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Cursed

von

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Relakesch I - Engel

Reel war angespannt. Möglichst lautlos bewegte er sich über den Dielenboden, der hin und wieder ein verräterisches Knarren von sich gab. Das leise Schnarchen vom anderen Ende des Bettes versicherte ihm, dass er noch nicht aufgeflogen war und so schlich er weiter unbemerkt durchs Zimmer.

Ein paar Münzen, die offen auf einem Holztisch lagen, fanden ihren Weg in Reels Besitz, eine silberne Taschenuhr und eine Brosche mit Blumenmotiv folgen im Anschluss.

Nun galt seine Aufmerksamkeit dem Nachtschrank neben dem Bett. Vorsichtig tastete er sich an das Objekt seiner Begierde heran – eine beschlagenen Schatulle. Sie war von ihrem Besitzer in dem kleinen Möbelstück verstaut worden und Reel machte sich nun verstohlen daran sie aus ihrem Versteck zu holen.

Ein eisernes Schloss hielt die Schatulle verschlossen, die für ihre Größe erstaunlich schwer war.

Grade noch rechtzeitig bemerkte Reel die dünne Schnur, die an einen eigens dafür an der Schatulle angebrachten Ring befestigt worden war.

Die Schnur war durch ein Loch in der Rückwand des Nachtschranks gefädelt, zu dem darüber liegenden Regal gezogen und dort befestigt worden.

Hätte Reel nun an der Schatulle und damit an der Schnur gezogen, wäre das Regal und alles was darauf aufgestapelt worden war auf ihn niedergestürzt und hätte den schlafenden Besitzer alarmiert. Umsichtig begutachtete er den Mechanismus bevor er mit einem behutsamen Schnitt seines Dolches die Schnur von seinem Diebesgut trennte.

Das Regal blieb intakt, der Mann auf dem Bett schnarchte friedlich weiter und Reel zog sich leise zurück.

Auf dem Rückweg zum Fenster achtete er darauf, keine der knarrenden Dielen zu betreten, die er auf seinem Hinweg bereits als solche erkannt hatte.

Vor dem Fenster wartete Corvo ungeduldig auf ihn. Vorsichtig nahm er ihm das kleine aber schwere Kästchen ab, damit Reel beide Hände zum Klettern frei hatte. Corvo schaffte es auch mit nur einer Hand mühelos die Hauswand hinabzusteigen, aber Reel hatte doch lieber beide Hände zur Verfügung.

Unten angekommen verschwanden sie sofort in die nächste dunkle Gasse und huschten davon. Es war Nacht, aber die beiden Diebe hätten ihren Weg durch die Straßen der Stadt auch mit verbundenen Augen gefunden und fanden sich in der Dunkelheit mühelos zurecht.

Ihr Ziel war eine verlassenen Taverne in der Nähe der Stadtmauern, welche ihnen nicht nur als Unterschlupf, sondern auch als Zuhause diente.

Neben der verbarrikadierten Eingangstür hing ein verwittertes Holzschild von dem die Farbe bereits abblätterte. Früher hatte darauf wohl einmal 'Zur tanzenden Krähe' gestanden, doch nun nannten alle diesen Ort nur noch 'Das Krähennest'.
 

Raven wartete bereits ungeduldig und als sie die beiden vertrauten Silhouetten in den Schatten der Gassen entdeckte, fiel ein größer Teil ihrer Anspannung endlich von ihr ab. Der Auftrag war nicht schwer gewesen, aber es konnte immer etwas schief gehen und sie machte sich so oder so immer Sorgen um die beiden.

Über einen versteckten Zugang verschafften sich die Jungs Zutritt zu dem heruntergekommen Gebäude und wurden von ihrer Anführerin und einigen weiteren Dieben begrüßt. Raven nahm die Schatulle entgegen und machte sich daran das Schloss zu öffnen. Wenn es um das Knacken von Schlössern ging, war sie die unübertroffene Meisterin dieser Stadt. Ihre Werkzeuge waren ihr größter Schatz und obwohl sie jeden, der es lernen wollte, in dieser Kunst unterwies, hatte noch niemand ihr Level erreicht.

Daher dauerte es auch nicht lang, bis ein metallisches Klicken ertönte und die Schatulle bereitwillig ihren Inhalt preisgab. Eine ganze Menge glänzender und abgegriffener Münzen kam zum Vorschein und löste Jubel unter den jungen Dieben aus. Reels Opfer war der Eintreiber eines Geldleihers gewesen und die Schatulle und ihr Inhalt hätte an dessen Arbeitgeber gehen sollen. Nun würde er stattdessen den Dieben dabei helfen am Leben zu bleiben.

