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Force of Nature

von

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Alte Bekannte

Wer auch immer es sich ausgedacht hatte, unter den locker sitzenden Sportshorts auch noch schwarze, enge, oberschenkellange Leggins anzuziehen und das als gut zu befinden, hatte nicht an Jeremys Seelenheil gedacht. An sein armes, schwules Seelenheil, das diese attraktiven, muskulösen, männlichen Männerschenkel, die in trainierten Hintern mündeten, jedes Mal sah, wenn er sich Videos von Exyspielern in ihren Trikots ansah.
 

Das war Jeremys ganz persönlicher Kink und einer, der ihm das Leben nicht leichter machte, zumindest, wenn es darum ging, sich die Spieler der gegnerischen Mannschaften anzusehen und ihr Können einzuschätzen. Wenigstens sortierte sein anderer Kink – Jungs, die größer waren als er – zum Glück mehr als die Hälfte aus. Momentan war er wieder einmal bei Kevin, dessen Spielstil ihn immer noch beeindruckte. Wenn er sich denn mal darauf konzentrieren konnte und nicht nur auf dessen Beine starren würde.
 

Wie gut, dass Jeremy mittlerweile die Wahrheit über die Ravens wusste. Früher hatte er sich die Spieler der besten Mannschaft ihrer Liga wieder und wieder angesehen und ihr Können bewundert. Nun aber wusste er, was der Preis dafür war und ihm war übel, sobald er die schwarzen Trikos auch nur sah. Viel zu wütend war er über das, was sie Jean angetan hatten.
 

Sein Blick schweifte zu Andrew und er beobachtete ihn dabei, wie er in einem seiner selten motivierten Momente jeden einzelnen Ball einkassierte. Er ließ nichts durch, eine Mauer im Tor der Foxes, die der Horror eines jeden Strikers war. Und immer noch sah er gelangweilt aus, als wäre diese Leistung gar nichts.

Jeremy blinzelte erstaunt. Immer noch hatte er den Ausdruck auf dem engelsgleichen Gesicht vor Augen, als dieser ihn bedroht hatte. Ruhig, gelassen, gelangweilt. Alles, was seine Worte nicht gewesen waren, die Jeremy deutlich zu verstehen gegeben hatten, dass er Jean nicht wehzutun hatte.
 

Als wenn er das jemals in Betracht gezogen hätte!
 

Immer noch war Jeremy versucht, sich von Jean Andrews Nummer geben zu lassen um das richtig zu stellen, weil er das so nicht stehen lassen konnte. Aber er war sich nicht sicher, ob das nicht noch weitere Drohungen nach sich ziehen würde.

Kritisch die Stirn runzelnd sah Jeremy auf und lugte ins Schlafzimmer, wo Jean auf dem Bett saß und in dem neuen Wälzer las, der sich seit kurzem in seinem Besitz befand.
 

Nachdem sie bei Ajeet gewesen waren, hatte Jean gefragt, ob er sich ein Buch kaufen durfte und Jeremy war ob der Wortwahl so gewaltig zusammengezuckt, dass Jean sich tatsächlich entschuldigt hatte, die Frage so gestellt zu haben. Jeremy hatte das abgewiegelt, aber der schale Beigeschmack bei dem Gedanken an Evermore war geblieben. Denn nichts Anderes war diese Frage gewesen, als ein Überbleibsel seiner Zeit dort und dem Verbot, seinen Geist mit Dingen zu füttern, die ihn über den Tellerrand schauen ließen.
 

So hatte Jeremy Jean ohne viel Widerspruch in den familiärsten Buchladen der Stadt verfrachtet und Jean in aller Ruhe gesagt, dass er das Recht hatte, jedes Buch der Welt zu kaufen, wenn er es wollte. Ein Nicken war sein Lohn gewesen und Jean hatte tatsächlich mit einer großen Tüte den Laden verlassen.
 

Dass Jeremy bis jetzt vor Neugier starb, weil er immer nur einen kurzen Blick auf den Klappentext des aktuellen Buches werfen konnte, stand auf einem anderen Blatt. Den Rest der Bücher hatte Jean sorgsam verräumt. Ordentlich, wie er alles Andere auch verräumt hatte, vermutlich aus Angst davor, dass jemand sah, wie er Dinge besaß.

Jeremy ließ ihn kommentarlos und war umso glücklicher, dass Eva ihn trotzdem missbilligend anstarrte, wann immer er sich mit dem Rücken zur Wand in sein Bett legte und Jeans Bereich ansah.
 

Nun trat er in den Türrahmen und klopfte gegen das Holz, um Jean vorzuwarnen. Blinzelnd tauchte dieser aus seinen Seiten auf und steckte einen Finger in das Buch, klappte es mit fragendem Blick zu.

„Sag mal, du kennst Andrew ja besser als ich“, begann er und Jean hob zweifelnd die Augenbraue.

„Ich bin nicht Josten.“

„Aber du warst ja vorher bei ihnen und hast sicherlich auch das eine oder andere Mal mit Andrew zu tun gehabt, oder?“

„Er hat mich heimgesucht, ja.“

„Er kümmert sich doch auch um dich, auch wenn er...“ Jeremy stockte und Jeans Ausdruck wurde milder, als er sah, was Jeremy nicht veräußerte. Welche Angst er nicht aussprach.

„Auch das, ja.“

„Ist sein Beschützerinstinkt immer so ausgeprägt?“

„Wie was?“
 

Jeremy schwieg, weil er nicht wusste, inwieweit er sich oder Jean in Schwierigkeiten brachte, wenn er sagte, was vorgefallen war. Aber für nichts Anderes hatte er seine Spielstudien unterbrochen, also sollte er jetzt auch den Mut haben, darüber zu sprechen, oder?

Als er zu Jean sah, bemerkte er die wachsende Unruhe in dem bis gerade eben noch entspannten Jungen und schluckte.

„Er hat mir gedroht, falls ich dir wehtun sollte. Was ich natürlich nicht tun werde, deswegen ist das eigentlich umsonst, aber er hat mich tatsächlich bedroht und das war gruselig, weil Andrew gruselig ist, aber in dem Moment war es viel gruseliger, weil er den Eindruck gemacht hat, als würde er mich umbringen, wenn ich dir auch nur ein Haar krümme, was ich selbstverständlich nicht tun werde!“, brabbelte er und aus Unruhe wurde Unverständnis.

