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Brothers

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, und hier auch wieder ein neues Kapitelchen. Wie angekündigt das mit der Hochzeit. Die hier beschriebene Zeremonie ist shintoistisch, aber ich übernehme keine Garantie dafür, dass alles hundertprozentig korrekt ist. Ich hab den ungefähren Ablauf aus den Weiten des Internets, aber ich weiß nicht mehr genau, von welcher Seite.
*drop*

Nya, ich hoffe jedenfalls, es gefällt euch. Würde mich über Feedback freuen. Aber das wisst ihr ja, nicht wahr?
^.~

Enjoy reading!

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Die Hochzeit

Die folgende Woche verging für Setos Geschmack einerseits zu schnell und andererseits viel zu langsam. In der Schule war er sich durchaus dessen bewusst, dass hinter seinem Rücken alle seine Klassenkameraden über das tuschelten, was am Samstagabend auf Himura Midoris Geburtstagsparty geschehen war. Innerlich grummelnd biss er die Zähne zusammen und versuchte, das Gerede zu ignorieren, doch das war gar nicht so einfach. Die ganze Sache war ihm einfach unsagbar peinlich, aber er hatte keine andere Wahl als es durchzustehen.
 

Glücklicherweise unterstützte sein bester Freund Yami ihn nach Kräften, indem er ihn immer dann ablenkte, wenn der Brünette kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Immer war Yami da und sorgte dafür, dass er sich nicht zu irgendetwas hinreißen ließ, was er sicher später bereuen würde – eine weitere Tatsache, für die er ihm etwas schuldig war.
 

Zu Setos Überraschung mischte sich sein zukünftiger Stiefbruder allerdings nicht in das Getuschel und Gelästere ein. Er schien das Ganze im Gegenteil nicht einmal interessant genug zu finden, um überhaupt etwas dazu zu sagen – was dafür sorgte, dass Seto ihn seinerseits noch misstrauischer beäugte. Nach allem, was er über den Schwarzhaarigen gesagt hatte, wäre das für ihn doch die Gelegenheit gewesen, sich zu rächen.
 

Doch das tat Ryuuji nicht. Er verlor nicht ein Wort über das, was geschehen war. Aber das war nicht alles. Nein, außerdem sorgte er auch noch dafür, dass Jounouchi, der blonde Streuner, seine blöden Sprüche auf ein absolutes Minimum herunterschraubte – etwas, das Seto über alle Maßen erstaunte. Warum tat der Schwarzhaarige das? Warum machte er sich nicht lustig über ihn?
 

Der verwirrendste Tag in der Woche Setos war der Mittwoch, denn nach dem Sportunterricht hatte er zufällig ein Gespräch zwischen seinem zukünftigen Stiefbruder und dessen blondem Freund belauscht, das er auch Tage später – genauer gesagt an dem Samstag, an dem die zweite Hochzeit seines Vaters stattfinden sollte – noch immer nicht richtig verstand.
 

Die beiden hatten noch gemeinsam unter der Dusche gestanden, während er selbst bereits beinahe angezogen gewesen war. Yami hatte an diesem Tag seinen Bruder von der Schule abholen müssen und war bereits gegangen, so dass Seto alleine in der Umkleide gewesen war. Nun, das hatte er jedenfalls gedacht, bis er zwei Stimmen aus der Dusche gehört hatte. Eigentlich hatte ihn nicht wirklich interessiert, wer so spät noch da war, aber als er die Stimmen erkannt hatte und als sein Name gefallen war, war er doch neugierig geworden. Worüber mochten Otogi und Jounouchi miteinander sprechen? Lästerten sie etwa doch?
 

"Weißt du, Ryuuji, ich wüsste echt gerne, wer das Mädel war, das Kaiba am Samstagabend auf der Party eine geklebt hat. Wenn ich sie kennen würde, würde ich sie mal hierher zur Schule bitten, damit sie das noch mal wiederholen kann." Jounouchi hatte gehässig gelacht – ganz offensichtlich hatte ihm die Vorstellung ziemlich gut gefallen –, doch sein schwarzhaariger Freund hatte nur geseufzt.
 

"Mensch, Kats, jetzt lass es doch endlich gut sein. Ich glaub nicht, dass sie Seto noch mal wiedersehen will – und er sie sicher auch nicht", hatte er gemurmelt und Seto war so leise wie möglich nähergeschlichen, denn er hatte den Rest der Unterhaltung auf keinen Fall verpassen wollen. Hatte er sich geirrt oder hatte sein zukünftiger Stiefbruder sich gerade tatsächlich für ihn eingesetzt? Hatte Ryuuji möglicherweise geahnt, wie unangenehm ihm diese ganze Sache war?
 

"Genau darum geht's ja. Echt, du hättest Kaibas Gesicht sehen müssen, als sie ausgeholt und ihm eine gepfeffert hat. Jede Wette, so was ist ihm in seinem ganzen Leben noch nie passiert. Und ich wette weiter, dass der Schlag ganz schön gesessen hat. Die Kleine hatte ganz schön Wumms dahinter, das sag ich dir!", hatte der Blondschopf weitergestichelt und der Schwarzhaarige hatte ein weiteres Mal entnervt geseufzt. "Wie würdest du dich fühlen, wenn dir so was passiert wäre, Kats? Meinst du, du wärst scharf darauf, das Mädchen wiederzusehen, das dich vor deinen Freunden und allen anderen, die du kennst, so blamiert hat?", hatte er sich dann erkundigt und Seto hatte aus seinem Versteck heraus – die beiden hatten ihn immer noch nicht bemerkt – sehen können, wie Jounouchi zusammengezuckt war.
 

"Okay, so betrachtet ist das natürlich scheiße. Trotzdem hatte Kaiba es echt verdient. Schließlich hat er sie einfach so geküsst – vor allen anderen Gästen", hatte er gemeint und der Schwarzhaarige hatte mit den Schultern gezuckt. "Kann sein", hatte er erwidert und sein Gesicht hatte für einen Sekundenbruchteil einen beinahe verletzten Ausdruck gehabt, doch dann hatte er geradezu unwillig den Kopf geschüttelt, so als hätte er trübe Gedanken vertreiben wollen.
 

"Du warst eben nicht dabei, Ryuuji", hatte der Blonde gesagt und wieder gegrinst, doch das Gesicht des Angesprochenen war ernst geblieben. Ganz offenbar hatte er die Heiterkeit seines besten Freundes nicht geteilt. "Bin ich auch froh drüber. Das hätte ich nicht unbedingt sehen wollen", hatte er gemurmelt und Seto hatte Mühe gehabt, keinen Laut der Überraschung von sich zu geben. Hegte der Schwarzhaarige wirklich so gar keinen Groll gegen ihn? Hätte es ihm tatsächlich nicht gefallen, Zeuge seiner Demütigung zu werden? Warum nicht?
 

