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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Mal einen kleinen Exkurs zum Titel. Ich habe ja so meine Probleme mit der Titelfindung (man könnte sagen, ich brauche so lange für einen Titel, wie ich für ein Kapitel brauche) und eigentlich versuche ich, englische Titel zu vermeiden. Hat hier aber nicht geklappt, was unter anderem auch dem geschuldet ist, dass ich gerade ein bisschen verliebt in "Miracle of Sound" und da - man glaubt es nicht - in das Lied "Force of Nature" bin. Natürlich war das nicht der einzige Grund für meine Wahl, aber dazu möchte ich einfach mal auf die Lyrics verweisen. ;)

Und nun, viel Spaß beim neuen Teil! Komplett anzeigen

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Vertrauter Feind

Alle Stadien, in denen Jean jemals gewesen war, rochen gleich.
 

Es war die einzigartige Mischung aus Schweiß, Linoleumgerüchen, Desinfektionsmitteln und Talkum, gepaart mit altem Holz und Chlor, die jedes Exystadion gleich riechen ließ, auch jetzt, wo er alle seine Sinne beisammen hatte, um seinen neuen Trainingsbereich eingehend zu betrachten.

Er erinnerte sich nur schwach daran, aber er glaubte, dass er beim letzten Mal, als er dieses Stadion betreten hatte, nur noch auf zwei Beinen gestanden hatte, weil die Strafe für ein Versagen noch schlimmer gewesen wäre als das Spiel gegen die Trojans mit seinen schon existierenden Wunden zu bestreiten.
 

Nun aber verspürte Jean nur noch den dumpfen Schmerz seiner bereits seit Wochen verheilenden Wunden und das machte ihn aufnahmefähig für einen detaillierten Blick auf das, was ihn erwartete.

Das Rot und Gold der Trojans verwunderte ihn nicht im Geringsten, die Flaggen und Banner, die ihn willkommen hießen und ihm von einem Mannschaftsstolz berichteten, ebenso wenig. Die Eingangshalle war zugepflastert mit ihnen und entsprechend aufdringlich gestrichen. Bunte, lebensfrohe Farben reizten seine sowieso schon vollkommen überlasteten Sehnerven, da war es sicherlich auch keine Hilfe, dass er nun zu der Trophäenwand der Trojans schritt.
 

Jeder einzelne Spieler war hier aufgelistet. Die aktuellen Spieler bekamen eine Wand mit ihren Fotos, ein Sammelsurium aus verrückten Bildern, die nichts mit der Ernsthaftigkeit und Würde dieses Sports zu tun hatten. Unter ihnen befanden sich rote Plaketten mit den Namen der jeweiligen Spieler in goldenen Schriftzügen. Direkt daneben hingen alle Plaketten von Ehemaligen über die Jahre hinweg.

In Evermore gab es so eine Tradition nicht. Das, was zählte, war das aktuelle Team und dessen Erfolge. Die ehemaligen Spieler bewahrten sich ihre Einstellung in ihrem Wesen auf, ihrer Seele, so sie denn eine hatten.
 

Was Jean in allen Fällen bezweifelte. Die dunklen, dicken Gemäuer hatten allen ihre Seele geraubt, auch ihm.
 

Jean schweifte ab, weg von den Plaketten und hin zu den Pokalen des Day Spirit Awards für sportliches Verhalten innerhalb und außerhalb der Spiele. Achtmal in Folge hatten die Trojans diesen nutzlosen Preis gewonnen. Bei Exy ging es darum, den Gegner zu vernichten und zu gewinnen, nicht darum, ihn fair zu behandeln. Diese absolute Fehlentscheidung, sich auf die Zahl der Foxes herunter zu begeben, als diese nur zu neunt auf dem Spielfeld standen, war das Dümmste gewesen, was Jean seit langer Zeit gesehen hatte.
 

Wobei…nicht ganz. Jostens Entscheidung, sich für Minyard zu opfern und nach Evermore zu kommen, war bei weitem dümmer gewesen. Es hatte ihm Wochen an Schmerzen eingebracht, an Demütigungen und physischer wie psychischer Folter, die Riko in vollen Zügen ausgekostet hatte, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er gleichzeitig Minyard hatte foltern lassen.