Es gab mehrere Diebesgilden in der Stadt und Reels war eine der kleineren und wenig respektierten. Das machte ihr Leben am Stadtrand nicht grade leichter, aber die meisten hier kannten eh nichts anderes und Raven tat alles in ihrer Macht stehende um ihre Diebe zu beschützen.

„Gut gemacht, Jungs. Damit kommen wir eine Weile über die Runden“, beglückwünschte die lebhafte Brünette sie und umarmte beide gleichzeitig. Raven und Corvo waren mit ihren 19 Jahren die beiden ältesten in ihrer Gilde und Vorbilder für alle anderen – einschließlich Reel. Er war damals nur 8 Jahre alt gewesen, als die Zwillinge ihn aufnahmen und seit dem waren sie für ihn das, was einer Familie am nächsten kam. Nun war er 16 und übernahm selbst eine gewisse Verantwortung für die jüngeren Diebe seiner Gilde.
 

Reel zog sich auf das löchrige Dach ihres alten Pubs zurück. Er liebte es von hier aus den Sternenhimmel zu betrachten und irgendwann gesellte sich auch Raven zu ihm. Sie war eher selten hier oben anzutreffen, da das instabile Dach sie nervös machte, aber sie wusste, dass sie Reel hier finden würde.

„Lief alles ohne Probleme?“

„Ja. Nur eine kleine Schnur-Falle. Nichts womit ich nicht umgehen könnte.“ Raven seufzte erleichtert auf.

„Lange wird es nicht reichen. Vor allem nicht, wenn wir der Invi-Gilde bald auch noch Schutzgeld zahlen müssen.“

„Ich weiß. Hast du schon ein neues Ziel für mich, Raven?“ Die junge Anführerin druckste ein wenig herum bevor sie antwortete.

„Schon... Aber ich weiß nicht ob wir uns das zutrauen können. Andererseits gehen uns langsam die Optionen aus. Die anderen Gilden grenzen unser Territorium immer stärker ein und wir brauchen die Beute, sonst sind die Krähen bald Geschichte.“

„Was hast du im Sinn?“

„Das Anwesen von Lord Griefs“, rückte Raven endlich mit der Sprache heraus. Normalerweise versuchte sie das Risiko zu minimieren, aber sie brauchten das Geld – oder viel mehr die Schuldscheine die Lord Griefs seit Kurzem in seinem Besitz hatte.

Raven erzählte ihm, dass Griefs einige hohe Mitglieder der Invi-Gilde – ihrem größten Rivalen – finanziell im Griff hatte und diese wollten ihre Schuldscheine schnellstmöglich aus dessen Besitz entwendet wissen.

Sie selbst zu stehlen, bot für die Invi-Diebe ein zu großes Risiko, da Griefs ihre höchsten Mitglieder mit seinen Scheinen völlig im Griff hatte. Aber auch so hätte sich vermutlich kein Freiwilliger gefunden, der tollkühn oder schlichtweg einfach wahnsinnig genug gewesen wäre, sich mit einem der mächtigsten und gefürchtetsten Bewohner dieser Stadt anzulegen.

Reel schwieg für einen Moment bevor er antworte.

„Das wird... interessant. Mit viel Vorbereitung und etwas Glück könnten wir das schaffen. Aber es ist ja eh nicht so, als hätten wir eine Wahl.“ Raven seufzte erneut. Sie rückte ein Stück näher an Reel und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie war eigentlich niemand, der gern Verantwortung übernahm, aber irgendwie war sie dennoch die Rolle der Anführerin gerutscht und nun erfüllte sie diese nach bestem Wissen und Gewissen.

Reel lehnte seinen Kopf gegen ihren und betrachtete weiter die Sterne. Er genoss Ravens geschwisterliche Zuneigung sehr. Sie und Corvo waren für Reel das, was einer Familie am nächsten kam und er würde Raven zweifelsfrei als seine Schwester bezeichnen.

„Ich mache es. Ich übernehme die Vorbereitung für das Griefs-Anwesen.“ Die Vorbereitung für einen solchen Beutezug war zeitaufwendig. Es galt das Gelände und Gebäude auszukundschaften, den Tagesablauf aller Bewohner und Angestellten in Erfahrung zu bringen und auswendig zu lernen, und die perfekte Gelegenheit für den Einbruch zu wählen.