Bevor die beiden mit dem Duschen fertig geworden waren, hatte Seto sich still und heimlich wieder in die Umkleide zurückgezogen. Dort war er eilig in die Jacke seiner Schuluniform geschlüpft, hatte seine Tasche genommen und den Raum auf dem schnellsten Weg verlassen – gerade noch rechtzeitig, denn kaum eine halbe Minute später waren der Blonde und der Schwarzhaarige aus der Gemeinschaftsdusche gekommen, um sich ebenfalls anzuziehen und nach Hause zu gehen.
 

Den ganzen Rest der Woche hatte Seto über das nachgegrübelt, was sein zukünftiger Stiefbruder gesagt hatte, aber er hatte es einfach nicht begreifen können. Warum hatte der Schwarzhaarige ihn praktisch verteidigt? Warum hatte er nicht gemeinsam mit seinem besten Freund über ihn gelacht? Und warum hatte er für einen winzigen Moment tatsächlich so ausgesehen, als wäre ihm das ganze Thema mehr als nur unangenehm?
 

Erst Mokubas Stimme aus dem Zimmer gegenüber, die nach ihm rief, riss Seto aus seinen Grübeleien. Abgrundtief seufzend stand er aus seinem Schreibtischstuhl auf, strich den dunkelblauen Kimono, den er zur Feier des heutigen Tages trug, glatt und ging dann zu seinem kleinen Bruder hinüber, um nachzusehen, was dieser von ihm wollte. "Was ist denn los, otouto?", erkundigte er sich, als er das Zimmer des Jüngeren betreten hatte. Der Fünfzehnjährige, der auf seinem Bett hockte, sah auf und zog eine verzweifelte Grimasse. "Kannst du mir mit dem Kimono helfen, Nii-san? Ich krieg das alleine irgendwie nicht hin", bat er und Seto seufzte erneut, zupfte dann aber den ebenfalls dunkelblauen Kimono seines jüngeren Bruders zurecht, bis er richtig saß.
 

"So, fertig, Mokuba." Der Schwarzhaarige warf einen Blick in den Spiegel neben seinem Kleiderschrank, drehte sich und betrachtete sich von allen Seiten, bevor er seinen Bruder anstrahlte. "Danke, Seto!", sagte er und sah mit leuchtenden Augen zu seinem großen Bruder auf. "Heute ist es endlich so weit!", freute er sich und Seto schüttelte seufzend den Kopf. "Bitte benimm Dich, otouto", tadelte er ungewohnt sanft. Nach seinen Grübeleien der letzten Tage hatte er jetzt weder das Verlangen noch die Kraft für einen Streit mit Mokuba. Er war auch so schon angespannt genug, denn nach den Feierlichkeiten des heutigen Tages würden Yukiko-san und ihr Sohn endgültig und unwiderruflich zu ihrer Familie gehören.
 

Sicher, Ryuuji würde zwar den Namen Kaiba nicht annehmen – aus welchem Grund auch immer –, aber er würde trotzdem hier wohnen und sie würden Brüder sein. Der Großteil der Sachen der beiden war bereits am Vortag in der Villa angekommen, bisher aber noch nicht ausgepackt worden. Ryuuji, der im Zimmer neben dem seinen untergebracht worden war – auf Wunsch seines Vaters und ganz offenbar in der Hoffnung, dass sie sich dann schneller aneinander gewöhnen würden –, war zwar selbst noch nicht hier gewesen, aber das würde sich ja nun binnen Kurzem ändern.
 

Mokuba, der viel zu aufgeregt war, um sich über das doch recht seltsame Verhalten seines älteren Bruders zu wundern, warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch und stand dann auf. "Lass uns mal nach Vater sehen, ja? Lange kann es ja nicht mehr dauern, bis Yukiko-san und Ryuuji herkommen", schlug er vor und ging voraus, als sein Bruder einfach nur stumm nickte. Unten im Wohnzimmer trafen die beiden Jungen auf ihren Vater, der einen traditionellen Kimono in den Farben Grau und Schwarz trug, wie es bei shintoistischen Zeremonien üblich war. "Du siehst toll aus, Vater!", platzte Mokuba heraus und musterte seinen Vater bewundernd. Je näher die Zeit für die Zeremonie rückte, desto gespannter wurde er. Was würde Yukiko – seine neue Mutter – wohl tragen?
 

Seto hingegen nickte seinem Vater nur knapp zu und setzte sich dann auf die Wohnzimmercouch. Gozaburo sah seine beiden Söhne abwechselnd an. Wie üblich benahmen sie sich heute auch wieder vollkommen gegensätzlich. Während Mokuba fröhlich wie eh und je war und Isono, der der Trauzeuge seines Arbeitgebers sein würde, mit Fragen über Fragen löcherte, gab sein älterer Bruder sich so kühl und distanziert wie immer, aber wenn man ihn kannte, war es nicht zu übersehen, wie angespannt er war.
 

oOo
 

"Mie-san, helfen Sie mir und meiner Tochter bitte kurz mit ihrem Kimono." Die Stimme seiner Großmutter aus dem inzwischen leergeräumten Schlafzimmer seiner Mutter ließ Ryuuji unhörbar seufzen. Heute war es also so weit. Ab heute würden seine Mutter und er ganz offiziell ein Teil der Familie Kaiba werden – eine Tatsache, die seine Großeltern über alle Maßen begrüßten.
 

Klar. Ein Kaiba Gozaburo ist ja auch ein viel standesgemäßerer Ehemann als ein James Devlin, sinnierte er und schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen. Er würde seiner Mutter ganz sicher nicht diesen Tag mit seiner schlechten Laune verderben. Egal, wie schwer es ihm auch fallen würde, er würde ruhig bleiben und sich nicht über seine Großeltern aufregen – selbst wenn sie weiterhin den ganzen Tag an ihm herumkritisierten, wie sein Großvater es schon seit seiner Ankunft in der Wohnung seiner Tochter tat.
 

"Konntest du dir nicht wenigstens für diesen Tag eine vernünftige Frisur machen lassen?" Die Frage seines Großvaters ließ Ryuuji im Flechten seiner Haare innehalten. "Und was genau verstehst du unter einer vernünftigen Frisur, Großvater?", erkundigte er sich ausgesucht höflich und mit einem derart falschen Lächeln, dass er sich wunderte, dass sein Großvater so gar nichts davon merkte. Aber gut, in Bezug auf die Stimmungen seines Enkels war er schon immer mit Blindheit geschlagen gewesen.
 

"Nun, du hättest dir deine langen Haare endlich einmal abschneiden lassen können. So sieht doch kein richtiger Junge aus." Otogi Mamoru verzog missbilligend das Gesicht, während er seinen Enkel musterte. Dass dieser sich einfach nicht von diesen viel zu langen Haaren trennen wollte! Wie sah das denn aus? Ein Junge von fast achtzehn Jahren, der mit einer Frisur wie ein Mädchen herumlief. Kein Wunder, dass er noch immer keine Freundin hatte! Welches Mädchen wollte denn auch mit einem Jungen zusammensein, der von hinten mit einer Frau verwechselt werden konnte?
 

