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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Family time! Viel Spaß euch beim Lesen des neuen Teils! :) Bleibt gesund und haltet die Ohren steif! Komplett anzeigen

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Die Knoxes

Behutsam strich Jean über die weiße Tagesdecke, die auf dem Bett lag. Sie war mit Ornamenten verziert und so rein, dass Jean anfänglich Angst gehabt hatte, auch nur in ihre Nähe zu kommen, geschweige denn, sie überhaupt anzufassen. Er hatte so oft geblutet in seinem Leben, dass er in einem kurzen Moment befürchtet hatte, diese absolute Reinheit mit seinen blutigen Fingern zu zerstören.

Doch das letzte Mal, dass der geblutet hatte, war vor zwei Wochen gewesen, weil er sich an einem Blatt Papier geschnitten hatte.
 

An einem simplen Blatt Papier.
 

Val hatte mit diabolischem Grinsen ein Pflaster geholt und ihm ein buntes Kinderding auf den Finger geklebt, das die Trojans beim anschließenden Training mit seltsamen Blicken beäugt hatten.

Erst, als er Fahima nach dem Training beiseite genommen und gefragt hatte, was an diesem Pflaster so komisch sei, hatte sie ihm die Serie auf ihrem Smartphone herausgesucht und erklärt, dass es eine Kinderserie war, die sich auf dem pinken Streifen um seinen Finger wiederfand. Und anscheinend fanden die Trojans diesen Umstand so abwegig, dass sie ihn anstarrten, als wäre es etwas Besonderes.
 

Jean warf einen Blick auf seinen nun unbepflasterten Finger, der vollständig verheilt war und setzte sich vorsichtig auf die Decke. Es war sein eigenes Zimmer, das er sich mit niemandem teilen würde. Er würde alleine hier schlafen. Das letzte Mal, das er alleine geschlafen hatte, war im Zimmer der Krankenschwester gewesen und davor in Evermore. Doch hier war er nicht eingesperrt. Er war nicht verletzt. Er war im Urlaub.

Jean sah sich um und blieb mit seinem Blick auf dem Kopfkissen hängen. Darauf befand sich – wie hatte Knox es genannt? – ein Betthupferl. Es war anscheinend etwas Süßes, das man Gästen auf das Bett legte. Jean kannte diese Tradition nicht und wagte auch nicht, das bunte Etwas anzufassen.
 

Die Handtücher, die auf der Decke lagen, waren ebenso weiß und fühlten sich kuschelig an, heimelig gar. So heimelig, wie es das restliche Haus war mit seinen hellgrauen Wänden und knarzenden Fußbodendielen, teppichbewehrten Treppenstufen, seinem Kamin im Wohnzimmer und den in die Jahre gekommenen Sofas, die so gemütlich wie ausgesessen aussahen, war. Es roch nach Kuchen und nach Abendessen, es roch nach Familie und alles in allem schien das Haus etwas zu sein, das Jahre auf dem Buckel hatte. Aus jeder Pore roch es nach glücklichen Erinnerungen. Jeder Millimeter war bewohnt und durchdrungen von einem überwältigenden Gefühl des Zusammenseins.
 

Es war so, wie Jean es sich für seine Familie immer gewünscht hatte und das machte das Gefühl in seiner Brust gleich doppelt schlimm, denn er war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung, Trauer und Sehnsucht.
 

Jean seufzte und zuckte brachial zusammen, als ein seltsamer Laut unter dem Bett hervordrang, auf dem er saß. Es klang fast, als ob jemand Blähungen hatte. Es roch vor allen Dingen so und Jean zweifelte für einen Augenblick wirklich an sich selbst. Das Essen heute Morgen war wirklich schwer gewesen, aber er hätte doch gemerkt, wenn er…oder?
 

Er fasste sich ein Herz und stand auf. Mit klopfendem Herzen hob er die Decke hoch und sah sich Auge in Auge mit etwas, das er nicht genau beziffern konnte, das aber lebendig war und ihn nun anknurrte.