Raven hatte in ihrer Rolle als Anführerin nicht die Zeit dafür und Corvo hatte einfach nicht die Geduld. Er war ein hervorragender Kletterer und Free-Runner, und im Dolch-Kampf konnte nicht einmal Reel ihm das Wasser reichen, aber er war ungeduldig und neigte zu Fehleinschätzungen, wenn es um Risiken ging.

Außerdem würde er sich darum kümmern müssen, die anderen über die Runden zu bringen, bis sie bereit für den großen Einbruch waren. Den übrigen Dieben traute Reel eine Aufgabe dieser Wichtigkeit einfach nicht zu, also blieb nur er selbst für den Job übrig.

„Aber sei vorsichtig. Du weißt, wenn ich eine andere Möglichkeit sehen würde, dann würde ich dich das nicht machen lassen.“

„Ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Ich kann schon auf mich aufpassen.“ Ein kurzes, wissendes Lachen entfuhr Raven, aber sie erwiderte nicht.

Plötzlich hörten sie leise Schritte hinter sich. Corvo setzte sich wortlos neben seine Schwester und lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem schrägen Dach zurück. Raven und Reel taten es ihm gleich und schweigend betrachteten sie den Himmel. Corvo wusste bereits über das Griefs-Anwesen Bescheid. Ohne mit ihm vorher darüber zu sprechen, hätte Raven Reel diesen Vorschlag nicht unterbreitet.
 

Am nächsten Abend begann Reel seinen Auftrag. Corvo begleitete ihn um sicherzugehen, dass sich die Routinen der Stadtwachen nicht verändert hatten und Reel dadurch nicht in Schwierigkeiten geriet. Er war eher der schweigsame Typ, aber Reel kannte ihn lang genug um ihm seine Sorge dennoch anzumerken. Ein Anwesen war eine ganz andere Nummer als Taschendiebstahl oder einfache Einbrüche.

Gemeinsam kundschafteten sie die Umgebung aus und suchten gute Verstecke für Reel um von dort aus das Anwesen zu beobachten. Nach gut drei Stunden wurde Corvo zappelig.

„Wer ist es dieses mal?“, fragte Reel beiläufig.

„Die Zofe einer Händler-Tochter. Ein bisschen schüchtern, aber mit einem unglaublich wohlgeformten Körper.“ Reel unterdrückte ein Schmunzeln. Corvo sah gut aus und hatte viele Liebschaften, die er gerne für seine Diebstähle ausnutzte.

„Na dann zisch schon ab. Ein Haus kann ich auch allein beobachten“, witzelte Reel und zwinkerte ihm wissend zu. Dankbar grinste Corvo ihn an.

„Alles klar. Du packst das hier schon.“ Grob fuhr er Reel durch die Haare, dann verschwand er mit unglaublicher Geschicklichkeit über die Dächer ins nächste Stadtviertel. Reel sah ihm einen Moment lang hinterher und richtete anschließend seine Haare. Er hatte sie zurückgebunden und Corvo hatte viele Strähnen aus dem Zopf gelöst.

Endlich konzentrierte er sich wieder auf das große Gebäude vor ihm. Hinter vielen der Fenster in den unteren Etagen war warmes Licht zu sehen, während weiter oben nur zwei Fenster erleuchtet waren. Eines von diesen beiden obersten Fenstern wurde nun geöffnet und Reel duckte sich reflexartig noch tiefer in die Schatten.

Er erkannte langes, helles – fast schon weißes – Haar und weiße Kleidung. Die Gestalt wirkte nahezu mystisch im Licht des Halbmondes und Reel konnte nicht anders als von ihrem Anblick gefesselt zu werden. Er vergaß seine eigentliche Aufgabe völlig und beobachtete nur noch die Schönheit am Fenster.

Reel wusste nicht wer sie war. Vielleicht die Tochter von Lord Griefs? Er war um die 40 Jahre alt und verheiratet, also wäre es durchaus möglich, aber hatte Lord Greifs überhaupt Kinder? Keine von denen Reel wusste, aber er kümmerte sich normalerweise auch nicht besonders um die Familienplanung der gehobene Schicht. Das Mädchen am Fenster sah nicht aus, als gehöre sie zum Personal, auch hätte sie in diesem Fall keine Zeit zum Sterne-gucken gehabt. Also wer war sie?