„Er hat dich bedroht“, fasste Jean die Quintessenz des Ganzen zusammen und Jeremy nickte. „Wegen mir?“ Wieder bejahte er es und lächelte.
 

Schließlich grollte Jean und rollte mit den Augen. „Er ist manchmal ein Idiot. Ignorier ihn.“

„Aber das kann ich nicht!“, begehrte Jeremy auf, ganz zur Irritation seines Backliners.

„Weshalb?“

„Weil ich es richtig stellen möchte! Ich würde dir niemals wehtun! Ich verstehe nicht, warum er das von mir denkt.“

Jean seufzte. „Wenn dir das so wichtig ist, dann schreib ihm eine Nachricht. Aber erwarte keine Antwort. Nicht einmal sein Team bekommt welche, wenn er keinen Bock hat.“

Jeremy lächelte verlegen und kam zum Kernpunkt seines Anliegens. „Dazu bräuchte ich seine Nummer.“

Mit einem Kopfschütteln griff Jean zu seinem Handy. Mittlerweile geübt in der Benutzung seines Telefons schickte er ihm den Kontakt. „Bitteschön.“
 

Grinsend salutierte Jeremy, als es an der Tür klopfte. Wobei klopfen etwas untertrieben war. Man konnte meinen, dass jemand versuchte, mit wohldosierter Gewalt die Tür einzuschlagen. Zugegeben, sie war nicht dick, aber dennoch stabil genug, dass sie unter normalen Umständen nicht brechen sollte.

„Ich mach auf“, sagte er zu Jean, der ihn fragend ansah und dann nickte, sich wieder seinem Buch widmend.
 

„Ich komme ja schon!“, brüllte Jeremy, als das Klopfen ein weiteres Mal drohte, die Tür aus den Angeln zu heben und riss in Erwartung seines Teams die Tür auf.

„Kein Grund hier…“, begann er, kam aber nicht weiter, als er seinen Kopf in den Nacken legte um der Frau in die unerfreuten, abweisenden Augen zu schauen, die vor ihm stand. Ihre Haut um so vieles dunkler als es die von ihrem Coach war und damit auf ihre eigene Art und Weise wunderschön obsidianhaft. Ihre hüftlangen Haare in geflochtenen Zöpfen, die zu einem Halbzopf hochgebunden waren, so wie er seine auch immer trug. Ihr linkes Ohr zierte ein langer, dünner Silberohrring, der wie eine Koralle anmutete und mit den weiteren Ohrlöchern einen eleganten Bogen nach oben machte. Ihr Gesicht war ein Musterbeispiel an Symmetrie, wie Jeans auch durch hohe Wangenknochen wenig rund und sympathisch, sondern kantig und aristokratisch. Jeremy verfing sich in ihren dunklen Augen, die auf ihn niederstarrten, wie man auf ein lästiges Insekt niederstarrte.
 

Theodora Muldani stand vor ihm, die Nummer 14 an ihrem zarten Goldkettchen zu deutlich sichtbar.
 

Sein Gehirn brauchte etwas, bis es dem Gedankengang folgen konnte und den Namen der Nationalmannschaftsspielerin nochmals in Gedanken aussprach. Theodora Muldani. Eine von zwei Frauen in der Nationalmannschaft. Auf dem Spielfeld ein Tier, eine Walze, ein unüberbrückbares Hindernis für jeden Striker, der es wagte, ihr zu nahe zu kommen. Der Teufel in Person mit Schenkeln, die einen Menschen zwischen ihnen zerquetschen konnten – zumindest wenn man Kevin fragte. Ex-Raven, die ihre ehemalige Nummer stolz um den Hals trug und die nicht müde wurde zu erwähnen, dass die einzig wahre Mannschaft mit dem einzig wahren Training die Ravens waren.
 

Vielleicht war es das, was Jeremy seine Angst vor ihr nahm und diese durch Wut ersetzte. Sie war in Evermore gewesen, als Jean auch da war, jung und Rikos Angriffen hilflos ausgeliefert. Sie war dagewesen, als der lebende Beweis für abartigen Menschenhandel dort gequält worden war. Niemand konnte ihm sagen, dass sie nichts mitbekommen oder dass Kevin ihr nichts erzählt hatte.
 

Jeremy war selbst überrascht von der Abneigung, die mühelos die Anerkennung für ihre sportlichen Leistungen überwog, wo er sich doch bei Kevin immer noch bemühte, ihrer beider Freundschaft zu sehen und nicht zu verlieren.

„Ja bitte?“, fragte er dementsprechend kühl und sie hob die Augenbraue.

„Ich will Jean sehen.“

Die Art, wie sie es formulierte, stieß Jeremy mehr als sauer auf. Sie hatte kein Recht, hier einfach so herein zu platzen und ihren wie auch immer gearteten Anspruch auf Jean zu erheben, der viel war, aber nicht gerechtfertigt. Viel zu sehr erinnerte er Jeremy an das Vorgehen der Ravens vom Bankett. Alleine deswegen schon war Jeremy versucht, nein zu sagen und ihr einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch dann wäre er nicht besser als Riko. Alleinig Jean traf die Entscheidung, wen er sehen wollte und wen nicht.
 

„Wenn er dich sehen möchte. Ich frage ihn“, erwiderte er kühl und schloss die Tür wieder. Nach dem Debakel beim Bankett hatte Jeremy keine Lust auf erneute Gewalt seitens Evermore und so ging er auf Nummer sicher. Er kam zum Schlafzimmer zurück, wo sein Mitbewohner sich wieder in sein Buch vertieft hatte und räusperte sich.

„Theodora Muldani steht vor der Tür und möchte mit dir sprechen“, sagte er und Jean sah mit gerunzelter Stirn hoch. Er brauchte einen Moment um zu begreifen, was Jeremy gerade gesagt hatte, dann weiteten sich seine Augen überrascht.
 

„Theodora?“, fragte Jean nach und Jeremy nickte.

„Wenn du sie nicht sehen möchtest, kann ich sie wieder wegschicken. Du musst sie nicht treffen, wenn du das nicht magst. Die Ravens oder ihre ehemaligen Spieler haben kein Recht darauf, dich zu terrorisieren.“

Jeremy war sich bewusst, dass er wie der schlimmste Türsteher oder Bodyguard klang, doch er konnte nicht anders. Jean hatte es nicht verdient, weiterhin belästigt zu werden.

