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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Jaa....da ist die Seitenanzahl wohl ein bisschen eskaliert. *hust* Ich wünsche ich viel Spaß ein bisschen mehr Inhalt dieses Mal. ;) Damit erfolgt auch der letzte Teil für das Jahr 2020 und ich blicke zurück auf ein spannendes Jahr mit dieser Geschichte, die ich anfänglich so niemals für möglich gehalten hätte.

Liebe Leser:innen, ich wünsche euch einen guten Rutsch in das neue Jahr. Möge 2021 euch viel Gesundheit und Erfolg mit all euren Plänen bringen und mögen wir alle gemeinsam die Pandemie besiegen. Komplett anzeigen

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Thanksgiving

So tief Jean letzte Nacht geschlafen hatte, so unruhig war sein Schlummer in dieser gewesen. Sowohl Barnie als auch der rote Fluff hatten sich erneut in sein Zimmer geschlichen und wie in der letzten Nacht auch sein Bett okkupiert. Jean war unter dem Schnarchen des Riesenhundes eingeschlafen und mitten in der Nacht aufgewacht, weil er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen und zu ersticken.
 

Dass das nicht an seinen Alpträumen lag, sondern an dem Kater, der sich quer über sein Gesicht gelegt und anscheinend vorgehabt hatte, ihn umzubringen, beruhigte Jean erst nach ein paar Minuten.

„Du bist tatsächlich er“, murmelte er zu dem empörten Kater, der abwartend am Fußende stand und mit dem Schwanz zuckte. Was fiel Jean auch ein, ihn von sich herunter zu scheuchen, auf dass er eben nicht erstickte.

„Wieso kommst du überhaupt zu mir? Du hast doch eine ganze Familie, die du belästigen kannst.“

Der Kater maunzte und setzte sich. Jean rollte mit den Augen und ließ den Kopf zurückfallen. Wenigstens war das schwarze Monstrum an seiner Seite verschlafen friedlich.
 

Er sah hinaus in den Sternenhimmel und ließ seine Gedanken schweifen. Vor einem Jahr hatte Riko ihm mit einem manischen Grinsen erzählt, was er eingefädelt hatte. Er hatte ihm über die Wange gestrichen und sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn der Mann namens Drake Andrew ficken würde. Den Eisprinzen Minyard, der ihm von Anfang an Widerstand geleistet hatte. Riko hatte sich ausgemalt, wie es wäre, wenn der unnütze Widerstand des blonden Torhüters endlich gebrochen wäre. Wenn er ihn nach der Vergewaltigung auch noch in die nächste Hölle schicken würde, wo der Arzt Snuffvideos von seinen widerlichen Praktiken machen konnte.
 

In dem Moment hatte Jean Andrew dafür gehasst, dass er in Riko erneut das Verlangen nach sexueller Gewalt geweckt hatte. Es war ungerecht gewesen, denn der Letzte, der Schuld daran trug, war Andrew selbst, dennoch hatte Jean Andrew für die Angst gehasst, die er in dem Moment gehabt hatte. Die Angst davor, dass Riko wieder Männer in sein Bett schickte.
 

Doch nichts dergleichen passierte und Rikos Laune in den kommenden Wochen war derart gut gewesen, dass es beinahe schon ekelhaft war. Er hatte Jean wenig bis gar nicht angerührt und hatte ihn schließlich nur dazu gezwungen, die Videos von Andrew mitanzusehen. Andrews wochenlanges Leid in den Händen eines sadistischen Psychologen, der jede seiner Schutzschichten weggerissen hatte.
 

Das war ein Jahr her und Jean konnte sich nur zu gut vorstellen, dass der heutige Tag für Andrew schlimm sein würde. Jean fühlte sich schuldig und er wusste nicht, ob er Andrew anschreiben sollte. Oder anrufen. Ihn ablenken. Wäre er überhaupt der Richtige?

Josten wäre da sicherlich besser als er für geeignet, schließlich taten die Beiden sich auf ihre eigene Art und Weise gut. Josten war für Andrew durch seine ganz persönliche Hölle gegangen.

Jean hatte sein Möglichstes getan, dafür zu sorgen, dass Neil zu den Foxes zurückkehrte und nicht unterschrieb, weil er nicht wollte, dass Riko am Schluss siegreich war.
 

Er griff sein Handy und rief Renees Kontakt auf. Wer, wenn nicht sie würde ihm sagen können, ob er Andrew kontaktierten sollte?

~Wäre es okay, wenn ich Andrew schreibe?~, tippte er und schickte die Nachricht ab. Sie würde sie erst am Morgen lesen, aber das war in Ordnung. Die Nacht gehörte seinen schlechten Erinnerungen an die Vergangenheit und seiner Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
 

~~**~~
 

Jeremy wachte abrupt auf, als sich ein schweres Gewicht auf ihn warf. Inkohärent stöhnte er und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was gerade geschah und vor allem, wer ihm passierte.
 

„Aufwachen, Wechselbalg, es ist schon zehn Uhr!“, trötete es in sein Ohr und Jeremy grollte verschwommen. Er hatte eine Idee, wer das war, die Frage war nur, ob Tyler oder Jamie, der ihn so derart unsanft weckte.

Jeremy riss seine schlafesschweren Augen auf und erkannte die kurz geschorenen Haare seines ältesten Bruders.

„Runter von mir, du Arsch!“, grimmte er ohne wirkliche Wut dahinter und schlug schwach nach seinem Bruder, der ihm ausgiebig durch die Haare wuschelte. Und wuschelte. Und wuschelte.

„Los, steh auf! Ich will was vom Tag mit meinem kleinen Brüderchen haben.“
 

Das Gewicht auf ihm verschwand und Jeremy kämpfte sich zumindest soweit in die Höhe, dass er einen guten Blick auf Jamie werfen konnte, der ihn begeistert angrinste.

„Sollten du und Tyler nicht erst heute Mittag ankommen?“, fragte er mit einem Schmollen und Jamie wackelte mit den Augenbrauen.

„Ja, aber wir wollten unseren kleinen Bruder überraschen. Und wir wollten ihn sehen.“
 

Natürlich. Seine beiden verräterischen Brüder waren Hardcore-Exy-Fans und liebten alles, was mit der Class I in Verbindung stand. Nachdem sie die Trojans schon kennengelernt hatten, nutzten sie Jeremy schamlos aus, um auch dem Rest der Mannschaften Hallo zu sagen, wenn es sich anbot.

Bisher hatte ihre Arbeit in Portland sie davon abgehalten, dafür war so eine Gelegenheit aber umso besser.

Jeremy konnte nur hoffen, dass Jean sich noch in seinem Zimmer befand und von den Beiden nichts mitbekommen hatte.
 

„Lasst ihn in Ruhe“, warnte Jeremy und Jamie lächelte gemein.

„Zu spät, Wechselbalg. Tyler hat ihn schon in seinen Fingern und löchert ihn über seine alte Mannschaft und Exy.“

Jeremy fluchte. Wenn Tyler Jean durch unbedachte Fragen triggerte, dann konnte das nur in einer Katastrophe enden. Er kämpfte sich aus dem Bett und griff sich seinen Pullover und eine Trainingshose. Ohne weiteren Kommentar stürmte er mit den schlimmsten Befürchtungen nach unten und blieb wie angewurzelt stehen, als er Tyler und Jean friedlich in der Küche sah. Sie diskutierten auf eine derart zivile Art und Weise über Exy, dass Jeremy sich im ersten Moment fragte, ob er das noch träumte oder ob das wirklich passierte.
 

Hinter ihm polterte Jamie die Treppe hinunter und zog somit die Aufmerksamkeit der Beiden auf sich.
 

Jean sah, wie Jeremy nun auffiel, müde und erschöpft aus, auch wenn seine Augen hellwach waren. Aufmerksam auf die Situation vor sich gerichtet.

„Alles gut?“, fragte er vorsichtig und Jean nickte schweigend.

„Ich hoffe, sie haben dich nicht aus dem Bett gezerrt?“

„Ich war bereits wach“, erwiderte der andere Junge und Jean seufzte erleichtert. „Darf ich vorstellen, dass sind meine beiden älteren Brüder: dumm und dümmer“, deutete er zuerst auf Tyler, dann auf Jamie und erntete einen deftigen Schlag auf den Hinterkopf dafür.