Reel konnte seine Augen nicht von der platinblonden Schönheit lassen und beobachtete diese, bis sie sich in ihr Zimmer zurückzog und das Licht löschte.

Endlich konnte er sich wieder auf seine Aufgabe konzentrieren, doch immer wieder glitten seine Gedanken zu dem blonden Engel aus der obersten Etage.
 

Die Sonne ging auf und Müdigkeit überkam Reel. Er wartete die nächste Patrouille ab und machte sich dann auf den Weg zurück zum Krähennest.

Dort angekommen zog er sich sofort in seine Ecke zurück und schlief ein. Corvo kam ebenfalls erst am Morgen zurück. Er legte einige Münzen, ein Brosche und zwei geschmückte Weinkelche in ihre Beute-Truhe. Am Abend würden er und Raven ihrem Schwarzmarkthändler einen Besuch abstatten und ihre Beute versilbern.

Auf dem Weg zum Dach lief er an Reel vorbei. Dieser lag zusammengerollt auf seinem notdürftigen Nachtlager und schlief. Das Jahr neigte sich bereits dem Ende zu und es wurde von Tag zu Tag kälter. Mit einem kurzen Seufzen zog Corvo seinen Kapuzenumhang aus und legte ihm um Reels Schultern. Fast jeder Dieb trug einen solchen Umhang in dunklen, unregelmäßigen Grautönen. Schwarz erzeugte zu scharfe Konturen, dreckiges Grau hingegen verwischte diese und erlaubte es dem Träger sich perfekt in die nächtliche Stadt einzufügen.

Raven beobachtete ihren Bruder vom Türrahmen aus. „Softie“, flüsterte sie ihm grinsend zu, als er an ihr vorbeilief. „Klappe, Prinzessin“, konterte Corvo mit einem unterdrückten Schmunzeln.
 

Als Reel wieder aufwachte, fiel sein Blick auf den verschlissenen Kapuzenumhang. Er faltete ihn grob zusammen und ging in den ehemaligen Schankraum. Raven saß auf dem Bartresen und organisierte ihre Finanzen. Sie trug ihren Umhang und schenkte Reel einen wissenden Blick. Dieser verstand sofort was sie meinte, nahm sich eine Schüssel Eintopf und setzte sich neben sie – Corvos Umhang auf dem Schoß.

„Wie lief´s gestern Nacht?“, eröffnete Raven das Gespräch.

„Ganz gut. Ich hab einen guten Einblick in die Arbeitszeiten des Personals bekommen. … Aber sag mal... Hat Lord Griefs eigentlich Kinder?“ Raven sah ihn verwirrte an.

„Nicht das ich wüsste. Wieso?“

„Ich hab jemanden im Fenster der obersten Etage gesehen, der nicht zum Personal gehört. Ich glaube es ist ein Mädchen, etwa in meinem Alter, mit langen, weißen Haaren.“

„Weiß? Das ist ungewöhnlich. Schick ruhig die anderen los um Informationen einzuholen oder frag Corvo, wenn du ihm seinen Umhang wieder gibst. Er schnappt bei seinen Liebschaften ab und an ein paar interessante Dinge auf.“

Reel aß seine Portion und machte sich dann auf die Suche nach Corvo. Auf dem Dach wurde er fündig. Reel setzt sich neben ihn und reichte ihm seinen Umhang.

„Danke.“ Doch Corvo winkte nur ab und warf sich den Umhang mit einer schwungvollen Bewegung um die Schultern.

„Sag mal, Corvo. Weißt du zufällig etwa über ein Mädchen mit langen weißen Haaren? Sie ist etwa so alt wie ich und lebt in Lord Griefs Anwesen.“ Corvo sah in unschlüssig an, dann stahl sich ein diebisches Grinsen auf sein Gesicht.

„Bist du etwa verliebt, Reel?“, stachelte er ihn an.

„Es geht nur um meinen Auftrag. Ich muss über jeden Bewohner des Anwesens Bescheid wissen um den Einbruch ideal planen zu können“, rechtfertigte sich Reel während sich eine ertappte Verlegenheit auf sein Gesicht schlich. Corvo überlegte einen Moment.

„Ich hab da tatsächlich etwas über ein Mädchen mit weißen Haaren gehört. 18 Jahre alt, schmaler Körper, blasse Haut und gibt ein eher kränkliches Bild ab.“ Reel nickte.

