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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Uff. So Leute, hat etwas länger gedauert, sorry! Dafür ist der Teil aber auch etwas länger und.... ach lest selbst. ;) Komplett anzeigen

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A Christmas Carol

Jean vergrub seinen Kopf in den dicken Schal, den er um sich geschlungen hatte. Es war windig geworden und kühl auf dem Dach ihres Hauses, auf das er sich zurückgezogen hatte um mit Andrew telefonieren zu können. Ajeet hielt Knox mit Hausaufgaben beschäftigt, so hatte er sich davonstehlen können ohne einen Verdacht zu erregen.
 

Unwirsch verzog er seine Lippen und wählte Andrews Nummer, ging gleich in den Videochat, weil er sehen wollte, ob jemand im gleichen Raum wie der blonde Junge war. Bei seinem Glück war es am Ende auch noch Day…
 

Wie immer klingelte es nicht lange, bis Andrew abnahm und er dem ausdruckslosen Gesicht begegnete. Er sagte nichts, sondern hob nur seine Augenbraue. Natürlich. Andrew war kein Smalltalkmensch.

„Bist du alleine?“, fragte Jean direkt und Andrew verdrehte die Augen. Er sah zur Seite und schnalzte mit der Zunge.

„Raus.“ Ein einzelnes, unterkühltes Wort reichte um Proteste seiner Mitbewohner auszulösen. Day, wenn Jean sich nicht verhört hatte, und Hemmick. Andrew warte, bis die Tür hinter den Beiden zufiel und wandte seine Aufmerksamkeit dann vollständig Jean zu.

„Was willst du?“, fragte er und nur ein unaufmerksamer Mensch hätte die Ausdruckslosigkeit mit Desinteresse verwechselt.
 

„Wann hast du gemerkt, dass du Josten liebst?“, kam er direkt zur Sache und Andrews Schweigen wandelte sich in etwas Anderes, etwas weniger Andrew-artiges. Es wurde abweisender, ja geradezu feindseliger.

„Dummes, dummes Rabenkind“, spottete der andere Junge schließlich und legte auf, ließ Jean perplex zurück.
 

Was…? Jean blinzelte. Wieso hatte Andrew einfach aufgelegt? Das hatte er noch nie getan. Warum spottete er über seine Frage, die doch nur etwas Offensichtliches ansprach? Unsicher starrte Jean auf sein Telefon und senkte die Hand, die es hielt. Aber sie hatten doch immer ehrlich miteinander gesprochen und sich die Wahrheit gesagt. Die Fragen, die Andrew gestellt hatte, waren ebenso offen gewesen, schmerzhaft gar.
 

Frustriert trat Jean ein kleines Steinchen von sich weg. Andrew war der Einzige, den er fragen konnte, was sein Problem anbetraf. Renee war nie in solch einer Situation gewesen und er wollte niemanden aus seinem Team mit seiner Vergangenheit belästigen.

Brian wäre auch eine Lösung, aber Brian war sein Therapeut. Er war niemand wie er. Jemand, der überlebt hatte.
 

Er überlegte, ob es Sinn machte, Andrew noch einmal anzurufen und entschied sich dagegen. Die Abneigung in dem sonst so emotionslosen Gesicht hatte gereicht und was wollte er dem blonden Jungen dann sagen? Dass er das Gefühl hatte, trotz allem auf Männer zu stehen? Nur um dann vermutlich noch ausgelacht zu werden?
 

Bittere Enttäuschung erfüllte Jean und er steckte sein Handy in die Tasche seines Hoodies. Die Kälte des Abends schlug ihm ins Gesicht und bittere Hoffnungslosigkeit zerrte mehr an ihm, als er es zuzugeben bereit war.

Abrupt drehte er sich um und ging zurück zum Aufgang, als sein Handy nochmal klingelte. Widerwillig nahm Jean es aus der Tasche und sah Andrews Namen und trotz seiner Gefühle zögerte er, den Anruf entgegen zu nehmen.
 

Schlussendlich tat er es trotzdem und es wunderte ihn nicht, dass Andrew kein Interesse daran hatte, in einen Videocall zu gehen.

Jean hörte, wie der blonde Torhüter Luft einzog, und er konnte förmlich vor sich sehen, wie er rauchte.

„Wer?“, fragte Andrew schlicht und Jean runzelte die Stirn.

„Was meinst du?“

„Wer dein französisches Herzchen erobert hat.“
 

Als er gegen seinen Willen zu den Foxes gebracht worden war, hätte er Andrews Taktik der Ablenkung mit Sicherheit nicht verstanden. Er hätte die Worte genommen, wie sie ihm gegenüber geäußert worden wären, in der Hoffnung, dass sie wahr wären. In er Hoffnung, sie zu verstehen.

Nicht jetzt, denn er hatte Monate menschlichen Miteinanders hinter sich. Er hatte Taktiken beobachtet und hinterfragt, er hatte gelernt.
 

„Wer sagt, dass dem der Fall ist?“, stellte er die Gegenfrage und Andrew schnaubte.

„Du rufst an und fragst nach Liebe. Was sollte sonst der Fall sein?“ Brutal und ehrlich, zumindest, wenn es um andere ging. Jean grollte und verfiel dann in ein unerfreutes Schweigen. Jetzt, da Andrew doch da war, wusste er nicht, wie er formulieren sollte, was er wissen wollte. Vielleicht sollte er mit dem Grundlegenden anfangen.

„Ich brauche Antworten.“

„Ich bin nicht deine Antwort.“

„Nein, aber du hast Antworten für dich gefunden.“
 

Das brachte Andrew zunächst zum Schweigen. „Habe ich?“, fragte er schließlich lauernd und Jean schnaubte.

„Ja, hast du. Josten ist deine Antwort und hör auf mit dem Bullshit, er wäre es nicht. Er tut alles für dich und du für ihn.“

Andrew schnaubte. „Und du glaubst, dass du deinen Josten in wem gefunden hast?“
 

Jean stellte fest, dass er tatsächlich dankbar war, dass sie sich nicht sahen. Es reichte ihm, die Stimme des anderen Jungen zu hören, die Wahrheiten von ihm hören wollte, derer er sich nicht sicher war.

„Ich darf sie in ihm nicht gefunden haben, er ist der Kapitän“, erwiderte er und Andrew grollte.

„Natürlich. Hat Captain Sunshine dir das eingeredet, dass ihr euch mögt? Hat er dich angefasst?“

Irritiert runzelte Jean die Stirn. „Er weiß gar nichts davon und er hat mich mit Sicherheit zu nichts überredet.“

Andrews nichtssagender Laut schwebte für lange Momente als Einziges zwischen ihnen und Jean rätselte über die Bedeutung dessen. War es Zustimmung, Ablehnung, was war es?
 

„Du hast dich also in den Erstbesten verguckt, der dir etwas Gutes getan hat“, schnarrte der blonde Torhüter schließlich und nun war es an Jean zu grollen.

„Renee mag ich nicht auf diese Weise und dich würde ich ja noch nicht einmal mit der Kneifzange anfassen“, erwiderte er empört.

„Ist das so?“, fragte Andrew lauernd und Jean konnte den seltsamen Unterton nicht wirklich identifizieren, der die Frage begleitete.

„Ja.“

„Wo soll ich dir etwas Gutes getan haben?“, hakte Andrew nach und Jean rollte erneut mit den Augen.
 

„Du bist nicht wie er“, kam er schließlich zum eigentlichen Punkt und nahm seine Runden auf dem Dach wieder auf. Die Sonne schien, halb verdeckt von Wolken und Jean spürte merklich den kalten Wind, der durch seinen Hoodie drang. Es roch nach Regen und Jean atmete tief ein. Er mochte den Geruch sehr.

„Er ist…die Sonne. Er strahlt, wenn er einen Raum betritt und er ist unschuldig. Er hat nichts Böses an sich.“

„Jetzt triffst du mich aber tief“, schnarrte er. „Habe ich etwas Böses an mir?“

„Sag du es mir, wie es sich mit Muttermördern verhält.“

„Es war ein Autounfall.“

Jean lachte kurz, verfolgte das Thema aber nicht weiter. Er verstand Andrews Vorsicht, denn Riko hätte jederzeit versucht, dem anderen Jungen mit einem Geständnis das Leben zur Hölle zu machen.
 

