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Force of Nature

von

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Wasser in all seinen Aggregatzuständen

Jean nahm sich eine der großen Kaffeetassen aus dem Regal und schenkte sich den schwarzen Teer ein, den die Kaffeemaschine anscheinend schon vor Stunden ausgespuckt hatte. Zumindest wurde der Inhalt seiner Tasse sehr schwarz und sehr undurchsichtig. Jean hob die Augenbraue und hoffte, dass es nicht Val gewesen war, die den Kaffee gekocht hatte. Er nahm probeweise einen Schluck und verzog das Gesicht. Leider doch. Leider war es Val gewesen. Jean schauderte und seufzte innerlich.
 

Allerdings war es genau das, was er nach einer meist schlaflosen Nacht brauchte, die er an der Seite des anderen Jungen verbracht hatte. Knox hatte selig wie ein kleines Kind geschlafen. Wie immer hatte er sich von einer Seite auf die andere gedreht und seltsame Geräusche im Schlaf von sich gegeben. Er hatte die Kissen umgeräumt und Jean nicht nur mit seiner Anwesenheit wach gehalten.
 

Jean hatte sich von diesem Zyklus einlullen lassen und war schließlich selbst eingeschlafen. Kurz, nur um erschrocken wieder hochzuschrecken und mit einem wütenden Grollen wach zu bleiben. Um halb Acht hatte er seinen tief schlafenden und glücklich träumenden Kapitän hinter sich gelassen und war aufgestanden. Er hatte das improvisierte Schild mit „besetzt“ an die Tür zum Badezimmer gehängt und war duschen gegangen, um mit dem heißen Wasser seinen Kreislauf in Schwung zu bringen.
 

Als er sich nach unten geschlichen hatte, schlief Knox immer noch und so hatte Jean nun genug Ruhe für seinen ersten Kaffee, den er sich anscheinend nur mit Val teilen musste, weil sonst noch niemand wach war von seinem faulen Team. Nicht, dass sie irgendwo im Haus zu sehen oder zu hören war.

Seine dicken, von Mrs. Knox gestrickten Socken, hielten seine Füße wunderbar warm, als er in das große Wohnzimmer kam und einen Blick in den weitläufigen Garten warf, der in einem kleinen Teich mündete. Zumindest sah die weiße, plane Fläche so aus, die man durch einen Holzsteg erreichen konnte. Das Wohnzimmer selbst war absolut chaotisch vom letzten Abend und Jean beneidete den heutigen Aufräumtrupp so gar nicht.
 

Er vergrub seine freie Hand in dem dunkelroten Trojans-Hoodie, den er zur Feier des Tages angezogen hatte und öffnete die Terrassentür. Dicke, weiße Flocken fielen vom grauen Himmel und Jean sah ihnen staunend entgegen. Misstrauisch wandte er sich um, ob jemand seines Teams in der Nähe war, der vielleicht auf irgendeine Weise den Krieg ausrufen könnte, doch er konnte kein bekanntes Gesicht entdecken, so holte er seine Winterschuhe und streifte sie sich über. Wie gestern auch knirschte der Schnee unter seinen Sohlen, als er ein paar Schritte hinaustrat und den weißen Flocken seine freie Hand entgegenstreckte.
 

Hypnotisiert beobachtete Jean sie dabei, wie sie auf das Dunkelrot des Pullovers fielen und dort liegen blieben. Kalt genug war es auf jeden Fall dafür.

Noch viel kälter wurde es, als die Flocken sich auf seiner Hand ansammelten und zu durchsichtigen Kristallen wurden, aus ihnen wiederum Wasser, das seine Hand benetzte.

Es war wunderschön und beängstigend zugleich und Jean spürte mit Erschrecken eine so tiefe Zuneigung für dieses Naturschauspiel, wie er es nur manchmal für Knox fühlte.
 

Ein Kribbeln, tief in seinem Magen, das Glück in seinem Hirn auslöste.
 

Instinktiv streckte Jean seine Zunge heraus um den Schnee zu schmecken und reckte seinen Kopf in den Nacken. Er schloss die Augen, damit die dicken Flocken ihm nicht in eben jene schwebten und schauderte vor neuen Eindrücken, die sich ihm aufdrängten und die er wie ein Schwamm in sich aufsog.

Es war wieder etwas für sein fast volles Buch, das dringend einen Nachfolger benötigte.
 

Ein Geräusch am Eingang holte ihn aus seinen Gedanken und Jean öffnete ruckartig seine Augen. Er sah in die entsprechende Richtung und erkannte Knox, der mit einem viel zu wachen Lächeln in der Tür stand.
 

Zu Weihnachten hatte er genauso ausgesehen und seine Brüder hatten ihm dafür einen Spitznamen gegeben. Gremlin, rezitierte Jean stumm. Anscheinend hatte Jamie mitbekommen, dass Jean dieser Begriff nichts sagte und so hatte er ihm in einer unbeobachteten Minute ein Bild von einem solchen Wesen gezeigt. Jean hatte zwar die Ähnlichkeit nicht erkannt, fand aber den Begriff amüsant und lautmalerisch passend zu den in alle Richtung stehenden Haaren, dem viel zu großen Hoodie und der weiten Jogginghose.
 

Jean schulte sein Gesicht auf Ausdruckslosigkeit und ging wieder zurück zum Haus.
 

„Hi“, winkte sein Kapitän und trat beiseite. Jean streifte sich seine Schuhe auf dem Läufer ab und musterte den blonden Jungen, der anscheinend wirklich frisch aus dem Bett gekommen war.

„Guten Morgen“, erwiderte er und nahm einen Schluck Kaffee, was mit gieriger Hoffnung beobachtet wurde. So gierig, dass selbst Jean es auffiel und er, als der naive Dummkopf, der er war, Knox nach einem hoffnungslosen Zögern kommentarlos seine Tasse reichte.

„Danke!“, murmelte der Gremlin an seiner Seite und nahm einen großen Schluck, bevor er die Tasse wieder zurückreichte und Jean mit einem kritischen Blick feststellte, dass er sich nun neuen Kaffee holen oder sogar kochen durfte.
 