„Werd‘ nicht frech, Kleiner, ansonsten hole ich sämtliche Fotoalben und blamiere dich bis auf die Knochen.“

Jeremy grollte. „Das wagst du nicht, Jamie!“
 

Die blonden Augenbrauen seines Bruders wackelten herausfordernd und Jeremy verschränkte die Arme.

„Gibt’s schon Kaffee?“, murrte er und Jamie missbilligend mit der Zunge.

„Du hast noch nicht Zähne geputzt.“

Jeremy rollte mit den Augen. „Was bist du, mein Vater? Ich entscheide…“

„Geh Zähneputzen!“, rief seine Mutter aus der Vorratskammer und Jeremy starrte ungläubig in ihre Richtung. Verzweifelt warf er seine Hände in die Luft.

„Habt ihr euch alle gegen mich verschworen?“, rief er in den Raum. „Ich bin schon erwachsen, wisst ihr?“

„Ja, Sprössling, wissen wir, seitdem du aufs College gehst. Ab nach oben, Zähneputzen!“
 

„Mom!“ Jeremy gab einen leidenden Laut von sich und stapfte nach einem kurzen Moment des Widerstandes zurück nach oben. Wenn er sich nicht recht irrte, hatte er auf Jeans bleichem Gesicht ein minimales Lächeln gesehen.
 

~~**~~
 

Knox‘ Brüder waren…amüsant.
 

Jean hatte vermutet, dass sie wie Mr. Knox waren, ernst und bedrohlich, aber weit gefehlt. Der, wie er gelernt hatte, Zweitälteste, war ein überraschend guter Gesprächs- und Diskussionspartner, insbesondere, was Exytaktiken und –mannschaften anbetraf. Seit seiner Ankunft hatte ihn der Mann nicht aus seinen Fängen gelassen und Jean saß mittlerweile mit seiner zweiten Tasse Kaffee ihm gegenüber und beleuchtete die Schwächen und Stärken der einzelnen Teams in ihrer Liga. Das Thema Ravens hatte er ausgelassen und anscheinend war es in Ordnung für den Mann gewesen.
 

Sein älterer Bruder hatte einen trockenen Humor, der Jean latent an Matt Boyd erinnerte. Er war ebenso sympathisch, auch wenn Jean an seine Zusammentreffen mit Boyd nur verschwommene Erinnerungen hatte, die unterlegt waren mit der Hoffnungslosigkeit und dem Schmerz aus Evermore.

An was sich Jean aber sehr gut erinnerte, war der gutmütige Spott und die sanfte Ironie, die sich über Neil ausgeschüttet hatten und es in ihrem Gruppenchat immer noch taten.
 

„Du hast dein Tattoo nicht mehr“, deutete eben jener auf seine Wange und instinktiv befühlte Jean die nun freie Stelle. Die Drei sah man, wenn überhaupt, nur noch als Schatten und jedes Mal, wenn Jean in einen Spiegel sah, kam es ihm wie ein Sieg vor.

Auch jetzt noch.
 

„Ich habe es entfernen lassen“, sagte er und starrte auf seinen Kaffee. Wenn Knox noch länger brauchte um herunterzukommen, wäre er schon bei seiner dritten Tasse. Um bis heute Abend wach zu bleiben, wäre das sicherlich eine gute Möglichkeit, auch wenn es seinem Trainings- und Diätplan widersprach. Die ganzen letzten Tage widersprachen dem und er würde zurück in Los Angeles doppelt so hart trainieren müssen.
 

„Keinen Bock mehr auf deine alte Mannschaft und die perfekte Aufstellung?“

Jean schüttelte den Kopf. „Sie war nie perfekt“, erwiderte er mit einer Offenheit, die ihn im Nachhinein selbst überraschte. Noch vor Monaten hätte er nicht gewagt, so über Rikos Plan zu sprechen und nun brachte ihm das eine fast überschäumende Genugtuung.

Aus dem Augenwinkel heraus sah er den roten Fluff, der ihn mit zuckendem Schwanz taxierte.

„Er wird gleich auf deinen Schoß springen“, merkte Tyler an und Jean hatte exakt zehn Sekunden, bevor genau das passierte, nur dass er mitnichten so gut zielte wie gedacht.

Gargamel rutschte ab und krallte sich in seiner Hose und seiner Haut fest. Jean zischte schmerzerfüllt und Jamie griff dem roten Fluff hilfsbereit unter den Hintern, ihn resolut auf Jeans Schoß schiebend. Jean dankte dem Ältesten der Knox-Geschwister, der sich schließlich zu ihnen gesetzt hatte.
 

„Er ist nicht der Hellste…“

„Das hat er mit Josten gemein“, murmelte Jean in Gedanken, während er den schnurrenden Kater streichelte, der seine Krallen nun wieder eingefahren hatte. Tyler lachte überrascht.

„Sind das Insiderinformationen?“, fragte er interessiert und Jean schnaubte.

„Nicht wirklich. Ich habe einige Zeit mit ihm trainiert und war nach Evermore für ein paar Wochen bei den Foxes.“

„Es scheint, als wäre er ein Ausnahmetalent.“

Jean hob die Augenbraue. „Wenn seine große Klappe ihm nicht im Weg steht, dann ist er gut, ja.“

„Ich habe gehört, ihr wart beide Backliner, als er in West Virginia trainiert hat? Kann er beides?“
 

Jean blieben die Worte im Hals stecken. Das Einzige, an das er sich erinnerte, waren Neils Schreie unter Rikos Gewalt. Neils hilflose Flüche und Beleidigungen ihm und dem Herrn gegenüber. Neils Schluchzer in der Stille ihrer beider Einsamkeit, die Jean nicht zu lindern wusste.
 

„Hey, alles in Ordnung?“

Jean tauchte aus seinen dunklen Gedanken auf. Seine verfluchte, offene Mimik. „Ja“, erwiderte er knapp und leerte seine Kaffeetasse mit einem großen Schluck. „Und ja, er kann beides. Wenn er sich konzentriert.“

Tyler brummte und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Weißt du, wen ich gerne mal zusammen in einem Team sehen würde?“
 

Jean schüttelte den Kopf, aber er ahnte, was kam.

„Also: dich, Jer, Kevin Day, Neil Josten, Renee Walker, Dan Wilds, Al und Fahima. Ihr wärt Spitzenklasse und würdet eure Gegner in den Boden stampfen. Das wäre das perfekte Line-Up, wenn du mich fragst.“

„Da fehlen aber die Offensive Dealer“, schnaubte es hinter Jean, bevor er eine Antwort finden konnte, die höflich genug wäre, und er drehte sich zu seinem Kapitän um, der die Zeit zum Zähneputzen anscheinend auch dafür genutzt hatte, sich anzuziehen.
 

„Guten Morgen, Wechselbalg“, sagte Tyler und sprang auf. Knox grinste und trat nach vorne, bevor er seinem Bruder aus dem Stand in die Arme sprang und ihn leidenschaftlich umarmte, während Tyler ihn herumwirbelte.

Jean sah Liebe, pure, reine, brüderliche Liebe und verlor sich in dem Anblick von Familie. Umso störender war da sein Handyklingelton, der ihn aus seiner Betrachtung herauszog. Irritiert schaute er auf das Display und hob erstaunt die Augenbrauen. Andrew rief an.
 

Andrew.
 

Heute, an diesem Tag rief Andrew ihn an. Per Videoanruf. Jean schluckte und griff sich sein Handy. Es war immer noch unsicher, vor seinem Kapitän ans Telefon zu gehen, doch nun war es unumgänglich.

„Entschuldigung“, murmelte er und ging zur Treppe, die nach oben führte. Er sprintete sie hoch und war mit vier Schritten in seinem Zimmer. Hastig schloss er die Tür hinter sich, bevor er abnahm. Die Verbindung baute sich auf und Jean starrte in die kalten, braunen Augen des Torhüters, die genauso glasig waren wie die von Day in seinen besten, betrunkensten Tagen.

„Andrew“, sagte Jean zögernd und der blonde Junge grinste, die Wangen gerötet, was einen bigotten Kontrast zu den tiefen und dunklen Augenringen bildete, die unter seinen Augen lagen.
 