Jean ekelte sich auch jetzt noch davor, was Riko ihm schadenfroh unter die Nase gerieben hatte und wie schadenfroh er ihm Videos von Minyard gezeigt hatte, aufgenommen während seiner Therapie, die vieles gewesen war nur das nicht. Mit aller Gewalt hatte Riko versucht, Josten zu brechen. Er hatte ihn dafür benutzt, das Messer zu führen. Er hatte ihn dazu benutzt, Josten zu verletzen und ihn zu strafen.
 

Jean hatte seinem damaligen Kapitän ebenso gehorcht, wie er auch sein Bestes getan hatte um den widerspenstigen Jungen immer wieder zusammen zu flicken, ihm immer und immer wieder einzureden, dass er nicht unterschreiben sollte und ihn schlussendlich aus dem Nest gestoßen. Er hatte Erfolg damit gehabt und Josten gleichzeitig dafür gehasst, dass er freiwillig gekommen war und wieder gehen konnte. Und wie hatte es Josten ihm seine Unterstützung gedankt? Indem er ihn an den Hauptzweig der Familie verkauft hatte ohne ihn zu fragen, ganz der Sohn des schwerstkriminellen Mörders, der er war.
 

Dass Josten dabei auch noch glaubte, so sein Leben gerettet zu haben, war beinahe amüsant, wenn Jean noch in der Lage wäre, über etwas, das Exy betraf, zu lachen. Einen Monat und drei Wochen noch, dann hatte diese Farce ein Ende.
 

Jean sah von den roten Wänden zu dem Eingang ins Stadion und folgte seinem Kapitän, der ihm die Tür aufhielt und ihm schweigend entgegenlächelte. Seit heute Morgen war eben dieses Lächeln gezwungen und weniger freundlich als vorher. Überhaupt war Knox schweigsamer als gestern. Es verursachte in Jean so etwas wie Genugtuung, wusste er doch, dass die lächelnde Fassade genau das war: eine Fassade um ihn in Sicherheit zu wiegen. Jean mochte darauf wetten, dass er am gestrigen Tag mit seiner Verneinung Grenzen überschritten hatte. Er hätte einfach ja sagen sollen zu dem Film, schließlich hatte ihm dieser Animationsstreifen über den Roboter auch gefallen. Zumindest bis die Menschen ins Spiel kamen.
 

Mit der Bestätigung, dass er schlussendlich Recht gehabt hatte, schloss Jean das Thema und wappnete sich für das, was noch kommen würde.

Zunächst einmal war da das Stadion, das er nun betrat, hell erleuchtet von Neonröhren und Fenstern, die Tageslicht hineinließen. Das war Jean bisher noch nie aufgefallen und entsprechend staunend richtete er seinen Blick an die hohe Decke, die dieses Stadion soviel anders machten als Evermore. Von dort aus sah er auf die abgenutzten, hohen Plexiglaswände, die das Spielfeld begrenzten. Die Laufbahnen, die eben jenes umschlossen, hinterließen ein Kribbeln in Jean.
 

Bei den Ravens war das Laufen immer der Teil des Trainings gewesen, der am wenigsten Schmerzen für ihn bedeutet hatte, also hatte er Runde um Runde gedreht, war gelaufen um wenigstens so ein vages Gefühl von Freiheit zu bekommen. Auch etwas, das er mit Josten teilte, der ihm selbst mit noch blutenden Verletzungen davongelaufen war, verbissen, stur und zum Großteil auch verzweifelt.
 

Knox schloss eine der Plexiglastüren auf und Jean folgte ihm auf das Spielfeld. Wie immer schluckte das Linoleum seine Schritte, während er in die Mitte des Raumes trat, der das Zentrum seines Seins war. Jean wusste, dass, wenn man ihm den Sport und die Fähigkeiten nahm, die er sich angeeignet hatte, nichts übrig bleiben würde.
 

Er schloss die Augen und ließ das Gefühl des Ortes auf sich wirken. Es war nicht Evermore, also fühlte es sich marginal falsch an, beinahe wie ein Splitter unter seiner Haut, aber in diesem Moment reichte es, dass es ein Stadion war. Gerade jetzt reichte es, damit er nach Wochen des Unbekannten endlich etwas Vertrautes um sich herum fühlte, etwas, das er kannte. Es vermittelte ihm eine Ruhe, die er so dringend benötigte, seitdem er hierhergekommen war.
 