„Wie hast du geschlafen?“, fragte der blonde Junge zögernd und Jean zuckte mit den Schultern.

„Okay.“ Zumindest für den kurzen Abschnitt, der ihm vergönnt gewesen war.

„Hast du lange schlafen können?“

Wie gut Knox ihn doch kannte. „Nein. Es war nur ein Bisschen“, sagte Jean ehrlicherweise und Bedauern huschte über das sommersprossige Gesicht.

„Es tut mir leid, Jean, wirklich. Wenn du magst, kann ich auf der Couch schlafen nächste Nacht.“

„Nein. Ich möchte nicht, dass du das tust. Es war erst die erste Nacht, außerdem ist es nicht Los Angeles. Es wird sicherlich besser.“

„Aber du hast zuhause auch besser geschlafen.“

„Da haben mir Barnie und der rote Fluff auch keine Wahl gelassen“, sagte Jean und der Grund war ebenso an den Haaren herbeigezogen wie seine Behauptung, dass es in der nächsten Nacht besser werden würde.
 

Aber es war in Ordnung, dafür, dass er zum ersten Mal mit einem Jungen in einem Bett geschlafen hatte. Er hatte es in Kauf genommen, schutzlos ausgeliefert zu sein und es war nichts passiert. Selbst als er geschlafen hatte, war nichts passiert und Jean war stolz auf den Fortschritt. Er war stolz auf die Beruhigung, die ihm das einbrachte.

„Es ist okay, Knox“, entkräftete er die immer noch vorherrschenden Zweifel und langsam glättete sich die Stirn seines Kapitäns.
 

Alleine um die peinliche Stille zwischen ihnen beiden zu überbrücken, reichte Jean Knox erneut seine Kaffeetasse und war erleichtert, als dieser danach griff und gehorsam den letzten Schluck nahm.
 

„Guten Morgen ihr Sonnenscheine!“, grölte es in eben diese Stille abrupt aus dem Hintergrund und ließ sie beide zusammenzucken. Alvarez, natürlich, die viel zu wach grinste und hinter der auch noch Ellie, Logan, Laila und Ajeet den Raum betraten. Hinter ihnen, vermutlich im Flur, hörte Jean auch den Rest seiner Mannschaft und zog sich mit einem Brummen zurück in die Küche, überließ seinen Kapitän dem Schicksal seines Teams um sich nützlich zu machen. Mittlerweile konnte er auch Kaffee kochen und tat das mit Leidenschaft, denn er hatte festgestellt, dass er den Geruch von gemahlenen Bohnen sehr mochte.
 

Der Lärm aus dem Wohnzimmer kratzte an seinen noch empfindlichen Trommelfellen und er lehnte die Tür an, nutzte die eintretende Stille um sich in Ruhe der Kaffeemaschine zu widmen. Erst bei dem eindeutigen „Ich rufe den Krieg aus!“ kehrte Jean auch gedanklich wieder zurück zu seinem Team und lauschte dem Gejohle, Gegröle und Getrample, das sich anscheinend nahtlos nach draußen verlagerte.
 

Jean befüllte in Ruhe die Kaffeemaschine, machte dann mit der zweiten weiter und wartete schlussendlich noch einen Moment, bevor er sich zurück ins Wohnzimmer traute und einen Blick in den nun leeren Raum warf, während Teile seines Teams draußen im Schnee tobten.

„Ist der Kaffee bald fertig?“, fragte es überraschend aus Richtung Couch Logan und Jeans Kopf schoss herum, während Logan sich von der Couch hoch- und sich somit in sein Sichtfeld schraubte.
 

Jean blinzelte. „Geh in die Küche und sieh nach“, erwiderte er und Logan schnaubte.

„Du kommst doch grad aus dem Raum.“

„Da war er noch nicht fertig.“

„Und das fiel dir so schwer als Antwort?“

Jean rollte mit den Augen. „Warum bist du nicht draußen?“, fragte er ausweichend und nickte knapp in Richtung Garten, wo die Jungen und Mädchen exakt das taten, was Knox ihm beschrieben hatte: den Schnee zu Bällen formen und sich damit abzuwerfen. Sie lachten, johlten und grölten, etwas das Jean nicht wirklich nachvollziehen konnte.

„Weil ich keine Lust habe, morgens schon Schnee zu fressen. Du?“
 

Das war eine gute Frage. Warum war Jean eigentlich nicht da draußen? Zum Teil aufgrund seiner Unsicherheit, die er immer noch vor neuen Dingen empfand. Er wollte sich die Dynamik seines Teams erst einmal ansehen, bevor er eventuell mitmachte. Was aber in den Sternen stand, da er das Ganze höchst…fragwürdig fand. Was sollte daran Spaß machen? Es war kalt, man wurde nass und man bekam ein Geschoss ins Gesicht oder in den Nacken. Oder sogar, wie Jean nun mit Schrecken erkannte, von hinten in den Pullover.
 

Dem Quietschen und Schreien der Kriegführenden nach zu urteilen, tat das dem Spaß aber keinen Abbruch.
 

„Willst du deinem Kapitän nicht zur Hilfe eilen?“, fragte Logan und Jeans Aufmerksamkeit kehrte zu dem Defensive Dealer zurück.

„Du sitzt auch hier auf der Couch, während deine Freundin gerade Bekanntschaft mit dem Busch macht“, gab er ironisch zurück und Logan schnaubte. Schweigend sahen sie aus dem Fenster und in der Tat fiel Val gerade in einen der riesigen Schneeberge, dicht gefolgt von Ajeet und Laila, die sich hinterher stürzten.
 

„Sie kann sich selbst verteidigen.“ Logan zuckte mit den Schultern und Jean lächelte.

„Knox ebenso.“
 

Das konnte er tatsächlich, wie Jean nun sah. Der blonde Junge war genauso schnell wie auf dem Spielfeld und hatte damit einen nicht unerheblichen Vorteil gegenüber dem Rest der Baggage. Zumindest bis er auf Alvarez traf und die Beiden sich nicht das Geringste schenkten.