„Das französische Wunderkind“, schnarrte er schleppend und nahm einen Schluck aus einer Flasche, die Jean verdächtig nach Alkohol aussah. „Das blonde Engelsgift meinte, du hättest nach mir gefragt.“

Das hatte er nicht, zumindest nicht so direkt. Die Frage erübrigte sich auch, wenn Jean sich Andrew besah. Ihm ging es nicht gut, ganz und gar nicht. Alleine die Tatsache, dass Andrew ihn betrunken anrief, völlig ohne seine übliche Kontrolle, sprach schon Bände.
 

„Heute ist Thanksgiving“, sagte Jean so neutral, wie er konnte und Andrew schnaubte verächtlich.

„Nein, wirklich? Ich dachte, heute sei der Tag der brennenden Ärsche“, lachte er beißend und Jean zuckte zusammen. Er verstand nicht viel, was Sex anging, aber diese Tatsache war ihm bekannt.
 

Vergewaltigungen, korrigierte Jean sich innerlich. Es war kein Sex gewesen.
 

Verunsichert schwieg er. Er wollte Andrew nicht triggern und ihn in die schreckliche Zeit von vor einem Jahr zurückstoßen, aus der der andere Junge sich so stark herausgekämpft hatte. Er selbst kämpfte mit seinen Erinnerungen an die schmerzhaften Dinge, die ihm passiert waren, die Andrew so mühelos aufgewühlt hatte. Doch um ihn ging es heute nicht, ganz und gar nicht.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Jean ungelenk. Brian fragte das auch immer, aber ihm kam es schwer über die Lippen, auch wenn er an der Antwort ehrlich interessiert war.
 

Andrew lachte laut und ließ sich anscheinend mit seinem Handy auf den Sitzsack in seinem Zimmer zurückfallen. Seine Haare breiteten sich um ihn herum aus und gaben ihm mehr denn je den Eindruck eines Engels. Der währte nicht lang, nur ein paar Sekunden, aber immerhin.

„Wo hast du die Frage denn gelernt, Findelkind? Bei deinem Sonnenscheinpsychologen aus L.A.?“

Anscheinend war es Andrews Ziel, ihn zu beleidigen und Jean war versucht, es mit seinem gestrigen Faux-pas zu verknüpfen. Dem war nicht so, das wusste er. Vielmehr suchte Andrew vermutlich nach einem Sündenbock und da Riko tot war, war er der Einzige, der greifbar war.
 

Jeans schlechtes Gewissen ließ es zu, dass Andrew das tat. Mehr noch, er begrüßte es geradezu. Schließlich hatte er tatenlos der kommenden Katastrophe zugesehen.
 

Er wandte den Blick ab und wartete, was noch kommen mochte, doch für lange Zeit schwieg Andrew. Er nahm nur hin und wieder einen Schluck aus seiner Flasche und schnaubte einmal.

„Sieh mich an, Rabe“, schnarrte er schließlich und Jean hob die Augen.

„Ich bin keiner mehr“, sagte er ernst und ohne Scheu. Andrew rollte mit den Augen, betrunkener als vorher. Unkoordinierter als vorher.

„Wenn du es wärst, würde ich dich töten.“

„Unseren Handel gibt es nicht mehr.“

Andrew winkte ab, zumindest versuchte er es, bevor seine Hände im letzten Moment dazu übergingen, sich die Haare aus der Stirn zu streichen. Nicht, dass es da viel zu streichen gab.

„Dafür, dass du es wusstest. Dass du die Videos gesehen hast.“
 

Zielsicher, wie Andrew all die wunden Punkte in Jean traf und ihm durch sein eigenes, schlechtes Gewissen Schmerzen zufügte, die er allesamt verdient hatte.

„Aber nein, töten ist ja nicht angebracht. Du hast das ja nicht freiwillig gemacht. Nein, alles unfreiwillig, ein Opfer. Eigentlich hättest du da neben mir liegen können.“ Jean schluckte mühevoll und Andrew runzelte nachdenklich die Stirn. „Was wäre eigentlich, wenn du dagewesen wärst? Ich meine, bei Luther, im gleichen Zimmer? Zusammen hätten wir es vielleicht schaffen können. Hmm…und Proust. Den vielleicht nicht. Der hatte die guten Drogen und die Fesseln.“
 

Jean wurde übel bei der Erwähnung des Namens. Proust war ein widerwärtiger, ekelhafter Mensch, der immer noch auf freiem Fuß war und nicht bestraft wurde für das, was er getan hatte.

„Wieso ist er noch auf freiem Fuß?“

Andrew lächelte, doch es hatte nichts Frohes. Die Kamera wackelte bedrohlich. „Josten, der Gute, hat gegenüber eures Herrchens vielleicht erwähnt, dass Proust auch darin verwickelt war. Und vielleicht hat dieser… Clan sich um mein Problem gekümmert. Mein. Problem. Meins.“
 

Andrew bleckte die Zähne und Jean erkannte, woher die Unzufriedenheit kam. Andrew hatte den Arzt selbst töten wollen, sowie er auch seine eigene Mutter getötet hatte. Jean fragte sich, warum Andrew nicht alles darum gegeben hatte, Drake zu töten, doch diese Frage würde er nicht stellen. Nicht jetzt und nicht in Zukunft.

„Josten hat es nur gut gemeint.“

„Das ist das Gegenteil von gut. Ich hätte ihn in Stücke gerissen. Ihn ausgeweidet. Ihm seine eigenen Spritzen und Medikamente zu fressen gegeben.“ So sonor die Stimme des blonden Foxes auch klang, soviel Hass und Gewalt schwang in den Worten mit. Jean verstand es.

„Ist er tot?“
 

Andrew starrte direkt in die Kamera, so als hätte Jean eine besonders dumme Frage gestellt. Vielleicht war das auch der Fall.

„Genauso tot wie deine fünf Lieblinge.“

Jean brauchte einen Moment, bis er begriff, wen Andrew meinte. Es dauerte keine drei Sekunden, da überrollte ihn das Wissen mit schrecklicher Klarheit und Jean musste das Handy auf das Kissen legen, so sehr zitterte er. Andrew suchte ein Ventil…nur ein Ventil. Er war derjenige, der von allen noch greifbar war, also verletzte er ihn. Jean schluckte und sah zur Seite. Er fragte sich, wie lange das noch so gehen und wann Andrew genug haben würde.
 

Doch zuerst nahm der andere Junge einen weiteren Schluck und schnaufte. „Es gibt Dinge, die sollte man noch nicht einmal betrunken sagen“, beschloss er dann. „Es ist gut, dass die Arschlöcher tot sind.“ Die Überzeugung, mit der es durch seine Lautsprecher schallte, ließ Jean einen kurzen Blick auf Andrew werfen, der ihn nachdenklich musterte. „Vielleicht sind sie in dem Auto verbrannt oder ertrunken. Langsam und qualvoll, voller Angst. Das wäre schön.“
 

Jean blinzelte irritiert. Wieso sagte Andrew jetzt so etwas? Wieso schwenkte er von seinen Vorwürfen auf Verständnis um? Verwirrt runzelte er die Stirn.
 

„Heute ist unser Tag, französisches Findelkind. Unser. Tag. Der internationale Tag der Vergewaltigungen. Du verstehst. Du…verstehst. Und nicht nur das. Du hast Katzenbilder. Den guten Shit. Wenn du denn kognitiv in der Lage bist, sie mir persönlich zu schicken.“ Der letzte Teil des Satzes verschwamm etwas und Jean hob die Augenbrauen. Ja, er verstand. Nur zu gut. Das war es also, was Andrew suchte. Gleichgesinnte und Katzenbilder. Jemanden wie ihn, der etwas Ähnliches durchgemacht hatte, auch wenn Jean gerne darauf verzichtet hätte, hier und jetzt daran erinnert zu werden, was in Evermore geschehen war.
 

„Ich habe auch noch andere Tiere fotografiert“, sagte er und wurde durch ein rüdes Schnauben abgewürgt.

„Nur die Katze.“

„Kater.“

„Klugscheißer.“

Jean lächelte spöttisch und nahm sein Handy wieder auf. Er suchte in seiner Galerie und schickte Andrew das Zweite der vielen Bilder, die er gemacht hatte. Ein leises Ping verkündete die Übertragung des Bildes und Andrews Aufmerksamkeit wich von der Kamera hin zu dem Bild, das er gerade empfangen hatte. Kritisch musterte er den Kater.

„Wie heißt er?“
 

Jean musste tatsächlich überlegen. „Gargamel“, wiederholte er das, was Mrs. Knox ihm gesagt hatte und Andrew lachte trocken.

