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Angelo

von

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Verdeckte Ermittlungen

Marcus schloss die Akte auf seinem Schreibtisch und sah zur Uhr. Es war fünf vor zehn und somit fünf Minuten vor seinem offiziellen Schichtende. Der Tag hatte sich nach dem Debakel in der Wüste hingezogen wie Kaugummi. Ein unwichtiger Verkehrsdelikt nach dem anderen hatte sich schier endlos aneinander gereiht und ihm viel zu viel Zeit zum Nachdenken gelassen. Über die letzte Nacht, über Crystal und ihren geheimnisvollen Auftraggeber, über Angelo und seine zwei Begleiter, über Engel im Allgemeinen und seinen Vater im besonderen. Sogar Carter war aufgefallen, dass er heute irgendwie geistig abwesend war. Als sie als Höhepunkt des Tages einen Diebstahl in einem Schnapsladen übernahmen und den sich mit Händen und Füßen wehrenden Täter nach einer kurzen Verfolgungsjagd dingfest machen konnten, griff sein Kollege in das Regal des Ladens, drückte ihm eine Flasche Whiskey in die Hand und riet ihm, vor dem Schlafengehen noch einen zu heben und dann morgen wieder normal zum Dienst zu erscheinen. Marcus hatte die Flasche in einem unbeobachteten Moment wieder zurückgestellt und seit dem aufgepasst, nicht wieder gedanklich abzudriften. Das Ganze war ihm nur so mittelmäßig gut gelungen, aber nun war endlich der Moment gekommen, an dem er sich wieder voll und ganz auf sein „Hobby“ konzentrieren konnte. Vorher galt es jedoch noch etwas zu erledigen.

 

Er rief die Suchanzeige von Thompson auf und gab fein säuberlich das Kennzeichen des Mietwagens sowie den letzten gesicherten Aufenthaltsort ein. Sein Finger schwebte für einen Augenblick über der Entertaste, bevor er sie entschlossen nach unten drückte.

Warum mache ich das?, fragte er sich sicherlich schon zum hundertsten Mal heute. Und warum erst jetzt? Warum helfe ich diesem Thompson, indem ich nichts tue? Ich bin diesem Kerl zu nichts verpflichtet und dem merkwürdigen Engel an seiner Seite auch nicht.

Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, atmete tief durch und schaltete den Computer ab. Es brachte nichts, wenn er weiter darüber grübelte. Zumal er Wichtigeres zu tun hatte. Immerhin hatte er eine Spur, die es zu verfolgen galt. Er würde heute mal im Dirty Dogs auf den Busch klopfen. Wenn er Glück hatte, würde er dort etwas erfahren, dass ihn zu dem Cadejo führte. Und wenn nicht, konnte er sich immer noch überlegen, ob er noch einmal nach Crystal suchte. Vielleicht konnte er doch noch etwas aus ihr rausquetschen.

 

Er ging zum Umkleiderum und begann, sich aus seiner Uniform zu schälen. In seinem Spind war für den Notfall immer einen Satz Zivilkleidung deponiert. Eine Tatsache, die ihm jetzt zugutekam ebenso wie die Uniform, die er am Morgen zu Hause angezogen hatte. Wenn ihm die Singerei und die anderen Kinder nicht so auf den Zeiger gegangen wären, hätte er vermutlich einen guten Pfadfinder abgegeben. Allzeit bereit.

Für einen Moment wog er seine Dienstwaffe in der Hand. Er hätte sie mitnehmen können. Allerdings würden findige Kriminelle ziemlich schnell spitz kriegen, was er da mit sich rumschleppte. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass jemand mitbekam, dass er ein Cop war. Also legte er sie schweren Herzens wieder in den Schrank und schloss ab. Als er gerade nach seiner Jacke griff, kam Carter rein.

„Hey, schon auf dem Heimweg? Soll ich dich zu Hause absetzen?“

Marcus schüttelte den Kopf. „Nein danke, nicht notwendig. Ich werd noch ein bisschen um die Häuser ziehen. Den Kopf freikriegen.“

Für einen Augenblick schien Carter verblüfft, doch dann breitete sich ein Grinsen unter seinem buschigen Schnauzbart aus. „Mach das, Junge. Viel Spaß dabei. Aber übertreib’s nicht. Nicht, dass ich dich Morgen wieder rausklingeln muss. Und such die ein nettes Mädchen. Die wird dich wieder zurück in die Spur bringen.“

Marcus ersparte sich und Carter eine Antwort darauf, nickte seinem Kollegen nur noch einmal zu und machte dass er wegkam.

Ein Mädchen, dachte er und schnaubte innerlich, als plötzlich Crystals Bild in seinem Kopf auftauchte. Wenn der wüsste.

 

 

Das Dirty Dogs war nicht schwer zu finden und erfüllte so ungefähr jede von Marcus’ Vorstellungen einer runtergekommenen Kneipe, wie es sie sicher zu tausenden gab. Ein Neonschild wies ihm den Weg zu einer dunkel verglasten Tür, die ihn, als er sie aufstieß, mit einem Schwall lauter Rockmusik überschüttete. Die zum Schneiden dicke Luft im Inneren war durchtränkt mit einem Potpourri verschiedenster Gerüche. Rauch, Schweiß, Alkohol und Leder drangen in seine Nase und ein unverkennbarer Hauch von Benzin ließ sie unangenehm kribbeln. Letzterer war vermutlich auf die nicht geringe Anzahl von Motorrädern zurückzuführen, die vor der Tür geparkt war. Bei der Einrichtung herrschte dunkles Holz vor, bei den Gästen die Sorte Typen, denen man nicht unbedingt im Dunkeln begegnen wollte. Um einen löchrigen Billardtisch hatten sich die Besitzer der Bikes versammelt inklusive der dazugehörigen Schönheiten mit roten Mündern und aufgeplustertem Vorbau. Marcus vermied es, mit irgendjemandem Blickkontakt aufzunehmen, und steuerte ohne allzu große Hast einen freien Platz an der Theke an. Dort ließ er sich auf einem Barhocker nieder und wartete mit gesenktem Kopf, dass er bedient wurde. Dabei spähte er möglichst unauffällig in alle Richtungen, ob er den Gesuchten bereits entdecken konnte oder zumindest jemand, der so aussah, als wenn er ihn kennen könnte.