Jean beobachtete das so aufmerksam, dass ihm erst verspätet auffiel, dass der Kaffee sicherlich schon längst fertig war.
 

Und das auch nur, weil Logan in der Zwischenzeit anscheinend aufgestanden und in die Küche gegangen war, sich Kaffee geholt hatte und sich nun mit einem vielsagenden Grinsen neben ihn stellte und einen Schluck nahm.
 

Jean grollte dunkel.
 

~~**~~
 

Jeremy zog seinen Kopf tiefer in die schützende Barriere seines Schals, den er viermal um seinen Hals geschlungen hatte. Seinen Kopf wärmte eine dicke Wollmütze, die ihm seine Ma gestrickt hatte, passend zu den Handschuhen an seinen Händen.
 

Er liebte den Schnee, aber als südkalifornisches Kind war es schlicht zu kalt für ihn, um auch nur einen Zentimeter Haut zu zeigen. Auch beim Wandern nicht und insbesondere dann nicht, wenn es unablässig schneite und die dicken, weißen Flocken sich persistent auf ihre Kleidung setzten.
 

Alvarez, Abini, Sofia und Cilian hatten damit gar keine Probleme, Giorgia, Stephen und Raheem waren eher so wie Knox selbst und Mary-Lou. Dick eingepackt und rund durch die vielen Schichten. Laila und Jean kannten die gesunde Mitte aus eingepackt wie das Michelin-Männchen und eigentlich geboren in Alaska.
 

Der Rest ihres Teams hatte keinen Bock darauf gehabt, sie bei ihrer 15-Kilometer-Wanderung durch die verschneiten Hügel und Täler der Umgebung zu begleiten, so waren sie nach dem Frühstück losgelaufen um sich die Beine zu vertreten und die Schwere des Abendessens und des Frühstücks loszuwerden.

Wobei wandern nicht wirklich der richtige Begriff für die Art von Leistungssport war, die sie hier betrieben. Insbesondere Jean legte ein Tempo vor, das sie alle schnaufen ließ, zumindest solange, bis Raheem pfeifend stehen blieb.
 

„Ey Moreau, wir sind hier nicht im Training, lauf langsamer!“, keuchte er und Jean blieb einen Augenblick lang mit dem Rücken zu ihnen stehen. Dann drehte er sich mit Missbilligung auf dem geröteten Gesicht um und steckte die Hände in die Taschen seiner dicken Winterjacke. Er machte den Mund auf, wurde jedoch von Laila unterbrochen, bevor die erste Silbe seine Lippen verlassen konnte. Sacht legte sie ihm eine Hand auf den Arm und zog seine Aufmerksamkeit zu sich.
 

Vor ein paar Monaten wäre das noch nicht möglich gewesen, auch wenn Laila eine der Ersten gewesen war, die Zugang zu Jean gefunden hatten. Insgesamt hatte sich schon schneller mit den weiblichen als mit den männlichen Trojans arrangiert und Jeremy zerbrach es immer noch das Herz, den Grund dafür zu kennen.
 

„Nach Silvester, Jean Moreau. Jetzt genießen wir unseren Urlaub, damit wir umso tatkräftiger in das neue Jahr starten können. Und nein, heute ist kein wir-kritisieren-unser-Team-Tag“, mahnte sie und Jeans steil gerunzelte Stirn brauchte etwas, bis sie sich glättete.

Jeremy sah sehr deutlich, wie es in dem scharf konturierten Gesicht arbeitete, doch schlussendlich klappte Jean den Mund zu.

Sein gemurmeltes Französisch ließ Raheem laut lachen und etwas auf Arabisch antworten, das Jeremy noch viel weniger verstand. Jean schon, wenn er sich dessen erst erschrockenen, dann ungläubigen Gesichtsausdruck ansah, der in einem ausdrucksstarken Augenrollen mündete.
 

Raheem sprach dank seiner Eltern sowohl Französisch als auch Arabisch und war generell dazu übergangen, Jean ebenfalls fremde Begriffe an den Kopf zu werfen, wenn dieser auf seine eigene Muttersprache wechselte. Irgendwann hatte Jeans Neugier gesiegt und er hatte gefragt, was Raheems Worte bedeuteten. Seitdem erhielten er und auch alle, die um sie herumstanden, Nachhilfe in Arabisch und zu Jeremys Amüsement waren es primär Beleidigungen und nicht jugendfreie Begriffe, die ihren Weg in Jeans Wortschatz fanden.
 

„Weiter?“, fragte Alvarez schließlich und hakte sich bei Jeremy ein, zog ihn gnadenlos mit sich an die Spitze ihrer Wandergruppe. Sie milderten das Tempo ab, auch wenn Jeans Blick in Jeremys Nacken brannte. Wenn er allerdings zurücksah, wich der andere Junge betont seiner Aufmerksamkeit aus und unterhielt sich mit Raheem angeregt über Sinn und Unsinn arabischer Grammatik.
 

„Jer“, begann sie verschwörerisch und er brummte leise, während er auf die zerklüfteten Berge zu ihrer Rechten starrte, deren Spitzen im Nebel lagen.

„Al“, murmelte er in dem gleichen Tonfall und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.

„Geht’s dir gut?“

Jeremy sah lächelnd zur Seite.

„Absolut. Ich freu mich, mit euch allen hier zu sein. Dir?“

„Bestens. Gnadenlos gemästet von meiner Familie über die Tage. Ich habe mir bis in den Februar Wiegeverbot erteilt.“
 

Leidend nickte er. „Geht mir genauso. Ich bin dick und rund gefressen. Und den Rest habe ich für die kommenden Tage mitbekommen. Mein Dad hat mal wieder viel zu viel für „seine liebsten Trojans“ gemacht.“ Jeremy seufzte.

„Dein Dad ist ja auch schon cool. Und wenn die künftigen Treffen nicht für Mr. Tall, Dark and Handsome hier reserviert sind, dann komme ich sicherlich auch wieder mit.“

Jeremy blinzelte. „Du kannst jederzeit mitkommen. Laila auch. Das weißt du doch.“

„Ja, schon klar. Das nächste Mal dann!“

„Ist das ein Versprechen?“

Alvarez brummte zustimmend.
 