„Weißt du, woher der Name stammt?“, fragte er und Jean war froh, dass keine Vorwürfe mehr kamen, sondern dass sie so etwas wie eine normale Unterhaltung führen konnten.

„Nein, aber ich bin mir sicher, dass du es mir gleich sagen wirst“, erwiderte er trocken und Andrew bleckte die Zähne.

„So ein schlaues Kerlchen. Ich weiß schon, warum Josten und du ihr euch so gut versteht.“

„Weil wir von Pestbeulen wie dir verfolgt werden?“

„Na so etwas, da hat jemand ein Rückgrat geschenkt bekommen.“

Jean erwiderte wohlweißlich nichts.
 

„Also. Gargamel ist der böse Zauberer aus „Die Schlümpfe“, der es sich zum Ziel gemacht hat, die kleinen blauen Nervensägen zu Gold zu verarbeiten. Ironie hierbei… er hat eine eigene Katze.“

Andrew hätte genauso gut Chinesisch mit ihm sprechen können oder irgendeine andere Sprache, die Jean nicht sprach und die er sich auch nicht herleiten konnte.

„Das hast du dir doch gerade ausgedacht“, schnaubte er entsprechend ungnädig und der blonde Junge hielt inne.

„Moment“, erwiderte Andrew staatstragend und rollte sich schwerfällig auf seine Seite. Geduldig verfolgte Jean, wie er nach etwas suchte und es schließlich auch fand.
 

„Hier ein Stückchen Allgemeinbildung für unser armes Entführungsopfer.“

Jean würdigte die Provokation keiner Antwort und klickte auf den Link. Mit wachsendem Erstaunen stellte er fest, dass es tatsächlich eine ganze Serie über kleine blaue Wesen gab, die gegen den Zauberer kämpften.

„Solche Dinge lassen mich wünschen, wieder zurück zu sein“, grollte er und machte das Fenster zu. Andrew lachte.

„Kommt nicht in Frage.“

Jean hob seine Augenbraue. „Ist das so?“

„Ich würde dich an den Haaren da rausziehen.“

„Aus Sorge? Jetzt bin ich gerührt.“

„Aus Liebe zu meinen Trommelfellen. Das Geheule von Josten und Day wäre unerträglich. Oder von Renee und dem Gummibärenbandenkapitän.“

„Als wenn dich das jemals interessieren würde.“
 

Andrew schnaubte, doch schon an der Art, wie seine Augen ihren Fokus verloren, sah Jean, dass er Recht hatte.

„Neil hat vor einem Jahr gefragt. Wegen Luther und der Familie. Neil fragt immer Dinge. Ich sage nie nein. Idiot.“

Jean würde dem ja zustimmen, wenn er nicht ebenfalls zu beinahe allem, was Knox ihn fragte, ja sagen würde. Erst im zweiten Gedankengang wurde ihm bewusst, welches Vertrauen ihm der andere Junge entgegenbrachte, indem er solch eine intime und verletzliche Information mit ihm teilte. Jean schluckte schwer. Niemals würde er Andrews Vertrauen hintergehen, egal, wie sehr er den blonden Dämon verteufeln würde.

„Was hat er gefragt?“, hakte Jean vorsichtig nach und war sich nicht sicher, ob Andrew ihm darauf eine Antwort geben würde.
 

Zunächst sah das auch nicht danach aus, denn Andrew nahm einen großzügigen Schluck aus der Flasche und stellte sie mit einem lauten Klirren auf den Glastisch neben sich ab. Er lächelte, doch es war voller Bitterkeit.

„Ob ich mitkomme zu einem Familientreffen um Nicky zu unterstützen. Wer hätte gedacht, dass es ein solches Familientreffen werden würde. Ich nicht. Dumm von mir, im Nachhinein.“

Jean schluckte und schloss für einen Moment die Augen. Er war nicht gut in so etwas, ganz und gar nicht.
 

„Du konntest es nicht ahnen. Du warst nicht dumm“, widersprach er entsprechend ungelenk und ballte seine freie Hand zur Faust. „Du wurdest in eine Falle gelockt und Josten konnte ebenfalls nichts dafür, wirklich nicht. Er wusste auch nichts davon.“

Andrew maß ihn mit Mordlust in seinem Blick. „Glaubst du, wenn er willentlich daran beteiligt gewesen wäre, dass…“ Er sprach nicht weiter, wie er nie weiter sprach, wenn es um das Nichts ging, das er mit Neil hatte und Jean gestattete sich ein Nicken.

„Nein. Ich wollte es nur gesagt haben. Ihn trifft keine Schuld.“

„Daran nicht.“

„Woran dann?“

„Dass er ein suizidaler Idiot ist, der seine Klappe nicht halten kann.“

Jean schnaubte amüsiert. „Klingt nach einem guten Grabsteinspruch.“
 

Andrew verfiel in brütendes Schweigen und schüttelte dann den Kopf. „Ich rufe nicht an um mit dir über Josten zu sprechen.“

„Ach?“

„Ich will Katzenbilder.“

„Kater.“

„Katze.“

„Sag es.“

„Nein.“

„Na los.“

„Nein.“

„K.a.t.er.“, buchstabierte Jean mit einem gemeinen Lächeln und als wenn besagter Kater auch nur geahnt hätte, dass von ihm gesprochen wurde, sprang er aus dem Nichts heraus auf Jeans Bett und erschreckte ihn damit beinahe zu Tode.

Vermutlich hatte er sich unter der Matratze versteckt und auf einen günstigen Moment gewartet, aber…
 

Großes Aber.
 

Schnurrend kletterte er auf Jeans Schoß und Andrew horchte auf.

„Ist er da?“, fragte er und Jean nickte.

„Zeig ihn mir.“

„Nein“, sagte Jean alleine aus dem Grund, um Andrew zu antagonisieren. Der rote Fluff sah das anders und kletterte auf seine Oberschenkel um das Handy zu inspizieren, das Jean vor sich hielt. In der kleinen Ansicht seines eigenen Videos sah Jean deswegen nur zu gut, wie sich Gargamels Nase in überlebensgroßer Komik über sein eigenes Gesicht schob, während er an dem Handy schnupperte und sein Schwanz Jean im Gesicht kitzelte. Unter Minyards amüsierten Schnauben schob er das befellte Körperteil weg und grimmte, als er rote Fluff sich zu ihm umdrehte und sich an ihm rieb, seinen Kopf immer wieder gegen sein Kinn stieß.
 

„Ich kann mich irren, aber weder mein missratener Zwillingsbruder noch ich machen das bei dir…“, schnarrte Andrew und Jean zeigte ihm den Mittelfinger, während er versuchte, dem kuscheligen Kater Herr zu werden, was unter all dem Anschmiegen, Schnurren und Schmusen gar nicht mal so einfach war. Schlussendlich hatte Jean ihn soweit an sich gepresst, dass er still hielt und natürlich mit auf dem Video war. Andrew beobachtete sie beide mit sezierendem Blick, seine eigene Mimik undurchdringlich.
 

„Der hilflose Kampf mit einem weitaus kleineren Tier steht dir. Solltest du öfter machen“, sagte er dann spöttisch und Jean rollte mit den Augen.

„Schaff dir doch selbst eine Katze an.“

Andrew gab ein missbilligendes Geräusch von sich. „Kater, Moreau, Kater“, tadelte er und eben jener grollte laut.
 

So sehr Andrew ihn auch damit ärgerte, so froh war er, den anderen Jungen von seinen dunklen Gedanken und Erinnerungen ablenken zu können.
 

~~**~~
 

„Er wird schon wieder herunterkommen“, sagte Ty mit einem breiten, wissende Grinsen, als Jeremy zum wiederholten Male zum Treppenabsatz ging um zu lauschen, ob mit Jean alles in Ordnung war.

Jeremy verschränkte die Arme und drehte sich demonstrativ zum Wohnzimmer zurück um den Blicken seiner beiden ältesten Geschwister Stand zu halten, die ihn unisono anstarrten.

„Na wer weiß das schon, vielleicht hat er sich ja wie ein Vampir in Fledermäuse verwandelt und ist weggeflogen“, zuckte Jamie mit den Schultern und nun war es an Ty und Jeremy, mit den Augen zu rollen.