Mit einem lauten, peinlichen Geräusch seines eigenen Schreckens fuhr Jean zurück und stolperte beinahe über seine eigenen Füße, als er sich hochschraubte um auf die Füße zu kommen. Wild fuhr sein Blick zum Zimmereingang, als plötzlich Knox auftauchte, vermutlich durch sein Geräusch aus dem eigenen Raum getrieben.
 

„Jean, was ist?“, fragte sein Kapitän und trat ins Zimmer, bevor Jean ihn warnen konnte. „Uuuh…“ Er schlug sich die Hand vor Mund und Nase. „Alles in Ordnung, Jean? Soll ich…geht’s dir gut?“, fragte er gedämpft und mit reichlich Indignation erkannte Jean, dass Knox glaubte, er hätte…

Empört deutete er unters Bett. „Da ist etwas!“, erwiderte Jean genauso gedämpft. „Ich war das nicht!“
 

Knox brauchte etwas, bis er seinen Worten Glauben schenkte und beugte sich hinunter, schlug ebenso vorsichtig die Decke zurück, wie Jean es getan hatte. Wieder knurrte es und ein überraschter Laut verließ Knox‘ Lippen. Er ließ die Decke sinken und lehnte sich auf seinen Fersen nach hinten.

„Moooom!“, rief er dann so laut, dass sowohl Jean als auch das Etwas unter dem Bett sich erschreckten, was in einer erneuten Wolke aus Gestank mündete.

„Knox!“, knurrte Jean und ging zum Fenster, riss es weit auf.
 

Die blonde Frau brauchte keine Minute, bis sie bei ihnen war. „Was ist los, Jungs? Oh Gott, was ist denn hier gestorben?“, fragte sie überrascht und Knox deutete auf das Bett.

„Da ist irgendein schwarzer Hund drunter“, sagte er und Jean fragte sich, ob diese Familie ihre Tiere nicht eigentlich kennen sollten. Anscheinend war es aber kein Umstand, der Mrs. Knox überraschte, als sie lachend die Hand vor dem Mund wegnahm.

„Tretet mal etwas zur Seite, Jungs. Geht am Besten mal kurz auf den Flur.“
 

Jean gehorchte ihr ebenso wie Knox selbst und schweigend blieben sie im Flur stehen. Sie legte sich währenddessen auf den Boden und schlug langsam die Decke zurück. Für einige Augenblicke tat sie überhaupt nichts, sondern sah nur lächelnd unter das Bett.

„Hey Barnie, ich bin’s“, sagte sie dann und streckte langsam ihre Hand aus. Jean sah zwar nicht, was unter der Decke passierte, doch dieses Mal blieb das Knurren aus. „Keine Angst, das sind Jer und Jean, sie wollen dir nichts Böses. Sie sind okay. Na komm. Kein Grund, sich zu verstecken“, lockte sie mit einer derart sanften Stimme, dass es Jean schwer fiel, ihren Worten keinen Glauben zu schenken und sich selbst nicht von ihnen einlullen zu lassen. „Außerdem habe ich unten einen Knochen für dich, was hältst du davon, hm? Na komm.“
 

Mrs. Knox zog ihre Hand zu sich und rutschte ein Stück nach hinten, weg von dem Bett. Jean hörte ein Kratzen und wenig später schob sich ein schwarzer Hundekopf unter dem Bett hervor, gefolgt von einem Körper, der massiv und groß war…und immer größer wurde, je mehr der Hund unter der Matratze hervor kam und sich mit eingezogenem Schwanz und angelegten Ohren zu Mrs. Knox über den Boden robbte. Jean blinzelte. Dieser Hund war riesig und sah mit seinem langen Fell aus wie ein Bär. Vermutlich konnte er von Glück reden, dass ihn dieses Ungetüm nicht angegriffen hatte.
 

„Hey Barns, alles gut?“, gurrte sie und der Hund winselte. Er leckte ihr über die Hand und über das Gesicht. Mrs. Knox lachte und kraulte ihn hinter den Ohren.

„Na siehst du, alles ist in Ordnung. Kein Grund, sich zu fürchten.“

Langsam richtete sie sich auf, ihre gesamte Konzentration auf den Hund gerichtet.