„Wie geht’s dir wegen der Allan-Geschichte?“, fragte sie schließlich und Jeremy musste einen Moment lang überlegen. Er hatte Weihnachten nicht über Allan nachgedacht. Keine Minute lang war seine allumfassende Traurigkeit zurückgekehrt. Seine Familie hatte ihn abgelenkt und dort, wo sie nicht war, hatte Jean die Lücken gefüllt, die entstanden waren.

Das kurze Aufflammen von Trauer bei dem Gedanken daran war schmerzhaft, aber kurz und vergänglich.

„Es wird okay werden.“

„Wirklich?“

Jeremy schnaubte. „Niemand von euch lässt mir ja wirklich Zeit zu trauern oder darüber nachzudenken“, erwiderte er mit einem Zwinkern und Alvarez lachte.

„Niemals. Vor dir liegen viele andere Abenteuer, da ist es unangebracht, an die Vergangenheit zu denken.“

Jeremy hob die Augenbraue.

„Andere Abenteuer? Zum Beispiel?“, fragte er amüsiert nach und Alvarez grinste. Sie drehte sich zu den anderen Trojans um und riss die linke Faust hoch.
 

„KRIEG!“, schrie sie dann ohne Vorwarnung und Jeremy zuckte brachial zusammen. Er brauchte ein paar Sekunden um zu verstehen, was sie damit meinte und fluchte dann bildgewaltig. Verdammt…verdammt verdammt verdammt, er musste sich Deckung und vor allen Dingen Munition suchen!
 

Verdammt!
 

„Ich hasse dich, du stinkendes Stück Käse!“, fluchte er wortgewaltig und bückte sich nach dem nächstbesten Schneehaufen, um zumindest ein paar Schneebälle zu formen, bevor er angegriffen wurde. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Jean trat während des Kampfes zur Seite trat und mit vernichtendem Blick ihrem Treiben zusah.
 

„Alles okay?“, fragte Jeremy während der Munitionsproduktion hastig und Jeans stumme Missbilligung dieses Krieges musste ihm Antwort genug sein, bevor er sich darauf konzentrierte, sich gegen den Rest seines Teams zur Wehr zu setzen.

Schneebälle flogen zielsicher hin und her und Jeremy war nur partiell gut darin, ihnen auszuweichen oder sich Deckung zu suchen. Er lachte mehr als dass er sich zur Wehr setzen konnte und schaffte es mit Mühe und Not, sich vor den Anderen zu schützen.
 

Aber Jeremy versuchte es und konzentrierte sich gleichzeitig auf Angriff. Er warf seinen Schneeball nach Raheem, der aber geschickt auswich und somit den direkten Weg auf Jean freigab. Mit Horror sah Jeremy, dass der Backliner sich just in diesem Moment umgedreht hatte und der vermeintlich so zielsicher geworfene Ball nun mittig auf den Hinterkopf bekam.
 

Jeremy schluckte und auch der Rest der Kriegführenden kam zu einem abrupten Halt.
 

Es war ein ungeschriebenes Gesetz der Trojans, Jean erst einmal aus allem herauszulassen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass Jean den ersten Schritt machte und sie ihn dann einbezogen.
 

Dieses Gesetz hatte Jeremy soeben gebrochen und die eintretende Stille kündete von seinem Sakrileg. Die Bewegungslosigkeit, in der Jean einen Moment lang verharrte, bevor er sich umdrehte, tat es. Betont langsam und mit einem nahezu mörderischen Blick.

Jeremy schluckte schwer und sah aus dem Augenwinkel heraus, wie sämtliche, um ihn herumstehende Trojans wortwörtlich mit dem Finger auf ihn zeigten.
 

„Danke, ihr Verräter“, murmelte er und begegnete Jeans grauen Augen, die durch den Schnee umso einiges heller und durchdringender waren als sonst. Jeremy schluckte, als eben diese Augen kein anderes Ziel kannten als ihn selbst.

„Knox.“ Ein einfaches Wort. Sein Name. Schon oft gesagt. Anders als jetzt. Weniger drohend. Weniger wie ein Versprechen auf Strafe, leise und ohne Intonation ausgesprochen. Jeremy schluckte.

Er brachte nicht mehr als ein leises Wimmern hervor und starrte wie ein Reh ins Scheinwerferlicht, als Jean langsam auf ihn zukam. Ein langsamer Schritt nach dem anderen. Wie ein Raubtier. Das war nun nichts Neues, auf dem Spielfeld war Jean genau das. Allerdings war er nie auf der Jagd nach Jeremy gewesen. Zumindest seitdem sie in einer Mannschaft waren. Und zumindest war Jeremy dann nie alleine gewesen, sondern umgeben von Trojans. Jetzt? Sie warfen ihm dem Jäger zum Fraß vor.
 

Wenn man das überhaupt Jagd nennen konnte, denn Jeremy war so sehr von den hellen, grauen Augen gefangen, dass er sich nicht von der Stelle rühren konnte. Ja, kurz wurde er aus deren Fokus gelassen, kurz wandte Jean seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt hinter Jeremy, doch die Erleichterung währte nur kurz. Jeremy wagte es nicht, auch nur eine Sekunde den Blick abzuwenden.
 

„Knox.“ Eine erneute, leise Warnung, gepaart mit der schleppenden Frage nach dem Warum.

„Jean?“, schaffte Jeremy nun doch, den Namen des Jungen auszusprechen, der vor ihm stehen blieb und ihn zwang, den Kopf in den Nacken legen zu müssen, um dem intensiven Starren etwas entgegensetzen zu können.
 

Zumindest in Ansätzen etwas, denn als sich Jeans Augen auf Jeremys geöffnete Lippen konzentrierten, war es mit Jeremys Selbsterhaltungstrieb beinahe vollkommen vorbei. Dieser verdammte Blick. Diese Konzentration auf seine Lippen, ohne, dass Jeremy wirklich die Gedanken dahinter kannte. Dieses Raubtier, das vor ihm stand und ihn zu verschlingen drohte. Dieses Bedürfnis, Jean einen Schritt entgegen zu treten, sich ein bisschen zu strecken und seine Lippen auf die des größeren Jungen zu legen.
 