„Ist klar.“
 

Dass oben nun die Tür aufging und Jean die Treppe hinunterkam, machte Jeremy nicht im Geringsten nervös. Niemals. Schließlich hatte er auch nicht kurz einen Blick auf das Display erhaschen können und Andrews Namen gesehen. Nein. Immer wenn Jean mit den blonden Torhüter der Foxes sprach, war Jeremy nervös und angespannt, auch wenn seine Angst unbegründet war. Hoffte er zumindest.

Brian hatte gemeint, dass das vollkommen natürlich war, nachdem was passiert war. Die Angst, Jean zu verlieren, hatte ihren realen Ursprung und mit dem Ereignis in der Wüste war auch sein vollkommenes Vertrauen, was er in die Unversehrtheit eines anderen Menschen gehabt hatte, verschwunden.
 

Es war okay, Angst davor zu haben, dass Jean endgültig gehen würde, ebenso wie es Arbeit war, daran zu glauben, dass er es nicht mehr tun würde. Jeremy war bereit, sich dieser Angst zu stellen und an Jean zu glauben. Ihm vertrauen. Doch manchmal war es hart.
 

Dass der andere Junge mit Gargamel auf dem Arm nach unten kam und innehielt, als er sah, dass nicht nur Jeremy, sondern auch Ty und Jamie ihn anstarrten, war auf seine ganz eigene Art und Weise charmant.

„Er wollte nicht mehr runtergehen“, rechtfertigte Jean sich für den Kater auf seinen Armen, der auch jetzt keine Anstalten machte, sich aus den Armen zu befreien. Jeremy lächelte glücklich und zwinkerte.

„Wenn sein Drillingsbruder dich schon anruft, dann darf er ja nicht mehr fehlen…das nennt man Geschwisterneid.“
 

Jeans graue Augen sagten ihm sehr deutlich, wie unamüsiert sein Backliner war und Jeremy winkte ihm fröhlich.

„Andrew wollte ihn sehen“, erwiderte er und deutete auf den Kater in seinen Armen, der zufrieden vor sich hinschnurrte. Es war Jamie, der brummte.

„Dein Freund?“, fragte er so unschuldig, dass Jeremy ihm beinahe den Hals dafür umgedrehte.

Jean runzelte mit der Stirn, als er anscheinend über die Frage nachdachte. „Nicht wirklich. Wir…kennen uns.“

„Ihr habt was miteinander am Laufen?“, stimmte Tyler mit ein und Jeremy warf ihm einen warnenden Blick zu. Ganz im Gegensatz zu Jean, der mit dieser Frage nichts anfangen konnte.

„Was bedeutet das?“, fragte er ehrlich verwirrt und Jamie schnaubte amüsiert. Jeremy grollte.
 

„Es bedeutet, ob ihr zusammen seid. Als Paar“, warf Jeremy ein, bevor seine Brüder Jean irgendeinen Mist erzählen konnten. Überrascht weiteten sich die grauen Augen und Jean war im ersten Moment regelrecht sprachlos. Selbst seine Gestik war für einen Moment eingefroren und dann verließ ein fragender Laut seinen Mund.

„Andrew und ich?“, echote er ungläubig und sah von Jeremy zu Jamie zu Ty. Seine älteren Brüder nickten unisono und Jean schüttelte abwesend den Kopf.
 

„Nein. Er und ich…wir…nein. Ich…nein“, verließ es vollkommen verwirrt seinen Mund und hilfesuchend sah er Jeremy an. „Wieso sollten wir? Hat es den Anschein, als wären wir ein Paar?“

Er schüttelte den Kopf und lächelte Jean versichernd zu. „Dumm und dümmer ziehen dich nur auf, Jean. Nein, hat es nicht.“

„Doch hat es“, warf Jamie ein und Jeremy zeigte ihm den Mittelfinger.

„Andrew hat bereits jemanden“, sagte Jean weitaus eloquenter und seine informationsgierigen Brüder horchten auf.

„Wen?“

Jean schüttelte den Kopf. „Das ist nicht an mir zu sagen.“
 

Das zweifache, gepeinigte Aufstöhnen ließ Jeremy grinsen. Die kommenden Worte des ältesten Knox-Sprosses weniger.

„Also unser kleiner Bruder hier ist noch Single“, merkte Jamie nonchalant an und deutete viel zu engagiert auf ihn, als dass es Jeremy wohl damit gewesen wäre. Wütend fauchte er.

„Das hier ist keine Kuppelbörse, sondern Thanksgiving. Ich habe Jean nicht mit nach Hause gebracht, damit ihr mich unter die Haube bringt. Oder ihn.“

„Schade aber auch.“

„Tyler!“
 

Sein Glück war nur, dass Jean diese ganz speziellen Vokabeln nicht kannte. So wütend Jeremy das auf Riko auch machte, in diesem Moment war er erleichtert über diesen Umstand und gelobte, Jean in der Zukunft über alle Formen aufzuschlauen.

„Jean, wolltest du mir nicht noch Nachhilfe in Französisch geben? Jetzt wäre eine gute Möglichkeit, abseits dieser beiden Blödmänner auf der Farm“, blies er die erste Ausrede, die er fand, in den Äther und wurde sich anhand der viel zu unschuldigen Gesichter seiner Brüder bewusst, was er da eigentlich gerade gesagt hatte. Er erhob sich ruckartig.
 

„Natürlich gerne“, sagte Jean in die verräterisch ruhige Stille und sah ihm verwirrt in die Augen.

„Ich hoffe, du wirst ein strenger Lehrer sein“, sagte Tyler mit einem verdächtig zuckenden Mundwinkel und Jean runzelte die Stirn.

„Welchen Zweck hätte Nachsicht?“, fragte er allen Ernstes und Jeremy wollte einfach nur noch raus aus dem Wohnzimmer und die Drei trennen. Das konnte doch nicht gut enden.

„Keinen. Also ist es umso besser, dass wir damit jetzt anfangen“, lockte er seinen Backliner zu sich und Jamie nickte staatstragend. Jean ließ währenddessen den protestierenden Gargamel auf den Boden nieder und strich ihm über das rote Fell.

„Ja, Jean. Jeremy braucht eine strenge Hand. Was den Französischunterricht angeht.“
 

„Stör dich nicht an ihm. Wirklich nicht“, sagte Jeremy, als Jean etwas erwidern wollte und floh mit ihm aus dem Haus, weg von seinen Brüdern, deren Lachen auch noch zu hören war, als sie das Haus verließen.

„Knox?“

Jeremy knirschte mit den Zähnen. „Hmh?“

„Waren das zweideutige Fragen?“

Gepeinigt nickte Jeremy. „Ja, sehr. Die Beiden sind unmöglich. Wirklich. Nimm dir das nicht zu Herzen, was sie gesagt haben. Da kommt nur heiße Luft heraus und die kann man noch nicht einmal als Abwärme gebrauchen.“
 

Zweifelnd starrte Jean auf ihn herunter. Er war immer noch verwirrt, aber Jeremy erkannte keinen Widerwillen in den grauen Augen. Während sie schweigend zu Jeremys erster Station – dem Hühnerstall weit weg von Haus – gingen, arbeitete es ungewöhnlich ausdrucksstark in Jeans Gesicht. Seine Lippen bewegten sich, als wollten sie Fragen stellen und mehr als einmal wandte Jean ihm seinen Kopf zu, nur um ihn dann wieder abzuwenden. Seine Nervosität steckte Jeremy an und als sie schlussendlich beim Hühnerstall ankamen, drehte er sich entschlossen zu Jean um ihn zu fragen, was ihm auf der Seele lag.
 

Der andere Junge kam ihm zuvor, die Hände in den Ärmeln seines Pullovers vergraben. Jean war unsicher. War es wegen etwas, das Jeremy getan hatte? Oder seine Brüder? Oder war es das Telefonat mit Andrew gewesen?

Jean räusperte sich gewaltsam, bevor er auch nur eine der Fragen stellen konnte.

„Deine Geschwister… sie scheinen anzunehmen, dass wir verbunden sind, also auf eine amouröse Art. Wieso?“, fragte er und seine Augen vermieden jeden Blickkontakt zu Jeremy. Das schmerzte, denn er erkannte die Angst, die hinter dieser Frage lauerte.
 

Wie könnte er da jemals ehrlich zu Jean sein?
 

Jeremy schnaubte und gab sich alle Mühe, ironisch verzweifelt zu klingen. Letzteres war kein Problem, ersteres…schon mehr.

