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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Danke an alle, die mitlesen und ein Kudo, Like, Bookmark, eine Subscription oder einen Kommentar dalassen.

Der Teil ist etwas länger als die vorherigen und eigentlich der erste von zweien. Die üblichen Warnungen gelten auch hier.

Ansonsten, haltet Abstand, bleibt gesund, genießt die Sonne und habt trotz allem schöne Ostern! :) Komplett anzeigen

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Die nackte Wahrheit

Nachdenklich betrachtete Jean seinen auf dem Bett ausgebreiteten Anzug, den er mit Fahima für heute gekauft hatte. Knox war im Bad und sang wie so oft lautstark unter der Dusche, so hatte er noch ein wenig Zeit, die Kühle auf seiner noch feuchten Haut zu genießen. Wer hätte gedacht, dass es einmal eine Zeit geben würde, in der er sich nach Kühle sehnen würde? Oder dass er freiwillig nur in seiner Boxershorts im gemeinsamen Schlafzimmer mit seinem Kapitän stehen und keine Angst haben würde?
 

Jean wusste, dass er solange Zeit hatte, bis Knox mit dem Singen aufhörte. Dann sollte er zusehen, dass er sich das Hemd anzog um seine Narben zu verdecken und sich Knox so zudrehte, dass dieser den Schriftzug an der Innenseite seines Oberschenkels nicht sah.

Bis es soweit war, konnte er seine Gedanken noch schweifen lassen, hin zu Renee, die er heute wiedersehen würde. Endlich, nach so langer Zeit. Er freute sich darauf, sie zu umarmen und sich von ihrem warmen Lachen einfangen zu lassen. Er würde auch Josten und Minyard sehen, ebenso wie Day. Es war nicht so schlimm wie die Vorstellung an die Ravens, die dort sein würden, aber das machte es nicht weniger unangenehm.
 

Wenn er an die Mannschaft dachte, deren Klauen er vor ein paar Monaten entrissen worden war, bekam er klamme Hände. Sein Herz schlug schneller beim Gedanken daran, diejenigen zu treffen, deren Collegezeit nicht zum Ablauf des alten Semesters geendet hatte. Waren sie immer noch 22, hatten sie aufgestockt? Wer war jetzt Kapitän, wer hatte seinen Platz eingenommen? Wer trainierte sie? Wie sie sich ihm gegenüber verhalten würden, war Jean klar. Er rechnete mit Spott und höhnischen Bemerkungen, aber auch mit Versuchen, ihm Gewalt zuzufügen.
 

Es war nichts, was er nicht schon erlebt hatte. Neun Jahre hatten ihn die Facetten der menschlichen Abgründe sehr genau ergründen lassen – auch seine eigenen. Doch die letzten Monate ohne Gewalt, dafür mit umso viel größerer Freundlichkeit, hatten eine Lücke in seinen inneren Wall aus Ertragen und Stark bleiben gerissen.

Jean seufzte innerlich. Zum Glück war niemand mehr mit dabei, der sich ihm aufgezwungen hatte. Riko hatte immer nur ältere Spieler in sein Bett gelassen, diejenigen, die im gleichen oder im darauffolgenden Jahr Evermore verlassen hatten.

Worte konnten ihn nicht verletzten, doch was gewesen wäre, wenn er einem seiner Vergewaltiger hätte gegenüberstehen müssen…
 

Er schauderte ob der Erinnerungen und riss sich mit Mühe aus den dunklen Gedanken los, sich plötzlich bewusst, dass das Singen aufgehört hatte. Wann genau, wusste er nicht, er wusste nur, dass er den Zeitpunkt verpasst hatte und dass das unangenehme Prickeln in seinem Nacken in jedem Fall seine Berechtigung hatte. Jemand Anderes befand sich im gleichen Raum mit ihm.
 

Jean sah hoch und atmete zittrig aus. Langsam drehte er sich um und begegnete dem kalkweißen Gesicht seines Kapitäns, der nur mit einem Handtuch bekleidet im Durchgang zwischen Bad und Schlafzimmer stand und ihn entsetzt anstarrte. Nicht ihn, wusste Jean, sondern seinen narbenübersäten Körper, auf den Knox dank Jeans Nachlässigkeit einen ungehinderten und ungeschönten Blick hatte.
 

Er glaubte nicht, dass der blonde Junge merkte, wie sehr sich seine Finger in das Handtuch krallten.
 

„Jean…?“, bat Knox rau um eine Erklärung, die er schon längst erhalten hatte, wenngleich auch nicht in dieser detaillierten und plastischen Form.

Es war zu spät, sich jetzt zu bedecken und so ertrug er das Hin- und Herhuschen der blauen Augen von Narbe zu Narbe mit mühevoller Ruhe, die jeden Moment zu zerreißen drohte.

„Ist das…war das alles…Riko…?“, fragte Knox zaghaft, beinahe unhörbar, als hätte er Angst, die Frage zu stellen oder nur den Mund aufzumachen. Jean schmeckte diese Angst nicht, ganz und gar nicht, erinnerte sie ihn doch an seinen zweiten Tag hier. Knox war kein Mensch, der Angst haben sollte, schon gar nicht vor ihm oder vor dem, was ihm geschehen war. Er hatte genug Angst für ein ganzes Leben gehabt, als ihm die Wunden zugefügt worden waren.
 

„Riko, der Herr, ich selbst, wenn er es befohlen hat“, antwortete Jean so ungeschönt, wie er vor Knox stand, während sein Herz bei dem Gedanken daran raste, dass sie beide halbnackt waren. Nein, sein Kapitän würde ihm nichts tun. Nicht wahr? Knox war nicht so. Nein, das war er nicht.

Eben jener schluckte hörbar und es waren tatsächlich Tränen, die in den blauen Augen schimmerten.

„Wie…?“, fragte er, verstummte aber und Jean musste nicht an sich hinuntersehen um in Details all das aufzählen zu können, was ihm zugefügt worden war.

„Mit einem Gürtel, einem Stock, einer Rute, einem Messer, einem Brotmesser, einem Viehtreiber, einem Bunsenbrenner, einem Lötkolben oder dem, was gerade da war“, gab er eine erschöpfende und detaillierte Antwort auf die Frage.
 

Knox schlug sich die Hand vor den Mund und strauchelte. Entsetzt musste er sich am Türrahmen abstützen und nach ein paar Sekunden waren es tatsächlich Tränen, die Knox über die noch von der Dusch geröteten Wangen laufen sah. Unsicher verharrte Jean. Sollte er seinen Kapitän trösten, sollte er etwas sagen, um seine Worte weniger schlimm zu machen?

„Sie sind gut verheilt“, versuchte er es probeweise, doch das hatte keinen wirklichen Erfolg. Im Gegenteil.