„Kommt langsam wieder rein und setzt euch, Jungs. Jean, hast du Angst vor Hunden?“
 

Jean schluckte. Genaugenommen wusste er es nicht. Vielleicht hatte es sich geändert über die Jahre und in Marseille hatte er mehr mit Katzen als mit Hunden zu tun gehabt. „Ich weiß es nicht“, erwiderte er daher ehrlich und sie nickte.

„Wenn du dich damit sicherer fühlst, dann bleib ruhig stehen.“

„Mom…seit wann haben wir einen weiteren Hund?“, fragte Knox und seine Mutter schnaubte. „Das ist Mrs. Andersons Hund. Sie musste ins Krankenhaus und deswegen passe ich seit vorgestern auf den kleinen Feigling mit Blähungen hier auf.“

„Geht es ihr gut?“, fragte Knox besorgt und seine Mutter nickte, während dieses riesige Tier auf ihren Schoß kroch.

„Sie hat sich das Bein gebrochen. Schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich. Aber jemand muss sich um Barns kümmern.“
 

Sein Kapitän setzte sich ebenfalls auf den Boden und streckte dem Tier lächelnd seine Hand entgegen. Dieses Mal blieb das Knurren aus und das schwarze Ungetüm streckte sich so weit es ging ohne die Sicherheit von Knox‘ Mutter zu verlassen nach eben dieser Hand aus. Neugierig schnüffelte die schwarze Nase an den Fingern, bevor Barnie probeweise daran leckte. Anscheinend passte ihm, was er geschmeckt hatte, denn der buschige, schwarze Schwanz wedelte vorsichtig. Zumindest, bis die ebenso schwarzen Augen sich auf Jean richteten und der Hund zu einem kompletten Stillstand kam.
 

„Alles ist gut, das ist Jean“, beruhigte Mrs. Knox ihn und drückte ihm einen Kuss auf den schwarzen Schopf, den Barnie mit einer übereifrigen Zunge beantwortete. Langsam begab Jean sich ebenfalls auf die Knie, in der Hoffnung, dass der Hund ebenso ruhig bleiben würde wie bei seinem Kapitän und Mrs. Knox, als er ihm vorsichtig die Hand entgegenstreckte und es dem blonden Jungen gleichtat.
 

Barnie brauchte etwas, doch dann schnupperte er und die Nase fühlte sich kalt an. Die Zunge, die ausgiebig über seine Hand leckte, war hingegen warm und feucht und Jean schauderte ob des kitzelnden Gefühls.

„Guck mal, er mag dich!“, grinste Knox und Jean fühlte ein Lächeln in sich aufsteigen.

„Sein Fell ist sehr weich“, erwiderte er, als Barnie sich zu ihm robbte und seinen Kopf unter seine Hand presste, während seine Rute wild hin- und herwedelte. Er winselte und Jean zog abrupt seine Hand zurück, aus Angst, dem Tier wehgetan zu haben. Aus dem Winseln wurde ein Jaulen und Jean sah hilflos zu Mrs. Knox, da er keine Ahnung hatte, was er falsch gemacht haben könnte.
 

Doch sie lächelte entspannt. „Er möchte, dass du ihn kraulst und findet es gar nicht gut, dass du deine Hand zurückgezogen hast. Deswegen jault er.“
 

Jean tat wie ihm geheißen und sah mit Horror, wie der Hund sich von Mrs. Knox löste und zu ihm kam. Barnie presste sich mit seinem massiven Körper an Jean und rollte sich hechelnd auf seinen Knien auf den Rücken.

„Ist das ein gutes Zeichen?“, fragte Jean beunruhigt und sie lachte leise.

„Ein sehr gutes. Jetzt will er auch noch den Bauch gekrault haben. Und er liebt dich.“ Sie schnaubte amüsiert und ihr Sohn tat es ihr gleich. Jean war weniger überzeugt und starrte auf das riesige Tier auf seinen Knien nieder, dessen schwarze Augen ihn nicht aus ihrem Blick ließen.
 