Die erneut aufgehende Tür zum Spielfeld ließ ihn die Augen öffnen und er sah einen Mann näherkommen, der in seiner Erinnerung kleiner gewesen war. Weitaus. Auch das Lächeln, das ihm entgegengebracht hatte, hatte er so noch nicht gesehen auf dem Gesicht.
 

Jean kannte das Gesicht des Mannes, er wusste, wer er war, doch das bereitete ihn keinesfalls auf die Angst vor, die sein Herz plötzlich in einem kalten, unnachgiebigen Griff hielt.

Offen gesprochen hatte Jean den Trainer der Trojans anders in Erinnerung. Weniger furchteinflößend, riesig und breitschultrig mit Händen, die vermutlich einen Bären töten konnten. Er war schon groß, aber Rhemann war noch einmal einen halben Kopf größer als er, bullig und wirklich einschüchternd auf seine ganz eigene Art und Weise. Er würde ihm mühelos die Knochen brechen können, ohne sich ein Hilfsmittel hinzunehmen zu müssen.
 

„Hallo Jean, schön, dass ich dich hier begrüßen kann. Bester Backliner der NCAA“, sagte er mit seiner tiefen Bassstimme. Jean schluckte und starrte auf die Hand, die ihm entgegenstreckt wurde. Anscheinend lief auch das hier anders. Der Herr hätte eine solche Geste der Respektlosigkeit niemals toleriert, nicht von ihm und auch nicht von anderen Spielern. Der Herr hätte und hatte ihn auch niemals derart begrüßt oder gar gelobt. Er war nicht der beste Backliner. Er war gerade gut genug um am Leben zu bleiben um den Moriyamas als Einnahmequelle zu dienen.
 

Vorsichtig und auf alles gefasst streckte seine Hand aus und legte sie in die des Trainers, der sie überraschend sanft schüttelte, während er ihm ein warmes Lächeln schenkte, das so ganz anders als das seines Kapitäns war. In Evermore hatte niemand aus Freundlichkeit gelächelt.

„Bist du gut angekommen? Hat der Blondschopf hier dich schon mit dem Nötigsten versorgt und dir schon einen ersten Rundgang gegeben?“

Jean warf einen kurzen Blick auf Knox, der, seitdem sie das Feld betreten hatten, schweigend neben ihm stand. Er nickte und registrierte erleichtert, dass der Berg von einem Mann seine Hand losließ ohne sie zu brechen.
 

„Sehr gut. Den Rest bekommen wir auch noch gestemmt und nächste Woche erledigen wir erst einmal deinen Collegekram, damit wir dich anständig immatrikulieren können.“

Jean neigte seinen Kopf. „Sehr wohl.“

„Ich kann mir vorstellen, dass das alles hier neu und ungewohnt für dich sein muss, insbesondere im Vergleich zu Evermore, aber das wird schon. Wenn du Fragen hast, zögere nicht, Knox oder mich damit zu löchern, wir helfen dir gerne.“
 

Was blieb Jean anderes übrig, als zu nicken? Die Worte waren derart unverständlich, dass er nichts mit ihnen anzufangen wusste. Die letzte Person, die er um Rat fragen würde, wäre sein Trainer. Das wäre ein nicht zu verzeihender Frevel.
 

„Apropos…hast du schon welche?“

Irritiert sah Jean hoch und die schwarzen, enormen Augenbrauen seines Trainers zogen sich sturmgeweiht zusammen.

„Fragen, meine ich.“

„Nein, Sir.“

„Okay. Ich schon. Größe?“

Jean blinzelte unverständig.

„Für deine Uniform.“

Wieder neigte er seinen Kopf in einem Zeichen der offensichtlichen Demut. Es wäre kein Wunder, wenn er noch gleich hier für seine Dummheit bestraft werden würde, seinem Trainer nicht folgen zu können.

