doch der wirkte nicht im Mindesten schuldbewusst. Im Gegenteil. Er lächelte.

„Es war nicht nur das. Du hast außerdem eine Gabe, Michael. Ich sagte dir bereits, dass ein Engel den Verlust der göttlichen Liebe nur schwer verkraftet. Ich brauchte jemanden, der in der Lage war, mir den Halt zu geben, den ich brauchte, um nicht dem Wahn der andere Gefallenen anheimzufallen. Du hast ein gutes Herz, Michael. Ein großes Herz. Du kümmerst dich um die Schwachen und die, die du liebst. Ich war mir sicher, dass, wenn ich zu dir käme, du dich meiner annehmen würdest. Dass du nicht vorbeigehen und wegsehen würdest, wie so viele andere es getan hätten. Ich wusste einfach, dass ich auf dich zählen kann.“

Er lachte plötzlich. „Auch wenn im Nachhinein gesehen die Planung vielleicht etwas besser hätte sein können. Ein Rouletterad an der richtigen Stelle anzuhalten ist selbst mit göttlichen Kräften gar nicht so einfach.“

Michael blinzelte verblüfft. „Ein Rouletterad? Das heißt … du hast dafür gesorgt, dass ich an dem Abend gewonnen habe?“

„Eigentlich habe ich eher dafür gesorgt, dass du verloren hast.“ Angelo sah ehrlich zerknirscht aus. „Ich wollte sichergehen, dass du das Casino so schnell wie möglich verlässt und dich in eine der Bars begibst. Leider hat das beim letzten Mal nicht wirklich gut funktioniert und nachdem du diesen großen Gewinn eingestrichen hattest, konnte ich nur noch hoffen, dass mein Plan trotzdem aufgehen würde. Allerdings bin ich, wie wir beide ja wissen, nie im 'Malibu' angekommen.“

Michael schnappte nach Luft. „Du wolltest mich wirklich in dieser Bar …? Also das … das ist …“

„Ja?“

„Das ist der dümmste Plan, den ich je gehört habe. Warum bist du nicht einfach ins Casino gekommen?“

„Weil du dich dort nicht auf ein Gespräch mit mir eingelassen hättest. Genauso wenig wie ich dich irgendwo außerhalb von Las Vegas hätte ansprechen können. Dich in dieser Bar abzufangen erschien mir die beste Möglichkeit, mit dir in Kontakt zu treten.“

„Das ist …“ Michael klappte den Mund auf und wieder zu. Was Angelo gesagt hatte, entsprach den Tatsachen. Allerdings fand er es noch viel ungeheuerlicher, dass dieser verrückte Kerl, von dem er inzwischen ja immerhin wusste, dass es sich um den leibhaftigen Erzengel Michael handelte, tatsächlich vorgehabt hatte, ihn in einer Gaybar abzuschleppen. Wobei er ihm zugutehalten musste, dass seine Chancen, wenn er ihm dort begegnet wäre, tatsächlich nicht schlecht gewesen wären.

Er seufzte. Mit einem Mal fühlte er sich vollkommen erschöpft. All die Anspannung fiel von ihm ab und ließ lediglich eine dumpfe Leere zurück. Das und die Ungewissheit, wie es jetzt weitergehen sollte.

„Was geschieht jetzt mit uns?“

Michael war sich nicht sicher, ob er diese Frage an Angelo oder an Gabriel richten musste, somit sah er beide an.

Es war Gabriel, der ihm schließlich antwortete.

„Ihr Menschen werdet an euren Heimatort zurückkehren und Stillschweigen über das bewahren, was euch widerfahren ist. Solltet ihr das nicht tun, werden wir wiederkommen.

Michael war in Versuchung ihm zu sagen, dass er wie Arnold Schwarzenegger in „Terminator“ klang, aber dann ließ er es lieber bleiben. Gabriel sah nicht aus wie jemand, dem dieser Vergleich gefallen hätte.

Stattdessen wies er auf Marcus und Crystal.