~~**~~
 

Jeremy liebte es, nach Hause zu kommen. Er liebte seine Familie, jedes einzelne Mitglied dieses Chaosclubs. Er liebte das Haus und seine Geschichte, er liebte ihre Tiere und alles, was seine Kindheit und Jugend bestimmt hatte. Er liebte, dass er immer ein Zuhause hatte, in das er zurückkehren konnte.

Und so cool L.A. auch war, so sehr er sich mit seinem Sportstipendium und den Trojans auch wohlfühlte…das hier war die eigentliche Quelle seines Glücks und seiner guten Laune.
 

Jean inmitten dieses chaotischen Familienglücks zu sehen, war…das Salz in der Suppe. Ihn mit Barnie zu sehen war absolut hinreißend und Jeremy konnte mit Fug und Recht behaupten, dass er vollkommen verzaubert war, wie sanft und vorsichtig Jean mit dem schwarzen Neufundländer umging, der nur noch Augen für Jean hatte, sobald er seine Angst vor dem Backliner verloren hatte.
 

Auch jetzt, als sie zu ihren Ställen gingen und Jeans große, runde Augen nicht genug von der Umgebung bekommen konnten, die Jeremy ihm zuvor schon auf Bildern gezeigt hatte, seine Hand zuverlässig auf Barnies massivem, schwarzen Schädel, der hechelnd neben ihm herlief und ebenso aufgeregt auf die Kühe starrte, die hinter den großen, eisernen Gattern auf der Weide standen.

Sie würden erst abends wieder in ihren Stall zurückkehren um vor Raubtieren geschützt zu sein.
 

„Lisa!“, rief seine Ma und irritiert runzelte Jean die Stirn. Erst als besagte Dame auf sie zugetrottet kam, begriff er anscheinend, dass damit eine der Kühe gemeint war. Um genau zu sein, die Älteste in der Runde.

Jeremy stupste sacht seine Schulter an. „Keine Sorge. Lisa ist unsere Leitkuh und sehr neugierig. Ma stellt dich ihr vor, damit sie weiß, dass du keine Bedrohung für die Herde bist“, lächelte er und Jean musterte ihn mit großen Augen.

„Keine Bedrohung?“, krächzte er und schluckte schwer.
 

Die Angst, die Jeremy in der Stimme des anderen Jungen hörte, ließ ihn innehalten. Eigentlich hatte er einen harmlosen Scherz machen wollen, doch der blieb ihm im Rachen stecken.

„Hast du Angst vor Kühen?“, fragte Jeremy anstelle dessen sanft, in der plötzlichen Erkenntnis, dass es Jean vielleicht gar nicht so recht war, hier zu sein. Dass er sich nur nicht getraut hatte, nein zu sagen.
 

Jean schüttelte den Kopf. „Nein, das habe ich nicht. Ich…“ Er zögerte mit einer Antwort und sah auf Barnie, der aufmerksam die Kuh betrachtete, die sich ihnen näherte. Jean seufzte und holte dann Luft, als müsse er sich Mut machen.

Er sah zu Jeremy. „Ich habe sie nur noch nie in real gesehen. Immer nur auf Fotos“, gestand er ein und Jeremy starrte begriffsstutzig in die sorgsam neutralen, grauen Augen.
 

Erst dann wurde ihm die volle Tragweite von Jeans Worten bewusst und Jeremy schluckte. Wieder wallte Wut in ihm hoch. Wut auf Evermore, auf Jeans Familie, auf alle, die Jean jemals wehgetan hatten.

„Wir haben hier eine ganze Herde. Wenn du magst, dann kannst du nachholen, was du verpasst hast. Sie sind alle lieb. Sogar Lilly, wenn sie gute Laune hat.“

Jean schluckte. „Aber sie sind so groß und bullig.“

„…und lieb und neugierig.“
 

Zweifelnd sah Jean auf Lisa, die sie mit ihrem linken Auge musterte und ihren Geruch erschnupperte. Sie schnaufte ungeduldig, weil Jeremy sie nicht begrüßte und er lachte. Er ging zum Gatter und schwang sich in ausreichender Entfernung über die Metallstreben, um sie nicht zu verschrecken. Langsam ging er dann auf sie zu und kniete sich unweit von ihr auf die Weide. Sie kam zu ihm und Jeremy lachte, als sie ihre feuchte Nase in sein Gesicht drückte, aufgeregt und freudig, dass er wieder da war.