„Er ist anders als du und bevorzugst du kleine, rotbraune, lebensmüde Idioten“, schloss er das Thema. „Aber wie kann ich ihn überhaupt bevorzugen, nachdem, was passiert ist? Er ist ein Junge und er ist mein Kapitän.“

„Aus welchem Grund sollten das Ausschlussgründe sein?“
 

Jean schwieg. Das war doch eine rein rhetorische Frage, oder? Schließlich kannte Andrew seine Vergangenheit bereits. Doch je länger der andere Junge auf eine Antwort wartete, desto mehr wurde Jean bewusst, dass das eben nicht klar war. Hilfesuchend sah er zum Himmel.

„Wieso favorisiere ich immer noch Männer, nachdem, was passiert ist? Wieso mache ich den gleichen Fehler noch einmal? Er kann über mich bestimmen, er kann mir Befehle erteilen. Auch auf…intimste Art und Weise.“
 

Andrew brummte und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette.

„Willst du eine ehrliche Antwort?“

„Wenn nicht, würde ich Josten fragen.“

„Autsch.“

„Sag mir, dass ich nicht Recht habe.“

„Dann müsste ich lügen.“

„Ich hasse euch beide.“

„Kluges Findelkind. Also?“

„Ja.“
 

Andrew nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarette und schaltete dann um auf Videoanruf. Überrascht nahm Jean die Aufforderung an und die hellbraunen Augen waren eine beruhigende Insel der Ausdruckslosigkeit in Jeans aufgewühlter Gefühlswelt.

„Machen Männer dich an?“

„Nicht alle.“

„Aber Captain Sunshine?“

„Und die Männer aus dem Video, das Renee mir geschickt hat.“

Andrew hob vielsagend die rechte Augenbraue. „Willst du ihm körperlich nahe sein?“

„Das weiß ich nicht.“
 

Andrew seufzte so langgezogen, als hätte Jean die dümmstmögliche Antwort gegeben. Jean erkannte diese Art des Seufzens wieder und eigentlich hatte es bisher immer Josten gegolten, wenn dieser einen seiner Exy-Schwärm-Momente gehabt hatte. Die Reaktion schmerzte Jean und unwirsch verzog er die Lippen. Nun war er es, der überlegte, aufzulegen, entschied sich aber dagegen. Teil seiner Gespräche mit Brian war die offene, ehrliche Kommunikation über seine Bedürfnisse, nicht die Flucht aus eben solchen.
 

Resolut atmete er durch und stählte sich für das, was kommen mochte. „Ich weiß nicht, wem ich sonst diese Fragen stellen kann. Ich weiß, dass ich nicht so erfahren bin in solchen Dingen wie du, aber ich brauche eine Antwort und dein Spott demütigt mich“, presste er ehrlich hervor und sah nach unten, weg von den hellen Augen, deren Ausdruckslosigkeit ihm zuviel war in diesem Moment.

Andrew seufzte erneut, doch dieses Mal fehlte der Spott. Es war eher ein Schnaufen.

„Sieh mich an, Moreau“, sagte er sonor und es brauchte seine Sekunden, bis Jean die Kraft und den Mut dazu hatte.
 

„Würdest du ihm deine Autoschlüssel geben?“

Überrascht schossen Jeans Augenbrauen in die Höhe. Was sollte diese Frage denn jetzt? Was hatte das mit seinen Worten zu tun?

„Wieso fragst du das?“

„Um mit dir herauszufinden, ob du deinem Kapitän an die Wäsche willst.“

Die direkte Art der Formulierung ließ Jean schlucken. So klang es… fürchterlich pornographisch.

„Ich möchte ihn in meiner Nähe haben. Das klingt, als wäre mein einziges Ziel, mit ihm zu schlafen.“

„Das Eine kann zum Anderen führen. Also. Autoschlüssel?“
 

Jean entschloss sich, das Frage-und-Antwort-Spiel mitzuspielen, hatte er ja auch nicht wirklich eine Wahl, wenn er eine Lösung für sein Problem haben wollte.

„Mein Auto kommt erst in drei Monaten. Aber ich denke, dass er es auch fahren möchte, wenn er eingewiesen wurde.“ Jean dachte an das bleiche und gleichzeitig begeisterte Gesicht seines Kapitäns zurück, mit dem er den Sportwagen gemustert hatte.

Andrew nickte knapp.

„Würdest du ihm einen Wohnungsschlüssel deiner zukünftigen Wohnung geben?“

Diese Antwort fiel ihm wesentlich leichter, denn er wollte nicht alleine sein. „Ja, das würde ich.“

„Wenn er dich um etwas bittet, würdest du ja sagen?“

„Ja.“ Nicht, dass Knox um viel bat.

„Egal was?“

Jean überlegte. Er würde vieles für Knox tun, aber nicht alles. „Nein… ich hätte Grenzen.“ Zumindest theoretisch.

„Ist er dein Notfallkontakt im Handy?“
 

Stirnrunzelnd warf Jean einen Blick auf besagtes Gerät, als könnte es ihm so eine Antwort geben. „Was ist ein Notfallkontakt?“, hakte er denn nach und Andrew gab sich größte Mühe, dieses Mal nicht mit den Augen zu rollen.

„Jemand auf einer Schnellwahltaste, der angerufen wird, wenn dir etwas passiert. Wenn du zum Beispiel im Krankenhaus landest.“

„Ich komme nicht ins Krankenhaus.“

„Das bleibt abzuwarten und es geht hier ums Prinzip. Also?“

„Vielleicht würde ich wollen, dass sie ihn zuerst anrufen.“

„Erlaubst du ihm, dich zu berühren oder berührst du ihn?“
 

Jean nickte. „Beides und es passiert häufiger. Er hat zum Beispiel…“

Andrew schnalzte laut und scharf mit der Zunge. „Verschone mich mit den glorreichen Details. Ich will nur wissen, ob.“

„Ja“, bekräftigte Jean erneut und verzog beinahe schmollend die Lippen.

„Würdest du in der Dusche für ihn auf die Knie gehen und ihm einen blasen?“
 

Was?!

Jean blinzelte, als er versuchte, in der Frage einen anderen Sinn zu erkennen, als er ihn gerade gehört hatte. Doch die Gnadenlosigkeit von Andrews Ehrlichkeit ließ ihn nicht, sie ließ ihm keinen Ausweg aus der Frage und dem Wissen, das sein Team ihm in dem Club eingetrichtert hatte.

Seine Lippen öffneten und schlossen sich. Verlegen sah er zur Seite.

„Ich weiß nicht?“, stellte er schließlich die Gegenfrage und es war genau das. Er wusste nicht, ob er das tun könnte. „Ich habe das noch nie getan.“
 

Sein leises Eingeständnis pausierte ihre Unterhaltung für wenige Sekunden, aber lange genug, dass sie beide sich erneut fangen und die Vergangenheit ruhen lassen konnten.
 

„Wann hast du gemerkt, dass du Josten interessant findest“, fragte Jean und Andrew hob die Augenbraue.

„Seit wann ist der Junkie für dich interessant?“

Nun war es an Jean, alleine durch seine Mimik zu zeigen, dass Andrew ihn nicht verarschen sollte.

„War es bevor oder nachdem du ihn unter Drogen gesetzt hast?“, hakte er nach und erntete ein böses Lächeln dafür. Böse genug, dass Jean wusste, wie sehr er getroffen hatte.

„Also vorher“, beantwortete er seine eigene Frage und grinste herausfordernd und nun war es Mordlust, die die hellbraunen Augen noch ein Stückchen heller werden ließen.
 

„Jean, Valjean“, tadelte Andrew und schnalzte mit der Zunge, während er zu seinem kontrollierten Ich zurückkehrte. So hatte er Jean bei ihrem ersten Zusammentreffen genannt, während er ihm seine gerade geheilten Finger derart gequetscht hatte, dass Jean noch Tage später Schmerzen gehabt hatte. Von Minyard und von Riko, der ihn für Kevins Verrat bestraft hatte.
 

„Gehen wir doch mal davon aus, dass das Thema du und dein Sonnenschein sind und nicht ich und der Junkie… was spricht für dich gegen ein nettes Stelldichein mit ihm?“

„Er kann mich dazu zwingen“, wiederholte Jean und atmete tief aus.

„Aus welchen Gründen könnte er dich zwingen?“

„Er ist mein Kapitän.“

„Und weiter?“

Jean musste wirklich überlegen, ob es noch einen Grund dafür gab, doch ihm wollte so recht nichts einfallen.

„Sonst gibt es keinen Grund.“

„Aus welchem Grund könnte er dich nicht zwingen?“
 

Stirnrunzelnd ließ er sich diese viel schwierigere Frage durch den Kopf gehen.