Eben jener maß ihn überrascht und schließlich atmete er langsam aus.

„Es ist in Ordnung. Ich werde mit ihr sprechen.“

„Wirklich, Jean. Du musst das nicht.“
 

Zweifelnd sah der Backliner hoch. Er zögerte und Jeremy sah, wie sich Anspannung die Nackenpartie hochfraß. Die Hände, die das Buch hielten, umfassten es enger. „Möchtest du das nicht?“, fragte Jean zögerlich und Jeremy schüttelte energisch den Kopf, als er begriff, in welche Richtung Jeans Gedanken liefen.

„Nein, so war das nicht gemeint! Es ist deine Entscheidung Jean, alleinig deine Entscheidung. Ich möchte nur nicht, dass du meinst, sie sehen zu müssen. Ich kann den Sicherheitsdienst rufen, wenn sie dir unangenehm ist.“

Jean seufzte. „Nein, das wird nicht notwendig sein. Ich spreche mit ihr. Freiwillig.“

Jeremy wusste, dass jede Nachfrage seinerseits Jeans Unsicherheit erhöht hätte, also verschwieg er seine Bedenken und ging zurück zur Tür, öffnete sie. Schweigend trat er beiseite und ließ sie hinein.
 

Wieder ignorierte sie ihn, während sie sich kurz in dem kleinen Flur umsah, einen Blick in die Wohnung warf und sich dann die Schuhe auszog. Das war es aber auch schon, was sie sich an Normalität gab. Dort, wo Jean das Sinnbild eines Panthers war, wenn es darum ging, mit einem Raubtier verglichen zu werden, war sie der Löwe. Der König der Tiere. Alles hier gehörte ihr, mit jedem Schritt, den sie in das Apartment tat. Dass Theodora Jeremy ignorierte, war da natürlich. Ihr Interesse galt ausschließlich Jean, der nun im Durchgang zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer erschien, die Arme eng vor seinem Körper verschränkt.
 

~~**~~
 

Jean hatte gewusst, dass Theodora ihn sprechen wollte. Andrew hatte ihm das schon vor Monaten mitgeteilt und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie ihn tatsächlich heimsuchte. Jean wäre es zwar lieber gewesen, wenn sie sich damit noch Zeit gelassen hätte, insbesondere nachdem er kein Interesse mehr daran hatte, mit Day zu sprechen, doch er kannte den eisernen Willen der Frau, die nun vor ihm stand und ihn durchdringend musterte. Er hielt dem Blick stand, mit seinem eigenen, eisernen Willen, was sie betraf.
 

„Was willst du hier?“, fragte er entsprechend kühl.

„Reden.“

„Worüber?“

„Evermore.“

Brutal ehrlich, wie immer. Das feite Jean aber nicht vor dem gewaltvollen Zusammenzucken, das ihn bei der Nennung seiner ehemaligen Mannschaft überkam. Sie hatte nie Hand an ihn gelegt, aber das bedeutete nicht, dass sie auf seiner Seite gestanden hatte, ganz im Gegenteil. Theodora kannte nur eine Seite. Ihre eigene.

„Warum?“

Sie hob ihre Augenbrauen. Es war in sich eine absolut arrogante Geste, die Jean an die guten, alten Zeiten denken ließ. „Es gibt Dinge, die noch nicht gesagt wurden und Dinge, die richtig gestellt werden sollten.“

Jean runzelte die Stirn. „Warum sollten die auf einmal wichtig sein?“
 

Die Härte, die seit Jahren ihr Gesicht dominierte, wich für den Bruchteil einer Sekunde etwas, das Jean als Menschlichkeit klassifizierte, weil es Emotionen besaß, die sonst nicht da waren.

„Kevin hat mir erzählt-“, begann sie und Jean unterbrach sie rüde und wütend.

„Was Day dir erzählt hat, interessiert mich nicht, Theodora. Wenn es nur darum geht, dann kannst du gehen.“ Er grollte und sah im Augenwinkel, wie Knox sich ihrer Besucherin bereits zuwandte, sein Gesicht in der üblichen Kapitänsentschlossenheit ohne ein Funken an Lächeln, dafür aber mit viel mehr Sturheit in den sonnigen Zügen. Ob er sich bewusst war, dass er Andrew in diesem Moment gar nicht so unähnlich war? Sicherlich nicht und Jean war sich sicher, dass Knox diesen Vergleich auch nicht zu schätzen wissen würde.
 

„Jean, bitte.“
 

Ihr Ton passte nicht zu ihren Worten. Ganz und gar nicht. Sie waren fordernd, kühl, geradezu befehlsgewohnt. Dem gegenüber stand jedoch die Tatsache, dass Theodora Muldani nicht bat. Niemals, zu keiner Zeit. Vielleicht war es eben dieser Umstand, der Jean gnädiger stimmte. Bereiter, sich auf ein Gespräch mit ihr einzulassen.

Er seufzte und löste seine Arme, steckte die Hände in die Hosentaschen seiner knielangen Leinenhose. Da er nicht angenommen hatte, dass sie heute Besuch bekommen würden, hatte er sich bis zum Training heute Abend den Luxus eines luftigen T-Shirts gegönnt und bereute das jetzt, als er ihrer Blickrichtung folgte. Seine Narben auf den Armen. Natürlich.
 

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht und er schnaubte verächtlich.
 

„Was, hätte ich mich doch so anstellen dürfen, wie ich es getan habe?“, fragte er mit einem ganz und gar nicht freundlichen Grinsen, das mehr mit einem Zähnezeigen gemein hatte und sie grollte wenig erfreut. Langsam holte er seine vernarbten Arme nach vorne und drehte sie, damit sie das ganze Ausmaß betrachten konnte.

„Ich hätte das damals nicht sagen sollen“, erinnerte sie sich wie Jean auch noch zu gut daran, was ihr damals 18-jähriges Ich zu Jeans 14-jährigem gesagt hatte, als er es gewagt hatte, sich über die Schmerzen, die der Herr und Riko ihm zufügten, bei ihr zu beschweren. Jean hatten sich die Worte nur zu gut in seine Gedanken gebrannt.
 