Herrje.
 

„Was...öhm…?“, fragte er leise und quietschte keine Sekunde später entsetzt auf, als etwas fürchterlich Kaltes in seinen Nacken gestopft wurde. Er fuhr herum und Alvarez grinste ihn dunkel und bösartig in die Augen und Jeremy brachte sich entrüstet schnaufend in Sicherheit.
 

Er begriff. Verspätet, aber er begriff.
 

Entsetzt sah er von Alvarez zu Jean und wieder zurück. „Ihr…ihr…habt euch gegen mich verschworen! Ihr…ihr Verräter! Ihr Miesen! Ihr…!“, wetterte er unter dem schallenden Gelächter seines Teams und selbst Jean zeigte ein minimales Lächeln auf seinen Lippen, die grauen Augen voller Belustigung.
 

Na wenigstens wollten sie ihn nun nicht mehr auffressen.
 

Jeremy jaulte innerlich auf. Es wäre ja nicht so, dass er nicht viel dafür gegeben hätte, von Jean aufgefressen zu werden!
 

Doch Jeans Einmischung hatte Jeremy die Möglichkeit gegeben, seinen Mitbewohner vollständig in den momentanen Krieg einzubeziehen und das tat er jetzt auch, als er einen seiner Schneebälle auf Jean warf, der ihn nur halb abwehren konnte. Jeremy grinste siegessicher und hob herausfordernd die Augenbrauen. Weniger herausfordernd, mehr pseudo-verführerisch wackelte er mit ihnen und sah mit Freude, dass Jean sich ebenfalls bückte um sich Munition zu holen.
 

Alvarez johlte und Cilian ließ es sich nicht nehmen, sie beide einzudecken, während sie alle wie kleine Kinder im Schnee herumtollten und einander als Deckung missbrauchten, bis sie nun auch wirklich alle wie weiß gepudert waren.

Jean warf mit bedachter Konzentration und tödlicher Präzision und Jeremy bekam mehr als einen Ball ins Gesicht oder an den Hinterkopf. Auch von Jean, der – dafür, dass dies seine erste Schneeballschlacht war – eine beneidenswert schnelle Auffassungsgabe an den Tag legte.
 

Und ein Lächeln. Da war ein Lächeln auf dem sonst so ernsten Gesicht, Jeremy sah es genau.
 

Zumindest bis er rücklings mit rudernden Armen auf der Flucht vor Laila in einen der Schneeberge fiel und seine Arme und Beine gleich dazu nutzte, Jean zu zeigen, was genau ein Schneeengel war und wie man ihn machte.
 

~~**~~
 

Jean vermisste die Wärme des Kamins selbst jetzt, da er sich die dicke Bettdecke bis unters Kinn hochgezogen hatte.

Schnellballschlachten und Schneeengel, dass er nicht lachte. Das waren alles nur Mittel zum Zweck um den Körper auskühlen und nicht wieder warm werden zu lassen. Zumindest was Jean anging, hatten das restliche Warmwandern und die sich anschließende, heiße Dusche wenig dazu beigetragen, die in seine Knochen ziehende Kälte zu vertreiben. Erst die ruhigen Momente direkt vor dem Kamin hatten ihm da etwas mehr Wärme zurückgegeben, zumindest bis Teile seines Teams beschlossen hatten, einen Film zu schauen.
 

Zögernd hatte er seinen warmen Platz vor dem Feuer geräumt, aber schlussendlich hatte Jean sich in dem Schlafzimmer wohler gefühlt. Wie auch die Kälte war die reine Handlung, sich einen Film anzuschauen, bei den Trojans nicht etwas, das er fürchten musste, doch das wollte das erlebte Trauma nicht hören. So versuchte Jean zu umschiffen, was ihm Unwohlsein bereitete und litt dann lieber wieder unter der Kälte. Knox‘ Angebot, ihn zu begleiten und ihm Gesellschaft zu leisen, hatte er rigoros und mehrfach abgelehnt.
 

Der blonde Junge kam um eins ins Bett und bewegte sich wie in der letzten Nacht auch möglichst leise und langsam in ihrem Zimmer und im angrenzenden Badezimmer, wo er sich für die Nacht fertig machte. Fast wollte Jean ihm sagen, dass es nicht nötig war, dass er in diesem Maße Rücksicht auf ihn nahm, doch eben nur fast.

Eben jene Rücksichtnahme tat Jean gut und sie beruhigte ihn, auch wenn er das erst jetzt begriff.
 

„Ist es okay?“, fragte Knox wie auch in der letzten Nacht und deutete auf das Bett. War es okay, dass er sich hier hinein legte. Wie konnte es das nicht sein?

„Ja“, erwiderte Jean schlicht und beobachtete den blonden Jungen dabei, wie er sich vorsichtig unter die Decke schob und sie ebenfalls bis unter das Kinn zog.

„Wie hat dir der Tag gefallen?“, fragte er mit erwartungsvoller Freude und Jean schnaufte.

„Es war kalt und nass“, erwiderte er ehrlich und Knox rollte amüsiert mit den Augen. Analysierend huschten die Augen über Jeans Gesicht.

„Aber es hat dir gefallen.“

„Ich kann den Spaß an Schneeballschlachten nicht verstehen.“

„Die nicht, dafür aber Kürbisstückchenschlachten zu Halloween?“ Bedeutungsschwanger hob Knox die Augenbraue und Jean räusperte sich vernehmlich. „Außerdem hast du gelächelt.“

„Einbildung“, log Jean mehr schlecht als recht.
 

Knox runzelte kritisch die Stirn und die blauen Augen sagten Jean zurecht, was sie von Worten hielten. Sie waren auf ihre ganz eigene Art und Weise eindringlich und Jean schluckte ob der Stärke, die er hinter dem freundlichen Gesicht wahrnahm und die ihn anzog wie eine Motte vom Licht angelockt wurde.
 