„Größe L, Sir.“
 

„Dachte ich mir. Gut. Ich mache die Bestellung fertig. Bevor ich es vergesse, die Nummer 3 ist bereits vergeben. Wenn du dich traust, kannst du versuchen, sie Alvarez abspenstig zu machen. In dem Fall war es mir eine Freude, dich kennengelernt zu haben und ich bitte um die vorherige Einreichung eines markanten Grabsteinspruches. Wenn du verständlicherweise nicht mutig genug sein solltest, dann bekommst du die Nummer 7. In Ordnung für dich?“
 

Etwas hilflos sah Jean von seinem Trainer zu Knox, dessen wilde Gestik und verzweifelter Gesichtsausdruck ihm wohl andeuten sollten, dass die letzte Option die bessere wäre. Er runzelte die Stirn und wunderte sich, dass Rhemann ihm nun doch so offen mit dem Tod drohte, ihm aber dennoch die Wahl ließ zu gehorchen. Wer war er, dass er sie nicht annahm? Nicht, dass diese Option Jean noch sonderlich verschreckte.

Zumal er keine Sympathien für die Nummer drei hegte, im Gegenteil. Er hatte nie darum gebeten, sie zu sein und sie eingebrannt zu bekommen bis auf den Grund seiner Seele. Falls er die Wahl gehabt hätte, hätte er sich wie Josten auch das Zeichen seines Besitzes aus dem Gesicht foltern lassen.
 

Auch hier war Wesninskis Sohn um Längen stärker gewesen als er.
 

„Nummer 7 ist in Ordnung“, erwiderte Jean, als er sah, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde.

„Gut, kluger Junge, hätte ich auch getroffen, die Wahl“, nickte sein Trainer wohlwollend und musterte ihn kritisch. Aufmerksam und ohne Wut wurde er seziert, insbesondere seine durch die Mütze verborgenen Haare und seine Wangen, die immer noch wütend rote Zeugen von Rikos letztem Gewaltexzess trugen. Rhemanns Blick sagte ihm deutlich, dass der Trainer mehr wusste und das machte ihn nervös, auch wenn er sich nicht wundern sollte. Wymack hatte sicherlich mit ihm gesprochen und gesagt, was er zu erwarten hatte.
 

„David meinte, ich solle dich noch schonen“, bestätige Rhemann ihm seinen Verdacht keine Sekunde später. „Wie sieht es mit deinen Verletzungen aus? Glaubst du, dass du für die kommende Saison fit bist?“

„Ich bin der Lage meinen Beitrag dazu zu leisten“, erwiderte Jean entsprechend zurückhaltend und Rhemann strich sich über seinen schwarzen, dichten Bart.

„Für das richtige Training werde ich das Go von Fiona abwarten. Sie ist die Teamärztin und hat die Entscheidungsbefugnis, was die Fitness meiner Spieler angeht. Wenn ihr aber am Wochenende schonmal ein paar leichte Runden drehen und Bälle spielen wollt, dann gebe ich euch jetzt schon das Spielfeld frei.“ Mahnend hob Coach Rhemann den Zeigefinger. „Betonung auf leicht, Moreau.“
 

Bedeutungsschwanger lagen die schwarzen Augen auf ihm und Jean schluckte unwillkürlich. Er konnte mit der Ermahnung nichts anfangen. In all ihrer Strenge machte sie ihm Angst. Er wusste nicht, was Rhemann mit leicht meinte. Niemals in seinem Leben hatte er ein leichtes Exy-Training gehabt. War es eine Metapher? Wenn ja, wofür? Ironie vielleicht? Zynismus?

„Knox, du sorgst dafür“, grollte Rhemann und sein Kapitän salutierte in einer derart respektlosen und nonchalanten Art, dass es Jean schauderte.

„Aye aye Coach. Leichtes Training.“
 

Training egal, wie leicht es auch sein mochte, barg jedoch ein großes Problem. Jean schluckte, als er panisch nach einer Formulierung suchte, die ihm keine Strafe einbringen würde. Er scheiterte mit jeder Variante, also räusperte und straffte sich.

„Darf ich etwas sagen?“, fragte er leise und überrascht grunzte Rheman.

„Du musst doch nicht fragen, Junge. Einfach raus damit.“

Nervös knetete Jean seine schmerzenden Finger und sah auf den ebenso abgenutzten Hallenboden. Es brauchte wiederum einen schier unhöflichen Zeitraum, bis er den Mut fand zu sprechen.