„Er ist unschuldig. Also nicht in dem Sinn, sondern er weiß nicht, wie man sich schlägt. Er hat sich noch nie geprügelt und er verabscheut Gewalt. Seine Familie liebt ihn und er liebt sie. Seine großen Brüder ärgern ihn und er wird nicht wütend darüber.“

Andrew schauderte und würgte. „Das ist ekelhaft.“

Irritiert schnaufte Jean. „Warum?“

„Bilderbuchfamilien sind widerlich.“
 

Jean ließ das so stehen und dachte auf den Gründen herum, die ihn von Knox fernhalten würden.
 

„Was mache ich denn, wenn er etwas möchte, was ich nicht möchte?“

„Dann sagst du nein. Du hast das Recht, nein zu sagen. Du hast das Recht, dich zu wehren.“

Es machte tatsächlich einen Unterschied, ob Jean es erlebte oder ob Andrew es ihm in all der klaren, disziplinierten Einfachheit noch einmal sagte.

„Und was, wenn ich die Trojans dann verlassen muss? Ich möchte sie nicht verlassen, sie sind…gut zu mir.“

„Jean, Valjean, Teil der Gummibärenbande“, rollte Andrew mit den Augen und er zischte.

„Das ist nicht das Thema.“

„Nein, das Thema ist, dass es so nicht läuft. Du wirst kein College wechseln, nur weil es eventuell nicht zwischen euch funktioniert. Du wirst nicht nach Evermore zurückgeschickt, wenn du nicht das willst, was dein Kapitän will. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass ihr euch trennt und euch aus dem Weg geht.“

„Ich mag seine Gegenwart.“

„Das ist kein Grund, nicht zu versuchen, ihm näher zu kommen.“
 

War es tatsächlich so einfach? Nähe zu versuchen? Nähe zu erhalten? Wenn Knox ebenso empfand, hieß das und das stand noch auf einem ganz anderen Blatt. Doch diese Frage würde er nicht Andrew stellen.
 

Jean schnaufte. „Bist du glücklich mit Jostens Anwesenheit?“

„Er lebt noch“, erwiderte Andrew ohne Regung und Jean erkannte mit einem Mal ein Muster. Es war ihm vorher nicht bewusst gewesen, aber jetzt, wo es ihm klar geworden war, machte es Sinn. Für Menschen wie Andrew…und auch ihn. Menschen, deren Gefühle gegen sie verwendet worden waren und die missbraucht worden waren.
 

Er hatte vergessen, was Liebe war und Andrew hatte sie nie erfahren, auch wenn die Familien, in denen er aufgewachsen war, immer ein Hort der Liebe gewesen sein sollten. Eigentlich. Anstelle dessen hatte er eine Perversion dessen erfahren und deswegen sollte Jean es nicht wundern, wenn Andrew jedem Gespräch auswich, das in diese Richtung ging.
 

„Ich verstehe“, sagte er und nickte, ganz zu Andrews Unbill.

„Schön für dich, Findelkind“, zischte er und Jean lachte amüsiert. Andrew musste das tun und Jean war mehr als bereit dazu, ihm diesen Freiraum zu geben.
 

„Ich bin dir dankbar, dass du mich am Leben erhalten hast. Sowohl im Haus der Krankenschwester als auch danach. Und ich bin dir dankbar, dass du meine Fragen beantwortest“, sagte er offen und ließ diese Ehrlichkeit auch auf seinem Gesicht stehen. Dass der andere Junge damit ebenso wenig umgehen konnte wie mit der Wahrheit über sich und Josten, sah Jean und deswegen kommentierte er das nicht weiter.
 

„War das alles?“, brummte Andrew und er nickte lediglich und wissend.

„Ja, für den Anfang war es das. Ich komme dann später nochmal auf dich zu“, sagte er mit einer großen Portion Ironie und Überraschung kolorierte das sonst so ausdruckslose Gesicht. „Grüße den Junkie von mir.“

„Grüß ihn selber, du hast seine Nummer“, grollte er und Jean nickte.
 

Das Gefühl, dass er es geschafft hatte, hinter Andrews Mauern zu kommen, war definitiv da und Jean spürte so etwas wie Zuneigung in sich, die immer noch anhielt, als der andere Junge schon längst aufgelegt hatte.
 

~~**~~
 

Jean hatte kein gutes Verhältnis zu Weihnachten.
 

In Evermore hatte Riko Feiertage zum Anlass genommen, sich besonders an ihm auszutoben oder ihm pervertierte Geschenke zu machen. Von einem behüteten Weihnachten in Gegenwart seines Vaters und manchmal seiner Mutter war er in eine feindliche Umgebung gestoßen worden, die ihm jedes Vertrauen an diesen Feiertag genommen hatte. Diesen und viele andere.
 

Jean war entschlossen, diese schlechten Erinnerungen dieses Jahr hinter sich zu lassen und das anzunehmen, was nun kommen würde. Die positive Form dessen, die er bei einer Familie verbringen würde, die sich liebte. So war zumindest die schöne Theorie gewesen, untermalt von kitschigem Weihnachtsschmuck und noch viel kitschigerer Weihnachtsmusik. Die fürchterliche Praxis sah aber ganz anders aus, wie Jean mit jeder Minute erkannte, die er im Haus seines Bruders und Vaters verbrachte.
 

Kitschige Weihnachtsdekorationen, die in ihm Verachtung hervorriefen, suchte er hier vergebens. Der dezent geschmückte Baum in Rot und Gold überragte selbst ihn um gut einen Kopf und war dicht und ausladend. Es roch nach den Nadeln und überall waren Kerzen und Weihnachtsfiguren, die das ungemütliche Wetter draußen hinter den Fenstern fernhielten. Leise, ruhige Musik spielte im Hintergrund und lockte Jean mit ihrer Gemütlichkeit. Sein Blick fiel auf einen Weihnachtsmann und er schluckte schwer, als er den weißen, ein wenig in die Jahre gekommenen Rauschbart sah. Er erkannte diesen Weihnachtsmann. Jahrelang hatte er ihn begleitet. Jahrelang hatte Jean sich vorgestellt, dass so der richtige Weihnachtsmann aussah, mit roten Backen, einem fröhlichen Lächeln und einem langen, weißen Bart.
 

Manchmal hatte er das Gefühl, dass diese Figur schon vor seiner Geburt dagewesen war.
 

„Mon frère?“
 

Blinzelnd tauchte Jean aus seinen bittere Gedanken auf und sah auf Louis hinunter, der ihn mit großen Augen anstarrte. Jean las Sorge in ihnen und er räusperte sich.

„Alles in Ordnung“, log er, um seinen Bruder nicht zu verschrecken und versuchte sich an einem Lächeln. Das war einfach, denn so wie Knox seinen fürchterlichen Tannenbaumpullover trug, trug Louis einen nicht minder schrecklichen Rentierpullover.

„Nein, ist es nicht! Du trägst keinen Weihnachtspullover. Dann kann der Weihnachtsmann gar nicht sehen, wo er deine Geschenke hinbringen soll“, grimmte sein kleiner Bruder und Jean blinzelte. Einen Moment lang wusste er nicht, was er mit den Worten anfangen sollte, doch dann wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass Louis vermutlich noch an den Weihnachtsmann glaubte.
 

Herrje.
 

Wie gut, dass die Geschenke in einer undurchsichtigen Tüte waren und sich außerhalb von Louis‘ Blickfeld im Auto befanden.
 

Hilflos sah Jean zu Knox und von dort aus zu seinem Vater, der liebevoll schmunzelte und dann auf den Tisch deutete, der unweit von ihnen im Essbereich stand. Er hatte ihn ebenso weihnachtlich eingedeckt und Jean erkannte zwei Kuchen. Wer sollte das alles essen?
 

„Papa hat sie selbst gebacken!“, grinste Louis stolz und Jean schluckte. Seit wann backte sein Vater? In Marseilles war das nie der Fall gewesen.

„Ich habe es gelernt, nachdem wir hierhin gezogen sind und ich uns selbst versorgen musste“, erläuterte eben jener, als hätte er seine Gedanken gelesen und Jean schluckte die bitterbösen Worte hinunter, die ihm auf der Zunge lagen.

„Jean hat für uns einen tollen Nachtisch gemacht“, holte ihn Knox beinahe schon mühelos von ihnen weg und das sanfte Lächeln auf dem Gesicht seines Vaters schmerzte Jean mehr, als er zuzugeben bereit war.

„Ist das so?“

„Einmal“, gestand Jean widerwillig ein.

„Was war es denn?“, fragte der ältere Mann und Jean sah ihm kurz in die Augen. Es fiel ihm wie immer schwer, über alltägliche Dinge mit seinem Vater zu kommunizieren.