„Na, hast du mich vermisst, Lady Lisa? Hast du auch gut auf deine Herde aufgepasst?“, grinste er, während er ihr den Arm um den Hals legte und sie hinter den Ohren kraulte.
 

Das Muhen verstand er mit Leichtigkeit als Zustimmung und stolz sah Jeremy, dass Jean näher an das Gatter herantrat. Er blieb auf Lisas linker Seite und ließ sie ruhig näherkommen. Angespannt, aber auch voller Wunder starrte er auf Lisa und streckte ihr schließlich die Hand entgegen, die sie neugierig beschnupperte.

„Lisa, das ist Jean. Jean ist seit dem Sommer an der USC und ist unser Backliner. Ein sehr guter Backliner, der Beste, den die Liga zu bieten hat. Er kommt aus Frankreich.“
 

Jean zuckte mit keinem Muskel, als Jeremy mit ihr sprach und das rechnete er ihm hoch an. Sehr hoch. Nicht, dass Jean von ihm nicht auch schon Verrückteres gewohnt wäre.
 

Aber dennoch!
 

~~**~~
 

Es kribbelte in Jean. Überall. In seinen Fingerspitzen. Unter seiner Kopfhaut. In seinen Beinen. Auf seiner Haut. Einfach überall.
 

Er war erfüllt von den neuen Eindrücken, die ohne Gnade auf ihn einstürmten und ihm Dinge zeigten, die er so noch nie gesehen hatte in seinem Leben. Tiere, so weit das Auge reichte. Die Kühe auf ihrer großen Weide. Pferde, direkt dahinter. Sie gehörten nicht nur den Knoxes, sondern auch Leuten aus der Stadt und den benachbarten Städten. Sally war auch dort… die Stute, auf die er als Belohnung für seine Informationen reiten sollte. Jean schauderte. Er wusste noch nicht ganz, wie er sich dieser Belohnung entziehen können würde. Schweine, groß und dick und gefräßig. Hunde, drei eigene, die Knox, sobald sie seiner ansichtig wurden, freudig über ihn herfielen und sich mit ihm auf dem Boden wälzten. Barnie hatte es nicht nehmen lassne, mit ihnen zu tollen und für einen Moment hatte Jean befürchtet, dass die Tiere seinen Kapitän unter sich begruben. Katzen, die über den Hof liefen und sie aus der Ferne betrachteten. Hühner, die gackernd in ihrem Stall hin- und herliefen. Gänse, die ihr Revier verteidigten, aber Knox liebten. Weil er sie aufgezogen hatte.
 

Natürlich.
 

Er war beinahe schon froh, dass er zurück zum Haus geführt wurde um Kuchen zu essen. Vielleicht gab ihm das die Möglichkeit, all die Eindrücke, die auf ihn eingestürmten, zumindest ein wenig zu verarbeiten.

Jean hoffte darauf, wirklich, auch wenn er die Chancen dazu als recht gering ansah, insbesondere jetzt, da er sich den beiden Zwillingen gegenübersah, die sich auf die andere Seite des Tisches setzten, an dem er Platz genommen hatte. Knox und seine Mutter werkelten in der Küche und die beiden Mädchen nutzten die unbeobachtete Zeit um mit ihm zu sprechen.
 

Oder sich ihn vorzuknöpfen.
 

„Weißt du, wer wer ist?“, fragte die Linke der beiden, das Pferdeschwanzmädchen, wie Jean sie innerlich getauft hatte. Stumm schüttelte er den Kopf. Optisch konnte er sie auseinanderhalten, ihre Namen jedoch…

„Das hier“, sagte sie und deutete nach rechts, „ist Charlotte. Charlie. Ich bin Mia.“

Jean nickte. „Jean.“

Die Beiden kicherten. „Das wissen wir. Also…“

Fragend hob er die Augenbrauen, als beide sich verschwörerisch zu ihm vorbeugten.