„Ich hatte ein wenig Spaß“, gestand er schließlich ein und das genügte den kritischen, blauen Augen und dem nicht mehr ganz so wachen Geist anscheinend.

Knox legte eine Hand auf die sie trennenden Kissen und beinahe war Jean versucht, seine auf die schlanken Finger zu legen. Er tat es nicht, sondern musterte den blonden Jungen stumm und sah zu, wie dessen Augen mit der Zeit schwer wurden und gegen seinen Willen zufielen. Er kämpfte mit sich um wach zu bleiben, um sich weiter mit ihm zu unterhalten. Jean sah, wie aussichtslos der Kampf war und er lächelte.
 

„Schlaf, Jeremy“, sagte er in seiner Muttersprache leise und als wäre das eine Zauberformel gewesen, entspannte sich der sonst so energiegeladene Körper. Knox schloss die Augen und es dauerte keine Minute, bis seine Atmung tiefer und regelmäßiger wurde.
 

Nun lächelte Jean offen. Heute im Schnee war er eingefangen worden von dem Anblick von Knox‘ Lippen, die so berührenswert schienen. Er hatte sich mit Gewalt von ihrem Anblick losreißen müssen und auch jetzt verfing er sich in ihrer Betrachtung.

Er schnaubte amüsiert, als Knox zu sprechen begann und undeutliche, gemurmelte Worte seine Lippen verließen, während seine Hand über das Kissen strich und es zu sich zog.
 

Wenn Jean sich nicht sehr täuschte, erlebte der blonde Junge gerade die Schneeballschlacht nochmal.

„Jeeaaan…“

Der Namensgeber dieses viel zu unschuldigen und vertrauensseligen Lautes zuckte zusammen, als Knox zufrieden schmatzte und sich auf den Rücken drehte. Er schnalzte mit der Zunge und brummte zufrieden, das Kissen, welches sich gerade noch zwischen ihnen befunden hatte, zufrieden an seine Brust gebettet.
 

Wovon Knox wohl träumen mochte? Was genau tat er gerade in dessen Träumen?
 

Jeans linke Hand schlich sich wie ein Dieb nach vorne, in Knox‘ Nähe. Wieder war der Drang da, den anderen Jungen zu berühren und Jean zuckte wie verbrannt zurück, als er merkte, was er im Begriff war zu tun. Er würde einen anderen Jungen anfassen, der noch dazu schlief. Was dachte er sich?
 

So schnell und so unauffällig es ging, erhob Jean sich und schlich sich aus ihrem gemeinsamen Zimmer, bevor er noch andere, schlimme Dinge anrichten konnte. Wie hätte er denn reagiert, wenn Knox ihn einfach so im Schlaf berührt hätte? Er hätte Angst gehabt. Er hätte es nicht gewollt. Also musste er in jedem Fall dem blonden Jungen das Gleiche zugestehen.
 

Jean lauschte für einen Augenblick in das Haus und fand es still vor. Erst dann ging er die knarzenden Treppenstufen nach unten und trat auf die kühle, durch den Whirlpool sacht erleuchtete Terrasse, die ihm in all ihrer Stille Ruhe vor dem Chaos seiner Gedanken schenkte. Fröstelnd schlang er die Arme um sich und lehnte sich an eine der Terrassensäulen. Der Himmel war klar und die Sterne standen heller am Himmel, als er es jemals in Los Angeles gesehen hatte. Jean konnte sogar die Milchstraße erkennen, unweit des hell leuchtenden Mondes.
 

Ein Brummen von links lockte Jeans Aufmerksamkeit und er sah auf den Whirlpool. Aus den Unterhaltungen seines Teams wusste er, dass dieser automatisch das Wasser aufheizte um es so auf einer angenehmen, warmen Temperatur zu halten. Seitdem sie hier waren, war er immerzu besetzt gewesen und hatte Jean damit bisher vorenthalten, wie tief er war. Das war nun anders und vorsichtig trat er näher. Es war viel Wasser, viel mehr, als er es in den letzten Jahren in einer Wanne gesehen hatte. Es machte ihn unsicher, auch wenn es damals nicht viel Wasser gewesen war, das ihn beinahe erstickt hatte.
 

Das war das eigentlich Bittere daran. Es war keine Badewanne gewesen, die ihm Angst vor größeren Mengen an Wasser verschafft hatte. Nein, Riko hatte eine Kanne und ein Tuch genommen, um das Ertrinken zu simulieren. Er hatte seinen Kopf nicht unter Wasser gedrückt und dennoch hatte es Jean so nachhaltig traumatisiert, dass er in den Tagen danach noch nicht einmal etwas hatte trinken können.
 

Er hatte sich geweigert, auch nur einen Tropfen zu sich zu nehmen, weil er solche Angst gehabt hatte, dass es wieder passierte. Damals war es Day gewesen, der ihn mit Geduld und Strenge wieder dazu gebracht hatte, etwas trinken zu können.
 

Jean schluckte und berührte mit seinen Fingerspitzen das Wasser des Whirlpools. Hier gab es niemanden, der ihm das antun würde. Sie respektierten seine Scheu vor Wasser und er lernte, mit der direkten Nähe der Wellen am Strand zu leben.

Sacht fuhr Jean mit seinen Fingerkuppen über die Wasseroberfläche und beobachtete die Wellen, die er damit verursachte. Es fühlte sich weich und warm an und er fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er in der riesigen Badewanne säße und die Massagefunktion anschaltete, die sein Team so liebte.
 

Wenn er es denn könnte.
 

Doch was hielt ihn davon ab, es zu versuchen? Die Trojans schliefen alle und er könnte ungehindert ein- und wieder aussteigen, wenn es zuviel wurde. Niemand würde sehen, wenn er Angst hatte und sie gegen ihn verwenden. Niemand würde sehen, wenn er nach Sekunden wieder aus der Wanne musste, weil die Erinnerungen zu stark wurden.
 