„Das ist grausam“, wisperte Knox erstickt und Jean senkte den Blick. Natürlich waren seine Worte für einen normalen Menschen grausam. Das hätte er auch schon vorher wissen müssen.

„Entschuldigung, ich hätte das nicht sagen sollen“, erwiderte Jean entsprechend reumütig. „Das wird nicht wieder vorkommen.“
 

Anscheinend hätte er nichts Schlimmeres sagen können.
 

Knox‘ Geschwindigkeit als Striker war ein Nachteil für Jean, der auf die Bewegungen seines Kapitäns erst viel zu spät reagierte. Schneller, als er es sich bewusst war, hatte Knox seine Hände umfasst und sah zu ihm hoch, die Augen groß und bittend.
 

„Jean. Niemals… niemals wirst du dich für etwas entschuldigen, das dir zugestoßen ist. Niemals wirst du dich für etwas entschuldigen, was Andere dir angetan haben. Oder für etwas, das du darüber erzählst. Niemals, hörst du?“, fragte der blonde Junge beschwörend und Jean schluckte. Knox war ihm so nah, dass dessen Geruch alles dominierte und um ihn herumschwirrte wie eine schützende Blase. Er war ihm so nah, dass Jean die Feuchtigkeit spüren konnte, die sich noch auf Knox‘ Haut befand und die wie ein feiner Nebel zu ihm herüberwehte.
 

Der Geruch war auch das Einzige, was Jean davon abhielt, hier und jetzt in Panik zu geraten. Das letzte Mal, als ein halbnackter Junge ihm im Stehen so nahe gewesen war, hatte dieser ihn mit dem Gesicht in die Fliesen der Raven-Gemeinschaftsduschen gepresst. Der daraus resultierende Schmerz hatte wochenlang angehalten.

Knox‘ Geruch, der ihm nicht mehr aus der Nase gehen wollte, beruhigte ihn zumindest soweit, dass er nicht überhastet vor seinem Kapitän zurückweichen oder gar flüchten würde.
 

Mühevoll versuchte Jean sich auf die Worte des anderen Jungen zu konzentrieren. „Niemals“, echote er, weil er nicht wusste, was er sonst darauf sagen sollte.

„Sie haben dir das angetan, du musst dich für gar nichts entschuldigen!“

Jean runzelte die Stirn. „Ich bringe dich zum Weinen. Dafür muss ich mich entschuldigen.“
 

Erschrocken riss Knox die Augen auf. „Ich weine, weil es so grausam ist, was sie dir angetan haben. Weil es du es in keiner Sekunde verdient hattest, so behandelt zu werden. Und ich weine, weil sie dir das auch wegen mir angetan haben.“

Jean schluckte schwer. Nun war er es, der Knox‘ Hände enger umfasste und gefangenhielt, als es vermutlich gut für ihn war.

„Nein! Du bist nicht Schuld daran, dass das passiert ist!“, begehrte er auf, lauter und emotionaler als beabsichtigt.

„Sie haben dich dafür bestraft, dass ich ein paar Mal besser war als du, Jean. Sie haben mich zu einem Werkzeug gemacht um dir wehzutun und das ist meine Schuld, die ich begleiche!“
 

Die er beglich?

Jean zuckte zusammen, als ihm der Sinn der Worte bewusst wurde. Deswegen spielte Knox niemals gegen ihn, bei keinem einzigen Training. Deswegen waren die Übungen zwischen ihm und Knox immer von Vorsicht und Zurückhaltung dominiert. Deswegen offenbarte Knox ihm nicht sein ganzes Potenzial. Jean knurrte unwirsch.

„Du nimmst dich zurück. Wegen mir?“

„Ich will dir nicht wehtun!“, begehrte Knox auf. „Dir wurde genug wehgetan, diese Zeit ist jetzt vorbei! Und wenn die Gefahr besteht, dass ich dir damit unschöne Erinnerungen bereite, dann…“
 

„Nein!“ Vehement widersprach Jean seinem Kapitän, verzweifelt gar. Er wollte nicht, dass der andere Junge ihn schonte, aus einer aus seiner Sicht irrationalen Angst heraus. Das war… er würde… Jean fehlten die Worte.

„Doch! Es ist meine Aufgabe als Kapitän, dich zu schützen!“

„Deine Aufgabe als Kapitän ist es, aus der Mannschaft das Beste herauszuholen!“

„Nicht zu Lasten der Spieler!“

Jean grollte. „Ich bin Schlimmeres gewohnt.“

Der Griff, mit dem Knox die ihn festhaltenden Hände umfasste, zeigte zum ersten Mal die Stärke, die dem Striker eigentlich innewohnte und etwas in Jean triumphierte dabei.

„Wir sind hier aber nicht in Evermore, du sollst hier nichts Schlimmes erleben!“ Leidenschaftlich presste Knox die Worte hervor, genauso leidenschaftlich gestikulierte er mit seinen Händen in der Gefangenschaft von Jeans Fingern.
 

Zu Lasten seines Handtuches, das nun mit einem leisen Rauschen und einem dumpfen Laut auf den Boden auftraf und wie ein Donnerschlag die darauffolgende Stille einläutete.

Jean vergaß, was er hatte sagen wollen, sondern fror auf der Stelle und in der Bewegung ein. Pointiert starrte er auf den Punkt, den er als Letztes fixiert hatte, also den Wassertropfen unter Knox‘ rechtem Auge. Er wagte es nicht, sich zu bewegen, aus Angst, dass er hinuntersehen würde und alleine die Vorstellung, dass Knox gerade vollkommen nackt vor ihm stand, ließ verräterische Röte seinen Nacken hochkriechen.
 

Dass diese natürlich nichts im Vergleich zur Röte auf Knox‘ Gesicht war, war ihm klar.
 

Hysterische Belustigung krallte sich ihren Weg durch Jeans überreiztes Nervensystem. „Nichts Schlimmes sagst du?“, fragte er mit eben jenem Unterton der Verzweiflung, der kurz davor war, in ein Lachen zu münden. Die Situation war so surreal. Einen Moment lang stritten sie und er wagte es tatsächlich, seinem Kapitän Widerworte zu geben und im nächsten wollte er einfach nur noch lachen. Nicht über Knox, sondern über die Absurdität der Situation.
 

Knox räusperte sich verzweifelt. „Das ist für mich gerade schlimmer als für dich, das kannst du mir glauben“, sagte er zwei Tonlagen höher als normal und Jean nickte mit festem Blick auf den Wassertropfen, der sich nun auf den Weg nach unten machte. Oh nein.

Jean starrte Knox anstelle dessen in die hellen, blauen Augen.

„Jean?“

„Ja?“, krächzte er.