Er hatte gerade eine verdächtige Gruppe von fünf oder sechs Gästen aufs Korn genommen, deren Aufmachung seiner Zielperson nicht unähnlich war, als er plötzlich eine Bewegung am Rand seines Gesichtsfelds wahrnahm. Als er den Blick hob, sah er sich dem bulligen Barkeeper gegenüber, der ihn finster anstarrte. Alles, was an dem Typ nicht in schwarzes Leder gehüllt war, war entweder behaart oder tätowiert. Oder beides. Lediglich der Schädel war kahlrasiert und bar jeglicher Farbe.

„Was willst du?“

Fasziniert bemerkte Marcus, dass sich der Bart um den Mund des Mannes nicht bewegt hatte, während er sprach.

„Bier“, bestellte er und wollte sich schon wieder abwenden, aber die barsche Stimme seines Gegenübers hielt ihn auf.

„Ham wir nicht“, bellte sie begleitet von einem Grinsen, das man mehr hörte als sah. Der Kerl war wirklich ein wandelnder Busch. Es fehlten nur noch Sonnenbrille und Hut und man hätte ihn glatt mit einem ZZ-Top-Mitglied verwechseln können.

Marcus überlegte rasch. Er hatte sich auf Schwierigkeiten eingestellt, aber so schnell? Sein Blick glitt über die Bar, auf der mehrere Bierkrüge standen. Langsam drehte er den Kopf wieder zurück und nahm den Barkeeper ins Visier.

„Dann nehm ich eben was von der Katzenpisse, die die anderen trinken.“

Für einen Moment schien der tätowierte Hüne zu überlegen, dann nickte er kaum merklich und ging, um Marcus kurz darauf einen Bierkrug vor die Nase zu knallen. Nicht wenig der trüben Flüssigkeit schwappte dabei heraus und bildete eine unappetitliche Pfütze um das definitiv nicht saubere Glas herum. Marcus versuchte, den Ekel aus seinem Gesicht zu halten, griff danach und setzte es an.

Augen zu und durch, dachte er, bevor er den Inhalt Schluck um Schluck herunterwürgte. Es schmeckte ungefähr so, wie er befürchtet hatte, aber er hörte nicht auf zu trinken, bevor das Glas fast leer war. Dann ließ er es wieder auf die Theke krachen und sah den Barkeeper herausfordernd an. Der verzog den Mundwinkel ein wenig nach oben – wenigstens nahm Marcus das an, es war einfach nicht erkennbar mit all den Haaren im Gesicht – und nahm ihm das Glas ab, um es kurz darauf durch ein neues zu ersetzen. Dieses Mal war das Bier gekühlt.

„Wenn du kotzen musst, fliegst du raus“, brummte er dabei.

Marcus machte ein fragendes Gesicht und der Hüne grinste.

„Du hast grad mein Resteglas ausgesoffen. Da war so ziemlich alles drin außer Katzenpisse.“

Die Vorstellung, gerade Haare und Fingernägel geschluckt zu haben, ließ Marcus’ Magen ganz kurz rebellieren, bevor er das Gefühl bewusst zurückdrängte. Er hatte den Fuß in der Tür, da würde er jetzt keinen Rückzieher machen.

Er nahm noch einen Schluck Bier und musste zugeben, dass das hier wesentlich besser war als das, was er vorher bekommen hatte. Ein Augenschwenk auf den Barkeeper bestätigte ihm, dass der ihn beobachtete. Marcus senkte den Kopf noch ein wenig tiefer und konzentrierte sich scheinbar auf sein Bier. Irgendwas an dem Blick des Mannes gefiel ihm nicht, doch er beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Stattdessen versuchte er weiter, die Gäste unauffällig zu beobachten. Er war sich ziemlich sicher, dass mindestens zwei der Biker bewaffnet waren und auch die Latinos, die er vorher ins Visier genommen hatte, hatten mit Sicherheit irgendwas dabei. Die Gruppe von drei schweigenden Trinkern, die an einem der Tische Karten spielten, konnte er sicherlich getrost ausschließen. Blieben zwei Typen, die ebenso wie er allein an ihrem Tisch saßen und einsam tranken. Der eine hatte ein halb geleertes Bier vor sich, der andere ein Glas und eine Flasche Whiskey. Letzterer hatte vermutlich mehr Übung als sein Gegenstück, das auf nicht recht zu beschreibende Weise nicht hierher zu passen schien. Doch noch bevor sich Marcus weiter Gedanken um den Mann in Jeans und Lederjacke machen konnte, bekam er schon wieder Gesellschaft von dem wandelnden Busch hinter der Theke. Er versuchte, ihn zu ignorieren, aber der nahezu zwei Meter große Kerl schien nicht gewillt, ihn in Ruhe zu lassen. So ergab er sich schließlich dem Unvermeidlichen und sah zu ihm auf.

Stahlblaue, intelligente Augen trafen auf seine und musterten ihn mit einer Intensität, die ihm fast körperlich unangenehm war. Er war kurz davor, auf seinem Hocker hin- und herzurutschen, als der Hüne endlich wieder das Wort ergriff.

„Was will ein Cop in meiner Bar?“

Marcus hätte sich beinahe verschluckt. Er schaffte es gerade noch, das Bier in den richtigen Teil seiner Kehle zu lenken, bevor er mehr schlecht als recht krächzte: „ Wovon sprichst du?“

Sein Gegenüber gab ein Knurren von sich. „Davon, dass ich euch Bullen auf zwei Meilen gegen den Wind rieche. Glaub mir, ich kenne mich da aus. Hab schließlich genug davon in meiner Familie. Also nochmal: Was willst du hier?“

Marcus musste einsehen, dass er jetzt entweder gehen oder mit der Sprache rausrücken konnte. Vielleicht verriet ihm der Barkeeper ja sogar etwas, das ihm nützte.

„Ich suche jemanden. Nennt sich Alejandro. Kennst du den?“

„Der Name ist häufig.“

Das war immerhin kein Nein.