„Ich habe keine Sportsachen. Renee Walker hat mich… sie hat nichts mitgenommen, als sie nach Evermore gekommen ist. Ich habe nichts“, gestand er ein und traf auf eine Mauer aus Schweigen, die sicherlich nichts Gutes zu bedeuten hatte. Wie sollte er mit nichts auch trainieren und seine Aufgabe erfüllen? Richtig. Gar nicht. Er konnte vermutlich froh sein, dass er jetzt nicht bereits mit blutender Nase auf dem Boden lag und ein Stock seinen Rücken zu blutigem Klump schlug.
 

Ein überraschter Laut verließ schließlich die Lippen seines neuen Trainers. „Wart ihr noch nicht einkaufen?“
 

Entsetzt sah Jean hoch, als er seinen groben Fehler erkannte. Was fiel ihm ein, seinen Kapitän derart in die Pfanne zu hauen? Was fiel ihm ein, ihn zu verraten, obwohl er doch derjenige war, der für dessen Fehl geradestehen würde? Das wusste er nur zur Genüge, hatten Josten und er über die Weihnachtsferien mehr als genug Strafe für das gegenseitige Fehlverhalten des Anderen erhalten. Da fiel ihm nichts Besseres ein, als Knox vor dem Trainer zu verraten. Er schluckte und verschränkte die Arme vor seinem Bauch, malträtierte seine Unterlippe zwischen seinen Zähnen.
 

„Nein, wir haben erst einmal den Grundstock gekauft. Alles darüber hinaus haben wir noch nicht besorgt. Wenn wir trainieren wollen, würde ich mir Jean heute schnappen und mit ihm einkaufen gehen.“

Und einfach so akzeptierte der Trainer Knox‘ Begründung und brummte. Er wurde nicht laut, er schlug weder den Kapitän noch ihn, er tat gar nichts, außer diese Liederlichkeit mit einer nichtssagenden Handbewegung abzutun. Fassungslos starrte Jean die Beiden an, für die dieses Vorgehen vollkommen normal zu sein schien.

„Gut. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müsste? Moreau?“
 

Jean überlegte fieberhaft, ob es noch etwas geben könnte, dass er besser sagen oder fragen sollte und nickte schließlich.

„Wünschen Sie einen speziellen Essensplan, Sir?“, fragte er schließlich. Das amüsierte Schnauben überraschte ihn.

„Lass dir von Knox bloß nicht einreden, dass sein Süßkram voller Vitamine ist und daher einen wichtigen Bestandteil deiner Ernährung darstellen sollte. Ansonsten iss, was gut für dich ist und dir schmeckt.“
 

Jean nickte gehorsam, auch wenn er mit den Worten erneut nichts anfangen konnte. Er hatte in den letzten Jahren niemals darüber bestimmt, was er selbst aß und nun wurde ihm komplett die Entscheidung darüber übertragen? Wie sollte er entscheiden, was gut für ihn war? Unruhe überkam ihn alleine bei dem Gedanken daran und bahnte sich ihren Weg in sein sowieso schon vollkommen chaotisches Denken. Nichts von dem hier entsprach dem, was er gewohnt war, alles war neu, war das komplette Gegenteil von allem Vergangenen und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
 

Dachte er, er hätte in diesem Stadion endlich eine Zielrichtung gefunden, so hatte er sich geirrt. Kein einziger seiner sonstigen Standards griff hier und selbst die Menschen, die ihn umgaben, waren soviel anders als in Edgar Allen oder sogar bei den Foxes. Bei beiden war die Gewalt spürbar gewesen, hier aber war ihre Abwesenheit wie ein ständiger Phantomschmerz, der ihn schier verrückt machte. Jean hoffte, dass es sich noch legte, insbesondere dann, wenn das Semester und das Training wieder begannen und er Ablenkung hatte.
 

„Wenn nichts mehr ist, entlasse ich euch beiden in die Sonne. Und Knox…leichtes Training!“
 

Damit warf der Trainer sie anscheinend aus dem Stadion, zumindest interpretierte Jean dessen Gestik und Mimik so. Er wagte einen Blick zu seinem Kapitän, um sich an dessen Verhalten zu orientieren. Dass er auf dem sommersprossigen Gesicht ein breites Grinsen sah, verwunderte ihn nicht wirklich.