„Der Kuchen ist für dich“, wisperte Mia. „Für deine Informationen. Wir haben extra wenig Zucker hineingetan, weil du nicht so gerne etwas Süßes isst, das aber unsere Bezahlung für die Informationen ist.“
 

Es zuckte verdächtig in Jeans Mundwinkel und er schrieb das seinem dünnen Nervenkostüm zu. Das ähnelte so sehr dem, was ihr großer Bruder tun würde, dass er sich ein Seufzen nicht verkneifen konnte. Diese Familie war…unmöglich.
 

Unmöglich in all ihrer Freundlichkeit. Sie war das, was es eigentlich nicht geben konnte und durfte auf dieser Welt.
 

Ein Zeigefinger in seinem Sichtfeld ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. „Aber!“, sagte Charlotte streng.

„Aber?“, fragte Jean nach als nichts mehr kam und geheimnisvoll nickte sie.

„Wir brauchen mehr.“

Jean hob die Augenbraue.

„Mehr was?“

„Informationen!“

„Worüber?“

„Alles!“

„Das ist nicht sehr präzise.“

„Wir wollen alles!“, mischte sich Mia ein und maß ihn kritisch. Sie verschränkte die Arme vor sich.
 

„Wovon wollt ihr alles?“, fragte eine tiefe, männliche Stimme, bevor Jean antworten konnte und erschrocken fuhr er herum. Er war so tief im Gespräch mit den beiden Mädchen vertieft gewesen, dass er die Umgebungsgeräusche beinahe ganz ausgeblendet hatte und sah sich nun dem Vater seines Kapitäns gegenüber. Zumindest glaubte Jean, dass es der Vater war. Der Mann sah genauso aus wie Knox. Nur älter. Und weil die beiden Mädchen wie am Spieß kreischten und Jean sich ohne Mühe erneut erschreckte.
 

„Dad! DAD!“ Beide sprangen auf und ihrem Vater in die Arme, als hätten sie ihn seit Wochen nicht gesehen und Jean war erstarrt in dem Anblick offen zur Schau gestellter, familiärer Zuneigung. Niemals, auch damals nicht, vor Evermore, war seine Familie so herzlich gewesen und für den Bruchteil einer Sekunde sehnte sich Jean nach nichts Anderem als diesem Gefühl und dieser Verbundenheit. Dann jedoch nahm er Abstand, abrupt und verstümmelnd, von dieser Vorstellung, denn sie stand ihm nicht zu. Er war ein Externer, er hatte eine eigene Familie. Eine, die ihn verkauft hatte, aber eine eigene.
 

Und er liebte seinen kleinen Bruder.
 

„Ihr Pubertiere, schön euch zu sehen!“, grollte der Mann und hob sie beide hoch, um sich mit ihnen um die eigene Achse zu drehen. Unwohl erhob Jean sich und trat beiseite, um ihnen Raum zu geben und sie nicht in ihrer Vertrautheit zu stören.

„Dad, Jer ist hier und Jean auch! Endlich sind sie da!“, quietschte Mia begeistert und Jean schluckte.

„Wo ist denn mein Sohn?“, fragte Mr. Knox und Charlie deutete in die Küche.

„Er hilft Mom!“

Mr. Knox brummte. „Dann solltet ihr euch schnellstmöglich ein Beispiel an ihm nehmen“, scheuchte er die beiden Mädchen aus dem Raum heraus und wandte sich Jean zu sobald sie alleine in Wohnzimmer waren. Das breite Grinsen auf seinen Lippen schmälerte sich zu einem höflichen, zurückhaltenden Lächeln, das Jean unwillkürlich an Day erinnerte.
 

Er schauderte.
 

„Hallo Jean“, sagte Mr. Knox und streckte ihm die Hand entgegen. Jean schlug sie vorsichtig ein und der andere Mann drückte so kräftig zu, dass seine krummen Finger protestierten.