„Ist so ein kleiner, abgebrochener Typ. Schmal. Mit einem Goldzahn. Hab gehört, dass er hier manchmal abhängt.“

Das Geräusch, das der Barkeeper jetzt von sich gab, konnte man nur als belustigt bezeichnen. Marcus war sich nicht sicher, wie er das einordnen sollte. Entweder lachte der Mann jetzt über ihn oder über den Cadejo. Oder beides. Es war jedoch ein untrügliches Indiz dafür, dass er wusste, von wem Marcus sprach. Daher nahm er einfach noch einen Schluck Bier und wartete ab.

 

Die Augen seines Gegenübers hatten begonnen, amüsiert zu funkeln. Er griff nach zwei kleinen Gläsern und einer Flasche Hochprozentigem, goss sich und Marcus etwas ein und prostete ihm zu, bevor er den Schnaps irgendwo in dem Bartwuchs verschwinden ließ. Marcus betrachtete das Glas mit der undefinierbaren, braunen Flüssigkeit. Er mochte Alkohol nicht besonders, auch wenn er sich um die körperlichen Folgen meist wenig Sorgen machen musste.

„Trink!“, wurde er jetzt aufgefordert. Mit einem Seufzen ergab er sich seinen Schicksal und stürzte den Inhalt des Glases mit einem Schluck herunter. Es brannte in seiner Kehle, aber er zwang sich, nicht zu husten, sondern sah den Barkeeper herausfordernd an. Natürlich brachte ihm das ein zweites Glas ein, das er ebenso wie das erste vernichtete.

„Und jetzt?“, fragte er, als sich das Glas bereits zum dritten Mal gefüllt hatte. „Muss ich erst die Flasche austrinken oder bekomme ich eine Antwort?“

Der Hüne grinste. „Kommt darauf an, warum du ihn suchst. Ist es beruflich, geschäftlich oder was Privates?“

Die Frage ließ Marcus vorsichtig werden. Er wusste, dass von seiner Antwort vermutlich abhing, ob er sich gleich auf der Straße wiederfand oder endlich Fortschritte machte. Er räusperte sich.

„Privat“, antwortete er dann. Das war immerhin mehr oder weniger die Wahrheit. Das enervierende Grinsen seines Gegenübers wurde breiter.

„So so, privat also.“ Wieder schien die Antwort den Mann sehr zu amüsieren. „Und in welcher Angelegenheit? Hat er deinen Hund getreten, deine Schwester beleidigt oder bist du aus einem anderen Grund hinter seinem knochigen Arsch her?“

Marcus zögerte ein wenig, bevor er antwortete. „Ich hab keinen Hund ... und auch keine Schwester.“

„War mir klar.“

Nach dieser kryptischen Äußerung drehte sich der Barkeeper weg und ließ Marcus allein mit seinem Bier und dem dritten Schnaps, den er nicht trinken wollte, es dann aber doch tat, weil er das Gefühl hatte, dass es den Hünen verärgert hätte, wenn er es verweigerte. Der hingegen tat jetzt so, als hätte er Marcus noch nie gesehen, sondern zapfte stattdessen eine neue Runde Getränke für die Gruppe am Billardtisch. Erst, als die sich wieder ihrem Spiel zugewandt hatte, kam er fast beiläufig wieder zu Marcus geschlendert und musterte ihn erneut.

„Privat also“, sagte er und hatte immer noch dieses Funkeln im Auge. „Hätte dir eigentlich einen besseren Geschmack zugetraut, aber wenn man ihn von hinten fickt, kann einem der Vorderteil ja egal sein.“

Er lachte dröhnend, vermutlich auch über Marcus’ dummes Gesicht, dem erst nach einigen Augenblicken aufging, was der Barkeeper meinte. Die ganze Zeit gemeint hatte. Er wollte gerade anheben zu protestieren, als ihm einfiel, dass das vermutlich die beste Gelegenheit war, die sich ihm bieten würde. Also musste er wohl oder übel mitspielen. Er rang sich ein schmales Lächeln ab.

„Stimmt“, gab er scheinbar ertappt zu und nahm noch einen Schluck Bier. „Also? Hast du ihn gesehen?“

Zu seiner Enttäuschung schüttelte der Barkeeper den Kopf. „War ein paar Tage nicht hier. Das letzte Mal am Freitag zusammen mit seiner Gang. Die hängen hier immer ne Weile rum, bevor sie losziehen, um sich um Nutten, Koks und Schutzgeld zu kümmern.“

Marcus blinzelte ein paar Mal, bevor ihm klarwurde, dass der Typ ihn verarschte. Oder auch nicht. Vielleicht war es auch ein Test um rauszufinden, ob er nicht doch gelogen hatte. Scheinbar gleichgültig zuckte er mit den Achseln.

„Tja, dann werde ich wohl bis zum Wochenende warten müssen. Oder hast du ne Ahnung, wo ich ihn finden kann?“

„Nein, keinen blassen Schimmer. Die kommen und gehen scheinbar aus dem Nichts. Sind vor ner Weile aufgetaucht und haben die Gegend seit dem im Griff. Wer nicht spurt, verschwindet. Von daher solltest du dir das wirklich gut überlegen, ob du dem Kerl hinterherrennst. Ist ja nicht so, dass andere Mütter nicht auch hübsche Söhne hätten.“

Der Barkeeper zwinkerte Marcus noch einmal zu und widmete sich dann dem nächsten Gast, der gerade zur Tür reingekommen war.

 

Marcus blieb zurück mit seinem Bier, das er nicht auszutrinken gedachte. Es bot ihm lediglich einen Halt für seine Finger, die sonst vermutlich unruhig auf der Theke herumgeklopft hätten. Es schien, als wäre der Abend für heute gelaufen. Mitternacht war bereits vergangen und er bezweifelte, dass die Cadejos heute noch hier auftauchen würden. Also blieb er entweder hier sitzen, riskierte sich doch noch zu betrinken und weiter zweideutige Angebote von dem bärtigen Riesen zu bekommen, oder nach Hause zu gehen und es morgen erneut zu versuchen. Die zweite Möglichkeit war eindeutig die vernünftigere von beiden. Trotzdem zögerte er, dehnte seinen Aufenthalt aus ihm unerfindlichen Gründen weiter und weiter aus und trank schließlich doch noch etwas von dem Bier, das inzwischen warm geworden war.