Jean tauchte seine Hand unter und hielt sie einen Augenblick lang dort. Der Pool wechselte von blau auf grün und tauchte sie in ein sanftes Licht. Er lauschte in sich hinein und hörte auf das Wispern der Angst, das ihn davon abhalten wollte, in den Pool zu steigen.

Er begegnete dem stur und nutzte die vorherig friedvolle Stimmung, in der er sich befunden hatte um sich die Kleidung vom Körper zu streifen. Er hatte zwar keine Schwimmbekleidung wie der Rest seines Teams, jedoch sollte es seine Boxershorts auch tun, auch wenn ihm das im ersten Moment viel zu kalt war. Zu ungewohnt und zu kalt.
 

Die ersten Zweifel meldeten sich an, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war, doch er ignorierte sie. Lieber stieg er die Holztreppe hoch und stellte ein Bein in den Whirlpool. Sein Herz schlug schneller und Jean schlang auch das zweite Bein in die Wanne, stand nun bis zu den Knien im Wasser.
 

Das war mehr als er jemals in den letzten Jahren getan hatte. Jean starrte auf das Wasser und ging vorsichtig einen Schritt bis zur Sitzecke am rechten, äußeren Rand. So hatte er das Haus im Blick und konnte schnellstmöglich den Pool verlassen, wenn es notwendig sein würde.

Langsam ließ er sich nieder und hatte einen Moment lang das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Zuviel Wasser, zu viele Erinnerungen, zu viel Schlimmes, das ihm angetan worden war.
 

Er hörte Rikos Stimme und das Lachen des Ravens, als er sich gegen das Gefühl des Erstickens gewehrt hatte. Er spürte das Brennen seiner Lungen und das Zucken seiner Glieder, im Phantomschmerz, den Fesseln zu entkommen.

Er saß hier und schnappte nach Luft. Quälende Sekunden ging das so und aus den quälenden Sekunden wurden Minuten, in denen er seiner Vergangenheit hilflos ausgeliefert war.
 

Seine Angst schrie ihn an, dass er raus aus dem Wasser sollte. Er wiederum schrie seine Angst an, dass er fertig damit war, sich vor etwas Alltäglichem zu fürchten. Riko war tot, er selbst lebte. Er erlebte soviel, wie er in neun Jahren nicht erlebt hatte. Er genoss das Leben in vielen Momenten. Es war Zeit, dass er dieses Trauma hinter sich ließ.

Wieder und wieder sagte Jean sich das, kämpfte mit und gegen sich selbst.
 

Es dauerte, doch dieses Mal war er erfolgreich. Er war sturer. Er war stärker. Er war Jean Moreau. Er war ein Mensch. Sein eigener Mensch, nicht der Besitz eines Anderen.
 

Schlussendlich kam Jean zur Ruhe und er lehnte angespannt an dem warmen Kunststoff des Whirlpools. Seine Hände hatten sich in die Halterungen gekrallt und entkrampften sich nur langsam. Seine Atmung kehrte zu einem normalen Tempo zurück und Jean gestattete sich den Gedanken, dass er es tatsächlich getan hatte. Er saß hier im Wasser. Er hatte es geschafft, sich davon zu überzeugen, dass er nicht in Gefahr war. Er hatte es geschafft, sich davon zu überzeugen, dass Riko tot war und ihm nicht mehr wehtun konnte.
 

„Ich lebe“, wisperte er und schluckte schwer. Erleichtert atmete er ein. Er lebte tatsächlich und bereicherte sein Buch wieder mit einem neuen, ersten Mal, insbesondere, da er jetzt den Massagemodus einschaltete und überrascht einen Satz nach vorne tat, als die Düse ihn am Rücken kitzelte. Kritisch starrte er auf das blubbernde Wasser und setzte sich dann vorsichtiger wieder zurück, so wie er es auch beim Rest seines Teams beobachtet hatte.

Mit etwas mehr Zeit war es schön. Es war angenehm und entspannend. Es lockerte seine Muskeln und machte sie nachgiebig.
 

Jean ließ sich einlullen von dem rhythmischen Blubbern, er ließ sich einfangen von dem Anblick der hell leuchtenden Sterne über ihm. Er ließ sich einfangen von der Ruhe und Einsamkeit, die ihn umgab.
 

Sein Zeitgefühl sagte ihm, dass er eine Stunde im Whirlpool war, bevor ihm die Augen zufielen und er die Massagefunktion ausstellte. Vielleicht konnte er jetzt in Anwesenheit des anderen Jungen auf ihrem Zimmer schlafen.
 

Jean hoffte es wirklich und schlang eines der Handtücher um sich, die neben dem Whirlpool bereitlagen. Er ging nach oben und hinterließ nasse Fußabdrücke auf dem Holzboden, die er mit nachdenklichem Stolz zur Kenntnis nahm. Es waren seine.
 

Weil er in einem Whirlpool war.
 

Beschwingt von der Erkenntnis betrat er vorsichtig und leise ihr Zimmer und blieb stehen. Er schnaubte amüsiert, als er sah, dass Knox sich anscheinend im Schlaf an den Kissen zu schaffen gemacht und ein weiteres an sich gerafft hatte, das er nun vor seiner Brust gepresst hielt, während er auf dem Rücken lag.
 

Damit hatten sie nun keine wirklichen Kissen mehr zwischen sich und Jean schüttelte innerlich seufzend den Kopf. Für die paar Stunden leichtem Schlummer würde er es ertragen, zumal er nun auch nicht mehr auf den Gedanken kommen würde, Knox oder seine Hände anzufassen.
 

Es war okay und es war okay, dass es okay war.
 

~~**~~
 

Jeremy glitt langsam von seiner Traumwelt in eine seichtere Ebene seines Bewusstseins. Er wachte ohne Hast auf, bedächtig und entspannt kam sein Geist zurück in die Welt der Wachen. Ganz ohne Wecker und ohne Zeitdruck gönnte er sich einen langen Moment der kuscheligen Wärme, der absoluten Entspannung und des Wohlseins.
 