„Du hältst meine Hände noch fest. So kann ich nicht…“ Er deutete nach unten und Jean ließ wie verbrannt die Finger seines Kapitäns los, richtete seine Augen abrupt zur Decke. Er trat einen Schritt zurück und wartete mit hellwachen Ohren darauf, dass Knox ihm ein Zeichen gab, dass er sich wieder bedeckt hatte.
 

„So.“
 

Langsam senkte Jean seine Augen wieder. Er holte tief Luft, kehrte zurück zu ihrem vorherigen Gespräch.
 

„Knox, ich bin in der Lage, gegen dich zu spielen. Ich kann zwischen dir und ihm differenzieren.“ Mittlerweile. Am Anfang sicherlich nicht.

„Aber dein Körper…“, begann der blonde Junge kleinlaut und Jean schüttelte entschlossen den Kopf.

„…trägt die Spuren jahrelanger Folter. Aber die Wunden sind zum Großteil verheilt und weder du noch jemand anderes hier an der USC hat in den letzten anderthalb Monaten die Hand gegen mich erhoben. Im Gegenteil. Ihr alle seid…so unbedarft und freundlich, ihr seid wie nichts, was ich jemals erlebt habe. Ihr seid…“ Jean brach ab, bevor er etwas Dummes sagen konnte.
 

„Wir sind dein Team. Deine Freunde, Jean, wenn du das möchtest“, schloss Knox das, was Jean niemals so formuliert hätte. Das machte es aber nicht unschöner. Die Sehnsucht genau danach überraschte Jean mit all ihrer Intensität. Wenn er es sich ehrlich eingestand, dann wollte er das mit allem, was er noch aufzubieten hatte.

Er nickte und schluckte gegen den allzu großen Kloß in seinem Hals an.
 

„Ich habe die Jahre in Evermore überlebt. Wozu ist das denn gut, wenn ich mich jetzt durch ein Spiel gegen meinen Kapitän ängstigen lassen würde?“, fragte er rau und erkannte, dass seine Worte endlich Gehör in Knox‘ sturer Argumentation gefunden hatten.

„Ist es wirklich okay für dich?“

„Ja.“

„Würdest du es mir sagen, wenn nicht?“

Jean überlegte. Früher wäre die Antwort ein Nein gewesen. Auch das hatte sich geändert, wie so vieles. „Ja, das würde ich.“

„Versprochen?“

„Ja.“
 

Knox seufzte. „Wenn ich könnte, würde ich sie alle dafür zur Rechenschaft ziehen, was sie dir angetan haben.“

Seltsame Wärme breitete sich in Jeans Brust aus und er schluckte. „Riko ist tot, der Herr hat seine Mannschaft und seinen Trainerstatus verloren, wurde aus Evermore verbannt. Sie sind beide auf ihre Art und Weise bestraft worden.“

„Nicht genug. Zumindest Moriyama gehört ins Gefängnis für das, was er dir angetan hat.“

Jean schnaubte. Als wenn das jemals geschehen würde.

„Das wird niemals passieren. Dafür ist diese Familie zu mächtig.“

„Ich weiß und das macht mich wütend.“

„Das…ehrt dich“, erwiderte Jean zögernd, sich seiner eigenen Worte nicht wirklich sicher.
 

Knox lächelte. „Und weil ich nichts gegen sie tun konnte und kann, verspreche ich dir hiermit hoch und heilig, dass ich dich vor den Ravens beschützen werde, falls sie dich heute auch nur schief anschauen“, sagte er sehr mit einem derartigen autoritären Ernst, dass Jean unbewusst zusammenzuckte. Im Angesicht dessen wurde Jean sich unangenehm seiner Nacktheit bewusst und unsicher verschränkte er die Arme, rieb sich über die Oberarme.

„Das ist das Mindeste, was sie heute tun werden“, gestand er schließlich ein.

„Sie werden die Antwort darauf bekommen.“
 

Jean schwieg dazu, die Stirn stürmisch gerunzelt. Würde sein Kapitän ernsthaft so für ihn eintreten, dass es sich auf ihren Sport und die kommende Saison auswirken würde? Das war er nicht wert, ganz sicher nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass alleine der Gedanke, jemand würde für ihn einstehen, so unvorstellbar absurd für Jean war, dass er ihn nicht wirklich zu fassen bekam.

„Es macht keinen Sinn, wenn du wegen mir für die Saison gesperrt wirst“, erwiderte er und schürzte die Lippen. Knox hob die Augenbrauen und lächelte.

„Das werde ich nicht, versprochen.“

„Wenn du sie schlägst, dann schon.“
 

Knox lachte verlegen. „Dazu müsste ich erst einmal wissen, wie man sich prügelt.“

Jean blinzelte ungläubig. „Du weißt nicht, wie man sich schlägt?“, echote er. „Du bist Kapitän eines Class I Exy Teams, Kapitän eines Teams der drei führenden Universitäten in der Liga und weißt nicht, wie man sich prügelt?“

„Nein…?“

Jean hob die Augenbraue. Blinzelte erneut. Lachte dann trocken. „Du hast dich noch nie geschlagen?“, fragte er nochmal ungläubig.

„Immer noch nein…?“

„Huh.“ Jean atmete langsam aus, konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Kritisch musterte er seinen Kapitän und schüttelte schlussendlich seinen Kopf. Unsicheres Schweigen trat zwischen sie.
 

Bevor eben jenes die Grenze zwischen unsicher und unangenehm passieren konnte, wurden sie durch lautes Klopfen an ihrer Zimmertür unterbrochen, das sie beide panisch zusammenzucken ließ.

„Knox! Moreau! Wir müssen bald los, kommt in die Puschen!“, dröhnte Alvarez‘ Stimme durch die geschlossene Tür.

„Wir kommen gleich!“, rief Knox zurück und Alvarez entwich ein angeekelter Laut.

„Das will ich gar nicht so genau wissen, Cap!“, rief sie zurück und Jean runzelte verständnislos die Stirn. Hatte sie genau das nicht gerade gesagt?
 

Was es auch war, sie hatte Recht, also griff er zur Hose seines Anzuges.
 

~~**~~
 

Jean hatte den ganzen Tag nichts gegessen und je näher sie dem Bankettsaal im Grand Long Beach kamen, desto erleichterter war er genau um diesen Umstand. Seine Magensäure war um ein so vieles leichter in Schach zu halten, als es jedes Frühstück jemals gewesen wäre.

Mühevoll schluckte er, als der Bus, der sie durch den dichten Verkehr von Los Angeles zum Ausrichtungsort gefahren hatte, anhielt und der Rest des Teams begeistert aufsprang. Am Liebsten wäre Jean in der hintersten Ecke des Busses, in die er sich zu Beginn der Fahrt zurückgezogen hatte, sitzen geblieben und hätte gewartet, bis diese unnötige Veranstaltung ein Ende gefunden hatte.
 