Ich erwürge ihn. Irgendwann erwürge ich ihn dafür!, dachte Ryuuji zähneknirschend, während er sich daran machte, seinen Zopf endlich zu Ende zu flechten. Ein einfacher Pferdeschwanz war für den heutigen Anlass einfach unpassend und offen lassen konnte er seine Haare auch nicht. Am liebsten hätte er seinem Großvater jetzt an den Kopf geworfen, dass er sowieso kein ›richtiger‹ Junge war, aber der Gedanke daran, dass ein Familienstreit seiner Mutter ihren Hochzeitstag verderben würde, ließ ihn innehalten.
 

"Ich werde meine Haare nicht abschneiden, Großvater", antwortete er stattdessen mühsam beherrscht und mit einiger Verspätung auf den Vorschlag und Mamorus Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur missbilligender. Der Junge war einfach vollkommen verkorkst. Aber was war schon von einem Kind zu erwarten, dessen leiblicher Vater ein Gaijin war? Die Tatsache, dass seine Yukiko – sein Augenstern – sich vor beinahe neunzehn Jahren ausgerechnet in diesen windigen Amerikaner hatte verlieben und ihn auch noch hatte heiraten müssen, weil sie von ihm schwanger geworden war, hatte er bis heute nicht verwinden können. Dazu hatte er seine Tochter – sein einziges Kind – ganz sicher nicht erzogen.
 

Zum Glück ist sie inzwischen vernünftig geworden, dachte Mamoru und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Noch war seine Tochter nicht zu alt, um noch ein zweites Mal Mutter zu werden. Und wer wusste schon, ob sie nicht vielleicht neben Ryuuji und den beiden Stiefsöhnen, die durch ihre Heirat Teil ihrer Familie werden würden, noch einen weiteren eigenen Sohn bekommen würde – einen, der nicht so eine Enttäuschung war wie Ryuuji.
 

Ryuuji, der seinem Großvater seine Gedanken förmlich am Gesicht ablesen konnte, verkniff sich mit größter Willensanstrengung ein bitteres Seufzen. Für die Familie seiner Mutter war er noch nie gut genug gewesen. Das hatten sie ihn schon als Kind spüren lassen. Damals waren ihre Worte zwar noch nicht so deutlich gewesen wie in den letzten Jahren, aber sie hatten sich auch nie wirklich die Mühe gemacht, ihre Verachtung dafür, was er durch seinen Vater war, vor ihm zu verbergen. Warum auch? Er war ja schließlich nur ein halber Gaijin und deshalb nicht weiter wichtig.
 

Das Auftauchen seiner Mutter und seiner Großmutter Otogi Reiko mit deren Hausmädchen Hanada Mie, die heute mitgekommen war, um beim Ankleiden behilflich zu sein, riss den Schwarzhaarigen aus seinen trüben Gedanken und zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. In dem weißen, mit Pfingstrosen – diese Blumen galten ebenso wie Kraniche in Japan als Glückssymbole und wurden traditionell besonders auf Hochzeitskimonos gestickt – verzierten Hochzeitskimono sah seine Mutter einfach nur zauberhaft aus. Seiner Meinung nach war sie einfach die schönste Frau der Welt.
 

"Amazing!", entfuhr es Ryuuji und Yukiko errötete über das Kompliment ihres Sohnes, während sowohl Mamoru als auch Reiko ihrem Enkel tadelnde Blicke zuwarfen, weil er kein Japanisch, sondern Englisch gesprochen hatte. Daran störte der Junge sich jedoch nicht. "Mum, du siehst einfach fantastisch aus! Gozaburo-san wird ganz sicher begeistert sein, wenn er dich so zu Gesicht bekommt", fuhr er stattdessen fort und seine Mutter lächelte leicht.
 

"Danke, Ryuuji", murmelte sie leise, doch ihr Sohn winkte ab. "Ach was. Ist doch bloß die Wahrheit." Lange her, dass du so glücklich ausgesehen hast, Mum, fügte er in Gedanken hinzu, sprach das aber nicht laut aus. Diese Dinge gingen seine Großeltern absolut nichts an – ganz davon abgesehen, dass sie sich auch nicht dafür interessierten. Für sie zählte ausschließlich, was für eine gute Partie Kaiba Gozaburo doch war. Ob ihre Tochter mit ihm glücklich werden würde war ihnen ebenso egal wie die Tatsache, dass sie zumindest ein paar Jahre lang auch mit ihrem amerikanischen Exmann glücklich gewesen war.
 

"Wir sollten dann auch langsam los", drängte Mamoru und stand von dem Küchenstuhl, auf dem er gesessen hatte, auf. "Was ist mit Deiner Trauzeugin? Sie sollte längst hier sein", tadelte er dann und Yukikos Blick wanderte von ihrem Vater zu ihrem Sohn. "Ich habe keine Trauzeugin, Vater, sondern einen Trauzeugen." Auch, wenn das nicht den traditionellen Bräuchen entsprach, so hatte sie sich doch dafür entschieden, Ryuuji zu bitten, ihr diesen Dienst zu erweisen. Dass der Junge zugestimmt hatte, hatte sie sehr glücklich gemacht, denn es war für sie der letzte Beweis gewesen, dass er absolut nichts gegen ihre Heirat mit Gozaburo einzuwenden hatte.
 

Mamoru, dem der Blickwechsel zwischen seiner Tochter und seinem Enkel nicht entgangen war, schüttelte missbilligend den Kopf. "Du weißt, dass das nicht den Traditionen entspricht", sagte er streng. "Mie-san könnte diesen Dienst für Dich übernehmen", fügte er hinzu, doch zu seinem Erstaunen schüttelte Yukiko energisch den Kopf. "Nein, Vater. Ich möchte, dass Ryuuji mein Trauzeuge ist. Ich habe mit Gozaburo bereits darüber gesprochen und er war einverstanden, also werde ich meine Meinung nicht ändern", widersprach sie fest und sah aus dem Augenwinkel, wie ihr Sohn wieder zu lächeln begann. Das war das erste Mal, dass sie sich offen gegen den Willen ihrer Eltern stellte – und das auch noch seinetwegen. Das Gefühl war einfach unglaublich und es bewies ihm, wie wichtig er seiner Mutter war – trotz all der Probleme, die er ihr schon bereitet hatte.
 