„Sag, was du zu sagen hast und dann geh wieder.“

Theodora überlegte einen Moment und steckte nun ihrerseits ihre Hände in die Taschen ihrer schwarzen Jeanshose. „Ich hatte mir gedacht, dass wir vielleicht einen Kaffee trinken gehen. Wir beide. Alleine“, bekräftigte sie mit einem Blick auf Knox, der wachsam im Durchgang zur Küche stand, jederzeit bereit, ihn vor den Ravens zu schützen. Das warme Gefühl, das sich bei dem Gedanken daran in seinem Magen ausbreitete, kannte Jean nicht und er runzelte irritiert die Stirn.

„Kaffeetrinken?“, echote er daher und Theodora nickte knapp. „Wo?“

„Wo du möchtest und dich sicher fühlst.“
 

Der Nachsatz ging auf Days Konto, da war sich Jean sicher. Wütend knirschte er mit den Zähnen und sah zur Seite, hin zu seinem Kapitän.

„Willst du das?“, fragte Knox sanft und Jean war sich nicht sicher. Wollte er? Vor allen Dingen mit ihr alleine? Er hatte keine Angst davor, dass sie ihn gegen seinen Willen zurückschleppen oder sich anderweitig rächen würde, das nicht. Aber die Themen, die sie ansprechen würde, bereiteten ihm jetzt schon Magenschmerzen. Mehr als das. Er spürte, wie Angst sich seinen Rücken hinauffraß.

„Es ist in Ordnung.“ Und wenn sie über die Dinge sprechen wollte, die Knox noch nicht wusste, wäre es besser, wenn er nicht dabei war.

„Ich habe mein Handy auf laut und bei mir. Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst und ich kommen soll, okay?“
 

Jean nickte schweigend und ging zurück ins Schlafzimmer. Er nahm sich lange Kleidung aus dem Schrank und lauschte währenddessen der Stille, die aus dem anderen Zimmer drang. Es war seltsam, dass ausgerechnet Knox, der sonst keinen Moment ausließ um zu reden, Theodora anschwieg, ja in seinen Maßstäben regelrecht ablehnend zu ihr war. Ob sie das überhaupt bemerkte, war fraglich. Oder ob sie sich daran störte.
 

Als er die Tür wieder öffnete, hatte sich Knox in die Küche zurückgezogen und inspizierte den Kühlschrank. Er richtete sich auf, als er Jean hörte und lächelte ihm aufmunternd zu.

Jean nickte und ging in ihren Flur, wo er sich seine Schuhe anzog und darauf wartete, dass sie ihm nachfolgte.
 

Schweigend verließen sie die Wohnung und das Gebäude.

So schnell Jean dem Vorschlag, dass sie die Wohnung verließen um zu einem Café zu gehen, zugestimmt hatte, so schnell wurde ihm nun bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie er dahinkommen sollte. Immer noch hatte er erhebliche Orientierungsschwierigkeiten und war auf die Hilfe seines Teams angewiesen, die ihn von einem Ort zum anderen brachten oder denen er sich anschließen konnte.

„Ich kenne die Richtung nicht“, gab er schließlich zu und warf ihr einen neutralen Blick zu. Schweigend nickte Muldani und nahm ihr Handy. Sie rief eine Kartenapp auf und suchte im Umkreis nach Geschäften und Bars, bis das Programm ihr eine Auswahl zeigte.

„Heißt es so?“, fragte sie und Jean erkannte den Namen. Grill Bill, genau das war er. Sein Team lachte jedes Mal über den Wortwitz, den er nicht verstand. Knox hatte ihm auch nur soviel verraten, dass es eine Anspielung auf einen Film sei, den Jean natürlich nicht gesehen hatte.

„Ja.“
 

Sie aktivierte die Zielführung ihres Handys und ließ das Programm sie dorthin führen.

„Es ist praktisch zum Zurechtfinden“, sagte sie, während er stumm neben ihr herging. „Nennt sich Google Maps. Du hast es auch auf deinem Smartphone. Mit der Fußgängeroption leitet es dich überall hin, wo du hinmöchtest, ohne dass du dich verläufst.“

Überrascht musterte Jean sie. Nach all den Jahren hatte sie immer noch Probleme, sich zurecht zu finden? Nach all dem, was sie erreicht hatte?

„Ich bin nicht in der Lage dazu, überhaupt irgendwohin alleine zu gehen“, erwiderte er nicht ohne Bitterkeit und sie nickte.

„Ich habe auch lange Zeit dafür gebraucht.“
 

Jean nahm das schweigend zur Kenntnis und schloss zur ihr auf, als sie sie in Richtung des kleinen Caférestaurants am anderen Ende des Campus führte. Zwölf Minuten sollten sie angeblich laufen, Jean bezweifelte das aber, wenn er sich die Meterangabe ansah. Sie würden schneller sein.

Er mochte die Blicke nicht, die sie auf sich zogen, und so gab er sein Bestes, sie zu ignorieren. Ebenso wie er die Frau an seiner Seite versuchte zu ignorieren, die immer noch so wie früher roch. Herb, kühl, androgyn. Er hatte sie für diese Kälte gehasst und tat es heute noch.
 

Stell dich nicht so an. Wir werden alle bestraft. Du bist ein Weichei. Lern richtig spielen, dann wird er dich weniger bestrafen.
 

Ungebeten kamen ihre Worte ihm in den Sinn und Jean bleib abrupt stehen. Was tat er hier eigentlich? Warum gab er ihr die Gelegenheit, sich dafür zu rechtfertigen? Diese Frau hatte wenig Gutes getan. Sie hatte ihn nicht angefasst. Niemals hatte sie Hand an ihn gelegt. Dabei blieb es allerdings schon.

„Warum bist du hier?“, fragte Jean mit weniger Wut in der Stimme, als er es gerne gehabt hätte, dafür aber mit umso mehr Verzweiflung. „Du hast mir gesagt, ich soll mich nicht so anstellen. Du hast mir gesagt, dass es meine Schuld ist, weil ich zu schlecht bin. Du…“ Seine Stimme versagte und er sah abrupt weg. Jetzt, da sie da waren, wollte er die Emotionen auf ihrem Gesicht nicht sehen.
 

Sie berührte ihn an der Schulter und er entzog sich ihr unwirsch. Es tat gut, das zu können. Theodora verharrte neben ihm, eine dunkle, bedrohliche Präsenz.
 