„Was ist mit unseren beiden Freunden?“

„Die Entscheidung über ihr Schicksal wird nicht hier gefällt werden. Wir werden sie zunächst in Gewahrsam nehmen, bevor über sie gerichtet wird.“

„Dann will ich aber einen Anwalt. Und jemanden anrufen.“ Crystal hatte es anscheinend nicht mehr ausgehalten, die ganze Zeit den Mund zu halten.

Marcus funkelte sie wütend an.

„Das hier ist kein Spaß.“

„Na was denn, da hab ich auch schon kapiert“, schnaubte der Sukkubus. „Aber was bleibt mir denn anderes übrig außer ein bisschen Galgenhumor? Da rettet man die Welt und was ist der Dank dafür? Nichts als Ärger und goldene Handschellen. Kein Wunder, dass denen die Leute scharenweise weglaufen. Immer nur Beten und Arbeiten ist einfach Schnee von gestern. Sieh dir doch an, was sie mit dem Engelchen gemacht haben. Ich meine, der steckt in einer Dämonen-Falle. Hallo?“

Als sie das sagte, runzelte Marcus die Stirn. „Das ist wahr. Wie kann das sein? Ich dachte, die wirken nur bei Dämonen.“

Angelo senkte den Kopf.

„Wie es aussieht, habe ich inzwischen genug Schuld auf mich geladen, um die Kriterien zu erfüllen.“

„Schuld?“ Michael runzelte die Stirn „ Aber als wir hierher kamen, warst du doch noch … also … da haben dich doch noch die Engelsfallen aufgehalten. Was ist passiert?“

Angelo sah ihn nicht an, sondern blickte weiter zu Boden.

„Erinnerst du dich nicht“, sagte er leise. „Ich habe … ich habe für einen Moment gezweifelt. Ich wollte mich Belial anschließen, weil ich dachte, dass er vielleicht doch recht damit hatte, dass unser Vater … also, dass er … im Unrecht ist. Dass ich ihm vielleicht den Rücken gekehrt hatte, weil ich … die Sicht der Dämonen teilte. Damit habe ich eine Grenze überschritten, die ich nicht hätte überschreiten dürfen.“

„Aber du hast es doch nicht getan.“

„Manche Dinge muss man nicht tun, um ihrer schuldig zu sein. Dass nicht mehr passiert ist, habe ich allein Alejandro zu verdanken. Wenn er nicht gewesen wäre, wenn Belial ihn nicht vor meinen Augen getötet hätte, dann wäre ich … ich wäre übergelaufen, Michael. Ich war bereit dazu. Ich dachte, es wäre der einzige Weg, um euch noch zu retten. Um dich zu retten.“

Er hob den Kopf. „Würdest du mir einen Gefallen tun? Es ist auch wirklich der letzte, um den ich dich bitte.“

Michael schluckte schwer. „Welchen?“

„Sorge dafür, dass Alejandro ein ordentliches Begräbnis erhält. In heiligem Boden. Vielleicht wird er auf diese Weise in der Lage sein, Vergebung zu erhalten.“

Michael nickte langsam. „Und was ist mit deiner Vergebung? Ich meine, du hast immerhin die Welt gerettet. Ist denn das nichts wert?“

Wieder lächelte Angelo schmal. „Das Konzept gilt leider nicht für Engel. Es ist allein den Menschen vorbehalten. Ich fürchte, das hier“ , er hob die Hände mit den goldenen Ketten, „ wird jetzt mein Schicksal sein. Zudem wäre für Vergebung Reue vonnöten und ich bereue nicht, was ich getan habe. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich es wieder tun.“

Michael wollte noch etwas sagen, aber Gabriel stand mit einem Mal neben ihm und sah auf ihn herab.