„Sie gehen bei jedem Jungen, den ich mit nach Hause bringe, davon aus, dass es mein neuer Ehemann werden wird. So sind sie, seitdem ich ihnen gesagt habe, dass ich schwul bin“, rollte er mit den Augen. Das entsprach schließlich der Wahrheit, denn über mangelnden Zuspruch konnte sich Jeremy innerhalb seiner Familie wirklich nicht beklagen. Im Gegenteil.

„Ein Ehemann?“, echote Jean verwundert. „Das ist möglich?“

„Seit ein paar Jahren schon.“
 

Ein überraschtes Geräusch verließ Jeans Kehle und nun nachdenklich starrte er in Jeremys Augen.

„Gibt es denn einen Anlass, dass sie das tun? Also dass sie in mir einen potenziellen…Ehemann für dich sehen?“, fragte Jean vorsichtig und Jeremy lächelte so sanft, wie es ihm möglich war. Da war sie, die gefürchtete Frage, die er nicht komplett ehrlich beantworten konnte, ohne Jean zu verschrecken.
 

„Sie sehen vermutlich viele Anlässe. Du bist groß, breitschultrig, siehst gut aus, hast einen entzückenden, französischen Einschlag in deiner Stimme, du spielst nicht nur Exy, sondern bist auch verdammt gut darin, bist in meinem Team, wir hängen viel ab, du likest meine Posts in den Social Media Kanälen mehr als die der Anderen, ich habe dich mit nach Hause gebracht und sicherlich noch einiges mehr, wenn man sie fragt.“ Soweit die ehrliche Antwort. Alles davon stimmte.
 

Jean verwirrte das deutlich, das sah Jeremy. Es machte ihn gleichermaßen nervös, wie immer, wenn er Komplimente bekam.

„Was hat mein Aussehen damit zu tun?“

Nun war es an Jeremy, verlegen zu lachen. Er rieb sich über den Nacken und beobachtete ein paar der Hühnerdamen dabei, wie sie das Futter aufpickten.

„Alle meine bisherigen Freunde und Liebschaften haben eines gemeinsam: sie sind groß und breitschultrig“, gab er zu und schluckte, als seine Worte Einzug fanden in Jeans Begreifen.
 

„Wünschst du das von mir? Dass ich mit dir eine Beziehung führe?“, fragte Jean schließlich ungelenk und sein besagter, französischer Akzent kam um einiges stärker heraus als noch ein paar Sekunden zuvor. Jeremy starrte dem größeren Jungen in die Augen, die ihn leicht geweitet und definitiv hochgradig unsicher maßen. Ja!, schrie alles in ihm. Ja verdammt, ja, ich wünsche mir das! Jeremy schloss die Lippen und ahnte, dass je länger er mit der Antwort zögerte, er sich umso verdächtiger machen würde. Je länger er Jean anstarren würde, desto eher würde man sehen, was er wirklich wollte.
 

Er räusperte sich. „Jean, ich wünsche mir, dass du glücklich wirst. Ich wünsche mir, dass du ein normales Leben führen kannst mit dem Menschen oder den Menschen, die du liebst und die du für wichtig erachtest. Ich wünsche mir, dass du alles Glück der Welt findest, um all das wieder gut zu machen, was dir schlimmes passiert ist. Ich wünsche mir deine Gegenwart, weil du ein toller Mensch bist, der witzig und gnadenlos zugleich ist. Ich wünsche mir deine Gegenwart, weil du mich spielerisch forderst und mich voranbringst. Und ich wünsche mir deine Gegenwart, weil ich mich wohl in deiner Nähe fühle.“
 

Jean musterte ihn lange. Viel zu lange, als dass es sich angenehm für Jeremy anfühlte und er schluckte mühsam, als sich die Sekunden zu Minuten hinzogen.
 

„Wünschst du dann meinen Körper?“, versetzte Jean ihm dann den Todesstoß und Jeremy war im ersten Moment nicht in der Lage, überhaupt darauf zu reagieren. Dann jedoch war er umso glücklicher um die Frage, denn sie erlaubte es ihm, zumindest teilweise zu lügen. Wünschte er sich Jeans Körper? Nein, nicht in dem direkten Sinn der Frage. So, wie Jean sie gestellt hatte, war sie passiv, als hätte Jean kein Mitspracherecht. Ja, Jeremy wollte Jean körperlich nahe sein, aber das musste auf Gleichberechtigung beruhen. Niemals auf einseitigem Begehren.
 

„Nein, Jean, denn dein Körper gehört dir und nur dir allein“, erwiderte er so ehrlich es ihm möglich war. „Du triffst die Entscheidung darüber, niemand sonst.“

Sturmgeweiht runzelte sich Jeans Stirn, als er über die Worte nachdachte und sie in seinen eigenen Gedanken zu etwas Sinnvollem zusammenfügte. Eines der Hühner kam zu ihnen, anscheinend auf der Suche nach Futter oder weil sie wusste, dass Jeremy immer gut für ein Kraulen unter den Federn gut war. Es pickte sich seinen Weg zu ihnen, blieb stehen, pickte weiter und Jeremy war dankbar um die Ablenkung.
 

Une poule“, sagte Jean nach einer Weile und Jeremy blinzelte. Fragend sah er zu dem anderen Jungen, der nun mit dem Kinn auf das leise vor sich hin kollernde Huhn. Erst nach ein paar Sekunden begriff er, was Jean damit meinte und ein breites Lächeln schob sich auf sein Gesicht.

Une poule“, wiederholte er langsam und Jean nickte bedächtig, seine Gedanken sorgsam hinter neutralen, grauen Augen verborgen.
 

~~**~~
 

Dass das Haus Knox geschäftig wie ein Bienenstock war, hatte Jean schon seit seinem Eintreffen hier bemerkt. Es war keine hektische Geschäftigkeit, sondern etwas Energiegeladenes, chaotisch Gutes, was um ihn herumschwirrte, auch wenn Jean Mühe hatte, in all dem Trubel den Überblick zu bewahren.
 

Da war selbst das Spiel gegen die chaotischen Foxes übersichtlicher gewesen, befand er, während er in der Küche stand und einen Schüssel Kürbis in der einen und eine Schüssel Karotten in der anderen Hand balancierte, gleichzeitig mit seiner Hüfte den Kühlschrank offenhaltend, damit Knox‘ ältester Bruder die Getränke und den Wein herausnehmen konnte.
 

Beide Schüsseln wurden ihm von Mr. Knox abgenommen und durch die Nuss-Cranberrymischung und die dazugehörige Sauce ersetzt. Auch diese wurden ihm abgenommen, dieses Mal durch Tyler und Mia. Da seine Aufgabe am Kühlschrank scheinbar beendet war, stellte sich Jean wieder in den Bereich der Küche, der nicht von dem Bienenschwarm besucht wurde und wartete darauf, dass er weitere Anweisungen erhielt. Wenn er es sich ehrlich eingestand, hatte er Angst, etwas falsch zu machen, da dieser Tag mit einem solchen Verve zelebriert wurde, dass es Jean davor schon beinahe gruselte.
 

Alles musste stimmen, das Essen musste ausreichend sein, die Dekorationen mussten passen. Der Tisch, den er kurz zu Gesicht bekommen hatte, war nach Knox‘ Aussage herbstlich orange gedeckt, mit Kürbissen und Ähren, die mit bunten Blumen gebunden worden waren. Die Servierten und die Kerzen hatten die Farben der Foxes und die Vielzahl an Tellern, Schalen, Besteckarten, Gläsern und Karaffen ließen Jean schon erahnen, dass er nicht nur einmal nach dem Sinn fragen musste.
 

Es machte ihm nicht mehr so viel aus wie am Anfang, insbesondere auch deswegen, weil diese Familie auf keine seiner unwissenden Fragen mit Hohn oder Spott reagiert hatte. Alles war ihm geduldig erklärt worden.
 

„Jean, mein Guter, kannst du mir beim Truthahn helfen?“, fragte Mrs. Knox und er nickte schweigend. Er kam zu ihr und sie drückte ihm ein paar Handschuhe in die Hand, die er mittlerweile als Ofenhandschuhe identifiziert hatte.

„Lass uns Kunigunde hier gemeinsam auf den Herd hieven, sie ist doch recht schwer.“
 

Kunigunde, auch das hatte Jean gelernt, war der Truthahn, der knusprig braun und lecker riechend aus dem Ofen kam und den er nun zusammen mit Mrs. Knox hochstemmte. Wirklich schwer war er nicht, aber Jean freute sich, dass er helfen konnte und erleichtert schnaufte Knox‘ Mutter.