"Wenn wir nicht zu spät kommen wollen, sollten wir los, Mum." Ryuujis Stimme ließ Yukiko in seine Richtung blicken. Nachdem sie kurz auf die Uhr gesehen hatte, nickte sie und ließ sich von ihrem Sohn aus der Wohnung und ins unten bereitstehende Auto helfen. In dem schweren Hochzeitskimono war das Laufen alles andere als einfach, aber die Hand ihres Jungen, der neben ihr ging, gab ihr den nötigen Halt. "Danke, Mum", flüsterte er seiner Mutter so leise zu, dass seine Großeltern die Worte auf keinen Fall hören konnten. Yukiko nickte kaum merklich und lächelte ihren Sohn an. Auch jetzt brachte sie es nicht über sich, ihm zu sagen, wie viel er ihr bedeutete und wie stolz sie auf ihn war, aber ein Blick in seine grünen Augen machte ihr klar, dass das auch gar nicht nötig war, weil er ihre Botschaft offenbar auch ohne wirkliche Worte verstanden hatte.
 

oOo
 

"Ich glaube, ich höre ein Auto! Das müssen sie sein!", rief Mokuba aufgeregt und wollte zur Haustür rennen, doch die Hände seines Vaters auf seinen Schultern hinderten ihn daran. "Das ist Isono-sans Aufgabe, Mokuba", erinnerte Gozaburo seinen jüngsten Sohn und der Fünfzehnjährige zog verlegen den Kopf ein. "Entschuldige, Vater. Ich freue mich nur so furchtbar", rechtfertigte er sich und der Angesprochene lächelte leicht. Er konnte nicht leugnen, dass es ihm genauso ging. Ab heute würden sie endlich wieder eine vollständige Familie sein.
 

Verzeih mir, Ayane, leistete er in Gedanken Abbitte bei seiner verstorbenen ersten Frau. Er hatte sie wirklich und aufrichtig geliebt, aber elf Jahre Einsamkeit waren seiner Meinung nach mehr als genug. Und wenn selbst sein ältester Sohn sich inzwischen an die Tatsache gewöhnt hatte, dass ihre Familie sich ab dem heutigen Tag vergrößern würde, war es bestimmt auch wirklich gut so.
 

Seto erhob sich ebenfalls von der Couch, als er hörte, wie Isono zur Tür ging, diese öffnete und seine zukünftige Stiefmutter samt ihrer Familie begrüßte. Als Yukiko, gefolgt von ihrem Sohn und noch zwei weiteren Personen, bei denen es sich zweifellos um ihre Eltern handeln musste, das Wohnzimmer betrat, verbeugte er sich ebenso wie sein jüngerer Bruder leicht vor den Eintretenden.
 

So aufgeregt Mokuba auch gerade noch gewesen war, die Ruhe, die sein Vater und sein Bruder ausstrahlten, färbte auf ihn ab und ließ ihn sich wieder an das Zeremoniell erinnern. Eine shintoistische Hochzeit war eine durch und durch ritualisierte Sache und für überschwängliche Freudenbekundungen gab es hier keinen Platz. Dafür war später noch Zeit. Dennoch ließ Mokuba es sich nicht nehmen, sowohl Yukiko als auch Ryuuji bei ihrem Eintreten kurz zuzulächeln – eine Geste, die beide mit gleicher Münze zurückzahlten.
 

Nachdem traditionsgemäß der Trauzeuge des Bräutigams ein paar einleitende Begrüßungsworte gesprochen hatte, nahmen alle Anwesenden Platz und der für den heutigen Tag eigens herbestellte Shinto-Priester reinigte die Hochzeitsgesellschaft von allen schlechten Einflüssen – ein Ritual, das in etwa eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nahm. Danach wurden die Sake-Schalen gebracht. Isono goss den Sake ein und reichte erst dem Bräutigam die Schale, die dieser in drei kleinen Schlucken leerte. Danach wurde die Schale wieder gefüllt und der Braut übergeben, die ebenfalls drei Schlucke nahm. Diese Prozedur wurde insgesamt drei Mal durchgeführt. Beim zweiten Mal trank zuerst die Braut, beim dritten Mal machte wieder der Bräutigam den Anfang, so dass beide am Ende jeweils neun Schlucke Sake getrunken hatten.
 

Mit dem Abschluss dieses Rituals und ein paar abschließenden Worten Isonos war die Eheschließung vollzogen und nachdem noch die obligatorischen Hochzeitsfotos gemacht worden waren – wie während der ganzen Zeremonie wahrten alle auch hier Haltung und zeigten kein Lächeln, sondern ernste Gesichter, denn das war Brauch –, konnte der zweite, weniger formelle Teil der Feierlichkeiten beginnen.
 

Seto, der gemeinsam mit Mokuba ein Stück abseits gekniet hatte, hatte während der gesamten Zeremonie seinen inzwischen offiziellen Stiefbruder nicht aus den Augen gelassen. Ryuuji hatte an der Seite seiner Mutter gekniet und ganz offensichtlich die Funktion als ihr Trauzeuge übernommen – ein Bruch mit der Tradition, denn gewöhnlich hatte die Braut eine weibliche Trauzeugin. Sehr zur Setos Verwunderung hatte Ryuuji, der seine langen schwarzen Haare heute zu einem Zopf geflochten und nicht einfach nur zusammengebunden trug, in seinem ebenfalls dunkelblauen Kimono – eine Idee seines Vaters, die zeigen sollte, dass die drei Jungen von dem heutigen Tage an Brüder sein würden – eine ungewohnt würdevolle Figur gemacht. Ganz gemäß der shintoistischen Tradition hatte er nicht eine Miene verzogen, sondern war geradezu feierlich ernst geblieben. Dabei war jede der Gesten, die er gemäß des Rituals auszuführen hatte, so ruhig und präzise gewesen, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie etwas anderes getan.
 

Auf Seto wirkte der Schwarzhaarige an diesem Tag wie ein vollkommen anderer Mensch. Wo war der Ryuuji, den er kannte? Der Junge mit dem frechen, spöttischen Grinsen auf den Lippen und dem belustigten Funkeln in den grünen Katzenaugen, der sich immer köstlich zu amüsieren schien – und das oft genug auf seine Kosten –, schien heute nicht hier zu sein. Und der junge Mann, der seinen Platz eingenommen hatte, bewegte sich so anmutig, dass Seto seine Augen einfach nicht von ihm abwenden konnte. Glücklicherweise waren alle Anderen so in die Zeremonie vertieft, dass niemandem sein Starren auffiel. Zumindest glaubte er das.
 

Ryuuji hingegen bemerkte die Blicke seines älteren Stiefbruders sehr wohl. Zu wissen, dass diese azurblauen Augen jede seiner Bewegungen verfolgten – wahrscheinlich wartete Seto nur darauf, dass er seine Aufgabe in irgendeiner Form vermasselte –, machte ihn unglaublich nervös, aber trotzdem gelang es ihm irgendwie, die Zeremonie zu überstehen. Wie er das allerdings geschafft hatte, wusste er hinterher nicht zu sagen. Als der rituelle Teil der Trauung jedoch endlich überstanden war, atmete er so unauffällig wie möglich auf. Er wusste genau, dass nicht nur Seto, sondern auch seine Großeltern ihn mit Argusaugen beobachtet hatten und daher war er heilfroh, dass es ihm irgendwie gelungen war, nichts zu verpatzen. Diese Blamage wollte er weder seiner Mutter noch sich selbst antun, denn er gönnte seinen Großeltern diese Genugtuung einfach nicht.
 