„Bis morgen, Coach“, flötete Knox und wurde mit einem Grollen belohnt. Mehr Beachtung wurde ihnen aber auch nicht mehr geschenkt, als Rhemann sich in Richtung Geräteraum aufmachte.
 

Widerwillig verließ Jean den Ort seiner Ruhe und folgte Knox schweigend zu dem klapprigen Wagen. Eingedenk der Feder nahm er vorsichtig auf dem Beifahrersitz Platz, sobald dieser ihm die Tür aufschloss. Knox schenkte ihm eines seiner nunmehr wieder angespannten Lächeln und Jean schluckte.
 

„Es tut mir leid“, sagte er von sich aus leise, beinahe zu leise, um nicht von der Musik, die aus dem Radio dröhnte, übertönt zu werden, die der andere Junge beinahe hastig ausschaltete. Er senkte den Blick auf seine verschränkten Hände, aus Angst, was er auf dem Gesicht des anderen Jungen sehen würde.

Stille grüßte ihn.

„Was tut dir leid, Jean?“, fragte Knox schlussendlich ruhig. Zu ruhig für Jeans Geschmack. Wie eine Zeitbombe, die kurz vor der Explosion stand.

„Dass ich Coach Rhemann gegenüber erwähnt habe, dass ich nicht über entsprechende Trainingssachen verfüge.“
 

Überrascht musterte Knox ihn. Jean sah das an der Bewegung ins einem Augenwinkel. „Ach Gott, das. Quatsch. Das Training war schließlich noch gar kein Thema, wieso hätten wir dann am ersten Tag gleich Sportsachen kaufen sollen? Ich bin ja froh, dass ich dich wenigstens zu einer Bettdecke habe überreden können.“

„Und einem Kissen“, ergänzte Jean murmelnd. Wieder einmal beruhigte Knox seine Befürchtung mehr als dass er sie bestätigte, was als solches beängstigend genug war.
 

Ein Schweigen trat zwischen sie, das Jean mehr als nervös machte. Schweigen bedeutete bei Knox nichts Gutes, das ahnte er. Schweigen bedeutete, dass da noch etwas war und dass es ihm nicht gefallen würde, weil es neu und ungewohnt war und er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte.

Schweigen bedeutete, dass er anscheinend etwas falsch gemacht hatte. Er wagte einen Blick in Richtung seines Kapitäns. Knox legte seine Hände in den Schoß und starrte sie an, als müsste er sich für das Gespräch wappnen, das er mit ihm führen würde.
 

Unwillkürlich presste Jean sich gegen die Beifahrertür. Sein linker Arm zuckte in Erwartung eines Schlages, in Erwartung, dass er seinen Kopf schützen müsse, doch nichts geschah.

Mit jeder Sekunde, in der sie hier saßen, wurde Jean nervöser und nervöser. Das war nicht der Knox, dem er bisher begegnet war. Dieser Knox hätte schon längst etwas gesagt, ihn mit Belanglosigkeiten davon abgehalten, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen.
 

Erst, als die Luft schier zum Zerreißen angespannt war und Jean die Klimaanlage, die ihnen kalte Luft entgegenblies, am Liebsten ausgestellt hätte, räusperte sein Kapitän sich und hob den Kopf, drehte ihn so, dass die mit einem Mal durchdringenden, stechend-blauen Augen jede Regung in seinem Gesicht aufzeichnen konnten.
 

Jean fühlte sich nackt unter dieser Musterung.
 

„Ich möchte mit dir gerne über etwas sprechen“, begann Knox und Jean überlegte sich, ob es Sinn machte, einfach aus dem Wagen zu stürmen und wegzulaufen. Weg von dem Jungen, weg von diesem Parkplatz, weg aus dieser Stadt. Für ein paar Sekunden gab er sich der romantisierten Vorstellung hin, dass er in die Weite dieses Landes fliehen würde, die er so oft aus dem Flugzeug heraus gesehen hatte. Hinein in die Wildnis, fernab von allen Menschen und niemand würde ihn finden.

Wie oft hatte ihn dieser Gedanke in Evermore mitgenommen, als er blutend und schmerzend auf dem kalten Beton- oder Hallenboden lag, nachdem Riko mit ihm fertig war? Wie eine fantastische Utopie hatte sich Jean von dem Gedanken entführen lassen und sich so von seinem Körper und seinem Leid gelöst um sich seinen Verstand zu bewahren.
 