„Ich hoffe, die gute Dame reicht für uns alle“, sagte sie mit hoffnungsvollem Blick auf ihn. Jean nickte schweigend und hinter ihm schnaubte sein Kapitän.

„Niemals. Hast du dir angesehen, wie hungrig die beiden Pubertiere sind? Die werden den Vogel alleine essen“, sagte Knox mit geröteten Wangen und teilweise abstehenden Haaren. Er war einer derjenigen gewesen, die durch das ganze Haus gewuselt waren.
 

Jean ließ seine Augen über ihn gleiten und unwillkürlich drifteten seine Gedanken zu ihrem Gespräch am Mittag ab. Auch jetzt noch beschleunigte sich Jeans Herzschlag, wenn er an die schwierige Frage dachte, die er gestellt hatte, nachdem es ihm gelungen war, all seinen Mut zusammen zu kratzen.

Knox‘ Antwort hatte ihn beruhigt, auch wenn er im Laufe des Tages immer wieder darüber nachgedacht hatte, was sie eigentlich zu bedeuten hatte. Knox hatte so viele gute Dinge zu ihm gesagt, aber Jean gewann den Eindruck, dass er Dinge nicht klar formuliert hatte. Was genau, das konnte er allerdings nicht wirklich sagen.
 

Vielleicht lag es auch an der absurden Vorstellung von Knox‘ Geschwistern, dass Knox und er heiraten würden. Jean schnaubte innerlich und zuckte zusammen, als ihn jemand aus seinen Gedanken rempelte. Sanft war, aber dennoch unmissverständlich Körperkontakt.

Er sah hoch und der zentrale Punkt seiner Überlegungen zwinkerte gutmütig, während sich Mrs. Knox neben ihm vernehmlich räusperte.
 

„Der Vogel“, soufflierte sie und Jean nickte hastig.

„Selbstverständlich.“
 

Gemeinsam wuchteten sie ihn auf das Serviertablett und trugen ihn unter Applaus zur großen, extra dafür hergerichteten Tafel im Wintergarten des Hauses.

Jean nahm auf dem für ihn vorgesehenen Stuhl neben seinem Kapitän Platz und verharrte, ob seine Hilfe noch weiterhin benötigt werden würde. Dem war anscheinend nicht so, denn er geschäftige Bienenschwarm kam zur Ruhe und wartete andächtig darauf, dass Mrs. Knox den Truthahn anschnitt.
 

Jean hatte noch nie so viele leuchtende Augen auf einem Fleck gesehen wie hier und er gab es auf, sich gegen das warme Gefühl in seiner Magengegend zu wehren, das sich verdächtig nach Entspannung anfühlte. Entspannung und etwas, das er als Vertrautheit identifizieren würde, auch wenn es nicht ganz passte.
 

„Teller bitte!“, rief Mrs. Knox und Jean reichte ihr mit den anderen gehorsam sein Geschirr, damit er seine eigene, großzügige Portion Fleisch darauf bekam. Dann begann das Durchreichen der Teller und Verteilen der Beilagen auf selbige und Jean gab sich die größte Mühe, die richtigen Portionen auf die jeweiligen Personen zu verteilen und den Wünschen aus „Mehr!“, „Viel mehr!“, „Gib mir ruhig alles!“ gerecht zu werden. Beinahe hätte er dabei übersehen, was sein eigener Kapitän mit seinem Teller anstellte und als er sich dessen bewusst wurde, durchlief ihn ein heißkalter Schrecken.
 

„Knox!“, grollte er und das geschäftige Geplapper des restlichen Tisches kam innerhalb von Sekundenbruchteilen zum Erliegen.

„Ja?“, schallte es dann unisono aus breit grinsenden Gesichtern der gesamten Familie zu ihm und Jean begriff abrupt seinen Fehler. Verdächtige Hitze stieg seine Wangen empor und er senkte seine Hand, die Kn…Jeremy davon abhalten sollte, ihm zuviel auf den Teller zu tun.

„Ich…“, begann er und es war Mrs. Knox, die ihm amüsiert die Hand auf den Arm legte.

„Alles gut, wir foppen dich nur, Jean.“

Er schnaufte und begnügte sich damit, seinen Kapitän in Grund und Boden zu starren, während dieser ihm seinen übervollen Teller zurückreichte.
 

Wie sollte er das alles essen? Solche Portionen hatte er in drei Tagen in Evermore nicht zu sich genommen, geschweige denn zu essen bekommen. Zweifelnd starrte Jean das große Stück Truthahn an, das darauf wartete, von ihm gegessen zu werden. Samt Füllung, samt Beilagen und, falls jemand noch nicht satt war, würde danach auf noch der Nachtisch folgen.
 

„Coach wird uns Extrarunden laufen lassen“, murmelte er mehr zu sich als zu seinem Kapitän und Jeremy lachte.

„Nicht nur eine und glaube mir, nach Thanksgiving wirst du froh um jede Minute Sport sein, die dir die Schwere deines Magens nimmt.“

Jean erwiderte nichts. Alleine, dass er zwar mit anerzogener Sorge an ihren Trainer dachte, dass er aber keine Angst vor einer Rückkehr in dessen Stadion hatte, zeigte ihm den Fortschritt, den er schon gemacht hatte. Auch wenn er es noch immer vermied, alleine mit Rhemann in einem Raum zu sein oder ihm direkt in die Augen zu sehen, wenn er nicht musste.
 

Nichtsdestotrotz wurde er gnadenlos gemästet und badete während des Essens in den lebhaften Gesprächen und Themen dieser sich liebenden Familie. Es war Jean nicht unangenehm, ganz im Gegenteil, denn es zeigte ihm, dass nur seine Welt schlecht war, nicht jedoch die der anderen Menschen. Diese Familie hier kannte so etwas wie Gewalt und Kriminalität, Unterdrückung und Folter nicht. Diese Familie war normal. Sie war so, wie er sich seine immer gewünscht hatte und war nun froh, dass er zumindest tageweise an ihrem Leben teilhaben durfte.
 

Natürlich war Jean angespannt, alleine schon, weil er immer die Befürchtung hegte, dass er etwas falsch machte und damit ungeschriebene Konventionen verletzte, die er nicht gelernt hatte. Aber unter die Anspannung mischte sich eine Sicherheit, die er vorher so nicht gekannt hatte. Es war eine normale Familie und sie sahen ihn nicht als komisch an, weil er es teilweise nicht schaffte, sich so zu verhalten, wie sich normale Menschen verhielten.
 

Doch er besserte sich. Er war kein tollwütiger Hund mehr, der auf Rikos Befehl Menschen terrorisierte.
 

Jean lächelte ob dieser Erkenntnis und löffelte schließlich gehorsam seinen Nachtisch, der viel zu mächtig, aber nicht annähernd so süß war, wie er es vermutet hatte. Den Wein, den die erwachsenen Mitglieder der Familie tranken, hatte er zwar probiert, aber auch hier hatte ihm der Alkohol nicht geschmeckt. Es war okay gewesen, dass er ihn stehen ließ, insbesondere für seinen Kapitän, der den Rest seines Probierschluckes aufgetrunken hatte, die Wangen rot und die Augen leuchtend. Eine der aufsässigen Haarsträhnen fiel ihm immer wieder ins Gesicht und Knox strich sie sich zurück, fahrlässig genug, damit sie wieder zurückfiel. Es juckte Jean in den Fingern, das richtig zu machen, aber er beherrschte sich. Einen anderen Menschen einfach so anzufassen, war immer noch schwierig bis unmöglich für ihn.
 

Dass das Abräumen des Tisches wie auch das gemeinsame Spülen und Abtrocknen ein stetiges Gerempel und Geschiebe war, ließ sich nicht verhindern. Jean hatte nach kurzer Zeit seinen Weg gefunden, sich aus diesem Pulk zu ziehen und trotzdem mitzuhelfen und wie durch ein Wunder respektierte das diese wunderliche Familie ohne Kommentar.
 

Es dauerte weniger als eine halbe Stunde, bis sie fertig waren und zurück an den dekorierten Tisch kehrten, mit warmen Gewürzwein und, im Fall der Zwillinge und von Jean, warmen Apfelsaft.
 