Außerdem wollte er, dass seine Mutter auch weiterhin stolz auf ihn sein konnte und sich nicht dafür schämen musste, dass sie sich für ihn als ihren Trauzeugen entschieden hatte. Das wäre das Schlimmste für ihn. Auf keinen Fall wollte er seine über alles geliebte Mutter blamieren – schon gar nicht an ihrem Hochzeitstag, auf den sie sich so unglaublich gefreut hatte.
 

Nachdem die Fotos gemacht und die Familien sich gegenseitig vorgestellt worden waren, verschwanden sowohl das Brautpaar als auch alle anderen Gäste kurz, um sich für den weniger formellen Teil der Feier umzuziehen. Mokuba, der seine neue Mutter die ganze Zeit mit leuchtenden Augen angesehen hatte – diese wunderschöne Frau trug ab heute den gleichen Nachnamen wie er! –, hakte sich im Flur bei seinem Stiefbruder ein und zog diesen mit sich nach oben.
 

"Komm, ich zeige dir dein neues Zimmer!" Ryuuji hätte beinahe gelacht, als sein jüngerer Stiefbruder ihn förmlich die Treppen in den ersten Stock des Hauses hochschleifte. "Hey, mach mal halblang, Kleiner", schmunzelte er stattdessen jedoch nur und der Fünfzehnjährige lief tatsächlich ein bisschen langsamer. "Entschuldige, Ryuuji", nuschelte er dabei zerknirscht und sah den Anderen über seine Schulter hinweg verlegen an. "Ich freue mich nur so."
 

Bei diesen Worten konnte Ryuuji sich ein Grinsen nicht mehr länger verkneifen. "Ich freu mich auch, Mokuba", erwiderte er und legte einen Arm um die Schultern des Jungen. Dieser strahlte gleich wieder glücklich vor sich hin, doch seine Freude wurde jäh gedämpft, als von hinter ihnen plötzlich die Stimme seines großen Bruders erklang. "Ihr beide blockiert die Treppe." Seto bemühte sich wirklich, nicht allzu genervt zu klingen, aber der unglaublich vertraut wirkende Umgang seines jüngeren Bruders mit ihrem Stiefbruder machte ihm noch immer zu schaffen. Beinahe erwartete er für seine Zurechtweisung also eine patzige Antwort von einem der beiden, aber stattdessen zog Ryuuji Mokuba einfach nur ein Stück zur Seite, um den Weg freizumachen.
 

"Bitte entschuldige, Seto. Wir haben Dich nicht gesehen", murmelte er dabei und schaffte es tatsächlich irgendwie, den Brünetten anzulächeln – und das, obwohl seine Sinne wie jedes Mal, wenn er auf ihn traf, nach Flucht schrieen. Noch immer tat es weh, ihn nach dem, was am Samstag zuvor passiert war, auch nur anzusehen, aber Ryuuji hatte sich fest vorgenommen, sich davon nichts anmerken zu lassen. Seto sollte niemals erfahren, mit wem er an diesem Abend auf der Party wirklich getanzt hatte, denn das würde sicher in einer Katastrophe enden.
 

"Du hast übrigens das Zimmer schräg gegenüber von meinem", riss Mokubas Stimme ihn aus seinen Gedanken und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zu. "Gleich daneben liegt Setos Zimmer. Also neben deinem, nicht neben meinem", plapperte der Fünfzehnjährige weiter und Ryuuji wäre um ein Haar mitten im Flur stehen geblieben. Das war doch wohl bitte ein schlechter Witz, oder? Das konnte doch nicht wirklich Gozaburo-sans Ernst sein! So sehr konnte das Universum ihn doch gar nicht hassen! Oder etwa doch? Aber womit hatte er das bloß verdient? Als ob es nicht auch so schon schwer genug wäre, seinen älteren Stiefbruder von jetzt an jeden Tag auch nach der Schule noch sehen zu müssen!
 

Ryuuji seufzte unhörbar, beschloss aber, sich nichts anmerken zu lassen. "Gut, das zu wissen", antwortete er stattdessen nur und ließ sich von Mokuba das Zimmer zeigen, in dem er die nächsten sechs Monate wohnen würde. Den seltsamen Blick, mit dem Seto ihm nachsah, bevor er zum Umziehen in seinem eigenen Zimmer verschwand, bemerkte er nicht.
 

Etwa eine Dreiviertelstunde später fanden sich alle umgezogen wieder unten im Wohnzimmer ein. Wäre das Wetter nicht so gut gewesen, hätte das Festbankett im Esszimmer stattgefunden. Da an diesem Tag jedoch die Sonne schien, als wolle sie sich mit dem frischgebackenen Ehepaar über die Hochzeit freuen, war das Essen im großzügigen Garten der Villa auf eigens dafür aufgestellten Tischen angerichtet worden. Im Gegensatz zu der vorangegangenen Trauungszeremonie war die Stimmung bei der Feier geradezu ausgelassen. Das glückliche Paar – Gozaburo in einem eleganten hellgrauen Anzug und Yukiko in einem weißen Kostüm mit einer pfirsichfarbenen Bluse – wurde mit Glück- und Segenswünschen von allen Anwesenden geradezu überschüttet.
 

Selbst Seto, der sich für einen schwarzen Anzug und ein blaues Hemd entschieden hatte, lächelte leicht, als er seinem Vater und dessen neuer Frau gratulierte. Sicher, ab heute würde sich auch für ihn Einiges ändern, aber einerseits wollte er niemandem die Stimmung verderben und andererseits erschien ihm inzwischen die Aussicht, Yukiko von jetzt an täglich zu sehen, gar nicht mehr so schlimm. So glücklich, wie sein Vater aussah, wenn seine Blicke auf ihr ruhten, wünschte er den beiden insgeheim tatsächlich alles Gute für ihre gemeinsame Zukunft.
 

Mokuba, der ebenso wie seine beiden Brüder einen schwarzen Anzug trug – allerdings hatte er ein weißes Hemd gewählt, wohingegen Ryuuji wie üblich auch hier Schwarz den Vorzug gegeben hatte –, konnte gar nicht mehr aufhören zu strahlen. Er war einfach rundum zufrieden. Sein Vater betete Yukiko ganz offensichtlich an, sie selbst sah ebenfalls glücklich aus und auch sein Stiefbruder hatte ihm gesagt, dass er sich freute, also was konnte man sich mehr wünschen?
 