„Tiramisu.“

„Ich liebe Tiramisu!“, warf Louis begeistert ein.

„Ich liebe Jeans Tiramisu“, warf Knox ein. „Das war sehr lecker!“

Zwinkernd schob sich der blonde Junge an seine Seite und Jean seufzte innerlich. Der Schnelligkeit nach zu urteilen, mit der die gefräßigen Bestien am Tisch den Nachtisch damals verschlungen hatten, hatte es geschmeckt, ja.
 

Jean ging langsam zum Tisch und ließ sich vorsichtig auf einen der Stühle nieder. Knox saß ihm gegenüber, genauso wie sein Vater. Louis hatte sich den Platz neben ihm reserviert und strahlte glücklich.

„Machst du das nächste Mal für mich auch ein Tiramisu?“, fragte er und Jean hob die Augenbraue.

„Vielleicht“, erwiderte er mit einem minimalen Schmunzeln und spürte, wie die schlimmste Anspannung etwas wich, das Jean als Schüchternheit klassifizieren würde. Seit Jahren saß er zum ersten Mal mit seinem Vater an einem Tisch und sie aßen zusammen.
 

So wie früher auch immer.
 

Es war komisch, dieses Gefühl der Erinnerung, das so weit weg zu sein schien und ihm doch mit jeder Sekunde, die er hier verbrachte, in den Nacken atmete. Früher war das gemeinsame Essen so selbstverständlich gewesen, wie es nun eine Absurdität war und Jean war dem Chaos seiner Gefühle um diesen Umstand hilflos ausgeliefert.
 

„Jean?“
 

Die zögerliche Stimme seines Bruders holte ihn genauso zurück in das Hier und Jetzt wie es der sorgenvolle Blick seines Kapitäns tat. Er nickte und versuchte sich an einem schmalen Lächeln.

„Alles in Ordnung.“

„Wirklich? Deine Augen waren so weit weg.“

„Ich habe an früher gedacht, als ich so alt war wie du.“ Auch wenn Jean seine Augen fest auf Louis gerichtet hatte, so spürte er dennoch, wie sich der Blick seines Vaters in seine Seite bohrte.

„Wie war es da?“
 

Jean erstarrte, sobald er sich des Sinns der Frage bewusst wurde. Was sollte er Louis sagen? Was konnte er ihm sagen, ohne dass seine Stimme brach oder Hass durchschien. Hass auf seine Familie, die ihn aus dieser behüteten Umgebung herausgerissen hatte.

„Lou, sicherlich kann sich Jean gar nicht mehr an soviel erinnern. Es ist ja schon lange her“, kam ihm ausgerechnet ihr Vater zur Hilfe und wider besseren Wissens hielt Jean seinen Blick.

„Es war nicht perfekt, aber wir haben jedes Weihnachten gefeiert. Mit leckerem Essen und auf der Couch, das riesige Wohnzimmer dunkel und weihnachtlich erleuchtet. Es war die Zeit der Ruhe und der Spiele, die Zeit des in den Kamin Starrens“, sagte er weniger für Louis, sondern nur für den Mann, der ihm gegenüber saß. „Ich habe es geliebt, ich habe mich geliebt gefühlt. Ich habe mich sicher gefühlt.“
 

Die kleine Kinderhand, die sich in seine schob, erschreckte Jean und abrupt verließ er die schmerzdurchfurchte Mimik seines Vaters und wandte sich seinem kleinen Bruder zu, der ihn mit einem glücklichen Lächeln anstrahlte. Louis zweite Hand bettete sich auf seine. „Aber jetzt bist du wieder hier und musst kein Weihnachten mehr in dem doofen Schloss bei den doofen Ravens verbringen!“, nickte er zuversichtlich und Jean schluckte. Was blieb ihm anderes übrig als zu dem zuzustimmen?

„Nie wieder“, bestätigte er mehr sich selbst und Louis stimmte ihm begeistert zu.

„Ich lass dich nicht mehr gehen, versprochen.“
 

Mit Horror merkte Jean, dass seine Augen feucht wurden. Er lächelte schmerzlich und löste eine seiner Hände aus dem festen Griff. Er streckte Louis den kleinen Finger entgegen und hoffte, dass der Junge die Geste bereits kannte.

Er erkannte, dass er sich keine Sorgen darum machen musste. Begeistert hakte sich Lou mit seinem eigenen, kleinen Finger ein und drückte sie fest zusammen.

„Versprochen?“

„Versprochen!“
 

Die Liebe auf dem Gesicht seines Vaters war ebenso fürchterlich wie die Süße des Kuchens, den Jean aus Ermangelung einer sonstigen Reaktionsmöglichkeit schließlich aß, nachdem sie beide ihre Finger wieder zu sich gezogen hatten.

Knox schmeckte es, das sah er nur zu deutlich und Jean fragte sich, wo der andere Junge das dritte Stück ließ, dass er sich mit einem charmanten Lächeln auf den Teller lud. Jean hingegen kämpfte noch mit seinem ersten und dem dazugehörigen Kaffee, seine Kehle so eng wie schon lange nicht mehr.
 

Hatte Jean gehofft, dass nach und nach Entspannung Einzug halten würde, so täuschte er sich. Der familiäre Zusammenhalt, die alltäglichen und unschuldigen Themen, die Louis ohne Unterlass mit ihnen teilte, die Antworten seines Vaters, all das gärte zu einer unguten Mischung aus Sehnsucht, Wut und Trauer, die sich wie eine ungute Mixtur in ihm zusammenbraute.

Sie stand diametral der Zuneigung entgegen, die er für Louis empfand und den Erinnerungen, die ihm eine verklärte Version seiner eigenen Vergangenheit zeigten, in der alles gut war.
 

Was es nicht gewesen war. So sehr er seinen Vater auch geliebt hatte, so traurig war er gewesen, wenn seine Mutter keine Zeit gehabt oder kalt und abweisend gewesen war.
 

Jean räusperte sich und nutzte die Sprechpause seines kleinen Bruders, um sich zu erheben. „Ich muss…zur Toilette“, presste er die notdürftige Lüge hervor und ging nach oben. Er musste mitnichten, doch es zog ihn in die dringend benötigte Einsamkeit seines eigenen, vergangenen Zimmers. Wie schon beim letzten Mal auch erdete es ihn, wurzelte ihn in sich selbst, seiner eignen Vergangenheit und seinem Charakter. Das hier war er, es war ein Zeugnis. Er war jemand mit einer Vergangenheit, mochte sie auch noch so schmerzlich sein.
 

Tief einatmend ließ sich Jean auf seinem Bett nieder und barg seinen Kopf in seinen Händen. Er wünschte sich wie nichts, dass er weiterhin so abweisend seinem Vater gegenüber sein konnte, aber alleine das gemeinsame Sitzen am Tisch, das Kuchenessen und das Gefühl vergangener Weihnachten hinterließen Sehnsucht in ihm. Törichte, dumme Sehnsucht, die ihm seine Zeit in Evermore zur Hölle gemacht hatte. Er hatte doch gelernt, dass eben diese Gefühle fürchterlich und schlimm waren, dass sie ihn angreifbar und verletzlich machten.
 

Und nun, kaum, dass er Evermore entkommen war, waren sie wieder da und Jean hasste sich regelrecht für das nostalgische Aufwallen von Gefühlen und für die damit einhergehende Schwäche.
 

Er hob den Blick und starrte aus dem Fenster in den wütend stürmenden Regen hinein, der sein Innerstes sehr perfekt wiederspiegelte.
 

„Jean?“
 

Von all den Personen, die seinen Namen mit einer solchen Zärtlichkeit ausgesprochen hatten, war sein Vater nicht derjenige, den Jean hier oben erwartet hätte. Im ersten Moment unverständig starrte er ihm in die Augen und bemerkte mit Horror, wie offen seine Mimik sein musste.
 

„Du warst lange weg, da dachte ich, dass ich mal nachschauen sollte, ob…“, begann er in ihrer beider Muttersprache und schluckte schwer. Stumm nahm Jean das zur Kenntnis und senkte den Blick auf seine Hände. Ihm fehlten die Worte, also schwieg er und sein Vater setzte sich auf die andere Ecke des Bettes, möglichst weit von ihm entfernt und doch nah genug, dass Jean das Aftershave riechen konnte, welches er immer trug.
 

„Ich freue mich sehr, dass du hier bist“, sagte er ältere Mann schlicht und Jean brachte noch nicht einmal die Kraft auf, den Worten mit verletzendem Spott zu begegnen.