 

Irgendwann jedoch war tatsächlich der Boden seines Glases erreicht und Marcus hielt sich selbst davon ab, noch ein weiteres zu bestellen. Er legte einen Schein auf den Tresen und stand auf. Noch einmal ließ er den Blick über die rauchverhangene Bar streifen. Die Latinos und einer der einsamen Trinker waren inzwischen verschwunden und auch für Marcus wurde es dringend Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Zu seinem Erstaunen erwischte er sogar einen der nach einem nur ihnen bekannten Fahrplan verkehrenden Busse, ließ sich dort auf eine Sitzbank fallen und schloss die Augen. Dahinter erwarteten ihn Schwärze und kreisende Gedanken. Ein Zustand, der ihm nur allzu bekannt war.

 

Der Bus hielt an einer Haltestelle in der Nähe seiner Wohnung und Marcus stieg aus, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Die Nacht war mild, aber die Luft um ihn herum schwül und drückend, so als gäbe es zu viele Menschen, die sie atmeten. Zu viele, die die Atmosphäre mit ihren Gedanken verpesteten. Zu viele Körper auf zu wenig Raum. Er sehnte sich nach der Stille der Wälder, der frischen Luft, der Freiheit Stunde um Stunde in eine Richtung laufen zu können und niemandem zu begegnen. Stattdessen saß er hier inmitten dieses röchelnden, stinkenden Molochs voller Gewalt und Korruption und bildete sich ein, dass er etwas verändern konnte. Der Gedanke machte ihn müde und ausgelaugt. Er sehnte sich plötzlich nach seinem Bett und konnte es nicht erwarten, endlich nach Hause zu kommen.

 

Als er die letzten Stufen nahm, holte er bereits seinen Schlüsselbund heraus und fummelte klimpernd damit herum, als er plötzlich mitten in der Bewegung gefror. Sein Blick klebte an seiner Wohnungstür, die nicht, wie erwartet, verschlossen vor ihm lag, sondern stattdessen einen winzigen Spalt breit offenstand. Das Schloss war offensichtlich aufgebrochen worden und das neue Holz wie tiefe Kratzspuren aus. Fast so, als hätte ein Tier davor gewütet. Marcus spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.

 

 

 

Ein leises Piepen ließ Erithriel aufhorchen. Er holte das kleine Tablet heraus, das ihm während seiner Einsätze half, den Überblick zu behalten. Moderne Computertechnik war wirklich ein Segen und die zunehmende Vernetzung machte ihm seinen Job umso einfacher. Es ermöglichte ihm, an vielen Orten gleichzeitig seine Augen und Ohren offenzuhalten, wenngleich auch zu dem Preis, dass er selbst einige Vorsicht walten lassen musste um unentdeckt zu bleiben. Man bekam eben nichts umsonst.

Er tippte auf das blinkende Feld am oberen Rand und wurde sogleich über ein Statusupdate der Fahndung nach Michael Thompson informiert. Er und seine Frau waren vergangene Nacht hier in Vegas gesehen worden. Als er nach der Quelle der Meldung suchte, wurde ihm das Metropolitan Police Department genannt. Es fehlte jedoch die Signatur, die die Meldung einem Beamten zuordenbar machte. Erithriel starrte den kurzen Text an, der auch den Hinweis auf einen Fahrzeugwechsel enthielt, und runzelte unwillkürlich die Stirn. Das Ganze hatte einen eigenartigen Beigeschmack.

Zum einen hatte er nicht erwartet, ausgerechnet hier fündig zu werden. Was für einen Grund konnte es für Thompson geben, erneut nach Las Vegas zu kommen? Was hatte er hier gesucht? Der andere Punkt, der ihn stutzig werden ließ, war die offenbar mit Absicht anonym angelegte Eintragung. Natürlich war es möglich, dass der entsprechende Officer einfach nur vergessen hatte, sein Kürzel einzutragen, aber Erithriel glaubte nicht so recht daran. Das Vorgehen war zu verdächtig, um wirklich ein Zufall zu sein. Und wenn es kein Zufall war, blieb eigentlich nur ein Schluss übrig.

Er schüttelte langsam den Kopf.

Wenn die Meldung tatsächlich von Marcus stammt, werde ich ihn deswegen zur Verantwortung ziehen müssen. Mir so eine Information vorzuenthalten, war höchst fahrlässig. Er muss doch gewusst haben, dass …

Plötzlich kam ihm ein unschöner Verdacht. Was, wenn der Gefallene Marcus auf seine Seite gezogen hatte? Wenn er ihn benutzte, um gezielt Falschinformationen zu verbreiten?

Erithriel brummte unzufrieden. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als Marcus noch einmal zu der Sache zu befragen. Gleichzeitig würde er jemanden anderen darauf ansetzen, sich um die Auffindung des Mietwagens zu kümmern.

Er zog sein Handy heraus und tippte eine Nummer ein. Am anderen Ende läutete es, aber niemand nahm ab. Nach dem zehnten Klingeln beendete er den Anruf und überlegte. Er hatte schon einige Male mit Melanthiel zusammengearbeitet und ihn dabei stets als zuverlässig und gewissenhaft erlebt. Dass er jetzt den Anruf nicht entgegennahm, war höchst ungewöhnlich. Er probierte die Nummer eines weiteren Engels, der bei der Brandermittlung arbeitete, aber auch dort hatte er keinen Erfolg. Schließlich wählte er die Nummer der Dienststelle, in der Melanthiel unter dem menschlichen Namen Mel Jacobs arbeitete. Er bekam einen der ihm unterstellten Mitarbeiter an den Apparat.