Er hasste Bankette.
 

Riko hatte früher die Veranstaltungen dazu genutzt um ihm den Befehl zu geben, andere, unliebsame Spieler zu terrorisieren. Damit er seine Aufgabe auch bloß erfüllte, hatte er ihm vor jedem einzelnen Bankett klargemacht, dass die Strafe, die er gerade erhielt, noch viel viel schlimmer werden konnte, wenn er versagte. Und so hatte er Jostens wahre Identität vor ihm ausgebreitet, hatte ihn bedroht, mit seiner eigenen Vergangenheit und mit Minyards Wohlergehen, ihm Flugtickets in sein Verderben überreicht, für Riko andere Spieler bedroht und beleidigt…
 

Und er war von Renee angesprochen worden. In ihrem dunkelblauen, wunderschönen Kleid, während er versucht hatte, Josten aus der Reserve zu locken. Sie hatte sich ihm ohne Angst vorgestellt, mit sanften Worten, aber Augen, die ihn vom ersten Moment an gefangen genommen hatten. Minyard war in seiner unberechenbaren Emotionslosigkeit beängstigend gewesen, aber in dem Moment, als sie ihren Blick auf ihn gerichtet hatte, hatte sein Instinkt ihn angeschrien, seine Aufmerksamkeit bloß nicht von ihr abzuwenden.
 

Riko hatte ihm dafür im Anschluss daran den Rücken blutig gepeitscht, doch Jean hatte um nichts in der Welt den Blick von diesen wissenden und gleichzeitig latent todbringenden Augen abwenden können.
 

Dass er nun keine Schmerzen und keine Wunden hatte, aus denen er blutete, machte die Sache nur marginal besser, wenn überhaupt, weil es gefährlich ungewohnt war. Das Team, für das er beinahe ein ganzes Jahrzehnt gespielt hatte, war nicht mehr seins. Und doch fühlte er den Zug hin nach Evermore so schwer wie zu Beginn in Abbys Haus.

Jean blinzelte. Für einen Moment stimmte nichts und alles war surreal. Die Farben, die ihn umgaben, passten nicht. Die Farben, die er selbst trug, passten nicht. Die Art, wie sie in einer chaotischen Wolke den Bus verließen und ohne Ordnung das Gebäude betraten, war nicht das, was er gewohnt war. Schon gar nicht, als sie nun auf die Foxes trafen, die bereits auf sie gewartet hatten und er keinen Befehl erhalten hatte, einen ihrer Spieler zu bedrohen.
 

Jean schluckte gegen sein wild schlagendes Herz an. Durch das Rauschen in seinen Ohren hörte er seinen Namen beinahe nicht, den Renee ihm entgegenrief, während sie ihm vom anderen Ende der Eingangshalle zuwinkte.

Gerne hätte Jean die Geste erwidert, doch die Konditionierung der letzten Jahre schrie ihn an, dass er Rikos Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen und eine solche Geste offen erwidern durfte. Dass er keinerlei Aufmerksamkeit auf sich ziehen durfte, weil es vom Team nicht gewünscht war.
 

Neben ihm schrie Alvarez auf und Jean zuckte zusammen, als sie losstürmte um Danielle Wilds in die Arme zu springen. Er blinzelte ungläubig, als er sich bewusst wurde, dass er kein Raven mehr war. Uniformität war unerwünscht. Die Trojans waren nicht so. Er…er…durfte…

Unsicher huschte sein Blick zu Knox, der ihm zulächelte und mit erhobener Augenbraue in Richtung Renee nickte.
 

Es brauchte seine Zeit, doch dann fasste Jean all seinen Mut zusammen und trat vor, ging ihr langsam entgegen. Sie war schneller, natürlich, selbst mit ihren High Heels, die auf dem marmornen Boden klackerten und dem dunkelblauen, engen Kleid, in dem er sie kennengelernt hatte. Ihre regenbogenfarbenen Haare trug sie offen und ihr Make-Up ließ sie noch viel engelgleicher erscheinen, als er sie von ihrem letzten Videotelefonat in Erinnerung hatte.
 

Er lächelte, als sie vor ihm stehen blieb und ihm in die Augen sah. Als sie die Hände hob und ihm sacht über seine Wangen strich, schmiegte er sich in die Berührung, die ihm soviel bedeutete.

„Hey Großer“, begrüßte Renee ihn mit Freude in der Stimme und Jean ließ alles Positive, was darin lag, ungefiltert in sich eindringen.

„Hey Regenbogenmädchen“, murmelte er und bekam ein spielerisches Grollen.

„Knapp zwei Monate und schon nimmst du die schlechten Eigenschaften deines Kapitäns an. Ich glaube es nicht!“

Er rollte mit den Augen und seufzte.

„Komm her“, befahl sie sanft und Jean bettete gehorsam seine Stirn an ihre. Er schloss die Augen und genoss ihre Nähe, ihren Geruch, ihre Präsenz, die soviel Wärme für ihn bedeutete.
 

Natürlich grölte und johlte ihr Team im Hintergrund. Das hatten die Foxes schon getan, als sie sich am Flughafen in der Nähe der Palmetto State University verabschiedet hatten.

„Wetten sie immer noch?“, murmelte Jean.

„Nachdem ihre Wette um Andrew und mich geplatzt ist, was glaubst du denn?“

Er lauschte ihrer Stimme. „Hast du sie noch nicht aufgeklärt?“

„Als ob die Idioten sich eines Besseren belehren lassen. Außerdem werde ich an Allisons Gewinnquoten beteiligt, also werde ich den Teufel tun, es zu unterbinden.“
 

Ein kurzes Lachen entkam seinen Lippen und er löste sich langsam von ihr, ließ seine Augen über die anwesenden Spieler schweifen. Er hob die Augenbraue, als Hemmick ihm begeistert zuwinkte und Danielle zwei Finger in den Mund steckte und anerkennend pfiff. Selbst Josten konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und wurde von Boyd mit dem Ellbogen in die Seite gestoßen. Die Zwillinge waren auch da und durch die Anzüge, die sie beide trugen, war es Jean beinahe unmöglich, den unfreundlichen von dem noch unfreundlicheren zu unterscheiden. Er tippte darauf, dass Andrew näher an Josten stand, sicher war er sich dessen aber nicht.

Reynolds und Day waren die Einzigen, die sich in dem ganzen Zirkus zurückhielten.
 

Er wandte sich wieder an Renee. „Irgendwelche Tipps, wie ich die Minyards auseinanderhalte?“, fragte er mit einem gequälten Gesichtsausdruck und sie lachte.