„Es ist schrecklich, hier zu sein“, erwiderte er anstelle dessen mit zugeschnürter Kehle und musste nicht hinsehen, um die Trauer seines Vaters zu erkennen.

„Das tut mir leid“, wisperte er und Jean schloss die Augen. Da waren noch weitere Worte, die unter der Oberfläche seiner Selbstbeherrschung darauf warteten, hinausgelassen zu werden.
 

„Es ist fürchterlich, weil es so wie früher ist“, presste er hervor. „Weil von jetzt auf gleich etwas Schönes zu etwas Pervertiertem gemacht wurde. Weil Riko es dazu gemacht hat. Er und der…Trainer.“

Alleine die Wucht des Ausgesprochenen trieb Jean die Tränen in die Augen und dieses Mal schämte er sich nicht für sie oder versuchte sie zu verstecken.

Ein erstickter Laut verließ die Kehle seines Vaters.

„Mein Junge“, wisperte er. „Mein armer Junge.“
 

Die Worte schnürten Jean die Kehle zu. Das Weinen seines Vaters tat es. Ob die Tränen, die über seine Wangen liefen, gut und erlösend waren, wusste er nicht, aber aufhalten konnte er sie auch nicht mehr, dafür war es zu spät.

„Er hat mir jedes Jahr Gewalt geschenkt. Schmerzen. Narben. Solange, bis dieser Tag und die Erinnerungen daran an Bedeutung verloren haben, weil es nichts Gutes mehr an ihm gab.“

„Aber jetzt ist das Monster tot“, sagte der Mann, der ihn in diese Hölle gebracht hatte, und Jean bewegte diesen Satz in seinen Gedanken.
 

Ja, Riko war tot. Er würde nie wieder zurückkehren und ihm wehtun. Aber das Echo seiner Taten war durchaus noch in der Lage, das zu tun und das würde Jean sein Leben lang begleiten. Immer und immer wieder.

„Ich kann nicht wieder gut machen, was ich dir angetan habe, mein Junge. Ich kann nur versuchen, deine Zukunft zu einem besseren Ort zu machen, wenn du mir das erlaubst.“
 

Jean brachte den Mut auf, seinen Vater anzusehen und die Trauer auf dem zerfurchten Gesicht überwältigte ihn ohne jedwede Vorwarnung.

„Ich bin nicht dein Junge“, sagte Jean, um sich zu schützen, doch noch während er die Worte aussprach, erkannte er, wie wenig sein Innerstes selbst an sie glaubte. Wunderte es ihn da, dass der andere Mann ihm widersprach?
 

„Doch, Jean, du wirst immer mein Junge bleiben. Ich habe dich gezeugt, ich war bei deiner Geburt dabei. Ich habe dich großgezogen. Dein erstes Wort war Papa und ich habe deine ersten Schritte begleitet. Ich habe zusammen mit dir deine ersten Buchstaben und Sätze geschrieben und ich habe mit dir dein erstes Buch gelesen. Du wirst immer mein Junge bleiben, aber wenn du nicht möchtest, dass ich dich so nenne, dann respektiere ich das.“
 

Die Frage, ob er das wirklich wollte, konnte Jean nicht gänzlich beantworten. Mein Junge… diesen beiden Worte ließen ihn sich wieder klein und jung fühlen. Sie zogen ihn zurück in dieses Zimmer und damit in ein Leben, das so weit weg schien.

Riko hatte versucht, sein altes Leben auszulöschen und so war er nach Los Angeles gekommen. Als ein Wesen, das nichts mehr hatte, sich als Besitz betitelte und nichts mehr als seinen eigenen Tod wollte. Jeremy hatte ihm sein Leben wiedergegeben, er hatte ihn defibrilliert und nun war Jean sich nicht sicher, ob er ein Leben ohne Vergangenheit führen wollte. Ohne Wurzeln. Dank Knox‘ Gegenwart wurde er ein Stück zu dem Menschen, der er früher gewesen war.
 

Dem buchliebenden, vertrauensseligen Jungen.
 

„Ich habe nichts dagegen“, sagte er, bevor die hasserfüllte, missbrauchte Seite in ihm verneinen konnte, was ihm irgendwie gut tat. Dass die Worte dennoch wie ein Fluch seine Lippen passierten, war ein Testament an eben jene, andere Seite.
 

„Mein Junge, mein erwachsener Junge“, flüsterte sein Vater und Jean hörte das Lächeln in der rauen Stimme.

Er brachte das Gegenstück nicht über die Lippen, noch nicht, wie er mit Schrecken feststellte. Der Gedanke daran war aber bereits da, als leises Wispern, beinahe unhörbar im Chaos seiner Gefühle.
 

„Ich hoffe, deine künftigen Weihnachten werden so, wie du es dir wünschst. Mit den Menschen, die du liebst.“

Jean riskierte einen kurzen Blick auf seinen Vater und sah dort das Wissen um Knox. Er öffnete die Lippen um etwas zu sagen, doch der andere Mann kam ihm zuvor.

„Er ist ein guter Junge. Die Liebe, mit der er dich ansieht, ist klar erkennbar, ebenso wie die Sorgen, die er sich um dich macht.“
 

Mit großen Augen starrte Jean seinen Vater an. „Wir sind kein Paar“, erwiderte er und überraschte weiteten sich die Augen des älteren Mannes.

„Nicht?“

Jean schüttelte den Kopf. „Er ist mein Kapitän. Wir sind…Freunde.“ Wie seltsam es doch war, dieses Wort auszusprechen. Wie unzureichend für das, was er selbst glaubte zu fühlen.

Peinlich berührte Stille trat zwischen sie und Jean sah auf seine Hände.

„Möchtest du mehr?“, fragte François vorsichtig und Jean runzelte die Stirn.

„Mehr was?“

„Mehr von ihm, von Jeremy.“

„Ich… ich weiß gar nicht, ob er das auch möchte.“
 

Sein Vater schenkte ihm ein sanftes und liebevolles Lächeln. „Vielleicht solltest du ihn mal danach fragen.“
 

Vielleicht. Wenn Jean den Mut dazu aufbrachte. Irgendwann.
 

„Ich habe ein Geschenk für Louis dabei. Aber…er glaubt noch an den Weihnachtsmann, oder?“

„Ja, noch kann ich ihn davon überzeugen, dass die Geschenke nicht gekauft werden, aber er wird bereits misstrauischer.“

Jean schnaubte. Er hatte mit acht aufgehört, an den Weihnachtsmann zu glauben, eben weil er misstrauisch gewesen war.

„Ich habe auch ein Geschenk für dich“, sagte sein Vater und Jean zuckte zusammen. „Wenn du es haben möchtest, heißt das.“
 

Unsicher musterte Jean sein Gegenüber. „Ich habe nichts für dich“, sagte er und sein Vater schüttelte den Kopf.

„Du bist hier. Du sprichst mit mir. Das ist das schönste Geschenk, das du mir machen kannst.“
 

Unsicher schwieg Jean, weil die Emotionen, die dieser einfache Satz in ihm auslöste, mehr als undefinierbar waren.
 

~~**~~
 

Mit einem erleichterten Ächzen ließ Jeremy seine Tasche auf sein Bett fallen und atmete tief durch.
 

Es war drei Uhr nachts und sie waren soeben zuhause angekommen. Er fühlte sich rundherum wohl, auch wenn die Fahrerei hierhin anstrengend gewesen war. Die Fahrt war gefüllt gewesen mit allen möglichen Themen, so auch der Kuss von Mark. Jean hatte sich die Nummer abgewaschen ohne sie aufzuschreiben und Jeremy war unanständig froh darüber. Er wollte nichts von dem Jungen, der ihn angebaggert hatte und auch darum war Jeremy froh gewesen, auch wenn er den kritisch-prüfenden Seitenblick seines Beifahrers nicht wirklich hatte deuten können.
 

Sie hatten außerdem über vieles Anderes gesprochen, aber nicht über das Gespräch mit seinem Vater oder über das kommende Spiel gegen die Ravens. Auch das war ein Thema, das sie beide mieden. Jeremys schlechtes Gewissen machte ihm deutlich, dass das, was er nicht tat – eben mit Jean darüber zu sprechen – nicht akzeptabel war. So gar nicht. Nach Silvester wäre es höchste Zeit, dass er die schlechten Nachrichten vorsichtig überbrachte.
 

Jean hatte ihn in den ruhigen Stunden der Fahrt dabei immer wieder aus dem Augenwinkel gemustert, egal, ob er der Beifahrer oder Fahrer gewesen war. Auf den Versuch, das anzusprechen, hatte er ausweichend reagiert und so war Jeremy nicht weiter darauf eingegangen, sondern hatte die manchmal entstehenden Lücken unter anderem mit den Weihnachtsregeln gefüllt, die es im Hause Knox gab.
 