„Agent Jacobs ist nicht im Haus, Agent Hawthorne. Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde er versetzt.“

„Versetzt?“ Erithriel runzelte die Stirn. „Können Sie mir sagen, in welchem Department er jetzt ist?“

„Darüber liegen mir leider keinerlei Informationen vor.“

„Gut, vielen Dank.“

Erithriel legte auf und wählte sogleich erneut. Aber auch bei der Brandermittlung teilte man ihm nur mit, dass der entsprechende Beamte am Morgen nicht zum Dienst erschienen war. Er beendete das Gespräch und starrte ins Leere. Das war mehr als ungewöhnlich. Gleich zwei Wächter, die nicht erreichbar waren, einer von ihnen offiziell versetzt, der andere anscheinend unbekannt verschollen. Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und erwischte sich dabei, wie er das tat. Eine menschliche Angewohnheit, die nach all der Zeit wohl ihren Weg in sein Verhaltensmuster gefunden hatte. Es war wichtig, nicht aufzufallen, sich natürlich ins Bild einzupassen. Ein Grund, aus dem ein Ortswechsel nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches war. Von Zeit zu Zeit wurde es notwendig weiterzuwandern, um zu verhindern, dass jemand unangenehme Fragen stellte. Allerdings war dabei in der Regel dafür gesorgt, dass der Kontakt untereinander erhalten blieb. Er kannte bei weitem nicht alle Engel, die sich auf der Erde befanden, aber genug, um im Notfall auf Hilfe zurückzugreifen. Einen Augenblick lang war er versucht, solange Nummern durchzuprobieren, bis er jemanden fand, aber dann beschloss er, die Sache lieber selbst in die Hand zu nehmen. Bevor er das tat, würde er jedoch noch einmal Marcus aufsuchen, um ihn zur Rede zustellen. Möglicherweise gab es ja einen Grund für sein Verhalten.

 

 

 

Marcus legte die Hand an die Tür und schob sie langsam auf. Im Inneren der Wohnung brannte kein Licht und erst mit der Zeit schälten sich die Umrisse seiner Garderobe und anderer Möbelstücke aus dem Dunkel. Er schlüpfte durch die Tür und schloss sie wieder bis auf einen schmalen Spalt, um den Eindringling nicht durch den einfallenden Lichtschein zu warnen. Drinnen blieb er stehen um zu lauschen. Alle seine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, als er es plötzlich hörte. Ein kleines Geräusch wie von etwas Weichem, das auf den Boden fiel. Im Grunde genommen kaum wahrnehmbar, doch in der Stille seines angehaltenen Atems entging Marcus der leise Laut trotzdem nicht. Er wusste jetzt, was er schon die ganze Zeit geahnt hatte. Der Einbrecher war noch hier.

Marcus’ Gedanken überschlugen sich, versuchten einen Plan zu formen. Soweit er erkennen konnte, musste der Eindringling sich im nebenan liegenden Schlafzimmer befinden. Er selbst stand in der Küche, die ins Wohnzimmer überging. Von dort aus konnte er jetzt hören, wie der ungebetene Gast sich an seinen Schränken zu schaffen machte. Wenn er dachte, dort Reichtümer zu finden, würde er wohl enttäuscht werden. Dem undeutlichen Gemurmel nach zu urteilen, das jetzt durch die offenstehende Schlafzimmertür drang, teilte der Einbrecher diese Meinung. Aber warum hatte er dann nicht im Wohnzimmer nach Wertsachen gesucht? Dieses war, soweit Marcus das im Dunkeln beurteilen konnte, weitestgehend unangetastet.

Was auch immer der Grund ist, im Schlafzimmer sitzt er in der Falle. Der Raum hatte zwar ein Fenster, das sich jedoch aufgrund eines Defekts nicht öffnen ließ, und so führte der einzige Weg aus der Wohnung heraus an Marcus vorbei. Und ich werde ihn nicht entkommen lassen.

 

Im Schreibtisch lagerten zwei Handfeuerwaffen, aber um an sie heranzukommen, hätte er die Schublade herausziehen müssen. Das Geräusch hätte der Einbrecher sicherlich bemerkt. Das Vernünftigste wäre gewesen, die Wohnung wieder zu verlassen und nach Verstärkung zu rufen. Allerdings verspürte Marcus wenig Lust, seine Kollegen überall in seiner Wohnung herumschnüffeln zu lassen. Wer wusste, was sie dabei zu Tage förderten. Also blieb ihm nur übrig, sich anzuschleichen und den Kerl aus dem Hinterhalt zu überwältigen. Noch einmal bereute er es, seine Dienstwaffe nicht mitgenommen zu haben. Aber es half nichts; er würde ohne auskommen müssen. Es gab allerdings etwas, das ihm nutzen konnte.

Er zog sich in den kleinen Flur zurück und öffnete vorsichtig den dort immer noch gelagerten Werkzeugkasten. Behutsam tastete er über die Metallgegenstände und fand schließlich das Bündel schmaler Plastikbänder, das er gesucht hatte. Entschlossen zog er drei der Kabelbinder heraus und steckte sie in seine hintere Hosentasche. Echte Handschellen wären ihm zwar lieber gewesen, aber die lagerten auf dem Revier. Es musste also auch ohne gehen.

Als er fertig war, stellte er sich wieder neben dem Eingang zum Wohnzimmer und lauschte. Der Eindringling durchstöberte offenbar immer noch seine Schränke. Marcus hörte, wie etwas klackte und mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden schlug. Was machte der Kerl da? Inzwischen musste ihm doch klar geworden sein, dass er dort weder Geld noch Wertgegenstände finden würde und mit jeder verstreichenden Minute stieg das Risiko entdeckt zu werden. Warum also plünderte dieser Typ fremde Kleiderschränke? Die möglichen Erklärungen reichten von pervers bis durchgeknallt, aber keine davon wollte Marcus so wirklich befriedigen. Er beschloss, die Frage auf später zu verschieben und vorerst zu verhindern, dass der Eindringling sich noch weiter an seinem Eigentum zu schaffen machte.