„Ausprobieren.“

„Du bist grausam.“

„Das weißt du doch.“
 

Jean seufzte. Sein Team war verdächtig still und er wagte einen kurzen Seitenblick auf die Trojans, die allesamt nur eine Blickrichtung kannten. Seine. Er war im vollen Fokus ihrer aller Aufmerksamkeit, insbesondere von Knox und Laila, die ihn beide mit breiten Grinsen auf ihren Gesichtern anstarrten.

„Könntest du sie auch so aus der Fassung bringen, wenn wir gegen euch spielen? Das wäre sehr hilfreich“, grinste Renee in seinem Rücken und Jean fuhr mit großen Augen zu ihr herum.

„Aus der Fassung bringen?“

„Na, anscheinend haben sie gerade einen Geist gesehen.“

Jean verzog unwirsch die Lippen.
 

„Hey, wollen wir uns noch an die Bar setzen? Wir haben noch ein bisschen Zeit, bis die anderen Mannschaften eintreffen!“, rief Knox in den Raum und erntete begeisterte Zustimmung. Erst, als die meisten Spieler die Eingangshalle verlassen hatten, folgte Jean ihnen und es war natürlich Day, der auf ihn wartete. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war vorsichtig, als würde er sich einem gefährlichen Tier nähern. Natürlich… denn Jean war nie etwas Anderes als ein Tier für Day gewesen. Gut genug, um ihm die Flucht vor Riko zu ermöglichen, ihn solange abzulenken, bis Day seine Sachen hatte packen und fliehen können. Ohne ihn, im vollen Bewusstsein, dass Riko ihn dafür leiden lassen würde.
 

„Jean. Ich bin…“, begann Day zögerlich und ihm entwich ein Laut irgendwo zwischen einem Grollen und Zischen. Wie immer war es Hass, der ihn zuverlässig beim Anblick von Days reuemütigem Gesicht überschwemmte.
 

„Spare es dir, Day. Ich will es nicht hören“, spie er ihm verächtlich vor die Füße.
 

Der andere Junge wollte noch etwas sagen, doch Jean folgte seinem Team und Renee ohne ein weiteres Wort an die Bar.
 

~~**~~
 

Vorsichtig ließ sich Jean neben Renee an dem kleinen Tisch nieder, den sie abseits der anderen Spieler ihrer Mannschaften in der kleinen Bar ergattert hatte. Immer noch hatte er mit dem Gedanken zu kämpfen, dass er sich bei einer solchen Veranstaltung auf eigenen Wunsch viel zu weit von seinem Kapitän entfernt hielt, weil dieser seine Anwesenheit nicht einforderte. So huschten seine Augen immer wieder zu Knox und damit zwangsweise auch zu Day, der sich mit seinem Kapitän unterhielt.
 

Der Anblick verursachte Jean Übelkeit und er konzentrierte sich letzten Endes vollständig auf Renee, die geduldig und aufmerksam neben ihm saß.
 

„Wie geht es dir?“, fragte sie, während sie an ihrem Drink nippte, den sie sich an der Bar geholt hatte und nun auf dem kleinen Glastisch abstellte. Jean hingegen rührte sein Wasserglas nicht an.

„Ich bin nervös.“

„Wegen deiner alten Mannschaft?“ Wie immer umschiffte sie den Namen der Ravens, als wäre er etwas Böses, das nicht beschworen werden durfte. Wenn es so einfach wäre, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, dann würde Jean das mit Freuden ebenfalls tun. Doch sie atmete ihm in den Nacken, jetzt mehr denn je.

„Ja.“

Sie legte sanft ihre Hand auf seine verkrampfte. „Sie werden nicht an dich herankommen.“

Jean erkannte den Ernst hinter dem Versprechen, er erkannte jenen eisernen Willen, mit dem sie sich ihm damals vorgestellt und mit dem sie ihn halbtot aus Evermore entführt hatte.

„Danke.“

„Nicht dafür.“
 

Renee nutzte das aufkommende Schweigen für einen weiteren Schluck. „Wie geht es dir mit Captain Sunshine?“

Jean verzog nachdenklich die Lippen. Wie ging es ihm mit Knox? „Er irritiert und überrascht mich mit seinem Verhalten. Ich habe nicht die gleiche Angst vor ihm wie bei meiner Ankunft und oftmals habe ich gar keine mehr. Er nimmt sich Zeit und albert herum. Und ich habe ihn heute Morgen zum Weinen gebracht.“

„Wieso denn das?“, fragte sie sanft und er seufzte.

„Er hat heute meine Narben gesehen.“

„Oh?“

„Ich war nachlässig und habe nicht gehört, dass er mit dem Singen unter der Dusche aufgehört hat.“

„Er singt?“

„Öfter. Aber immer schief.“
 

Renee schmunzelte, dann wurde sie wieder ernst. „War es schlimm für dich, dass er sie gesehen hat?“

„Er hat geweint“, wiederholte er.

„Das beantwortet meine Frage nicht, Jean.“

Nein, das tat es tatsächlich nicht. Aber Jean hatte auch nicht wirklich eine Antwort darauf. Auf der einen Seite war er immer noch erschüttert von ihrer Begegnung. Er fühlte sich ebenso entblößt wie er sich sichtbar fühlte. Gesehen. Erkannt. Das, was ihm angetan worden war, lag nicht mehr im Dunkeln, versteckt unter langer Kleidung. Jemand hatte darauf reagiert und so sehr sich Jean das über die Jahre hinweg gewünscht hatte, so wusste er nun wenig damit anzufangen, dass Knox für ihn geweint hatte. Er verstand es nicht.
 

„Ich bin mir noch nicht sicher“, erwiderte er entsprechend wahrheitsgetreu und sie nickte.

„Er ist eine gute Seele.“

Jean griff zu seinem Wasserglas und hielt es zwischen seinen krummen Händen. „Er sagt, der Herr gehört ins Gefängnis dafür.“

Renee nickte. „Da hat er Recht. Moriyama hat jede Strafe verdient.“

Nicht sie auch noch. Jean seufzte. „Ich war am Strand“, lenkte er vom Thema ab und sie ließ ihn. In Anerkennung der Bedeutung seiner Worte nickte Renee.

„Wie war es für dich?“, fragte sie ruhig.

„Es war…nicht so schlimm wie erwartet.“

„Warst du freiwillig da?“
 

Jean nickte. „Sie zwingen mich zu nichts. Es ist anders als in Evermore.“

„Sie sind gute Menschen.“

„Sie spielen Gesellschaftsspiele auf dem Dach ihres Hauses.“

„Cool!“

„Sie essen zusammen. Jeden Tag.“

„Auch cool!“

„Sie liegen während ihrer Kurse zusammen im Schatten der Bäume auf dem Campus.“

„Ich bin ein bisschen neidisch. Machen nur sie das oder bist du auch mit dabei?“

„Letzteres.“ Jean zögerte. „Und ich war joggen. Mit Knox. Am Meer.“

Renee sagte nichts dazu, sondern strich ihm sacht über den Oberarm. „Das sind großartige Dinge, Jean.“
 

Jean wollte zu einer Antwort ansetzen, als er aus seinem Augenwinkel heraus einen schwarzen Schatten sah. Alle Entspannung, die er bis gerade sein Eigen nennen durfte, war mit einem Mal verschwunden, als es tatsächlich Ravens waren, die nun die Bar betraten. Schwarz in Schwarz, eine einzige Masse, die abrupt den ganzen Raum einnahm und ihm das Atmen zur Qual machte.