Die Bescherung fand im Pyjama statt – in Jeans Fall war jedoch eine Jogginghose, ein Hoodie und dicke Socken auch vollkommen in Ordnung, Hauptsache es war gemütlich.

Streiten war an Weihnachten streng verboten – das waren Tage der Harmonie und meist hielten sie sich auch alle daran, es sei denn, es ging ums abendliche Fernsehprogramm.

Je nach Wetter war Grog ein Muss, alternativ auch Alkohol mir Rum – in Jeans Fall war kein Alkohol aber auch möglich. Kinderpunsch gab es für die Zwillinge sowieso.

Niemand durfte sich über zuviel Essen beschweren und das galt auch für Jean, egal, wieviel er brummte und wie missgelaunt sich seine Lippen verzogen.
 

Nach ihrer Ankunft hatten sie sich leise in das Haus gestohlen und waren ekstatisch durch Esma, Oscar und Anu begrüßt worden. Barnie folgte ihnen, weitaus schüchterner als die Drei, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo er Jean wiedererkannte und den größeren Jungen nicht aus seinen treuen, schwarzen Augen ließ, während er um Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten bettelte. Unter felligen Protesten hatten sie sich nach oben begeben um ihre Taschen loszuwerden.
 

Jeremy sah auf, als Jean in der Tür erschien und sich auch wie beim letzten Besuch schon außerhalb des Zimmer an den Rahmen lehnte, peinlich darauf bedacht, das Zimmer nicht zu betreten. Jeremy hatte nicht gefragt warum, ahnte aber, dass es vielleicht mit seinem verstorbenen Kapitän zusammenhing.
 

„Hey“, sagte Jeremy eingedenk seiner bereits schlafenden Familie leise und Jean neigte seinen Kopf.

„Hey“, gab er zurück und ließ seinen Blick über das chaotische und liebevolle Chaos schweifen, das Jeremys Zimmer darstellte. Das bunte und vollgestopfte Zimmer, das vor Highschoolerinnerungen und Wettbewerbspreisen jedweder Art nur so strotzte. Vielsagend hob er die Augenbraue.

„Sieht wie in Los Angeles aus“, kam das harte Urteil über Jeremy und er schnaubte.

„Ich bin eben ein sehr beständiger Mensch, was meine Inneneinrichtung angeht.“

Jean nickte vielsagend. „So nennt man das“, erwiderte er gedehnt und Jeremy verschränkte schmollend die Arme.

„Jetzt sag bloß, dass du dich in unserem Apartment nicht wohl fühlst.“
 

Jean öffnete die Lippen um etwas zu sagen und überlegte es sich dann doch anders. Lieber deutete er voller Abneigung auf das riesige Kevin Day-Poster, das über Jeremys Bett an der Schräge hing.

„Das ist schlechter Geschmack“, beschwerte er sich und Jeremy grinste herausfordernd.

„Soll ich dich daneben hängen?“, fragte er todesmutig und labte sich an dem sturmgeweihten Blick aus grauen Augen.

„Das würde von noch viel schlechterem Geschmack zeugen“, grollte Jean und Jeremy lachte leise. Vielsagend hob er die Augenbrauen und deutete auf den Flur.

„Wollen wir noch nach unten und uns ein bisschen auf die Couch setzen?“, fragte er und Jean nickte.

„Gerne.“
 

Gemeinsam schlichen sie sich nach unten und Jeremy füllte ihnen beiden etwas Limonade in zwei Gläser, während Jean es sich bereits auf der Couch gemütlich machte. Einen Moment gönnte Jeremy es sich, den Backliner aus der Küche heraus zu beobachten und den Frieden zu genießen, den die Einheit aus nur durch den Weihnachtsbaum erleuchtetem Wohnzimmer, zufriedenen Hunden und ebenso ruhigem Franzosen bildete. Jean passte in dieses Zimmer, er passte hierhin und es gefiel ihm hier, zumindest glaubte Jeremy das zu sehen.
 

Langsam kam er zu Jean, der, so erkannte Jeremy es jetzt, mit Barns auf der Couch saß. Der große, schwarze Hund lag auf dem Rücken und hatte seinen Kopf auf Jeans Oberschenkel gelegt. Jean kraulte ihn und sah nun hoch, als Jeremy ihm sein Glas hinhielt. Dankbar nahm er es entgegen und Jeremy ließ sich ebenfalls auf der Couch nieder.
 

Er warf einen Blick auf den Weihnachtsbaum mit seinen weißen und silbernen Kugeln. Tief atmete er durch und schloss einen Moment lang die Augen.
 

Er liebte Weihnachten.
 

Er liebte alles daran. Die Zeit, die er mit seiner Familie verbringen durfte, die Gerüche in ihrem Haus, der immer zu große Weihnachtsbaum, der das halbe Wohnzimmer blockierte, der Schmuck des Monstrums, das Essen, was sie gemeinsam kochten. Alles. Er liebte es, dass sie den Morgen des 25. zusammen in Pyjamas verbrachten und so Bescherung machten. Er liebte die Ruhe und Harmonie, die zwischen ihnen herrschte und die Gesellschaft seiner Eltern und Geschwister. Und dieses Jahr liebte er noch eine Sache mehr an Weihnachten: dass Jean mit ihm gekommen war und diese hochheiligen Tage mit ihm verbrachte.
 

Ja, er liebte es auch jetzt, obwohl er die letzten Tage nicht in Weihnachtsstimmung gewesen war wegen allem, was mit Allan geschehen war.

Jeremy öffnete seine Augen und sah, wie Jean gedankenverloren Barns anstarrte, sein Gesicht ein Spiegel an Traurigkeit. Unwirsch schürzte der blonde Junge die Lippen und legte den Kopf schief. Er konnte sich denken, welche Gedanken Jean beschäftigten und er fühlte sich hilflos im Angesicht des Schweigens und der Trauer.
 

Langsam stellte Jeremy sein Glas ab und legte sich auf den Rücken. Umständlich robbte er sich an Jean heran und starrte ihm überkopf in das überraschte Gesicht.

Eine Augenbraue hob sich fragend und Jeremy imitierte problemlos Barnies Pose inklusive erhobener Vorderpfoten.

Dass sich die zweite Augenbraue ebenfalls erhob, überraschte ihn da nicht wirklich.

„Wuff?“, probierte er es probeweise und Jeans Augen fragten ihn ganz deutlich, wenngleich auch vollkommen nonverbal, was in ihn gefahren sei, und Jeremy winselte zu Barnies Verwirrung leise.
 

„Ich kraule dir nicht den Bauch“, sagte der Backliner warnend und Jeremy verzog den Mund.

„Du gemeiner Fiesling.“

„Das ist nichts Neues.“

Jeremy zog einen Flunsch und ließ die Hände sinken. Er blieb jedoch so liegen und lächelte nach ein paar Momenten versöhnlich.

„Jean?“

„Hm?“

„Wie stellst du dir eigentlich die Zukunft nach dem College vor?“
 

Dass seine auch für ihn unerwartete Frage nicht das war, was der Jean erwartet hatte, sah Jeremy ebenso sehr wie die Tatsache, dass Jean sich darüber noch keine wirklichen Gedanken gemacht hatte. Es ließ ihn schlucken und mit den Gedanken zu Jeans Selbstmordversuch zurückkehren. Für lange Zeit hatte es keine Zukunft für den anderen Jungen gegeben, das war nun anders.

„Ich werde Exy spielen“, sagte Jean und das war wenig überraschend.

„Wo?“, fragte Jeremy und Jean zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht, wo. Ich kenne nicht so viele Städte.“

„Etwas, das wir ändern müssen.“

„Wir müssen trainieren.“

„Wir werden nach Abschluss des Semesters Ferien haben. Du erinnerst dich?“
 

Jean grollte.
 

„Ich möchte mit dir in einer Mannschaft spielen“, sagte Jeremy abrupt und Jean runzelte die Stirn.

„Warum solltest du das wollen?“, fragte er kritisch und plötzlich unsicher verharrte Jeremy. Was, wenn Jean das gar nicht wollte, was er hier so impulsiv in den Raum geblasen hatte?

„Weil ich nicht gegen dich spielen möchte“, sagte er das, was ihm als Erstes in den Sinn kam, das er herausposaunen konnte. Die anderen Gründe, warum er in Jeans Nähe sein wollte, waren nichts für hier und jetzt.