Den Blick fest auf die halb geöffnete Tür gerichtet, durchquerte Marcus sein Wohnzimmer und drückte sich neben dem Eingang zum Schlafzimmer gegen die Wand. Drinnen waren jetzt alle Geräusche verstummt und die entstandene Stille lastete schwer auf Marcus’ Ohren. Hatte der Täter gefunden, wonach er gesucht hatte, oder hatte er Marcus gehört? Beides legte den Verdacht nahe, dass er den Raum gleich verlassen würde. Tatsächlich hörte Marcus jetzt Schritte, die sich seinem Standort näherten. Er spannte sich und zählte innerlich bis drei.

 

Als die schmale Silhouette vor ihm auftauchte, zögerte Marcus nicht. Er stürzte sich auf den Mann, seine Faust schoss vor und prallte gegen die Rippen des Einbrechers. Der Getroffene ächzte, wirbelte herum und holte im gleichen Augenblick zum Schlag aus. Marcus wich aus, ergriff den Arm seines Gegners, verdrehte ihn aus der Bewegung heraus und brachte ihn zu Fall. Sofort war er über ihm und fixierte ihn auf den Boden. Der Einbrecher knurrte und versuchte, sich aus Marcus’ Griff zu befreien, doch der hielt ihn unerbittlich fest.

„Versuch’s gar nicht erst“, zischte er, griff in seine Tasche und zog einen der Kabelbinder heraus. Er presste sein Knie gegen den Rücken des Mannes, während er schnell und effektiv dessen Hände hinter dem Rücken zusammenband. Erst dann erlaubte er sich aufzuatmen.

Der Mann unter ihm keuchte und fauchte. „Geh von mir runter, Arschloch!“

Marcus erstarrte, als er die Stimme erkannte.

„Du?“, fragte er in die Dunkelheit.

„Nein, der heilige Geist.“

 

Plötzlich veränderte sich der Körper unter ihm. Er wurde kleiner, schmaler, der Stoff unter Marcus Händen verschwand und wurde ersetzt durch kurzes, räudiges Fell. Eine Welle von Schwefelgestank schlug ihm entgegen und im nächsten Moment bohrten sich scharfe Zähne in sein Handgelenk. Marcus schrie auf und wollte seinen Arm zurückreißen, aber der Cadejo hielt ihn unerbittlich fest. Instinktiv versuchte er sich zu befreien, von dem Tier zurückzuweichen. Der Schmerz in seinem Arm verschwand, doch im nächsten Augenblick erhielt er einen Schlag vor die Brust. Marcus verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Bevor er wusste, was geschah, fand er sich auf dem Rücken liegend wieder, während der stinkende Atem des Dämons über sein Gesicht strich. Ein tiefes Grollen kam aus der Kehle des Cadejo und in der Dunkelheit sah Marcus die Kette um seinen Hals unheilvoll aufglühen. Er schluckte. Seine Gedanken rasten. Alles an ihm schrie danach, das Tier von sich runterzudrücken. In die Schnauze fassen, hatte es geheißen, wenn der angreifende Hund nicht mehr anders abzuwehren war. Aber dazu hätte er seinen Arm irgendwie zwischen die Zähne des Cadejo und seine Kehle bringen müssen und das war unmöglich.

„Okay“, keuchte er zwischen zwei Atemzügen. „Du hast gewonnen. Ich gebe auf.“

Ein weiteres Knurren antwortete ihm und machte ihm klar, dass er sich besser nicht bewegte. Minuten schienen zu verstreichen, in denen der zähnefletschende Dämon über ihm hockte. Marcus war sich ziemlich sicher, dass seine Kräfte nicht ausreichen würden, um eine letale Bisswunde am Hals zu überleben. Gerade, als er überlegte, ob er wohl den Überraschungsmoment eines plötzlichen Angriffs würde nutzen können, wich der Druck auf seiner Brust und die stinkende Bestie entfernte sich von ihm.

Marcus wagte kaum zu atmen, als er sich langsam aufrichtete. Aus der Dunkelheit starrten ihn die roten Augen des Dämons hasserfüllt an. Ein unmissverständliches Grollen lag in der Luft und machte klar, dass sein Gegenüber ihn genau beobachtete. Aus seiner Position heraus und ohne Waffen würde Marcus es nicht gelingen, den Cadejo unschädlich zu machen. Er musste sich etwas einfallen lassen.

„Was machst du hier?“, fragte er, ohne weiter darüber nachzudenken. Natürlich erhielt er keine Antwort.

„Ich war heute im Dirty Dogs. Hab dich gesucht.“ Vielleicht gelang es ihm, seinen Gegner abzulenken, um ihn dann zu überwältigen. „Der Barkeeper sagte, er kennt dich. Ein Freund von dir?“

Wieder antwortete ihm nur ein Knurren. Auch der Cadejo schien nicht so recht zu wissen, was er jetzt machen sollte. Das war … gut. Vermutlich. Marcus überlegte, wie er an den Schreibtisch herankommen sollte. Neben den Schusswaffen lagerte er dort auch den Eisendolch. Mit ihm würde er den Dämon töten können. Leider lagen zwischen ihm und dem Dolch etwas mehr als drei Meter. Auf diese Distanz würde der Cadejo unweigerlich schneller sein. Es sei denn, Marcus brachte ihn dazu, sich wieder zurückzuverwandeln.

„Wollen wir uns nicht ein bisschen unterhalten? So von Mann zu Mann?“

Plötzlich verstummte das Grollen und er hörte, wie der Cadejo in seine Richtung witterte. Irgendetwas zupfte dabei an Marcus’ Bewusstsein, aber es gelang dem Gedanken nicht, sich vollständig zu manifestieren. Im nächsten Moment hörte er Knochen knacken und die rotglühenden Augen waren verschwunden. Stattdessen zeichnete sich jetzt wieder der Umriss des schmalen Mexikaners gegen die diffuse Dunkelheit ab. Marcus bildete sich ein, den Goldzahn aufblitzen zu sehen.

„Du willst dich unterhalten?“, schnarrte der Cadejo und lachte heiser. „Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee.“

Marcus hörte, wie er sich in der Dunkelheit bewegte. Als er sich weiter aufsetzen wollte, hörte er ein warnendes Knurren.

„Bleib, wo du bist.“

Marcus leckte sich über die Lippen. „Das hier ist immer noch meine Wohnung. Was willst du hier?“

„Hab was gesucht“, bekam er zur Antwort.