Doch wie auch in Evermore traute er sich nicht, über Jahre gebrochen und wie ein Hund auf sein Herrchen geprägt, voller Angst und doch gehorsam.
 

Jean wusste, dass eine Antwort von ihm erforderlich war, so nickte er automatisch, ohne es wirklich zu wollen. Knox schluckte darauf hörbar.
 

„Gestern Abend, als du eingenickt bist beim Lesen, hat sich dein Ärmel verschoben und ich habe die Narben um dein rechtes Handgelenk gesehen.“

Jean lief es bei den Worten heiß und kalt den Rücken hinunter. Er war sich bewusst, dass er kurz geschlafen hatte, aber dass Knox soviel Zeit gehabt hatte, ihn zu beobachten, verursachte ihm eine Gänsehaut. Dass er dabei auch noch die Narben gesehen hatte, die er versuchte, seit seiner Ankunft zu verbergen, um seinen neuen Kapitän nicht auf dumme Ideen zu bringen, war nur eine umso größere Katastrophe.
 

Wie ein Reh im Scheinwerferlicht starrte Jean Knox an, unfähig sich zu regen oder zu reagieren.
 

„Jean, wenn du zur Polizei gehen und Anzeige erstatten möchtest, dann unterstütze ich dich da vollkommen. Nicht nur ich, der Coach auch.“
 

Hatte er gedacht, dass die Zeit vor Knox‘ Worten schon schlimm wäre, so hatte Jean keinesfalls mit den Worten an sich gerechnet und kam nun nicht umhin, festzustellen, dass die Zeit danach wesentlich schlimmer war als alles, was er sich hatte ausmalen können.

Zunächst war da Unglauben. Er hoffte, sich verhört zu haben. Er glaubte an einen schlechten Scherz. Er glaubte, dass er träumte.
 

Nichts davon traf zu.
 

Dann war da Horror bei dem Gedanken daran, das, was unter der schützenden Hand der Yakuza geschah, einem Polizisten zu beichten und somit für ein Blutbad sondergleichen zu sorgen. Ebenso bei dem Gedanken, dass er sich überhaupt jemandem anvertrauen sollte. All das, was geschehen war? Er erinnerte sich an vieles doch gar nicht mehr richtig, weil sein Hirn nur versucht hatte zu überleben.
 

Dem Horror folgte die Angst, dass Knox es auch ohne sein Einverständnis tun würde und ihm somit gar nichts Anderes mehr übrig blieb, als sich vorzeitig das Leben zu nehmen, bevor Moriyamas Auftragsmörder zu ihm kamen und ihn zu Tode folterten.
 

Unfähig, etwas zu sagen, starrte Jean Knox in die Augen und schüttelte den Kopf, als er die Kraft dazu fand. Es war schon beinahe zuviel und über das Rauschen in seinen Ohren hinweg hatte er das Gefühl, dass es nicht ausreichte.
 

„Kevin hat mir gesagt, dass es Dinge sind, in die ich besser nicht meine Nase hineinstecken sollte, aber das ist Körperverletzung. Sie dürfen damit nicht durchkommen.“
 

Jean ballte seine Hände zu Fäusten und entkrampfte sie mit eiserner Selbstbeherrschung wieder. Niemals in seinem Leben hätte er gedacht, dass er diese Worte aussprechen würde und noch während er mit ihnen kämpfte, waren sie Scherben in seinem Mund, dazu gedacht, auch noch den letzten Rest seines Stolzes ausbluten zu lassen.

Jean brauchte drei Anläufe, bevor er mehr als nur Krächzen herauspresste. „Day hat Recht“, presste er dann hervor. „Es ist nicht wichtig.“
 

Das stieß auf wenig Gegenliebe. „Sie haben dir wehgetan, Jean. Natürlich ist das wichtig“, sagte Knox das Unmögliche, das Undenkbare. Er war Besitz, es war nicht wichtig. Knox wusste doch, dass er Besitz war, warum sagte er so etwas?