Ryuuji, der seinen Zopf auch nach dem Umziehen beibehalten hatte, beobachtete seine Mutter und ihren frischgebackenen Ehemann ebenfalls über den Tisch hinweg. Das selige Lächeln, das auf ihren Lippen lag, und ihr Strahlen, wann immer sie ihn ansah, zeigte ihm deutlich, dass sie wirklich glücklich war. Und den Blicken nach zu urteilen, mit denen Gozaburo seine Frau bedachte, ging es ihm nicht anders. Gut so, dachte Ryuuji zufrieden und lächelte leicht. Wenn seine Mutter glücklich war, dann war er es auch – egal, wie weh es tat, Seto von jetzt an jeden Tag sehen zu müssen. Immerhin würde das nur für sechs Monate so sein. Diese Zeit würde er schon irgendwie überstehen, da war er sich sicher. Schließlich war Mokuba ja auch noch da. Im Notfall würde er sich eben einfach nur an den Kleinen halten. So würden die sechs Monate schon rumgehen.
 

Die Blicke Otogi Mamorus ruhten während des gesamten Essens ausgesprochen wohlwollend auf seinem neuen Schwiegersohn. Genau so einen Mann hatte er sich für seine über alles geliebte Tochter immer gewünscht. Kaiba Gozaburo war ein Mann, zu dem eine Frau aufsehen konnte, und nicht so ein Tunichtgut wie dieser Amerikaner, der seiner Yukiko den Kopf verdreht hatte, als sie noch zu jung gewesen war, um wirklich zu wissen, was gut für sie war.
 

Aber nicht nur seinen Schwiegersohn, sondern auch dessen Söhne betrachtete der alte Mann mit äußerstem Wohlwollen. Die beiden Jungen waren wohlerzogen und ausgesprochen höflich. Kein Vergleich zu seinem leiblichen Enkel, der ja nun wirklich eine furchtbare Enttäuschung war. Aber was konnte man von einem Jungen schon erwarten, der unglücklicherweise all die schlechten Eigenschaften des Gaijin geerbt hatte, der ihn gezeugt hatte?
 

Nach dem Essen, als das Brautpaar gerade unter den Blicken aller Anwesenden miteinander tanzte, neigte Mamoru sich zu seiner Frau. "Jetzt hat unsere Yukiko endlich den Mann bekommen, der ihr gebührt", flüsterte er ihr zu und Reiko nickte. "Das denke ich auch. Und wenn die Kami gnädig sind, schenken sie uns noch einen Enkel – einen, der anders ist und nicht so eine furchtbare Enttäuschung wie Ryuuji", fügte sie mit einem missbilligenden Seitenblick auf den Sohn ihrer Tochter hinzu, den dieser jedoch nicht zu bemerken schien.
 

Obwohl er so tat, als hätte er weder die Blicke seiner Großeltern gesehen noch ihre Worte gehört, hatte Ryuuji dennoch ganz genau verstanden, worüber sie sich unterhalten hatten. Er hatte nicht wirklich etwas anderes erwartet, aber die offene Verachtung war trotzdem nicht gerade angenehm – ebenso wie das Wissen, dass seine Großeltern ihn von heute an erst recht schneiden würden, denn schließlich hatten sie jetzt seine Stiefbrüder, mit denen sie ihn vergleichen konnten.
 

Unter dem Vorwand, die Toilette benutzen zu müssen, entschuldigte Ryuuji sich vom Tisch und ging durch die geöffnete Terrassentür in die Villa hinein. Allerdings suchte er kein Badezimmer auf, sondern verkroch sich einen Moment lang in seinem neuen Zimmer, um sich wieder zu sammeln. Er wusste zwar schon seit Jahren, dass seine Großeltern ihn als unerwünschten Störenfried sahen, aber es so deutlich vor Augen geführt zu bekommen war doch etwas vollkommen anderes.
 

Nachdem er ein paar Minuten zusammengekauert vor seinem Bett gehockt hatte, die Beine an seinen Körper gezogen und die Arme darum geschlungen, rappelte er sich schließlich wieder auf und wischte sich entschlossen über die Augen, bevor er ins Bad ging, um die Tränenspuren zu beseitigen. Auf keinen Fall sollte seiner Mutter oder sonst jemandem auffallen, dass er geweint hatte.
 

Seto, der neben seinem kleinen Bruder gesessen hatte, hatte die Worte von Yukikos Eltern ebenfalls gehört. Er hatte schon immer recht gute Ohren gehabt, also hatte er, obwohl es Mokuba war, der neben Otogi Reiko-san saß, ganz genau verstanden, worüber sie sich mit ihrem Mann unterhalten hatte. Während der Fünfzehnjährige, der seinerseits auch mitbekommen hatte, über welches Thema seine Stiefgroßeltern sich unterhalten hatten, vollkommen sprachlos war, stand sein älterer Bruder vom Tisch auf, um drinnen nach seinem Stiefbruder zu sehen. Woher dieser Impuls kam, wusste er nicht, aber er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war.
 

"Ryuuji-san befindet sich oben in seinem Zimmer", informierte Isono, dem Setos suchende Blicke nicht entgangen waren, den Sohn seines Chefs und dieser nickte ihm kurz zu, bevor er nach oben ging. Dort klopfte er kurz an die Tür, erhielt jedoch keine Antwort. Einen Moment lang zögerte er noch, dann betrat er ohne Aufforderung den Raum und sah sich um, doch von seinem Stiefbruder war nichts zu sehen. Allerdings lief im angrenzenden Badezimmer das Wasser, also hielt er sich ganz offensichtlich dort auf.
 

Ryuuji, der von Setos Eintreten nichts bemerkt hatte, warf einen Blick in den Badezimmerspiegel, nachdem er sich das Gesicht gewaschen und damit alle Spuren beseitigt hatte. Sein Spiegelbild grinste ihm ziemlich verunglückt entgegen und er schob sich ein paar schwarze Strähnen, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten, hinter sein rechtes Ohr. "Was kuckst du denn so, hm?", fragte er sein Spiegelbild und schüttelte den Kopf. "Was hast du denn erwartet? Du weißt doch schon seit Jahren, dass sie dich hassen. Haben sie doch immer schon getan. Ist ja nun wirklich nichts Neues mehr, also kein Grund, gleich so ein Gesicht zu ziehen", ermahnte er sich selbst und atmete mehrmals tief durch – so lange, bis sein Grinsen wieder halbwegs so aussah, wie er es von sich selbst gewöhnt war.
 

Seto, der noch immer im Zimmer seines Stiefbruders stand, erstarrte, als er die Worte hörte. Hatte Ryuuji ihn etwa gehört? Als der Brünette jedoch bemerkte, dass der Andere ganz offenbar mit sich selbst sprach, atmete er innerlich auf – allerdings nur, bis ihm der Sinn der Worte klar wurde. Überdeutlich hörte er den bitteren Unterton in Ryuujis Stimme, der mehr als deutlich zeigte, dass ihn das, was er gehört hatte, ganz offensichtlich ziemlich getroffen hatte.
 