„Hast du Angst?“

„Vor dir auf dem Spielfeld? Immer! Fehlt nur noch, dass du mit Theodora und Kevin mir gegenüberstehst, am Besten mit Andrew im Tor.“
 

Jean und Jeremy schauderten unisono bei dem Gedanken daran. „Nein danke“, sagten sie gleichzeitig und der blonde Junge grinste und hob die Hand zu einem High Five. Schnaufend schlug Jean ein und verharrte noch einen Moment lang, nachdem Jeremy seine Hand schon wieder zu sich gezogen hatte.

„Ich würde gerne mit dir in einer Mannschaft spielen“, sagte er schließlich. „Jemand muss ja deine Fehler ausbügeln.“

Empört schnappte Jeremy nach Luft, auch wenn das mitnichten die sich in ihm ausbreitende Wärme dämpfen konnte. Jean wollte auch mit ihm in einer Mannschaft spielen? Das war…Jeremy hatte keine Worte dafür. Nicht im Moment. „Ey!“
 

Vielsagend musterte Jean ihn und Jeremy zuckte erschrocken zusammen, als ein fünf-Kilo-Gewicht auf seinem Bauch landete.

„Gargamel!“, fluchte er den schnurrenden Kater an, der sich nach Aufmerksamkeit und Zuneigung heischend an seinem Gesicht rieb und ihm schließlich seinen Hintern in selbiges drückte, weil er entdeckt hatte, dass Jean auch da war. Moppernd schob Jeremy den Hintern des rothaarigen Fluffs aus seiner Nase.

„Los, geh zur Liebe deines Katerlebens, du oller Verräter, du!“, grimmte er und sah zu, wie dieser sich in Jeans Schoß platzierte.
 

Und nein, er war nicht neidisch auf Gargamels Position. Nein. Ebenso wenig wie auf die andere Hand des Backliners, die ihn sanft kraulte.
 

~~**~~
 

„Jer, jetzt komm endlich! Trödel nicht rum!“

„Ruhe, ich mache mir nur noch eben einen Kaffee!“

„Beeilung oder ich mach deine Geschenke gleich für dich auf!“

„Wag dich, Charlie!“

„Was bekomme ich, wenn nicht?“

„Ich vergrabe dich nicht auf der Kuhweide, wie wäre es?“
 

Jean lauschte dem lebhaften und lauten Familienstreit im Hause Knox und umfasste seine eigene Tasse mit Kaffee fester. Natürlich würde sie ihm niemand hier wegnehmen, aber man musste schließlich sichergehen.

Er saß in Jogginghose und Renees Hoodie auf dem Boden in der Nähe des Baumes und hatte auf dem Weg dorthin alle Mistelzweige, die in diesem Haus hingen, weitläufig gemieden. Um ihn herum tobte und lachte die ganze Familie, die er seit heute Morgen schweigend beobachtete und im Stillen die Unterschiede zwischen ihnen und seiner eigenen Familie aufzählte.
 

Zu einem schlüssigen Ergebnis kam er nicht, aber er genoss die Zeit hier. Der Gedanke an die Weihnachten, die er in den Klauen Evermores verbracht hatte, hatte ihm in der kurzen Nacht keinen Schlaf gegönnt und entsprechend müde war er auch. Die Geister der Vergangenheit hatten ihm keine Ruhe gelassen und nur Barnies ruhiges Schnarchen und Gargamels Schnurren hatten die Erinnerungen an Rikos Gewalttaten schließlich abgemildert.
 

Und nun war er hier, in einem Raum mit Fenstern. Er sah und hörte den Regen, der von draußen an die Scheiben klatschte. Er roch das Feuerholz im Kamin, das dem Raum eine Wärme und Gemütlichkeit gab, die Jean zu schätzen wusste. Er war in einem privaten Haus in Anwesenheit einer Familie, die nichts Böses kannte und deren einzige Gemeinheiten an diesem Tag anscheinend darin bestanden, die sorgsam gestapelten und geordneten Geschenke durcheinander zu bringen.
 

Jean stellte fest, dass er lebte und dass er gerne lebte.
 

Knox ließ sich neben ihn fallen und strahlte ihn an, in seinen Augen die Liebe, die seine ganze Familie ausstrahlte.
 

„Alles gut?“, fragte der blonde Junge.

„Alles gut“, bestätigte Jean und meinte es aus vollstem Herzen. Gut, vielleicht war er ein wenig aufgeregt, ob den Anwesenden oder auch – im Fall von Ajeet, Val, Alvarez, Laila und Fahima – den Nichtanwesenden seine Geschenke gefielen, aber ansonsten war alles in Ordnung.
 

„So meine Damen und Herren gierigen Pubertiere und diejenige, die meinen, dieser schon entwachsen zu sein“, holte Mr. Knox ihn aus seinen Gedanken und Jean widmete dem älteren Mann seine volle Aufmerksamkeit. „Es ist Zeit für die Bescherung!“ Den aufkommenden Jubel wartete er ab und hob dann eine Hand.

„Bevor ihr euch wie die Geier auf eure Geschenke stürzt… Jean.“

Jeremys Vater wandte sich ihm zu und Jean musterte ihn vorsichtig.

„Ja?“

„Dein Geschenkestapel ist der Blaue in der Mitte. Jer meinte, dass Dunkelblau deine Lieblingsfarbe sei. Für seltsame Geschenke unserer Brut übernehmen wir keine Gewähr, Beschwerden sind an die jeweiligen Schenkenden zu richten.“
 

Jean schluckte schwer. Geschenke waren das Letzte, mit dem er gerechnet hatte und vor allen Dingen nicht so viele. Auf den ersten Blick schien es, als hätte jedes Familienmitglied ihm etwas geschenkt und das verunsicherte ihn mehr, als dass er zuzugeben bereit war. Es wog beinahe noch schwerer als das noch unausgepackte Geschenk seines Vaters, das in seiner Tasche ruhte und das er nicht zu öffnen wagte.
 

„Es geht reihum, einer nach dem anderen macht seine Geschenke auf. Möchtest du anfangen?“
 

Auch wenn der Ton des Mannes nicht so streng wie sonst war, war er doch ein wenig zuviel für Jean. Das Angebot war zuviel für ihn, denn er wusste nicht mehr, wie man richtig auf Geschenke reagierte.

Stumm schüttelte er den Kopf. „Nein, ich würde gerne erst den Anderen den Vortritt lassen…wenn es recht ist“, sagte er vorsichtig und wider Erwarten war das kein Problem. Mr. Knox nickte verständnisvoll.

„Alles klar, ich fang‘ an!“, krähte Charlie und Tyler schnaubte.

„Nichts ist, ich bin dran.“

„Gar nicht wahr, du warst letztes Jahr schon dran“, mischte sich Mia ein und sein Kapitän nutzte den Streit seiner Geschwister um zum Weihnachtsbaum zu krabbeln. Während er versuchte, nach einem seiner Geschenke zu greifen, würde er unter überraschten und lauten Protesten von Jamie zurückgezogen, der sich ohne viel Federlesens auf ihn draufsetzte um ihn anscheinend daran zu hindern, die Finger an seine Präsente zu legen.
 

Jean hob die Augenbraue und sah von den Beiden recht hilflos zu dem Rest dieser chaotischen, lärmenden Familie. Das war nicht das Weihnachten, das er kannte, und vielleicht war es deswegen auch so einfach, es nach all den Jahren und all der Gewalt wieder als etwas zu akzeptieren, das ihm keine Schmerzen bereitete und es beim Namen zu nennen.
 

Es war Mrs. Knox, die schließlich ein Machtwort sprach und Charlie als diejenige bestimmte, die anfangen durfte, ganz zur Entrüstung ihrer anderen Kinder. Sie blieb taub auf dem Beschwerdeohr und brachte so die Bescherung in geordnete Bahnen. Sie gaben Jean genug Raum, dass er ihnen allen zuschauen konnte, wie sie ihre Geschenke öffneten und wie sie ihre Dankbarkeit zeigten, bevor er das erste eigene Geschenk in den Händen hielt. Es war etwas Großes und Dünnes. Unsicher sah er hoch und Mrs. Knox lächelte ihm versichernd entgegen.

„Das kommt von mir“, erläuterte sie und Jean fragte stumm um Erlaubnis, ob er es öffnen durfte. Sie nickte stumm und Jean schälte vorsichtig das dunkelblaue Geschenkpapier mit den Weihnachtsmännern von dem Kalender, wie er nun erkannte.
 

Ein Kalender mit Bildern von Barnie, dem roten Fluff und den Tieren der Farm.