Warum sagte er etwas, das nur Renee bisher zu ihm gesagt hatte? Jean, du bist mir wichtig. Wieder und wieder hatte sie ihm das gesagt, bis er es ihr geglaubt hatte. Wieso sagte der andere Junge das?

„Wieso?“, flüsterte er entsprechend verwirrt und das Lächeln des Kapitäns wurde so sanft, dass Jean wegsehen musste, weil es ihn zu sehr schmerzte.

„Du erinnerst dich? Teil unseres Teams. Du gehörst zu uns und die Trojans stehen für einander ein.“
 

Es klang beinahe lächerlich nach einer Motivationsansprache, nach leeren Worten, die mit noch unwichtigeren Vorsätzen unterfüttert wurden. Doch irgendetwas darin ließ Jean innehalten, auch wenn ihm wieder zum Lachen zumute war. Vielleicht war es gerade der Grad an Ernsthaftigkeit, der Knox auf eine andere Ebene von Jeans Denken hob.

Wo er Gewalt erwartet hatte, hatte Knox ihm erneut gezeigt, dass er seinen Kapitän falsch einschätzte.

Es musste etwas geben, nach dem Knox tickte. Eine Formel, eine Gleichung, nach der er handelte und die sein Leben bestimmte. Wenn es nicht Gewalt war, was dann? Nächstenliebe? Konnte er Gewalt ersatzlos durch Nächstenliebe und Entgegenkommen ersetzen? War das seine Gleichung?
 

Jean erkannte, dass eben jene schlimmer in ihm wüten würden als es jeder Schlag tun konnte.
 

Und wie bei Schlägen wappnete er sich gegen diese neue Form der Gewalt.
 

Nach und nach schulte er seine Mimik auf Ausdruckslosigkeit, seinen Körper auf Abwehr. Er schwieg lange genug um die Atmosphäre im Auto von verzweifelt auf unangenehm zu polen. Dann schnaubte er und durchbohrte Knox regelrecht mit seinen Augen.

„Meine Verletzungen gehen niemanden etwas an“, probierte er es mit Unfreundlichkeit, die in ihrer schroffen Form seinen Kapitän durchaus zurückzucken ließ. „Nicht dich, nicht die Trojans, nicht die Polizei.“
 

Knox öffnete den Mund um zu widersprechen, doch bevor Jean sich eine neue Strategie einfallen lassen konnte oder bevor sein Herz vor lauter Angst vor einer Strafe für seinen unverschämten Tonfall schier zersprang, schloss der andere Junge seine Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn.

„Möchtest du das wirklich nicht?“, fragte er langsam und vorsichtig und Jean sah betont aus dem ihm nahen Fenster. Nichtsdestotrotz war es eine ihm direkt gestellte Frage, auf die er gedrillt war zu antworten.

„Nein, ich möchte das nicht.“
 

Unweigerlich hielt Er den Atem an. Noch nie hatte es Andere interessiert, was er wollte. Noch nie hatte jemand auf das gehört, was er sagte. Niemand bis auf Renee. Und nun… nun akzeptierte auch Knox das, was er sagte.

„Okay, Jean. Das respektiere ich.“ Der andere Junge nickte und startete schließlich den Wagen. Jean blinzelte. Knox respektierte seine Worte? Warum? Nachdenklich malträtierte er seine Unterlippe zwischen seinen Zähnen.
 

„Möchtest du lieber in der Mall oder in einem kleinen Geschäft die Sportsachen kaufen?“, lenkte sein Kapitän ab und Jean war unweigerlich dankbar darum, dass er mit einem handfesteren Problem konfrontiert wurde in diesem Moment.
 

Ein kleiner Laden klang um Längen besser als eine Mall. Renee hatte ihm von einer solchen in Los Angeles erzählt, einem großen, mit Menschen überfüllten Einkaufstempel. Es war Jean ein Graus, doch er konnte dazu nicht nein sagen. Er musste die Mall wählen, damit Knox ihn nicht für schwach hielt, ihn mit seinen Narben der Erniedrigung.
 

„Mall“, sagte Jean schlussendlich kurz angebunden. Er würde das durchstehen, eine andere Wahl hatte er nicht. Schwäche würde andere gefährden. Renee zum Beispiel. Oder die Krankenschwester.
 

Abby. Das war ihr Name.
 

~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.



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