Verzweifelt umfasste er sein Glas, das, wenn er so weitermachen würde, unter dem Druck seiner Finger zerbrechen würde.
 

Er zuckte regelrecht zurück, als Renee es ihm aus den Händen nahm und sacht abstellte. Er fing ihre Finger ein und hielt sie bei sich, aus der irrationalen Versicherung heraus, dass sie ihn erneut vor dem Team schützen und in Sicherheit bringen würde, bevor sie ihn umbringen konnten.
 

Doch all diese Angst war nichts im Vergleich zu dem Moment, in dem sie ihn sahen und sich all ihre Blicke auf ihn richteten. Einige Gesichter kannte er nicht, ein paar aber schon. Engle, Jenkins, Williams, Reacher und Johnson, konnte Jean ihre Namen wie im Schlaf aufzählen.

Williams nickte seiner Mannschaft kurz zu und gemeinsam kamen sie auf ihn zu.
 

~~**~~
 

Jeremy hatte sich angeregt mit Kevin über neue Spielzüge und Strategien unterhalten, als er aus dem Augenwinkel heraus sah, wie Jean mitten im Gespräch mit Renee einfror. Er hatte immer wieder ein Auge auf seinen Backliner und die Umgebung, um notfalls eingreifen zu können, wenn etwas passierte.

Wenn die Ravens ankommen und versuchen würden, Jean unter Druck zu setzen.
 

Was sie jetzt taten.
 

Jeremy wunderte das gemeinsame Auftauchen nicht. Schon seit die Edgar Allan die richtigen Leute bestochen hatte, um unter fadenscheinigen Gründen in ihren District zu wechseln, war das uniforme schwarz-in-schwarz Bild, was die Mannschaft abgab, nichts Neues.

Die Disziplin, die er vorher immer bewundert hatte und die ihn zu einem großen Kevin Day-Fanboy gemacht hatte, war ihm nun zuwider, weil er wusste, welche Konsequenzen sie mit sich gebracht hatte. Die Jungs und Mädchen in Schwarz waren keine starke Mannschaft, sie waren eine Sekte und niemand konnte ihm sagen, dass keiner von ihnen den Missbrauch an Jean nicht mitbekommen hatte.
 

Etwas, über das er mit Kevin heute auch noch sprechen würde.
 

Jeremy stand auf und warf einen Blick in Kevins Gesicht um sich zu entschuldigen, als er sah, dass auch er erstarrt war und bleich in Richtung Ravens starrte. Jeremy seufzte innerlich.

„Ich bin gleich wieder da“, murmelte er und ging den Ravens entgegen, stellte sich zwischen ihn und dem Tisch, an dem Jean und Renee saßen und Jean ein einziges Sinnbild von Angst war.
 

„Hi, Jeremy Knox“, lächelte er und streckte Samuel Williams, dem neuen Kapitän der Ravens, seine Hand entgegen. Dessen Augen wechselten von Jean auf ihn und maßen ihn und seine ausgestreckte Hand mit einer derartigen Verachtung, dass es Jeremy eiskalt den Rücken herunterlief.

Es schien wie ein billiger Abklatsch von Rikos über allem stehender Arroganz und das machte es noch viel schlimmer.
 

„Geh mir aus der Sonne, Trojan“, troff Spott aus jeder Pore und Jeremy dachte nicht daran, seine Hand zu senken.

„Ich nehme an, du hast den Kapitänstitel von Riko Moriyama geerbt“, erwiderte er so freundlich, als hätte Williams nichts gesagt. Er würde nicht zulassen, dass diese Sadisten Jean zu nahe kamen und ihn ängstigten.

„Selbst wenn, geht’s dich nichts an, Blondchen. Verpiss dich aus meinem Weg, ich will zu meinem Backliner.“
 

Selbst die letzten Gespräche in der Bar erstarben bei den Worten des Strikers und tauchten den Raum in unwirkliche Stille. Jeremy hingegen büßte keinen Millimeter seines Lächelns ein.

„Dann hast du die falsche Richtung gewählt. Deine Backliner stehen hinter dir und tragen schwarz. Hinter mir sehe ich nur die Torhüterin der Foxes und meinen Backliner.“

Dass seine Worte den anderen Jungen wütend machten, erkannte Jeremy, noch bevor dieser einen Schritt auf ihn zutrat und somit in seine Reichweite kam. Wütend schlug dieser seine Hand weg und sah an ihm vorbei zu Jean, den Jeremy hinter sich wusste.
 

„Dein Backliner?“, sagte er zu Jean. „Dir gehört hier gar nichts. Nummer drei in all seiner feigen, abtrünnigen Glorie gehört uns. Er gehört den Ravens und wir werden nicht tolerieren, was für eine Scheiße hier abgezogen wird.“

Ruhig blieb Jeremy stehen, auch wenn er aus dem Augenwinkel sah, dass Alvarez und Ajeet langsam, aber zielstrebig zu ihm kamen.

„Das ist richtig, Jean gehört mir nicht. Er gehört nur sich selbst und ihr hattet, um damit zu beginnen, nie einen Besitzanspruch an ihm“, erwiderte Jeremy und ließ etwas von eben jener Autorität in seine Stimme einfließen, die er als Kapitän innehatte. Seine Freundlichkeit behielt er bei.
 

„Das sehen wir anders und jetzt verzieh dich. Wir wollen mit Nummer drei ein paar Worte wechseln.“

Williams versuchte, sich an ihm vorbei zu drängen, doch es war Ajeet, der ihm nun mit seinem großen, breitschultrigen Körper den Weg verbaute.

„Du hast unseren Kapitän gehört, Ex-Nummer neun. Nummer drei bin ich, Williams, und ich habe kein Interesse, mit einem Arschloch wie dir zu reden“, schaltete sich ebenso Alvarez ein und Jeremy wurde sich bewusst, dass sein Vizekapitän mehr Ahnung darin hatte, sich zu prügeln als er. Nicht, dass er es zulassen würde, dass sie den ersten Schlag führte. Wenn, dann würde Williams die Sperre kassieren.
 