„Es ist an der Zeit, Mensch. Ihr müsst gehen. Wir werden diesen Ort jetzt reinigen.“

„Was bedeutet das?“

„Wir werden ihn läutern. Mit Feuer und Wasser und der Kraft des Heiligen Geistes. Ihr solltet nicht mehr hier sein, wenn das geschieht.“

Er blickte nach rechts und sofort lösten sich zwei der goldenen Krieger aus dem Verbund und nahmen neben Michael Aufstellung. Zwei weitere flankierten Gabriella und noch zwei nahmen Marcus und Crystal in ihre Mitte. Das alles passierte mit einer Präzision, die Michael erschaudern ließ. Es erinnerte ihn unangenehm an Belial. Sicherlich, diese Krieger waren schön, wo die Dämonen hässlich gewesen waren, diszipliniert, wo in Belials Truppen das Chaos geherrscht hatte, doch sie waren ebenso unnachgiebig, eben so fremdartig und ebenso grausam.

Als er das erkannte, glitt sein Blick zu Angelo. Der nickte leicht, so als wollte er sagen: Ja, ich bin einer von ihnen.

„Geht jetzt“, sagte Gabriel.

Michael wandte sich ab. Er konnte hier nichts mehr tun. Nichts außer den letzten Wunsch zu erfüllen, den Angelo an ihn gerichtet hatte. Ohne sich um die zwei Engel an seiner Seite zu kümmern, ging er zu Alejandros Leichnam, hob ihn auf seine Arme und drehte sich dann wieder zu seiner Eskorte herum.

Gabriel musterte den toten Körper.

„Wer ist das?“

Michael sah, wie Angelo im Hintergrund leicht den Kopf schüttelte. Das zu erklären würde nicht Michaels Aufgabe sein.

„Nur jemand, der nicht so viel Glück hatte wie wir.“

Der Erzengel nickte, die zwei Krieger nahmen wieder Aufstellung und mit einem letzten, tiefen Atemzug setzte Michael sich in Bewegung.

Er wollte nicht zu Angelo hinübersehen, aber als er an ihm vorbeiging, wurde sein Blick wie magisch von der schmalen Gestalt angezogen, die immer noch festgekettet in dem goldenen Kreis stand. Ein letztes Mal noch. Ein letztes Mal wollte er in diese wunderschönen, blauen Augen sehen. Ihn ein letztes Mal halten, ein letztes Mal küssen. Doch er wusste, dass das nicht ging. Sie hatten ihren Abschied gehabt. Das hier war jetzt Sache der Engel.

 

Schließlich musste er den Kopf nach vorne wenden, um nicht zu stolpern. Vor ihm lag die weite, sandige Ebene der 'Zona del Silencio'. Was wohl damit geschehen würde, jetzt, da Belial nicht mehr da war? Würden die Phänomene aufhören? Die geheimnisvollen Besucher verschwinden? Würde dies hier wieder zu einem ganz normalen Stück Wüste werden, so wie es sie zu tausenden auf der Erde gab? Oder würde die Magie des Ortes auch über die Grenzen der Realität hinweg erhalten bleiben?

„Woran denkst du?“, fragte Gabriella plötzlich. Sie hatte ihre Wachen hinter sich gelassen und lief jetzt direkt neben ihm.

„Ich denke darüber nach, was jetzt wohl mit diesem Stück Land geschieht. Ob es wohl so ein magischer Ort bleiben wird?“

Gabriella lächelte leicht. „Ich glaube, wenn etwas einmal von göttlicher Macht berührt wurde, bleibt immer etwas davon zurück.“

Michael wollte einwenden, dass dies hier doch von einem Dämon erschaffen wurde, doch dann verstand er plötzlich und nickte.

„Ich glaube, da hast du recht. Irgendetwas bleibt immer zurück.“

 

Hinter ihnen nahmen die Engel Aufstellung. Als der erste von ihnen, das Feuer entzündete, zuckte Michael zusammen. Er sah den leuchtenden Schein und meinte die Hitze zu fühlen, die von den gewaltigen Kräften ausging, die die himmlischen Wesen hier entfesselten. Trotzdem blieben seine Schritte fest und trugen ihn unablässig dem Ausgang entgegen. Er wusste, dass er hier nichts mehr verloren hatte. Dieser Ort würde fallen und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Die Schlacht war gewonnen, der Krieg war vorüber. Jetzt wurde es Zeit, die Toten zu begraben.



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