„Ich hätte das niemals zu dir sagen sollen. Das hattest du nicht verdient und ich war dumm, dir so etwas vorzuwerfen.“ Jean konnte sich nicht daran erinnern, ihre Stimme jemals so emotionsgeladen gehört zu haben. So rau. Er sah hoch und das war ein Fehler, ein großer Fehler. Ihre Emotionen öffneten Dämme, die bislang gut gehalten hatten.
 

Für Momente starrten sie sich schweigend an.
 

„Er hat mich jahrelang gefoltert und ihr alle habt zugesehen“, murmelte er gegen den Kloß in seinem Hals an. Sie wusste nichts darauf zu sagen, aber in ihren Augen sah er, dass sie wusste, wovon er sprach. Natürlich, Day hatte es ihr erzählt. Alles hatte er ihr erzählt.

„Und er hat andere Spieler in mein Bett geschickt.“ Jean lachte verächtlich um nicht zu weinen. „Obwohl es von den fünf Mal eigentlich nur zweimal das Bett war, in dem sie sich mir aufgezwungen haben. Aber es hat gereicht, damit ich auch heute noch Angst davor habe, mit dem Rücken zum Raum zu schlafen. Oder eher als mein Mitbewohner einzuschlafen.“
 

Seine Worte verhallten wie ein Donnerhall und je länger das Schweigen zwischen ihnen anhielt, desto mehr senkte sich die Schwelle, hinter der Jean seine Tränen sorgsam verschlossen hielt. Seine Augen brannten, doch er weigerte sich, ihr die Genugtuung zu geben, ihn weinen zu sehen.
 

Bewusst atmete sie ein. „Ich hasse Riko dafür, was er dir angetan hat. Ich hasse ihn abgrundtief“, sagte Theodora schließlich, ihre tiefe Stimme rau. „Ich war blind und dumm, ich habe meine Augen vor deinem Leid verschlossen, Jean Moreau.“

Jean verstand ihre Worte und er wusste, dass sie ihn noch viel wütender machen sollten, als sie es taten. Er wusste, dass er sie hassen sollte und doch fand er unter all der Gewalt, die auf ihn projiziert worden war, nicht die Kraft dazu. „Und jetzt?“, fragte er schlicht.

„Bin ich hier um mit dir darüber zu sprechen, wie falsch ich gelegen habe. Ich möchte dir Wiedergutmachung anbieten.“

Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und sah zu ihr hoch. Theodora war tatsächlich größer als er und auch größer als Kevin. Größer als Ajeet oder sein Bruder vermutlich nicht, aber genau konnte Jean das nicht sagen. Dass er überhaupt darüber nachdachte, kam einer Flucht vor seinen Erinnerungen und der jetzigen Situation gleich.

„Was verlangst du von mir?“, fragte Jean misstrauisch und sie schüttelte den Kopf.

„Nichts, Jean. Außer vielleicht, dass du mich zu Ende anhörst.“
 

Er begriff. Langsam und träge, aber er begriff. Wütend schnaubte er. „Day hat dich geschickt, oder?“

Beinahe schon nachsichtig hob sie die Augenbrauen. „Ich lasse mich von niemandem schicken. Ja, Kevin und ich haben über dich gesprochen. Er hat mir mittlerweile alles erzählt. Auch das, was in der Wüste geschehen ist und was er beinahe nicht verhindert hätte.“ Wut huschte über ihr Gesicht und Jean blinzelte. Er machte sich bewusst, dass diese Wut nicht auf ihn gerichtet war, sondern auf Day. Wieso sollte es sie kümmern, ob er sich umbrachte oder nicht?

„Er liebt dich, Jean. Immer noch. Jetzt wieder. Nach allem, was Riko ihm eingepflanzt hat, hat er begonnen, sich aus diesem Teufelskreis zu lösen und den Menschen in dir zu sehen, den er schon zu Anfang gesehen hat. Er würde sich nichts mehr wünschen, als…“
 

„Mich interessiert nicht, was er sich wünscht. Richte ihm das aus, wenn er dich schon gebeten hat, mich zu belästigen“, fuhr Jean dazwischen und grollte. Abrupt drehte er sich weg und sah in die Richtung, in der anscheinend das Café lag. Nicht, dass er wirklich eine Ahnung hatte, wie er dahinkommen sollte.

Ich wünsche mir für dich, Jean, dass du zu dem großartigen Exyspieler wirst, der du schon immer sein solltest. Ich wünsche dir, dass du die Leidenschaft, die unserem Sport innewohnt, nun ohne Gewalt und Demütigung erleben kannst.“

„Wird schwierig, mit der Yakuza im Rücken.“

„Du bist für sie lebendig wertvoller als tot.“

Jean schnaubte verächtlich. „Soviel zum Thema Freiheit.“
 

Ihr durchdringender Blick sagte ihm sehr deutlich, wie sehr sie seinem berechtigten Einwand zustimmte. Dennoch würde Jean niemals vergessen, wie sehr Theodora Evermore liebte und vergötterte. Der Herr hatte sie groß gemacht, er hatte sie gefördert und so lange gefordert, bis sie über sich hinausgewachsen war. Sie wurde nicht müde, das in jedem einzelnen Interview zu betonen, das sie führte.
 

„Lass uns weitergehen, sonst kommen wir nie an“, sagte er um durch die Bewegung seine Gedanken verscheuchen zu können und gemeinsam überbrückten sie die letzten Minuten bis zum Café, unter der sanften Führung der sonoren Stimme aus ihrem Handy.

Sie betraten ebenso stumm das Café wie sie auf ihren Kaffee warteten, beide in ihren Gedanken versunken. Erst, als sie die Becher großen, schwarzen Goldes in den Händen hielten, suchte Theodora Blickkontakt zu ihm und lotste ihn nach draußen, an die frische Luft zu einem der leeren Tische unter den Bäumen.
 

Jean ließ sich nieder und fixierte sich auf den Kaffee in seinen Händen. Das, was er in Evermore nur dann hatte trinken können, wenn Kevin ihm eine Tasse eingeschmuggelt hatte, war ihm ausgerechnet durch Andrew eingeflößt worden. Schluck für Schluck hatte er ihn mit schwarzem Kaffee gefüttert und so den Grundstein gelegt, dass Jean schlussendlich eigenständig dazu griff und dass er sich selbstverständlich welchen kaufte, ohne seinen Kapitän um Erlaubnis zu fragen.
 