„Du dummes Stück Sch…“

„Was ist hier los?“, donnerte eine durchaus unerfreute und befehlsgewohnte Stimme durch Williams‘ Worte und Jeremy sah erfreut an den Spielern in schwarz vorbei.

Coach Rhemann stand am Eingang zur Bar und bahnte sich nun einen Weg durch die Reihen der Ravens bis zu ihnen.

„Coach“, grüßte Jeremy mit knappen Nicken. Es wunderte ihn nicht, dass er nur eine hochgezogene Augenbraue erhielt. „Der neue Kapitän der Ravens scheint noch nicht zu wissen, dass Jean nicht mehr zu seinem Team, sondern zu unserem gehört und besteht darauf, dass er ihn bedrohen kann.“
 

Rhemann bedeutete Ajeet, zurück zu treten und wandte sich an den Raven. „Ist das so, Williams?“, fragte er wütend nach und der Junge schwieg eisern.

„Ich habe dir eine Frage gestellt.“

„Das ist eine Sache zwischen Nummer drei und uns, Rhemann.“

Jeremy rollte mit den Augen. Williams wusste wirklich nicht, wann es gut war.

„Und wenn du deinen Arsch und die Ärsche deines Teams nicht sofort hier rausbewegst, dann ist das eine Sache zwischen euch und dem Sicherheitsdienst, der euch vom Bankett ausschließen und euch in den Flieger zurück nach West Virginia setzen wird. Also?“
 

Für einen Moment sah es so aus, als würde sich Williams verweigern und Jeremy gönnte ihm jede einzelne Konsequenz seines Handelns. Doch dann drehte er sich abrupt zu seiner Mannschaft und verließ ohne einen weiteren Kommentar die Bar.
 

Jeremy atmete erleichtert auf.
 

„Danke, Coach“, sagte er, als die Ravens außer Sichtweite waren und die Gespräche im Raum wieder langsam zur Normalität zurückkehrten. Rhemann nickte und gemeinsam drehten sie sich zu Jean um, der Renees linke Hand eisern umfasst hatte und sie beide nun bleich mit großen Augen anstarrte.

„Alles in Ordnung, Moreau?“, fragte ihr Trainer und Jean nickte mit bleichem Gesicht und großen Augen. „Kann ich dich bei Knox lassen?“ Wiederum nickte Jean und Rhemann schnaubte.

„Gut, dann knöpfe ich mir jetzt den Trainer der Ravens vor, damit das nicht noch einmal vorkommt.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und verließ ebenfalls die Bar.
 

Jeremy setzte sich auf den freien Platz neben Jean und lotste dessen Aufmerksamkeit zu sich.

„Hey, alles klar?“, fragte er nochmal und erhielt tatsächlich ein Kopfschütteln.

„Sie werden mich zurückbringen“, flüsterte Jean beinahe unhörbar, den Blick nun starr auf den leeren Durchgang zum Eingangsbereich gerichtet. Er zitterte am ganzen Körper und die Verzweiflung in Jeans Stimme schmerzte Jeremy.
 

„Nein, Jean, nein. Sie werden dich nicht mitnehmen, wir lassen sie nicht“, erwiderte er fest und nahm seine linke Hand barg sie in seiner eigenen. Knapp lächelte er Renee zu, deren zustimmendes Nicken ihm eine Versicherung war, dass er sich auf dem richtigen Weg mit Jean befand.

Langsam wandte Jean ihm den Kopf zu. „Gegen den Herrn kommt niemand an. Er bestimmt, was geschehen wird.“

Jeremy schüttelte den Kopf. „Den Herrn gibt es nicht mehr. Er ist nicht mehr der Trainer und du hast einen Vertrag mit uns unterschrieben. Dein alter Vertrag gilt nicht mehr.“

Es schien, als würde dieses Wissen erst jetzt in Jean einsickern und ein Schaudern durchlief seinen Körper.
 

„Du behältst mich?“, fragte er und es zerriss Jeremy schier das Herz. Er konnte Jean nicht behalten, weil Jean ihm nicht gehörte, doch diese Diskussion würde dem anderen Jungen gerade rein gar nichts bringen.

„Ich gebe dich nicht her“, sagte er anstelle dessen ernst, weil es das war, was Jean gerade brauchte, auch wenn alles, aber auch wirklich alles, in Jeremy sich dagegen wehrte. „Wir geben dich nicht her. Du gehörst zu unserem Team.“
 

Die Hoffnung in den grauen Augen tat weh, aber es war Hoffnung. Wenigstens.
 

„Williams ist ein Arschloch. Er will dich nur ängstigen, ohne dass etwas dahintersteckt. Und wenn er so weiter macht, werden die Ravens noch vor Ende dieses Abends von der Veranstaltung fliegen.“

Jean tat einen vorsichtigen, zittrigen Atemzug. „Williams war schon immer ein Arschloch“, erwiderte er und Renee schnaubte amüsiert.

„Gibt es einen aktiven Raven, der keins ist?“
 

Stumm schüttelte Jean den Kopf und Renee hauchte ihm einen Kuss auf die Hand, die sie hielt. „Wir sind hier, Großer. Die Sitzordnung hat unsere beiden Mannschaften weit weit weg von den Ravens platziert. Sollen die sich mit Breckenridge auseinandersetzen, da sind die ätzenden Mannschaften zusammen. Und für den Rest gilt, dass immer jemand von uns bei dir sein und dich beschützen wird.“
 

Jeremy schauderte unwillkürlich ob dem eisernen Unterton, der Renees Worte begleitet hatte. Er passte absolut nicht zu ihrem Aussehen und zu ihrem beinahe engelsgleichen Gesicht. Ihre Augen gaben ein Versprechen, das einen derart dunklen Unterton hatte, dass ihm das Blut in den Adern gefror.
 

Er konnte den nicht genau beziffern, aber er war sich sicher, dass er diese junge Frau niemals gegen sich haben wollte.
 

~~**~~
 

Nur langsam beruhigte sich Jeans brachial schnell schlagendes Herz und ersetzte Angst und Panik vor einer Rückkehr in die dunkle Kälte Evermores und damit endloses Leiden und nie endende Folter durch Vertrauen in Knox‘ Versprechen.
 

Er hatte Williams schon als Raven gehasst und war nur durch Rikos schlussendliche Langeweile davor bewahrt worden, dass auch der Striker ihn vergewaltigte. An Williams eigenem Willen hatte es jedenfalls nicht gemangelt, so war er als Ausgleich immer zur Stelle gewesen, wenn Riko eine helfende Hand bei seinen Bestrafungen gebraucht hatte. Jean empfand Wut und Hass gegen den Jungen und verspürte jetzt, wo die unmittelbare Angst verschwunden war, einen nicht zu geringen Drang, ihm das Gesicht zu Brei zu schlagen.
 

Zu einem blutigen, leblosen Brei.
 