„So, meine Freunde, kommen wir zu unserer alljährlichen Thanksgiving-Tradition.“ Mr. Knox sah mit einem warmen Lächeln in die Runde und hob den kleinen, aus Holz geschnitzten Kürbis auf den Tisch, den er zuvor neben sich auf dem Boden platziert hatte. „Jetzt, wo alle vollgefressen sind und nicht weglaufen können, ist der perfekte Moment gekommen, um zu sagen, wofür wir in diesem Jahr dankbar sind.“
 

Knox hatte ihn bereits im Vorfeld darüber aufgeklärt, dass dies passieren würde. Ein uralter Brauch der Familie, bei dem Jean aber nicht mitmachen müsste, wenn er nicht wollte. Jean war sich dessen nicht sicher, auch jetzt noch nicht, als der Kürbis an Mrs. Knox ging. Olivia, wie er in seinen Gedanken wiederholte, da sie ihn sanft tadelnd beim Spülen korrigiert hatte.
 

„Ich bin dankbar, dass es uns allen so gut geht, dass wir gesund sind und unsere Tiere wie auch unsere Mitmenschen mit Respekt behandeln. Ich bin dankbar für unsere gut geratenen Kinder, die uns weniger Stress machen als gedacht und ganz vorzügliche Menschen geworden sind, die für Nächstenliebe und unsere Werte einstehen.“
 

Jean konnte dem nur beipflichten. Knox war ein Mensch, den er so vorher noch nie kennengelernt hatte. Unschuldig und gut, zwei Eigenschaften, die es in einer solchen Reinheit eigentlich nicht geben sollte. Und doch war er da.
 

Der Kürbis wanderte weiter an Jamie. „Ich bin dankbar, dass ich eine solch wunderbare Familie habe, die mich jeden Winter wieder so sehr mästet, dass ich das ganze Frühjahr damit beschäftigt bin, die Kilos loszuwerden. Außerdem bin ich dankbar für die emotionale Unterstützung und die vielen, guten Ratschläge, die mich und mein Geschäft vorangebracht und mir eine Lebensgrundlage gegeben haben, die mir Zufriedenheit schenkt, jeden Tag wieder.“
 

Jean hatte von Mr. Knox erfahren, dass Jamie einen Handel für Landwirtschaftsmaschinen hatte und damit nach einem holprigen Start ziemlich erfolgreich war.

Mia war die Nächste und sie warf den Kürbis durch die Luft, um ihn dann geschickt wieder aufzufangen. Sie spielte Baseball in der Highschool, was zu einem ständigen Sportstreit zwischen ihr und Knox führte, den Jean mittlerweile zu seinem eigenen Seelenheil ausgeblendet hatte.

„Ich bin dankbar für euch alle und dafür, dass ihr uns soviel wunderbare Gelegenheiten beschert, unser Wissen an der Schule zu teilen.“

Jean schnaubte innerlich amüsiert. Ob ihre Eltern wussten, dass sie eine knallharte Geschäftsfrau war? Neben ihm hob Knox bedeutungsschwanger die Augenbraue, als sie ihm den Kürbis zuwarf.
 

Jean wandte sich seinem Kapitän zu und musterte ihn aufmerksam und damit auch die Strähne, die wieder nicht tat, was sie sollte. Seine Finger zuckten.

„Ich bin dankbar für das vergangene Jahr, weil ich eine Familie habe, die mich unterstützt und die mich liebt. Ich bin dankbar, dass ich euch unterstützen und lieben kann. Ich bin ebenso dankbar für das Jahr und dass es mir neue Wege eröffnet hat, neue Perspektiven und neue Freunde geschenkt hat, deren Gesellschaft ich überaus schätze.“

Selbst mit seiner eingeschränkten, sozialen Erfahrung wusste Jean, dass Knox ihn meinte, als er ihn nun ansah.
 

„Ich bin dankbar für das Leben, das ich bisher geführt habe und was noch kommen wird. Ich bin dankbar für jeden Moment.“ Knox atmete tief durch und gab ihm den Kürbis, ein solides und schweres Ding in Jeans Händen. Er sah darauf hinunter und haderte mit sich. Seine Zweifel, ob er dann nicht ein Eindringling wäre, wenn er sich beteiligen würde, hatte Knox gestern zerstreut. Sollte er also auch?

Es juckte ihm in den Fingern, sich zu beteiligen und nicht nur dabei zu sitzen.
 

„Wie gesagt, du musst nicht, Jean. Es besteht kein Zwang.“

Nein, aber er wollte. Jean sah hoch und nickte ernst.

„Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf“, begann er unsicher und räusperte sich. Das war schlimmer als jede Pressekonferenz nach ihren Spielen. „Ich bin dankbar, dass ich in den Tagen, die der Familie gehören, anwesend sein darf und mit Freundlichkeit behandelt werde. Ich bin auch dankbar dafür, am Leben zu sein und die Möglichkeit bekommen zu haben, am Leben zu bleiben. Ich bin dankbar, dass ich akzeptiert werde und ich bin dankbar für deine Anwesenheit in meinem Leben und deine Bereitschaft, mich in deinem Leben zu haben. Ich bin dankbar für jeden Moment mit dir.“
 

Er hatte sich während des Sprechens zu Knox gewandt, der ihn nun mit großen, geweiteten Augen anstarrte, in denen ein verdächtiger Tränenfilm schwamm. Der Rest des Tisches war auch verdächtig still und Jean fragte sich mit neuerlichem Schrecken, ob er etwas Falsches gesagt hatte oder die Tradition falsch verstanden hatte.

Mit Horror sah er, wie die ersten Tränen fielen und öffnete seine Lippen, um sich zu entschuldigen, als sein Kapitän ihn unzeremoniell in die Arme schloss. Dass er nicht, wie sonst, vorher fragte, war in Ordnung. Jean wusste, dass Knox ihm keine Gewalt antun würde.
 

„Das ist so schön, Jean. So wunderschön!“, murmelte Knox und Jean seufzte erleichtert, während er ihm vorsichtig die Arme um den Oberkörper legte und von der einen, verdammten Haarsträhne gekitzelt wurde.
 

~~~~~~~
 

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Niua-chan
2020-12-28T08:01:06+00:00 28.12.2020 09:01
Dieses Kapitel ist umwerfend. In vielerlei Hinsicht. Zum einen finde ich es gut das Jean stark genug ist Andrew beistehen und ablenken. Zum anderen ist es wahnsinnig schön gewesen das er es geschafft hat mit Jeremy ein Gespräch zu führen was sich auch auf Dinge bezieht die er sehr unangenehm findet. Jeremy's Antworten wären einfach toll und unheimlich gut geschrieben.
Den Zuckerschok hast du mir aber mit dem "ich bin dankbar für..." gegeben. Vielen lieben Dank das du das Kapitel noch in diesem Jahr hochgeladen hast. Ich werde es bestimmt noch ein paar Mal lesen ^^
Ich wünsche dir eine guten Rutsch ins neue Jahr
Antwort von:  Cocos
29.12.2020 00:24
Vielen lieben Dank dir für dein Lob. :)

Ich glaube, dass Andrew und Jean sich auf eine gewisse Art und Weise sehr gut tun, auch wenn beide das erst einmal bestreiten würden. Ich mag auch die Dynamik zwischen den Beiden, weil sie so angespannt ist und eigentlich immer unter der Belastung steht, dass Jean in Evermore geholfen hat, Neil zu foltern und dass Jean Mitwisser bei dem war, was Riko getan hat. Die Herausforderung, dass sie sich so nahe kommen wie jetzt und so offen miteinander sein können, mag ich ebenfalls sehr gerne.

Danke für deine Einschätzung von Jeremys Antworten, da habe ich echt geschwitzt bei! Eigentlich sagt er Jean ja, dass er gerne mit ihm eine Beziehung hätte, aber das umschifft er dann doch wortreich. Auch weil Jean offen und direkt anspricht, was ihm Sorge bereitet.

*GG* Jaaa, der Zuckerschock. Der musste sein! Grundsätzlich hat Jean da Jeremy ja gesagt, dass er seine Gegenwart immer möchte (aka Beziehung)...ohne wirklich zu wissen, dass das, was sein Unterbewusstsein ihm sagt, auch das ist, was er momentan noch umschifft.

Dir auch einen guten Rutsch und wenn du Bock hast... ich habe gerade eine weitaus dunklere Fanfic zu AftG hochgeladen. ;)


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