„Kommst du mit den Trojans zurecht?“, fragte sie und er sah ob des Themenumschwungs hoch. Entspannt hatte sie sich zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen und trank ihren Kaffee mit unablässigem Blick auf ihn. Was interessiert dich das?, wollte er erwidern, doch ihre Worte auf dem Weg hierhin hielten ihn davon ab. Theodora war kein Mensch, der unnütze Dinge tat. Sie hatte sich von New York aus nach hierhin begeben um mit ihm zu sprechen. Die Antwort auf die Frage interessierte sie.
 

„Sie sind zuvorkommend und bemüht, nett zu sein. Ihr Tagesablauf und ihre Freizeitgestaltung unterscheidet sich grundlegend von der aus Evermore. Sie verbringen jede freie Minute draußen, spielen Gesellschaftsspiele, kümmern sich auf eine freundschaftliche Art umeinander und Knox ist…“ Jean stockte. „…er ist anders als Riko. „Er führt, aber gänzlich ohne Gewalt, sondern mit Humor und Engagement. Ich habe am Anfang nicht geglaubt, dass er es ernst meint, doch mittlerweile weiß ich, dass es keine Scharade ist. Er ist nett zu mir. Ohne etwas zu verlangen.“
 

Er verstummte und Theodora schmunzelte kurz amüsiert. „Ich meinte spielerisch“, erwiderte sie dann und Jean blinzelte. Er stockte in seiner Bewegung, als er sich bewusst wurde, was er priorisiert hatte. Vor Monaten war das noch undenkbar gewesen. Vor Monaten hätte es für ihn nur Überleben und Exy gegeben. Wie sehr sich nun seine Prioritäten verschoben hatten, erkannte er nur zu gut an seiner eigenen Antwort. Und er hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, etwas über seinen Kapitän zu erzählen. In Evermore war das undenkbar gewesen.
 

„Ja, auch das. Auch wenn sie nicht diszipliniert genug trainieren.“

„Ist das so?“

„Sie trainieren nicht annähernd soviel wie die Ravens.“

„Dennoch schaffen es mehr von ihnen in die Profiliga als Ravens.“

Jean zuckte mit den Schultern. „Bisher haben sie gewonnen.“

Ihr Lächeln hatte etwas raubtierartiges. Sie verdeckte es, als sie einen Schluck Kaffee nahm.

„Du bist eine sehr gute Ergänzung für dieses Team. Mit dir können sie die Meisterschaft gewinnen.“

Jean schnaubte. „Sie können die Meisterschaft gewinnen, wenn sie sich entsprechend anstrengen.“

„Ich habe gesehen, dass sie Raventaktiken mit Trojantaktiken mischen.“ Bedeutungsschwanger hob sie die Augenbraue und er verzog unwirsch die Lippen.

„Das macht sie besser.“

„Das macht sie und dich zu einer Einheit. Zu einem Wir.“
 

Jean wusste darauf nichts zu erwidern. Die Trojans waren da und er war ihnen dankbar, dass sie ihm keine Gewalt zufügten. Aber dass sie mehr als das waren, das konnte er sich nicht vorstellen. Oder? Er machte all diese Freizeitaktivitäten mit ihnen und ließ sich in Gespräche verwickeln. Er nahm das, was sie sagten, auf einer mehr als oberflächlichen Ebene wahr und erinnerte sich auch daran.

Er überlegte tatsächlich, ob er noch einmal mit Logan sprechen sollte.
 

Anstelle zu antworten trank er mehrere Schlucke Kaffee und beobachtete die Umgebung und somit auch den Jungen, der nun auf die zukam. Anspannung fraß sich seinen Rücken hinauf, als er versuchte, die Situation einzuschätzen, auch wenn alles darauf hindeutete, dass es schlicht jemand war, der entweder Theodora oder ihn kannte.
 

Sich schüchtern räuspernd erreichte er unter Jeans sezierender Musterung ihren Tisch und blieb in angstvoller Entfernung stehen.

„Entschuldigung?“ Nervös knetete der braunhaarige Junge die Finger, insbesondere, als sich Theodora nun zu ihm umdrehte und ihn von oben bis unten musterte.

„Ja bitte?“, fragte sie und wie als Begründung hielt der Junge ihnen sein Handy hin.

„Mein Name ist Rick. Dürfte ich…äääh…ein Foto von euch Beiden machen? Ich meine, ich bin voll der Fan von euch. Ihr seid großartig und ich sehe mir jedes eurer Spiele an. Schon seit ihr Ravens wart.“ Die Stimme des Jungen triefte nur so vor Bewunderung und Jean runzelte irritiert die Stirn. Immer noch war diese offene Zurschaustellung von Bewunderung irritierend für ihn. Insbesondere, wenn es um Fotos ging. Warum waren Fotos immer so wichtig?
 

Theodora wusste damit weitaus besser umzugehen als er.

„Dankesehr“, erwiderte sie derart neutral, dass er wusste, wie wenig sie von den Worten des Studenten hielt. „Was für ein Foto möchtest du denn?“

Dass ihre unfreundlichen, knappen Worte ein Strahlen auf das Gesicht des Jungen zauberten, verwunderte Jean.

„Gerne eins von euch beiden, so wie ihr hier sitzt. Es sieht cool und lässig aus, wie ihr hier Kaffee trinkt.“
 

Cool und lässig? Jean sah auf den bunt bedruckten Becher hinunter. Er trank doch nur Kaffee, ebenso wie Theodora auch.

„Ist das okay für dich, Jean?“, fragte sie und er nickte stumm. Warum sollte es das nicht sein? Es war nur ein Foto.
 

Solange, wie der Junge brauchte, mussten es mindestens ein Dutzend sein und Jean atmete erleichtert auf, als er sich schlussendlich wieder aufrichtete und sich mit einem Strahlen geradezu verbeugte.

„Vielen herzlichen Dank!“ Er grinste und lachte, als Theodora nickte. Schneller als Jean die Situation begreifen konnte, war der Junge wieder verschwunden.
 

„Du wirst noch mehr Fans bekommen, sobald du in die Pro-Liga wechselst und dich die Nationalmannschaft einberuft. Du solltest dich daran gewöhnen, anstelle wie zu einer Salzsäule erstarrt auf deinem Platz zu sitzen.“

Er blinzelte. Nationalmannschaft? Niemals. Nicht, wenn er nicht dazu gezwungen wurde.