Doch das lohnte sich nicht, denn sein Verhalten würde auf die Trojans zurückfallen. Es würde dem makellosen Ruf der Mannschaft schaden und sie vermutlich sogar den Day Spirit Award kosten. In ein paar Tagen musste sich Jean damit nicht mehr beschäftigen, so würde er Williams tatsächlich so gut er konnte ignorieren.
 

Wen er nicht ignorieren konnte, war Day, der durch welchen dummen Zufall auch immer direkt vor ihm platziert worden war. Renee hatte nicht gelogen, als sie gesagt hatte, dass sich die Foxes und die Trojans direkt gegenüber voneinander befanden. Links neben Jean saßen Alvarez und neben ihr Laila, rechts von ihm Knox, Ajeet und Fahima. Neben Day saß links Renee und rechts Josten mit Minyard an seiner Seite, neben ihm Hemmick und der andere Minyard. Die Nähe zu Day und zu Josten legte die Vermutung nahe, dass es sich bei dem mittleren Zwilling um Andrew handelte.
 

Jean sah pointiert zu Renee und versuchte Day und seine sinnlosen Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, auf ein Minimum zu reduzieren.

Er war noch nicht in der Lage, sich an den Diskussionen rund um Exy, die Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Universitäten, oder generell Dingen, die Jean nichts sagten, zu beteiligen, doch er entspannte sich zumindest so weit, dass er eine der Wasserflaschen, annehmen konnte, die Minyard für ihren Tisch besorgt hatte. Josten, Day, sich selbst und, wie er nun erkannte, auch Knox und ihm. Ungerührt öffnete Jostens Freund mithilfe seines Besteckes den Kronkorken und mit Hilfe seines Kapitäns tat Jean es ihm gleich.
 

Ohne Regung ließ er die üblichen Ansprachen über sich hinwegwaschen, die ihnen eine gute und sportlich faire Saison wünschten und den Zusammenhalt der Liga beschworen. Zusammenhalt…dass Jean nicht lachte.
 

„Josten“, war es Alvarez, die bei der Vorspeise die Aufmerksamkeit des Strikers ungeniert auf sich zog. „Auf wen konzentrierst du eigentlich jetzt dein schändliches Maul, jetzt, wo Riko tot ist?“

Day zuckte zusammen, ebenso wie Jean selbst und ungläubig starrte Jean seinen Vizekapitän an. Jostens Lachen ließ seinen Kopf wieder herumschnellen und er fragte seinen ehemaligen Partner stumm, ob er den Verstand verloren hatte.
 

„Vielleicht auf dich, Alvarez?“, gab er zurück und sie lachte laut.

„Dann lass mich nicht unnötig warten, Kleiner!“

Minyard rollte mit seinen Augen und für einen Augenblick lang hielt er Jeans Blick.

„Kevin, seid ihr schon vorbereitet für euer erstes Spiel nächstes Wochenende?“, fragte Knox neben ihm und Jean starrte auf seinen Teller und das Essen, dessen Geruch sich ihm verlockend genug entgegenschlängelte, dass er in Erwägung zog, einen Bissen zu nehmen. Die Foxes spielten auswärts gegen die Belmonte Terrapins, ein Spiel, das sie leicht für sich entscheiden würden.
 

„Wie immer nicht so sehr, wie wir es sein könnten“, erwiderte dieser mit einem Seitenblick auf Minyard und Hemmick. Renee lachte.
 

„Ich bin mir sicher, dass ihr eure sehr guten Leistungen vom letzten Jahr noch toppen werdet, allerdings werden wir euch die Meisterschaft abjagen. Wir haben eine sehr gute Mannschaft und mit Jean werden wir euch in der Defensive die Hölle bereiten. Josten und Day werden noch in der ersten Halbzeit weinen.“ Knox grinste, während er das sagte und normalerweise hätte Jean dem mit einem gewissen Gefühl der Befriedigung, Josten daran zu hindern, Tore zu machen, zugestimmt. Nun aber hob er seine Augen und begegnete Minyards Blick, der vielsagend auf ihm ruhte.
 

Nein, die Trojans würden ihn zum Spiel gegen die Foxes nicht mehr haben.
 

„Als wenn Andrew und ich euch Tore machen ließen“, schaltete sich Renee ein und Jean hob die Augenbraue. Auch wenn das Training der Trojans zuweilen eine Katastrophe war, so waren die Striker aus Los Angeles doch durchaus dazu in der Lage, die Foxes nass zu machen. Wenn sie genug trainierten.
 

Und kein ganzes Spiel durchspielten, verdammt nochmal.
 

„So gerne ich dich auch sonst in jeder horizontalen Lebenslage reinlassen würde, wirst du auf dem Spielfeld nicht durch meine Verteidigung kommen“, flirtete Hemmick ungeniert mit seinem Kapitän und Jean verschluckte sich prompt an dem Bissen Salat, den er gerade zu sich genommen hatte. Der andere Zwilling, Aaron, machte angewiderte Würggeräusche, während Alvarez ihr Bier vor Lachen fast über den Tisch spuckte.
 

„Nicky!“, tadelte Wilds ihn und Jean senkte seinen Blick um das Lächeln zu verbergen, das seine Lippe hochzuziehen drohte. Mittlerweile wusste er, dass Hemmick wild in einen Deutschen namens Erik Klose verliebt war und dass von ihm keine Gefahr ausging. Wenn sich dann noch dessen Flirtversuche auf jemand anderen konzentrieren, war es gar nicht mal so unwitzig.
 

„Nimmst du den Mund nicht ein wenig zu voll für jemanden, den ich in der letzten Saison in jedem Zweikampf umlaufen habe?“, grinste Knox gutmütig und Hemmick lehnte sich vor, stützte seinen Ellbogen auf den Tisch und legte sein Kinn auf die Hand.

„Ich nehme meinen Mund immer zu voll, dafür schlucke ich dann ordentlich“, wackelte er mit seinen Augenbrauen und Jean richtete während des aufbrandenden Protestes des gesamten Tisches seine Augen gen pompös geschmückter Decke.
 

Er nahm seine Einschätzung von vorhin zurück. Das war nicht witzig. Nein.
 

~~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sodele. Wir nähern uns dem Ende der ersten Hälfte der Geschichte. Slow Burn, ihr erinnert euch? In ca. zwei bis drei Kapiteln beginnt der zweite Abschnitt und ich bin immer noch am Überlegen, ob ich nicht zwei Geschichten daraus mache. Ich bin mir bei den Vorteilen dessen noch nicht ganz so sicher.

Was es ganz sicher geben wird, ist eine Sidestory zwischen Andrew und Jean. Das wird ein vermutlich längerer One-Shot und spielt zeitlich für "Force of Nature". Komplett anzeigen

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