„Schön dich kennenzulernen. Ich habe alle deine Spiele als Raven gegen Jeremy gesehen. Und alle Bodychecks.“
 

Jean durchlief es heiß und kalt. Jetzt wusste er, was an diesem Lächeln ihn unruhig machte. Es warnte ihn vor etwas, das er bisher außer Acht gelassen hatte in seiner Naivität. Er stand dem Vater des Jungen gegenüber, den er – für einen Raven vollkommen normal – gecheckt hatte. Dass diese Spielweise am Rand der Illegalität und durchaus brutal war, war ihm bewusst und er begann langsam zu begreifen, dass diese Brutalität nicht normal gewesen war. Dass sie unerwünscht war und andere Spieler verletzt hatte. So auch Knox. Den Sohn dieses Mannes.
 

„Ich verstehe, dass dieser Sport nicht ohne ein gewisses Level an Gewalt oder an Verletzungen auskommt. Aber mein Junge war blau und grün“, sagte Mr. Knox und das Lächeln erlosch vollständig. Der Mann verstärkte den Griff um seine Hand nicht, hielt sie aber immer noch beständig gefangen. Angst krallte sich ihren Weg in Jean empor. Es war die Angst davor, dass der Mann sich für die Verletzungen seines Sohnes rächen würde, wo er doch schon die beiden Mädchen aus dem Raum geschickt hatte.
 

Wie sollte er ihm erklären, dass er dazu erzogen worden war? Wie sollte er ihm erklären, dass er damals soviel Hass in sich getragen hatte, dass er es genossen hatte, das Glück zu zerstören, was er in den unbedarften Augen anderer Spieler gesehen hatte?
 

Jean öffnete den Mund, doch nichts kam heraus. Seine Kehle war wie ausgedörrt, seine Gedanken eingefroren in Furcht um das Kommende.
 

„Dad…“, durchbrach die Stimme seines Kapitäns warnend die Stimme in diesem Raum und Jeans Blick fuhr hilfesuchend zu dem Jungen, den er grün und blau gecheckt hatte. „Wir haben darüber gesprochen, Dad. Lass ihn, das ist Vergangenheit, Jean ist jetzt ein Teil der Trojans.“

Ruhig und besonnen sprach er Worte, die Jean schmerzten in ihrer Vergebung. Knox‘ Vater ließ seine Hand los, während der blonde Junge seinen Oberarm berührte.
 

Jean nahm seine Hand zu sich. Sie pochte unter dem festen Druck des Mannes, der ihn ernst und prüfend musterte.
 

„Herzlich willkommen in unserem Haus, Jean. Ich freue mich auf gemeinsame Tage und gute Gespräche“, sagte er und wenn Jean eines erkannte, dann war es eine Warnung.
 

So sanft und lächelnd sie auch ausgesprochen sein sollte.
 

~~**~~
 

Sein Vater war unmöglich. Unmöglich.
 

Jeremy grollte innerlich schon seit er Jean aus den Händen seines überfürsorglichen Vaters befreit und ihn unter dem Vorwand der Hilfe nach oben gelockt hatte. Aus der Hörweite seiner Geschwister und Eltern heraus.

Was fiel seinem Dad ein, Jean unter Druck zu setzen? Vor allem wegen Dingen, die in der Vergangenheit lagen und Gründe hatten, die schlimmer nicht sein konnten? Hätte sein Vater das vorher angesprochen, dann hätte Jeremy ihm einen Hinweis geben können, dass warnende Worte nicht wirklich angebracht wären und Jean nur verängstigen würden.
 

Aber nein, er hatte seine „du hast meinem Sohn wehgetan“-Rede lieber im stillen Kämmerlein vorbereitet.
 

„Er hätte das nicht sagen dürfen“, knurrte Jeremy nun laut und Jean maß ihn vorsichtig von seinem Platz auf dem Bett aus. So vorsichtig, wie er auch seinen Vater gemessen hatte und Jeremy glaubte zu wissen, wie unsicher der andere Junge im Moment war. Verdenken konnte man es ihm auf jeden Fall nicht.