„Die Nationalmannschaft trainiert in Evermore“, erwiderte er verächtlich und konnte doch ein Schaudern nicht verhindern. „Ich will nicht mehr dorthin zurück.“

Dass Theodora die Angst in seiner Stimme wahrnahm, stand außer Frage.
 

„Er ist tot, Jean. Tetsuji ist nicht mehr Trainer. Sie können dir nichts mehr. Und es besteht immer die Möglichkeit, dir ein Apartment außerhalb des Schlosses zu nehmen. Lass dir von deiner Angst nicht die Möglichkeit auf eine exorbitante Karriere nehmen.“

„Du hast keine Ahnung von meiner Angst“, knurrte er und zu seiner Überraschung nickte sie.

„Da hast du Recht. Allerdings halte ich nichts davon, dass du dein Talent verschwendest.“

Jean schnaubte, sagte jedoch nichts dazu.
 

„Wenn die Zeit kommt und der Verband dich anspricht, blocke ihn nicht alleine aus dem Grund ab. Versprich mir das, Jean.“

Jean glaubte, nicht richtig zu hören. „Warum sollte ich dir irgendetwas versprechen, Theodora?“

„Weil es bedeutet, dass das, wofür du gelitten hast, dir den Erfolg bringt, den du verdient hast.“
 

Nur sie konnte eine derart krude Exyargumentation finden. Sie und Day, deren Leben nur aus Exy bestanden und sonst nichts Anderem. Wie Schuppen fiel es Jean von den Augen, dass Theodora es tatsächlich ernst meinte. Aber auch, dass er ihrem Gedankengang niemals würde folgen können.
 

„Ich habe wegen nichts gelitten und ich möchte nicht, dass meine Vergangenheit meine Zukunft bestimmt“, sagte er und war überrascht von dem Sinn der Worte, dessen Tragweite sich jetzt erst vollkommen vor ihm ausbreitete. Es war tatsächlich so, dass er keine Zukunft wollte, die auf seiner Vergangenheit aufbaute. Er wollte etwas, das ihn von den schlechten Erinnerungen aus Evermore trennte. Etwas Neues. Etwas, das er sich freiwillig erarbeitete.
 

Wenn er schon gezwungen war, bis zu seinem Ruhestand Exy zu spielen.
 

Missbilligend runzelte sie die Stirn. „Wirf dein Talent nicht weg, Jean.“

Er kam nicht umhin, mit seinen Augen zu rollen. „Das ist nicht deine Entscheidung.“ Entschieden erhob Jean sich. Er hatte genug von Evermore für sein ganzes Leben lang. Er wollte nicht mehr darüber reden, egal in welcher Form.

„Jean.“

Er starrte auf sie hinunter. „Hör auf, Theodora, ich möchte nicht darüber sprechen. Und ich werde die Entscheidung für mich alleine treffen.“
 

Noch vor Monaten hätte er solche Sätze nie gesagt. Er hätte ihre Worte auf sich einprasseln lassen, in dem Wissen, dass seine Meinung nicht von Relevanz war. Die Foxes hatten ihm zum ersten Mal gezeigt, wie es anders gehen konnte und die Trojans formten eben das aus, wo sie nur konnten.
 

Er lernte immer noch, seinen Willen auszusprechen. Er lernte gleichzeitig damit, dass Menschen ihm zuhörten und dass sie seinem Willen folgten. Sogar Theodora Muldani, auch wenn sie nur widerwillig ihre Lippen verschloss.
 

Es war ein Sieg und kein geringer dazu. Für Jean war es ein Schritt weiter in das, was der Rest der Menschheit Leben nannte.
 

~~**~~
 

„Cap?“

Jeremy brummte fragend, während er auf die Eingangstür starrte, Alvarez und Laila ignorierend, die es sich am Küchentresen gemütlich gemacht hatten. Er selbst stand an der Anrichte und machte beiden gerade eigentlich seine Kakao-Eiscreme-Sahne-Mischung, wenn da nicht ein Geräusch auf dem Flur gewesen wäre, das seine Aufmerksamkeit in Richtung Tür gelenkt hätte. Wie schon so oft, seitdem Jean mit der ehemaligen Ravenspielerin weg war und nicht wiederkam, sich aber auch nicht per Handy meldete.
 

„Wenn du weiter zu Tür starrst, sperre ich dich in dein Schlafzimmer“, drohte Alvarez und sein Kopf schoss herum.

„Was?“, fragte er verwirrt und Alvarez nickte zu dem Eingang hinter ihm.

„Du streunst um Tür herum wie der letzte Wachhund. Jean ist ein großer Junge und in der Lage, auf sich aufzupassen.“ Die letzten Worte betonte sie in einer Tonlage, die Jeremy schlucken ließ. Sie war gestresst durch sein Verhalten, sie hielt es für Angst, dass Jean sich erneut etwas antun würde.
 

Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte Jeremy keine Sekunde darüber nachgedacht. Nun aber fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er schluckte.

„Ich mache mir nur Sorgen, weil er mit Theodora Muldani unterwegs ist. Sie ist eine Ex-Raven. Wer weiß, was sie im Schilde führt“, wiegelte er ab und kam nicht umhin, sich dieses Mal mit Gewalt davon abzuhalten, zur Tür zu schauen, als er die Eingangstür ihres Gebäudes hörte.

„War es für ihn okay, mit ihr zu gehen?“

„Ja schon, aber…“

„Dann wird er auch sicher zurückkehren. Jean ist zwar lebensunerfahren, aber nicht dumm. Und selbst Ersteres gibt sich so langsam, auch wenn er sich immer noch im Supermarkt verirrt.“
 

Laila schmunzelte und Jeremy tat es ihr gleich. Ja, das tat Jean tatsächlich. Am Anfang war Jean nur mitgelaufen und hatte Dinge gekauft, die sich in unmittelbarer Nähe seiner Einkaufsbegleitung befanden, weswegen Jeremy dazu übergegangen war, sich sehr lange und sehr ausgiebig in der Obst- und Gemüseabteilung aufzuhalten, damit Jean in Ruhe einkaufen konnte. Mittlerweile entfernte sich der Backliner in einem weiteren Umkreis, was aber nicht bedeutete, das er wusste, wo er welche Sachen im Supermarkt finden konnte. Es wollte sich ihm einfach nicht einprägen. Die kritisch gerunzelte Stirn und die sturmgeweihten, unzufriedenen Augen ließen Jeremy in all ihrer Alltäglichkeit immer wieder schmunzeln. Jean hatte keine Angst mehr, wie am Anfang. Er war ein Jäger auf der Suche nach seiner Beute und war hoch frustriert, dass er sie nicht fand.
 