Er hatte gut geschlafen und noch viel besser geträumt, von Schneewanderungen und dem Lächeln auf schmalen Lippen, die er so attraktiv fand. Er hatte von Schneeballschlachten und Weihnachtsessen geträumt und von französischen Worten, die er in der ihm immer noch fremden Sprache leichtfüßig und fließend gesprochen hatte.
 

Die wohlige Wärme und vielleicht auch ein wenig seine drückende Blase waren es letzten Endes, die ihn die Augen öffnen ließen, weil etwas an seinen Gedanken zog, das er zunächst nicht genau identifizieren konnte. Was es war, erschloss sich ihm erst nach ein paar Sekunden des Rätselns.
 

Die Wärme, die ihn umfangen hatte, kam von einem Körper, der ihn fest an sich gepresst hielt, angefangen bei der Vorderseite des Bettkuschlers, die sich so eng an seinen Rücken presste, dass kein Blatt Papier zwischen ihrer beider Körper passte. Er wurde durch einen Arm gehalten, der seinen Oberkörper entschlossen und unnachgiebig an den anderen Menschen presste, der hinter ihm lag und dessen ruhiger Atem Jeremy über das Ohr strich.
 

Allan, war Jeremys erster Gedanke, doch der wurde beinahe mit Geburt absurd. Allan war nicht mehr da, er war auch nicht hier. Doch die Alternative war noch viel viel absurder. Viel viel viel absurder.

Jeremy schielte zu dem Arm, der ihn an den anderen Körper gepresst hielt und er erkannte sowohl den Schlafanzug als auch die Finger der Hand. Zweifelsfrei identifizierte er beides und er erstarrte.
 

Oh.
 

Oh.
 

OH.
 

Der Junge, der ihn so fest an sich gepresst hielt, war Jean. Ausgerechnet Jean, der tief schlafende Jean, dessen Brustkorb sich im Takt seiner Atmung hob und senkte. Er hielt Jeremy, wie Jeremy es liebte, umarmt zu werden. Entschlossen und eng, vertraut und intim.

Wie sie in der Nacht zusammengefunden hatten, konnte Jeremy auf Teufel komm raus nicht sagen. Wieso Jean ihn umarmte, ebenfalls nicht. Oder ob er sich in diese Umarmung gestohlen hatte. Letzteres wäre eine Katastrophe, wenn der andere Junge aufwachte, doch irgendwie glaubte Jeremy nicht daran.
 

Jeans Arm war ein sanftes, diktatorisches Gefängnis, das ihn freiwillig an sich gepresst hielt.
 

Jeremys Herz quoll über vor Liebe für diesen Augenblick und für den Jungen, der sich ihn anscheinend unbewusst im Schlaf als Kuscheltier ausgesucht hatte. Es quoll über vor Zuneigung und auch Begeisterung, dass es möglich war, dass sie sich so nahe waren. Es quoll jedoch auch über vor Aufregung, was passieren würde, wenn Jean aufwachte.
 

Was schneller geschehen würde, als es Jeremy lieb war, denn seine Blase meldete nun dringenden Bedarf eines Badezimmerbesuches an. Lautlos fluchte er in jeder Sprache, die er kannte. Das durfte doch nicht wahr sein, nein nein nein. Verdammt, ausgerechnet jetzt, oh nein, verdammt. Er wollte hier nicht weg, aber er musste. Wortwörtlich und im übertragenen Sinn.
 

Das Schicksal musste ihn hassen. Wirklich hassen.
 

„Jean“, sagte Jeremy so leise und beruhigend, wie er es vermochte um den Jungen hinter sich aufzuwecken und ihn nicht zu verschrecken oder zu überfordern. Nichts tat sich, der Atem ging noch nicht einmal anders.

Oh Gott.

„Jean“, versuchte er es lauter und der andere Junge regte sich, doch noch war keine wirkliche Wachheit zu erkennen.

„Mr. Gewitterwolke“, brummte er tiefer als sonst. „Ich weiß, dass das gerade sehr bequem ist und dass ich dich aus deinem wohlverdienten Schlaf hole, aber ich muss wirklich dringend zum Klo“, sagte er langsam und die Atmung änderte sich. Die Muskeln waren weniger entspannt als vorher, etwas, das Jeremy jetzt erst auffiel.
 

Daran erkannte er, dass Jean wach wurde. Ein minimales Zucken ging durch den Körper des Backliners.
 

„Jean, ich komme gleich gerne wieder zurück, aber es wäre gut, wenn du mich jetzt einen Moment loslassen würdest“, sagte Jeremy mit einem leidenden Blick aus dem Fenster und ein entsetztes Aufkeuchen antwortete ihm, begleitet von einem panischen Zurückzucken des Arms, der ihn so wunderbar gehalten hatte, und einer kühlen Leere genau dort, wo vorher ihrer Körper verbunden gewesen waren.
 

~~~~~~~
 

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe euch schon lange nicht mehr mit einem Cliffhanger beschenkt. Was soll ich sagen? Bitteschön! :)))) Hab euch lieb und so. :-* Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Niua-chan
2021-04-21T11:03:57+00:00 21.04.2021 13:03
Jean ist in den Whirlpool gegangen o,O
Wie du die Gedanken von ihm beschrieben hast war sehr eindrücklich und nachvollziehbar. Dadurch bin ich wieder einmal über seine Fortschritte erstaunt.
Ich bin schon sehr gespannt wie du nach diesem Cliffhanger die Situation weiter schreibst. Aber Jeremys Fluch über seine Blase kann ich gut nachvollziehen, das Ding ist echt ne Zicke XD

Antwort von:  Cocos
21.04.2021 23:51
Ja, Jean ist in den Whirlpool gegangen! Der Mutige, der Neugierige! :)))

Die Fortschritte kommen langsam, aber stetig. Dass er ein Team hat, das ihm Raum und Sicherheit hat, hilft da natürlich auch, auch wenn es gerade nicht direkt körperlich anwesend ist.

Ja, die !&%$§-Blase. Jeremy wird sich da noch ewig drüber ärgern, aber wer weiß, wozu es führt. :D *eg* Neuer Teil kommt - allerdings nicht mehr diese Woche leider.


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