„Er meint es auch nicht so. Er weiß nicht, was Evermore dir angetan hat. Deswegen sagt er solche Dinge. Er ist dir nicht böse.“

Jeremy pirschte in Jeans Zimmer auf und ab und Jean legte den Kopf schief. Durchdringend musterten ihn die grauen Augen.

„Warst du es wirklich? Grün und blau?“

Schulterzuckend bejahte Jeremy. „So ist nun einmal unser Sport.“
 

Dass die Ravens einen Scheiß auf Sportlichkeit gaben, wussten sie beide.
 

„Ich hätte das nicht tun sollen“, sagte Jean und senkte seinen Blick auf die ineinander verschränkten Hände.

„Du tust es jetzt nicht mehr und das zählt.“

„Er will dich schützen. Und er macht sich Sorgen um dich.“

„Unberechtigt.“

Jean seufzte und dieser Laut ließ Jeremy innehalten. Er hörte auf, Kreise zu laufen und setzte sich in gebührendem Abstand zu Jean ebenfalls auf das Bett.

„Hör zu, meine Familie mag dich. Sie hätten sonst nicht zugestimmt, dich hier zu haben. Niemand verurteilt dich für das, was früher geschehen ist.“

„Dein Vater schon.“

„Er wird erkennen, dass er falsch liegt.“
 

Jean erwiderte nichts, sondern wich seinem Blick aus, indem er auf Barnie starrte, der zu seinen Füßen lag und mit sehnsuchtsvollen Augen zu ihm hochsah. Liebe auf den zweiten Blick, so schien es Jeremy und er seufzte.
 

„Geht mir genauso, Kumpel“, murmelte er und Jean musterte ihn irritiert.

„Was?“
 

Jeremy erstarrte. Ja, er sprach mit Tieren. Er war damit aufgewachsen, mit Tieren zu sprechen. Es war natürlich für ihn, das zu tun. Dass es ihm in diesem Moment herausgerutscht war, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, gehörte nicht dazu. Definitiv nicht. Ebenso wenig, wie es dazu gehörte, dass er etwas herausposaunte, was er für sich behalten sollte. Um jeden Preis. Jeremy schluckte.

„Ach…“ Verlegen rieb er sich über den Nacken und deutete auf Barnie. „Er schaut halt, als würde er sich Sorgen darum machen, dass es dir gut geht.“ Das war hoffentlich nahe genug an der Wahrheit…hoffte Jeremy.

Jean folgte seinem Blick und gemeinsam starrten sie Barnie an, der unter ihrer Musterung winselte und probeweise mit seiner Rute wedelte.
 

„So sieht er nicht aus“, widersprach Jean, elaborierte jedoch nicht weiter, was er damit meinte.

„Doch schon“, versuchte Jeremy sich in einer Gegendarstellung, von der er selbst aber noch nicht einmal wirklich überzeugt war.
 

Barnie brummte leise und furzte sehr ausgiebig und sehr laut.
 


 

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Wird fortgesetzt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Niua-chan
2020-12-01T13:30:40+00:00 01.12.2020 14:30
Hallo,

ich habe deine Geschichte vor kurzen entdeckt und war neugierig. Das reinschnuppern hat sich wirklich gelohnt und jetzt nachdem ich bis hier hin gelesen habe muss ich sagen, dass dein Schreibstil sehr fesselnd ist und vor allen sind die Handlungen und Gedankengänge nachvollziehbar.
Ich freue mich schon auf das kommende und wünsche dir weiterhin viel Erfolg beim schreiben.

LG
Niua
Antwort von:  Cocos
02.12.2020 00:10
Hallo Niua :),

Vielen lieben Dank für dein Lob! Ich freue mich, dass du dein Interesse nicht bereut hast und dass dich meine Geschichte fesseln konnte.

Den Erfolg kann ich wirklich brauchen, denn manchmal machen die beiden Herren echt nicht das, was sie machen sollen ^_^;;; ^.^ Neue Teile kommen bald!

LG
Coco


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