Das war…herzerwärmend, auch wenn Jeremy den Teufel tun und das zugeben würde, insbesondere nicht gegenüber Jean. Lieber kam er nach einem akzeptablen, zeitlichen Abstand zu ihm und bot seine Hilfe an, die dieser schlussendlich murrend annahm, wenn er etwas gar nicht fand.
 

„Ja, du hast schon Recht“, sagte er im gleichen Moment, in dem die Tür aufging und es tatsächlich Jean war, der nun im Durchgang stand.

„Hey Jean!“, grüßte Laila sanft und winkte, während Alvarez wissend grinste und knapp salutierte. Er selbst starrte Jean schweigend an und wartete, bis dieser hineinkam, die Schuhe auszog und langsam zu ihnen in die Küche trat. Fragend ruhten seine grauen Augen auf Jeremy, der ihn von oben bis unten musterte und verstohlene Blicke auf die Körperseiten warf.
 

Irritiert folgte Jean den Blicken und fing seine Aufmerksamkeit ein, nachdem Jeremy um ihn herumgehen wollte.

„Untersuchst du mich nach…Verletzungen?“, fragte er mit einem Hauch an Unglauben in der Stimme und Jeremy zuckte ertappt zusammen. Er sah hoch, direkt in die kritischen, grauen Augen, die ihn auf ihre ganz bestimmte Art und Weise anstarrten und ihn nicht aus ihrem Fokus ließen. Verlegen zuckte er mit den Schultern, während Alvarez in seinem Rücken feixte.
 

„Unser Kapitän hat sich Sorgen gemacht, dass die große, böse Wölfin das arme, französische Rotkäppchen mit Haut und Haaren verschlingt.“

„Sie weiß sich zu benehmen“, erwiderte Jean und Jeremy war sich nicht sicher, ob das ein trockener, bitterböser Scherz war. Er beschloss, dass Lachen eine gute Möglichkeit war, um die Spannung abzubauen, die sich in seinem Inneren bei diesem Ausdruck in den grauen Augen gebildet hatte.
 

Dass die nun überraschten Blicke aller drei Anwesenden auf ihm lagen, als wäre er verrückt geworden, machte diesen Versuch schon ein Stück weit zunichte und Jeremy spürte verräterische Röte auf seinen Wangen.
 

„Eisschokolade irgendjemand?“, rettete er sich an den Herd, mit dem Rücken zu den anderen Dreien.
 

~~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  DivaLila
2020-07-15T07:35:52+00:00 15.07.2020 09:35
Wow, einfach nur wow. Ich weiss nicht mehr genau, wie viele Wochen es jetzt her ist, dass ich mich mal wieder bei mexx eingeloggt habe und ich mir die Schreifalter Empfehlungen angeguckt habe. Jedenfalls habe ich auf deine FF geklickt, obwohl mir das Fandom so gar nichts gesagt hat. Die Beschreibung klang interessant, also habe ich mal angefangen zu lesen. Als ich durch war, habe ich die FF nochmals gelesen, in der Hoffnung die Charaktere jetzt ein bisschen besser zu kennen und besser zu verstehen.
Klappte echt gut. Nur die ganzen Szenen mit den Foxes verstand ich nicht so wirklich.
Dann musste ich einfach die Bücher lesen. Alle drei Bände verschlungen, deine FF nochmals durchgelesen und jetzt versteh ich auch alle Szenen! Yay!
Und jetzt bin ich hier und möchte dir einfach mal danke sagen, dass du eine so tolle Geschichte schreibst, die auch für Menschen ohne Plan (also mich) so leicht zugänglich ist!
Die Charaktere sind alle sehr nachvollziehbar und liebenswert geschrieben, mir gefällt dein Pacing und die Erzählweise sehr gut! Beim Lesen der Bücher war ich erstaunt, wie wenig Jeremy und Jean eigentlich vorkommen, so, dass sich deine FF super als Fortsetzung lesen lässt. (Oder gibt es noch Sidestories mit den beiden auf dem blog von Nora Sakavic? Den hab ich mir nämlich nicht angeguckt.) Jedenfalls gefällt mir die Entwicklung, die die beiden durchmachen sehr plausibel und gut beschrieben.

Wie auch immer, ich freue mich total dass ich deine Geschichte entdeckt habe und sie mir die letzten Wochen so viel Lesestoff gegeben hat! Ich freue mich auf die neuen Kapitel <3
Antwort von:  Cocos
16.07.2020 22:48
Hallo DivaLila!

Vielen lieben Dank für deinen Kommentar. :3 Es freut mich so sehr, dass dir die Geschichte den Einstieg in dieses großartige Fandom so leicht gemacht hat und natürlich auch, dass sie dir gefällt!

Vielen lieben Dank dir auch für dein Lob. Das lässt mich schon sehr strahlen. Mir war eine langsame Herangehensweise super wichtig und ebenso, dass die Beiden ein Happy End bekommen werden! Jean hat das so sehr verdient nach allem, was Riko ihm angetan hat. ;__;
Sidestories von den Beiden gibt es von Nora keine. Sie antwortet auch sehr ausweichend, wenn sie nach den Beiden gefragt wird und lässt nicht durchscheinen, ob sie JereJean shipped (ich hoffe einfach mal). Das heißt, dass das zweitgrößte Pairing des Fandoms eigentlich "aus der Luft gegriffen" ist und auf ein paar wenigen Details beruht.

Die neuen Kapitel kommen (wenn auch mit leichter Verspätung) in den nächsten Tagen, also keine Sorge!

Im Übrigen... es gibt einen Belletristica-Gruppenchat für All for the Game. Interesse? :3


Antwort von:  DivaLila
26.07.2020 11:00
Hach, dann ist es umso schöner, dass die Fans die Lücken auf solch wunderbare Art schliessen können ;)

Und kein Ding, lass dir mit den Kapiteln so viel Zeit wie du brauchst - natürlich freue ich mich über regelmässige Updates, aber ich lese auch in zwei Jahren noch weiter :D

Interesse am Gruppenchat ja, aber sie haben manchmal die Tendenz mich zu überfordern ^^" Würde also sagen ein verhaltenes Ja?


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