Das ist ja wohl auch verständlich, dachte Seto bei sich. Was musste es für ein Gefühl sein, von seinen eigenen Großeltern derart verachtet zu werden, dass diese sich einen anderen Enkel wünschten – einen, der besser war? Nein, das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Beinahe empfand Seto so etwas wie Mitleid für seinen Stiefbruder, doch zusätzlich drängte sich ihm noch eine weitere Frage auf: Hatten seine Worte den Schwarzhaarigen auch so verletzt?
 

Ohne auf ihn zu warten, verließ Seto schnell Ryuujis Zimmer und ging wieder nach unten. Dabei nahm er sich vor, seinen Stiefbruder für den Rest des Tages ganz genau im Auge zu behalten. Er wollte wissen, wie Ryuuji sich nach den Worten seinen Großeltern gegenüber verhalten würde; wollte mit eigenen Augen sehen, wie er mit dem Gehörten umging.
 

Mokuba, der sich inzwischen ebenfalls vom Tisch entfernt hatte und grübelnd im Wohnzimmer wartete – wie konnten Ryuujis Großeltern nur so über ihren eigenen Enkel reden? –, blickte auf, als sein älterer Bruder ganz alleine aus dem ersten Stock wieder nach unten kam. "Wo ist Ryuuji?", erkundigte er sich und Seto nickte schweigend zur Treppe hinüber, um anzudeuten, dass der Gesuchte noch oben war. Dann wollte er an seinem Bruder vorbeigehen, doch dieser hielt ihn am Ärmel seines Jacketts fest.
 

"Du hast das doch auch gehört, oder, Nii-san? Ich meine das, was Mamoru-san und Reiko-san gesagt haben. Über Ryuuji. Ich habe mich doch nicht verhört, oder, Nii-san?", fragte er und der Brünette schüttelte den Kopf. "Nein, du hast dich nicht verhört, otouto. Ich habe es genauso verstanden wie du", antwortete er und strich dem Jungen kurz über die Haare, bevor er sich von ihm löste und wieder zurück nach draußen ging.
 

Mokuba hingegen blieb im Wohnzimmer stehen, um auf seinen Stiefbruder zu warten. Ganz sicher hatten diese Worte, die doch von seiner eigenen Familie gekommen waren, ihm sehr weh getan. Viel konnte er vielleicht nicht tun, dachte Mokuba bei sich, aber möglicherweise konnte er Ryuuji wenigstens ein kleines bisschen trösten. Und dabei dachte ich wirklich, Mamoru-san und Reiko-san wären eigentlich ja ganz nett. Da hatte er sich ja wohl ganz gründlich getäuscht. Wie konnten sie nur so über ihren Enkel sprechen – noch dazu, wenn dieser gleich neben ihnen saß? Was hatte Ryuuji denn bloß getan, um so derart von seinen eigenen Großeltern gehasst und verachtet zu werden? Womit hatte er das verdient? Das war doch nicht fair!
 

Als Ryuuji schließlich nach unten kam und das Wohnzimmer betrat, wurde er von seinem jüngeren Stiefbruder, der gleich auf ihn zustürmte und ihn aufs Heftigste umarmte, beinahe umgeworfen. "Hey, was ist denn mit dir los, Kleiner?", erkundigte Ryuuji sich verwundert und der Fünfzehnjährige sah aus großen, traurigen blauen Augen zu ihm auf. "Es tut mir so leid, Ryuuji! Das, was deine Großeltern gesagt haben, meine ich!", platzte er heraus und seine Augen weiteten sich noch mehr, als Ryuuji ihn unbekümmert angrinste. "Ach, das. Mach dir darüber mal keinen Kopf, Mokuba. Das ist nicht so wichtig", versuchte er, den Jungen zu überzeugen, doch dieser schüttelte heftig den Kopf.
 

"Das ist es wohl. Das war ganz furchtbar gemein von ihnen. Wie können sie so etwas nur sagen?", ereiferte er sich und Ryuuji, der im ersten Moment tatsächlich wieder mit dem Schmerz gekämpft hatte, den die Worte seiner Großeltern verursacht hatten, drückte Mokuba an sich. Dabei schmunzelte er. Es tat wirklich ungemein gut, dass sich jemand so derart über das aufregte, was seine Großeltern gesagt hatten. Mit Ausnahme seines besten Freundes Katsuya, der sie sogar schon einmal dafür angeschrieen hatte – was zwar nichts geändert hatte, aber dennoch eine Genugtuung sondergleichen gewesen war –, hatte das noch nie jemand getan.
 

"Lass sie doch reden, was sie wollen. Ich hab dir doch schon mal gesagt, was ich von solchem Gerede halte, oder, Mokuba?" Diese Worte seines Stiefbruders ließen den Fünfzehnjährigen wieder aufsehen. Noch immer ließ er Ryuuji nicht los. "Macht dir das wirklich so wenig aus, Ryuuji?", hakte er erstaunt nach und der Angesprochene nickte, bevor er gleichgültig mit den Schultern zuckte.
 

"Hey, ich kann ihre Meinung über mich doch sowieso nicht ändern. Warum sollte ich mir also das zu Herzen nehmen, was sie über mich sagen? Für sie war ich schon immer eine Enttäuschung und das werde ich auch Zeit meines Lebens bleiben. Immerhin ist mein Vater ein Gaijin. Bei meinen Großeltern reicht das vollkommen aus, musst du wissen. Und da sich an meiner Herkunft nicht plötzlich über Nacht etwas ändern wird, werden sie auch immer so über mich denken. Aber das ist schon okay. Wirklich, Mokuba", bekräftigte er und drückte den Jungen noch einmal, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte.
 

"Aber trotzdem lieb von dir, dass du mich trösten wolltest. Du bist echt ein Schatz, Mokuba", murmelte Ryuuji in die schwarzen Haare des Jungen und dieser errötete heftig, während Ryuuji sich aus seiner Umarmung befreite. Es war Jahre her, dass ihm das letzte Mal jemand einen Kuss gegeben hatte. Damals war es sein Vater gewesen, der an diesem Tag zu Hause geblieben war, weil er mit einer schweren Erkältung im Bett gelegen hatte. Aber dieser Kuss gerade war etwas völlig anderes als ein Kuss seines Vaters.
 

Das Herz des Fünfzehnjährigen hämmerte mit rasender Geschwindigkeit gegen seinen Brustkorb. Was waren das bloß für verwirrende Gefühle, die die Nähe seines Stiefbruders immer wieder aufs Neue in ihm auslöste? Warum fühlte er sich gleichzeitig so wohl und so befangen, wann immer Ryuuji ihn umarmte oder ihn auf eine andere Weise, egal ob zufällig oder nicht, berührte?
 