„Und was?“

„Das geht dich einen Scheißdreck an.“

Wieder hörte er Schritte und meinte zu erkennen, wie der Cadejo sich bückte und etwas aufhob, das er kurzerhand unter sein Hemd stopfte. Marcus’ Augen wurden schmal.

„Was war das?“

„Was?“

„Was du da mitgenommen hast.“

„Ich sagte, das geht dich einen Scheißdreck an. Der Kram gehört dir nicht mal.“

Wieder vergingen einige, endlos erscheinende Augenblicke, in denen sie sich abschätzig musterten. Jeder von ihnen schien zu überlegen, wie er den anderen möglichst schmerzhaft ins Jenseits befördern konnte. Zumindest waren das die Gedanken, die Marcus durch den Kopf gingen, bis ihn der Cadejo schließlich überraschte.

„Wir sehen uns“, sagte der plötzlich und stand im nächsten Augenblick wieder als Hund vor Marcus. Er bellte noch einmal spöttisch, bevor er kurzerhand über die Rückenlehne des Sessel sprang, neben dem Marcus lag, und nur wenige Atemzüge später verschwunden war. Marcus blinzelte zu der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte. Der Platz war und blieb jedoch leer. Der Cadejo war geflohen.

„Scheiße!“, fluchte Marcus, als ihm die Tatsache endlich mit voller Wucht bewusst wurde, und verpasste dem unschuldigen Sessel einen saftigen Tritt. Jetzt war ihm der Kerl schon wieder entwischt. Dabei hatte er ihn doch finden und verhören wollen. Wie dämlich konnte man eigentlich sein?

„Ich hätte wissen müssen, dass er es ist“, knurrte Marcus, bevor er sich endlich erhob. Jetzt, da der Cadejo weg war, fielen ihm mindestens fünf verschiedene Arten ein, wie er ihn hätte überwältigen können. Er war ein Polizist verdammt! Er müsste sich mit so was auskennen. Aber jetzt war es zu spät, die Gelegenheit war ungenutzt verstrichen. Er hatte endgültig versagt.

„Zumal ich ihm auch noch vom Dirty Dogs erzählt habe. Das war absolut dämlich. Ich hab meine einzige Spur zunichte gemacht. Und jetzt? Absoluter Nullpunkt. Nichts. Nada. Keine Chance, dass ich ihn nochmal unvorbereitet erwische. Fuck, ich bin so dumm!“

Marcus war danach, noch ein wenig auf sein Mobiliar einzuprügeln, aber er ballte lediglich die Fäuste und beschloss, lieber den Schaden in Augenschein zu nehmen, den der Cadejo angerichtet hatte. Wie von unsichtbaren Gummibändern zurückgehalten bewegte er sich auf die Tür zum Schlafzimmer zu, stieß sie schließlich auf und schaltete das Licht an. Drinnen herrschte absolutes Chaos. Schubladen waren herausgezogen, Kleidungsstücke lagen überall verstreut, die Schranktüren standen offen und inmitten des heillosen Durcheinanders prangte … Michael Thompsons Koffer!

Marcus entwich ein Laut der Verblüffung. Natürlich! Das hatte der Cadejo gemeint, als er sagte, dass die Sachen nicht ihm gehören würden. Er war nicht hergekommen, weil er etwas von Marcus wollte, sondern hatte lediglich nach dem Koffer gesucht. Aber warum?

Vorsichtig trat Marcus näher, ging in die Hocke und nahm den Inhalt des Koffers in Augenschein. Die vorher teilweise noch ordentlich zusammengelegten Kleidungsstücke waren wild durcheinandergeworfen worden. Wobei es so aussah, als wenn jedes von ihnen zunächst in Augenschein genommen worden war, bevor es auf dem Boden gelandet war. Marcus konnte nicht feststellen, ob etwas fehlte, aber da der Cadejo etwas mitgenommen hatte, war das äußerst wahrscheinlich. Aber was? Und warum?

Wieder versuchte ein Gedanke, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch noch bevor Marcus dazu kam, ihn näher zu betrachten, hörte er Schritte hinter sich. Er wirbelte herum, wollte den herannahenden Schlag abwehren, aber es war zu spät. Etwas traf ihn seitlich am Kopf und ein scharfer Schmerz schoss durch seinen gesamten Körper. Dunkelheit raste von allen Seiten heran und ließ sein Sichtfeld binnen Sekundenbruchteilen zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpfen. Wie durch einen Schleier nahm er wahr, dass er neben dem Koffer zu Boden ging, während eine Stimme hämisch verkündete: „Ich hab doch gesagt, wir sehen uns wieder.“ Danach wurde es endgültig finster um ihn.

 

 

 

Als Erithriel vor dem schäbigen Apartmentgebäude hielt, war die Sonne bereits ein Stück weit über den Horizont geklettert. Er hatte in Erwägung gezogen, Marcus noch in der Nacht aufzusuchen, es sich dann aber doch anders überlegt. Die meisten Menschen reagierten nicht besonders positiv darauf, wenn man sie aus dem Schlaf riss. Trotz seiner Gene war Erithriel sich sicher, dass Marcus ihnen in dieser Beziehung ähnlich genug war, um den Versuch eines vernünftigen Gesprächs nachhaltig zu vereiteln. Zumal ihr Verhältnis ohnehin angespannt war. Eine Nacht-und-Nebel-Aktion wäre somit unangebracht und kontraproduktiv gewesen. Er hatte stattdessen weiter versucht, einen anderen Engel ausfindig zu machen, jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Immerhin hatte er von Zweien erfahren, die noch am Abend zuvor gesehen worden waren. Erreichbar war allerdings keiner von ihnen. Erst nach langem Suchen hatte er einen Kollegen ans Telefon bekommen. Der hatte ihm jedoch nicht sagen können, was los war, und lediglich versprochen, sich später noch einmal zu melden, wenn er Genaueres wusste. Das Ganze schmeckte Erithriel ganz und gar nicht.