„Dankesehr. Er ist wunderschön“, sagte Jean staunend und auch zum großen Teil überwältigt und Mrs. Knox strahlte ihn an.

„Freut mich, dass er dir gefällt, Jean!“

Es gefiel ihm nicht nur, sondern er war erstaunt und berührt davon, dass sie sich überhaupt die Mühe gegeben hatte, etwas für ihn zu basteln. Für ihn, also jemanden, den sie erst zum zweiten Mal in ihrem Leben gesehen hatte.
 

Nicht, dass er sich dafür nicht erkenntlich zeigte, denn sie liebte die Frank Sinatra Schallplatte, die er ihr auf Anraten seines Kapitäns gekauft hatte.

„Vielen Dank dir, ich liebe Sinatra!“, sagte sie und drückte seine Hand so sanft, dass Jean es beinahe nicht spürte.

Mia und Charlie waren da stürmischer und entgegen Knox‘ wütendem Grollen umarmten sie ihn stürmisch, als sie ihre Geschenke ausgepackt hatten.

Bei ihnen hatte er sich für Notizbücher entschieden. Eines in Türkis für Mia, eines in Rot für Charlie, dazu ihre Lieblingsschokolade, nach der er Knox hatte fragen müssen.
 

Ihr Geschenk an ihn brachte ihn fast zum Lachen. Es war ein selbstgemachtes Buch über seinen Mitbewohner, mit Kinderfotos und Details von ihm auf jeder Seite, verziert mit Doodles und Comics.

„Ihr…ihr…“, presste Jeremy an seiner Seite entrüstet mit hochrotem Kopf hervor und nonchalant zuckten die beiden Mädchen mit ihren Schultern.

„Was? Das ist nichts Ultrageheimes!“, sagte Charlie grinsend und Jean strich über den liebevoll gestalteten Ledereinband in rot und gelb. Von seiner Brust breitete sich wohltuende Wärme aus und erreichte auch seine stetige Anspannung, die in diesem Augenblick weg war.
 

Wie es schien, hatte er auch für die restlichen Familienmitglieder die richtigen Geschenke ausgesucht. Die abstrakte Holzskulptur, die er für Jeremys Vater ausgesucht hatte, fand den Gefallen des älteren Mannes. Tyler freute sich über den schottischen Whisky und Jamie über den dicken Bildband über London.

Nach und nach packte er selbst auch die restlichen Geschenke der Familie aus. Einen digitalen Bilderrahmen von Mr. Knox, einen Exites-Gutschein, der viel zu teuer war, von Tyler und Jamie.
 

Knox‘ Geschenk hielt er in den Händen und fragend sah er zu seinem Kapitän, der mit einem aufgeregten Lächeln zwischen ihm und der flachen, länglichen Schachtel hin- und hersah. Vorsichtig löste Jean den Deckel und sah auf eine Korkkarte in Din A3-Größe in der Form der USA, in der die einzelnen Bundesländer samt Hauptstädten aufgemalt waren. Vorsichtig holte er sie aus der Packung, ebenso wie die Pinnadeln in dunklem Blau.

Unter der Karte lag ein Umschlag und Jean öffnete ihn vorsichtig.
 

Es war eine Postkarte aus Papier von Los Angeles und auf der Rückseite stand Startpunkt von Jeans und Jeremys Road Trip.
 

Fragend sah Jean zu seinem Kapitän, der verlegen grinste und sich über den Nacken rieb.
 

„Also das ist Geschenk für den Fall, dass du es überhaupt möchtest. Du hast ja noch so wenig von unserem Land gesehen und da dachte ich, ich schenke dir einen Roadtrip mit mir zusammen durch die Staaten; du sagst, wo du hinmöchtest und ich fahre dich dahin. Also falls du das überhaupt möchtest. Den Trip. Oder mit mir. Ich meine, vielleicht möchtest du ja auch mit jemand anderem fahren, mit Renee oder Fahima oder so oder auch gar nicht, aber…“
 

„Es ist ein schönes Geschenk und ich würde gerne mit dir durch dieses Land fahren“, unterbrach Jean das unsichere Gebrabbel und sah die Freude, die er dem anderen Jungen damit bereitete. Sie ließ ihn ebenfalls lächeln und er senkte den Blick auf die Karte. Zart strich er mit seinen Fingern über den unebenen Kork und die Bundesländer, von denen ihm viele nichts sagten. Das warme Gefühl wurde zu einem Kribbeln und Jean schnaufte.

Mit unwirsch verzogenen Lippen deutete er auf die Geschenke, die er für Knox hatte.
 

„Du musst auch noch welche auspacken“, murrte er und begeistert haschte Knox nach den beiden Geschenkboxen.

„Welches zuerst?“, fragte er und Jean hob die Augenbraue. Er deutete auf das kleinere von beiden und Knox raffte es an sich. Ehrfürchtig packte er es aus und brach in einem begeisterten Grinsen aus, als er neue Sandalen aus der Box zog. Es war die gleiche Marke, die Knox auch jetzt trug, nur in weniger unfallanfällig, da neu und nicht ausgelatscht.

„Bist du es leid, mein Herumstolpern mit anzusehen?“, grinste Knox und Jean hob bedeutungsschwanger seine Augenbraue.
 

Grinsend zog sein Kapitän das andere Geschenk aus der Schachtel hervor und brach in schallendes Gelächter aus, während er den weinroten Hoodie mit gelber Schrift emporhielt, auf dessen Rücken über einer großen Eins Kapitän Sunshine stand. Auf der Vorderseite befand sich auf der Herzseite das Symbol der Trojans.

Jean hatte auch bei anderen schon solche Pullover gesehen, trotzdem war er sich unsicher gewesen, ob Knox sich wirklich darüber freuen würde.
 

Die Unsicherheit verflog abrupt, als der andere Junge sich ohne zu zögern den Hoodie über den Kopf streifte und mit der Bezeichnung um die Wette strahlte.

„Der ist wunderbar, Jean, und so weich! Ich liebe ihn!“

Unmerklich nickte er und deutete auf die zweite Schachtel. „Da ist noch etwas“, murmelte er verlegen und Knox nahm sie auf. Er öffnete diese weitaus weniger vorsichtig als vorher und seine Augen weiteten sich.
 

„Oh Gott“, stöhnte er auf und hielt das Puzzle hoch, ganz zum Gelächter seiner Familie. „Du hasst mich, oder?“
 

Das war sicherlich nicht der Grund, aus dem Jean dem anderen Jungen das durchsichtige Acrylpuzzle gekauft hatte, dessen Teile alle individuell gefräst worden waren. Fünfhundert Teile und keines davon gleich, nach Aussage des Verkäufers ein Schwierigkeitsgrad für Fortgeschrittene. Der Name des Puzzles war „Der Unfall“. Perfekt für seinen Kapitän.
 

„Wehe, du hilfst mir nicht mit!“, grollte eben jener spielerisch und Jean wusste, dass das keine Drohung war.
 

Noch vor Monaten hatte er nicht so gedacht und das war mit Abstand das größte Geschenk, das er an diesem Feiertag erhielt. Das Wissen um die Unversehrtheit, die er von Jeremy Knox, Kapitän der Trojans, erwarten konnte.
 

Mit jeder Faser seines Seins.
 

~~~~~~~
 

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
.... was ich sagen wollte: ENDLICH habe ich den Weihnachtsteil geschrieben. Wuhu, im März. Da war das entsprechende Weihnachtsfeeling schon schwierig.

Bleibt weiterhin gesund und tragt Masken, ihr Lieben! :)

Bis zum nächsten Mal und vielen vielen lieben Dank für all eure Kommentare! Ganz viel Liebe dafür! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Niua-chan
2021-04-21T09:39:11+00:00 21.04.2021 11:39
So jetzt schaffe ich es auch endlich etwas zu deinen Kapiteln zu schreiben...

Das Gespräch mit Andrew zu Beginn fand ich beeindruckend. Es zeigt wie viel Jean dazu gelernt hat aber auch wie komplex die Kommunikation mit Andrew ist. Wirklich beeindruckend geschrieben.
Der Besuch bei Jeans Vater und Bruder war teilweise schwer für mich zu lesen, nicht vom Schreiben her sondern emotional. Aber es ist gut wir es sich entwickelt.
Umso schöner ist der Teil bei Jeremy zu Hause. Diese Familie ist toll und die friedlichen Szenen die du beschreibst sind wirklich schön.
Mein Lieblingsatz in diesem Kapitel ist im übrigen: "Los, geh zur Liebe deines Katerlebens, du oller Verräter, du".... Einfach herrlich ^^


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