Seto, der die ganze Zeit neben der Terrassentür gestanden und so das gesamte Gespräch zwischen seinem Bruder und seinem Stiefbruder mitangehört hatte, sah Ryuuji nachdenklich hinterher, als dieser zum Tisch ging und seine Mutter lächelnd zum Tanzen aufforderte. Dadurch, dass er oben in Ryuujis Zimmer gewesen war und diesen dort bei seinem Selbstgespräch belauscht hatte, wusste er im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder, dass er Mokuba belogen hatte, was seine Großeltern und deren Worte anging.
 

Hat er Mokuba dann etwa auch meinetwegen belogen? War es ihm doch nicht egal, was ich über ihn gesagt habe? Hat es ihn vielleicht doch gestört? Haben meine Worte ihm ebenso weh getan wie die Worte seiner Großeltern? Seto fand keine Antworten auf diese Fragen, die ihm unablässig durch den Kopf gingen. Dennoch reichte allein die Möglichkeit, dass seine Worte Ryuuji verletzt haben könnten, aus, um sein schlechtes Gewissen auf den Plan zu rufen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Tjahaaaa, armer Seto, nicht wahr? Ich weiss, ich bin gemein zu ihm, aber ich kann einfach nicht anders. Ich quäle ihn einfach zu gerne.
*drop*

Nya, bis zum nächsten Mal.
*wink*

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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  jyorie
2016-09-28T04:18:18+00:00 28.09.2016 06:18
Hey ツ

Arg die Großeltern von Duke sind echt total daneben. Sehr interessant fand ich in dem Zusammenhang, das Mokuba sie erst in Ordnung fand, weil sie ihn als Enkel akzeptieren, aber dann als er gesehen hat, wie es in ihren Köpfen aussieht, wie geschockt er war. So sehr durchschauen kann er die Leute also noch nicht, wenn sie scheißfreundlich zu ihm sind und hintenherum ganz anders sein können.

Bei der Hochzeitszermonie hab ich mich für Duke gefreut, das alles gepaßt und geklappt hat, wie er so viel für seine Mutti auf sich genommen hat und schluckt, damit sie einen schönen Tag hat. Und auf der anderen Seite wie groß da die Kluft zu Yukikos Eltern ist, die nur den Status sehen, aber nicht mal merken, wenn ihre Tochter glücklich verliebt ist. Das ist echt arm.

Setos Beobachtungen aus dem Hintergrund haben mir auch gefallen, das er ein ganz klein wenig erfahren hat, wie es hinter Dukes Lächeln aussieht. Das da vieles nur aufgesetzt ist. Zudem war es auch aufschlussreich, das er gemerkt hat das Duke im punkto, das ihm die verbalen Angriffe nichts ausmachen, etwas angeschwindelt hat und das Seto dann wegen seinem Handeln ein schlechtes Gewissen bekommt.

CuCu Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ Jyorie

Antwort von: Karma
30.09.2016 20:46
Eins meiner persönlichen Lieblingskapitel.
*___*
Die Hochzeit zu schreiben hat mir echt Spaß gemacht, muss ich gestehen. Und wenn ich's geschafft hab, dass du Dukes Großeltern auch hasst, dann hab ich damit auch das erreicht, was ich wollte. Wenn schon Gozaburo mal nicht der Buhmann ist (ich hab ihn hier ja mal komplett anders angelegt als in der Serie, weil ich Seto und Mokuba mal KEIN Arschloch als Vater geben wollte), dann muss es ja zumindest einen Chara geben, den man verabscheuen kann. Und hier gibt's sogar zwei zum Preis von einem.
;)

Die Sache mit dem Bad wollte ich von Anfang an drin haben. Seto sollte wissen, dass Duke nicht so stark ist wie er tut. Und er sollte sehen, dass es außer ihm noch jemanden gibt, der seine wahren Gefühle sehr gut verstecken kann - wenn auch nicht mit Eis, so doch mit Späßen und Flirten.

Und was Mokuba und das Durchschauen betrifft: zum Einen ist er erst fünfzehn und zum Anderen ist er recht behütet aufgewachsen. Sein Vater und sein Bruder schützen ihn nach Kräften vor der Realität - was man ja auch daran sieht, dass Seto Mokuba nicht erzählt, was er gesehen hat, sondern das für sich behält. Gut, das tut er nicht nur für Mokuba, sondern auch ein bisschen für Duke (weil er zu Recht annimmt, dass ihm das peinlich wäre) und auch für sein eigenes schlechtes Gewissen, das sich langsam zu Wort meldet.
^___^
Von:  Shogikoneko
2008-08-09T08:41:44+00:00 09.08.2008 10:41
hach ryuji ist ja echt süß, wie er seto in der dusche verteidigt....wehe seto peilt das nicht langsam mal grrrr
gott diese großeltern sowas von konservativ, da kommt mir echt das frühstück wieder hoch....>.<
die hochzeit war toll beschrieben auch wenn ich nicht viel ahung davon ab xDDDD
armer seto? mir tut ryuji viel mehr leid...bei dem was er alles einstecken muss und herunter schluckt*seufz* hoffe seto ändert bald sein verhalten ryuji gegenüber
Von:  Arina
2008-08-05T20:09:33+00:00 05.08.2008 22:09
ARGH! Ich mag Ryujis Großeltern ned! <.<'
Ich hoffe, dass Seto i-wann mal sich ändern wird und für Ryuji (als Entschuldigung für seine bösen Worte, die er damals zu Ryuji gesagt hat) einsetzt! Q_Q
Ich glaube, Seto wird i-wann mal Ryuji mögen ^.~ Vllt. auch mehr als nur mögen ^^

Deine ganzen Kapiteln sind wie immer toll gestaltet. xD'

Lg Arina
Von:  Shakti-san
2008-08-05T17:13:03+00:00 05.08.2008 19:13
da hat Seto aber was zum grübeln bekommen.
wenn Ryuji genauso auf Seto´s worte wie auf die von seine großeltern (was ich glaube) dann hat Seto ihm sehr weh getan.
ich hoffe unser Eisklotz kriegts endlich ma hin und erkennt was Ryuji für ein schatz is und das er ihm nit immer weh tun soll.
aber igwie hab ich das gefühl, das sich diese wörter von den großeltern noch rächen wird. und das diese rache von Seto aus geht. wieso auch immer.
LG Ran
Von:  Aschra
2008-07-30T12:45:33+00:00 30.07.2008 14:45
Boah ich mag Ryuji's Großeltern nicht
was sind denn das für Vollhonks???
Die sollte man aber sowasvon, das schlimme
ist die erinnern mich voll an meine Oma,
sehr ermutigend! Armer Kerl vorallem weil
ich mir denken kann das da noch was nachkommt!!!!


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