„Ja, so sah sie aus. Wer ist das?“

„Lord Griefs Ehefrau“, verkündete Corvo ganz trocken.

„Was?“ Reels Gesichtszüge entgleisten. „Aber... sie ist doch erst 18 und Lord Griefs ist... irgendwas um die 40.“ Corvo überging ihn einfach und sprach weiter.

„Das Mädchen ist ein beliebtes Thema bei den adligen Frauen und ihren Hofdamen. Nach dem was ich so gehört habe, ist sie im Alter von 12 Jahren mit ihm zwangsverheiratet worden und lebt seit dem wie in einem goldenen Käfig bei ihm.“ Reel dachte zurück an die hübsche Gestalt am Fenster und empfand Mitleid.

Corvo stand auf und fuhr Reel wieder durch die Haare. Noch hatte er sie nicht zurückgebunden, aber das würde er nachholen bevor er zum Anwesen aufbrach.

„Ich hab heute Nacht noch eine Verabredung. Viel Glück mit Lady Griefs, Kleiner.“ Mit diesen Worten ließ Corvo ihn allein. Einen kurzen Moment lang grübelte er noch über die neuen Informationen nach, dann band er sich seine schwarzen Haare zusammen und machte sich ebenfalls auf den Weg.
 

Reel bezog pünktlich zu Sonnenuntergang sein Versteck mit freier Sicht auf das Fenster im Obergeschoss, an dem er gestern das Mädchen gesehen hatte. Und tatsächlich wurde es von schummrigem Licht erhellt, sobald die Sonne vollständig hinter dem Horizont verschwunden war. Immer wieder sah Reel flüchtig dort hinauf, in der Hoffnung noch einmal einen Blick auf den hübschen Engel zu erhaschen. Und wie es schien, war das Glück ihm hold, denn knapp eine Stunde später öffnete sich das Fenster erneut und lenkte Reels Aufmerksamkeit auf sich. Das Mädchen wirkte melancholisch und Reel verstand nun auch den Grund dafür. Sehnsüchtig betrachtete er die ungewöhnliche Schönheit.

Sie kam jeden Abend circa eine Stunde nach Sonnenuntergang ans Fenster und Reel sehnte diesen Moment jeden Tag herbei. Das Mädchen faszinierte ihn und er wusste nicht wieso. Vielleicht war es ihr exotisches Aussehen oder die Tatsache, dass sie für Reel unerreichbar war.

Irgendwann wurde er unaufmerksam und begann seine Deckung zu vernachlässigen. Insgeheim wünschte er sich fast von ihr gesehen zu werden, auch wenn das mehr als dumm von ihm war.
 

Es kam wie es kommen musste und eines Abends fiel dem Mädchen ihr nächtlicher Besucher auf.

Sie erschrak und überlegte kurz um Hilfe zu rufen, entschied sich jedoch dagegen. Die dunkle Gestalt beobachtete sie nur aus der Ferne und sie war seit langem die erste interessante Abwechslung, die sich ihr in ihrem öden Alltag bot. Also stellte sie lediglich vorsichtig Blickkontakt her und schwieg. Es war so dunkel, dass sie ihren mysteriösen Besucher kaum erkennen konnte, aber er verschwand nie vollständig in den Schatten und ermöglichte ihr so, ihn halbwegs im Auge zu behalten.

Irgendwann wurde ihr befohlen das Licht zu löschen und sie musste vom Fenster zurücktreten.

In dieser Nacht konnte sie kaum schlafen. Die ganze Zeit fürchtete sie, die Schattengestalt könnte in ihr Zimmer einsteigen, aber verraten wollte sie ihn auch nicht. Außerdem war sie sich nicht einmal sicher, ob es nicht sogar besser wäre, wenn er in ihr Zimmer einbrach. So würde sie wenigstens einmal etwas Interessantes erleben und an ihrem Leben hing sie sowieso seit 6 Jahren nicht mehr.
 

Am nächsten Abend suchte sie vom Fenster aus die Umgebung nach einem auffälligen Schatten ab, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Sie wollte schon traurig aufgeben, als plötzlich eine Figur im dunklen Kapuzenumhang aus dem Schatten trat und wartete bis sie ihn fokussieren konnte. Lady Griefs Herz machte einen kleinen Hüpfer. Er war tatsächlich wiedergekommen.
 