Wenn das so weitergeht, werde ich mich an die Zentrale in Rom wenden müssen, dachte er, als er ausstieg und langsam durch den trüben Morgen auf Marcus’ Wohnung zuging. Dort wird jemand wissen, was hier los ist.

Er stieg die Stufen zur Galerie empor und lauschte dabei mit halben Ohr den erwachenden Menschen. Einige von ihnen waren schon auf den Beinen, während andere noch in tiefem Schlummer lagen. Nicht wenige der hier Ansässigen arbeiteten in Berufen, die eher in den Abend- und Nachtstunden ausgeführt wurden. Marcus hätte sich eine bessere Wohngegend leisten können, aber vermutlich hatte er den Standort aus genau diesem Grund gewählt. Das Gewöhnliche zog ihn ebenso an, wie es ihn abstieß. Erithriel erkannte die auch gegen ihn gerichtete Rebellion darin, aber er hatte kein Recht, sich dazu zu äußern. Kein Recht, daran teilzuhaben. Er war nur ein Beobachter, ein Bewahrer. Eine Randfigur im irdischen Geschehen, die lediglich dafür Sorge zu tragen hatte, dass der dämonische Einfluss nicht allzu groß wurde. Menschliche Schicksale waren dabei zweitrangig, wenn sie nicht unmittelbar damit verknüpft waren. Und selbst dort wurde der himmlische Einfluss immer geringer. Statt sich den Mächten der Finsternis direkt entgegenzustellen, hatte man den Menschen Waffen an die Hand gegeben, mit denen sie sie selbst zurückdrängen konnten. Eine Entwicklung, die mehr und mehr zugenommen hatte in den letzten paar hundert Jahren.

Die von den Dämonen einst so belächelten Menschen hatten es geschafft, sich zu einem ernstzunehmenden Gegner zu entwickeln. Man jagte sie nicht mehr mit ein paar Tricks ins Bockshorn oder gaukelte ihnen Reichtum und Macht vor, um sie den eigenen Wünschen gefügig zu machen und am Ende zu hintergehen. Immer öfter hatten die Engel dafür Sorge getragen, dass die Dämonen ihre eigene Medizin zu schmecken bekommen hatten, nachdem sie versucht hatten, sich der Menschen zu bedienen. Inzwischen herrschte auf dem Schlachtfeld Erde ein tückischer Frieden, den weder die eine noch die andere Seite zu durchbrechen wagte. Ein Zustand, den es weiterhin zu bewahren galt.

 

Erithriel erreichte Marcus’ Wohnung und stutzte. Die Tür war nur angelehnt und das Schloss wirkte, als sei es gewaltsam geöffnet worden. Sofort schickte er seine Sinne aus und wurde in seiner Vermutung bestätigt. Die Wohnung war leer. Er trat ein und fand im Wohnzimmer Spuren eines Kampfes. Über all dem lag ein leichter Dämonengeruch, der jedoch kaum mehr wahrnehmbar war. Erithriel runzelte die Stirn. Was immer hier passiert war, musste schon mehrere Stunden zurückliegen.

Auch im Schlafzimmer fand er ein heilloses Durcheinander vor, aber keinerlei Spuren von deren Verursacher, wenn man von dem Geruch mal absah. Erithriel hatte zwar eine Vermutung, um wen es sich dabei handeln musste, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Wenn die Dämonen, die Marcus schon einmal aufgesucht hatten, zurückgekehrt waren, was hatten sie dann hier gewollt?

Sein Blick fiel auf den Boden und den geöffneten Koffer, der dort lag. Die Sachen, die darin lagen, waren zu groß, um Marcus zu gehören. Plötzlich erinnerte Erithriel sich, das der gesagt hatte, er habe Thompsons Gepäck an sich genommen. War darin etwas von Wert gewesen? Etwas, das sich lohnte, dafür einen Einbruch zu riskieren?

Erithriel drehte sich um und nahm noch einmal das Wohnzimmer in Augenschein. Alles sprach dafür, dass Marcus den gesuchten Gegenstand nicht freiwillig herausgerückt hatte. Das entlastete ihn vermutlich ein Stück weit, erklärte jedoch nicht, warum er nicht hier war. Erithriel wollte gerade noch einmal ins Schlafzimmer gehen, als sein Handy einen Ton von sich gab. Er sah auf das Display und entdeckte, dass es ein weiteres Status-Update gab. Er ließ sich die Nachricht vollständig anzeigen und erlebte die nächste Überraschung des Tages. Der Mietwagen, der am gestrigen Abend noch als Verbindung zu Thompson angegeben worden war, war vor einer halben Stunde in einer Filiale in Salt Lake City wieder zurückgegeben worden.

Das muss Thompson gewesen sein. Für so clever, jemand anderen mit der Rückgabe des Wagens zu beauftragen, hielt Erithriel ihn nicht. Zumal er dann sicherlich ein weit entfernteres Ziel dafür gewählt hätte, wenn er wirklich seine Spuren hätte verwischen wollen. Wahrscheinlich war ihm nicht klar, wie schnell man ihm damit auf die Schliche kommen konnte.

Noch einmal sah Erithriel sich in der Wohnung um. Marcus war nicht hier, sein Aufenthaltsort und seine Motivation vollkommen unbekannt. Es fehlten einige Engel und ein Gefallener trieb sich mit großer Wahrscheinlichkeit in Salt Lake City herum. Er brauchte nur zwei Sekunden, um sich zu entscheiden.

 

Erithriel kehrte der Wohnung den Rücken und zu seinem Auto zurück. Wenn er gleich losfuhr, würde er in etwas mehr als fünf Stunden in Salt Lake City sein. Er musste diesen Gefallenen stellen, koste es, was es wolle. Mit Glück würde er dabei herausfinden, was die Dämonen in Marcus’ Wohnung gewollt hatten und warum er verschwunden war. Wenn nicht, hatte er zumindest die Aufgabe mit der höchsten Priorität erfüllt und damit Schlimmeres verhindert.

Er setzte den Blinker, verließ die Parklücke und beschleunigte den Wagen in Richtung Norden. Auf der Interstate griff er schließlich noch einmal nach seinem Handy. Vielleicht würde er Melanthiel jetzt erreichen.

 



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