So verliefen auch die folgenden Nächte und Reel wusste ganz genau, dass er einen schwerwiegenden Fehler beging. Das Mädchen suchte ihn jeden Abend und jeden Abend gab er sich ihr zu erkennen. Warum sie ihn nicht verriet war ihm ein Rätsel, aber andererseits verstand er ja auch nicht warum er sich ihr überhaupt zeigte. Sie faszinierte ihn einfach ungemein und irgendwann reichte es Reel nicht mehr, sie nur von weitem zu betrachten. Er wollte wissen, wer dieses Mädchen wirklich war und es konnte ja auch sehr hilfreich für seinen Einbruch sein, wenn er sich mit ihr anfreundete. Es hatte leider als äußerst schwierig herausgestellt an Informationen über Lord Griefs und dessen Personal und Anwesen zu kommen, daher wäre ein Informant innerhalb dieser Mauern Reels beste Chance. 'Corvo besorgt sich seine Informationen schließlich auch so, also warum sollte ich das nicht auch versuchen?', dachte Reel bei sich und suchte nach Ausreden um seinen Wunsch zu ihr zu gehen zu rechtfertigen.
 

Plötzlich ertönte hinter ihm ein lautes Rufen und ließ Reel aufschrecken. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er die Zeit vergessen und von einer Patrouille überrascht worden war. Jetzt hieß es schnell sein und die Flucht nach vorn ergreifen. Hecktisch huschte er vom Dach und durch die Gassen Richtung Anwesen.

Kurzentschlossen schlich er sich zur Rückseite des Gebäudes und begann dort die Hauswand zu erklimmen. Den restlichen Wachen und Hausangestellten wich er dabei mehr oder weniger problemlos aus – schließlich kannte er deren Routinen inzwischen recht gut.

Über das Dach erreichte er das einzige geöffnete Fenster – das des Mädchens – und schwang sich durch dieses ins Zimmer um sich vor den Blicken der nahenden Wachen zu verbergen.

Sie erschrak, aber brachte kein einziges Wort hervor. Die lauten Rufe von draußen ließen sie wissen was sie zu wissen brauchte und dennoch schrie sie nicht um Hilfe.

Reflexartig zog sie ihren Besucher vom Fenster weg und schloss die Vorhänge um sie beide vor neugierigen Blicken zu schützen.

Draußen wurde es nur langsam wieder leiser und Reel fand endlich seine Stimme wieder.

„Danke“, flüsterte er seiner Retterin leise zu.

„Kein Problem... glaube ich...“, kam die gestammelte Antwort.

„Du bist Lady Griefs, oder? Lord Griefs Frau.“ Sie sah ertappt zur Seite und nickte.

„Und du bist?“

„Ähm... du kannst mich Reel nennen“, antwortete er nervös und unsicher, warum er ihr seinen Namen genannt hatte.

„Also... ehm... Du solltest dich vielleicht eine Zeit lang hier verstecken, bis sich die Aufregung wieder gelegt hat.“ Das war das mit Abstand spannendste, was ihr je passiert war und der Junge in der verschlissenen Kleidung mit den ungeschnittenen, tiefschwarzen Haaren war der mit Abstand schönste Mensch, der ihr je begegnet war.

Reel nickte zögerlich. „Warum verrätst du mich nicht?“ Sie schwieg kurz, dann konterte sie mit einer Gegenfrage. „Warum beobachtest du das Anwesen?“

„Schon gut. Keine Fragen, keine Lügen, okay?“ Reel ging mit seiner bloßen Anwesenheit bereits ein viel zu großes Risiko ein, da würde er nicht auch noch Fragen beantworten. Es sich mit seiner Retterin verscherzen, wollte er allerdings auch nicht.

„Ich hoffe du hast dich nicht zu unwohl wegen meiner Besuche gefühlt, Lady Griefs“, versuchte Reel das Gespräch in eine belanglosere Richtung zu lenken.

„Nenn mich bitte nicht so.“ Sie schien ehrlich unglücklich mit dieser Anrede und Reel konnte es ihr nicht verübeln.

„Dann sag mir wie du heißt.“ Sie zögerte einen Moment und sah Reel forschend an bevor sie leise antwortete: „Nathalie.“

„Schöner Name. Passt zu dir.“ Sie wurde ein wenig rot. Es war das erste mal seit 6 Jahren, dass sie ungezwungen mit jemand anderem als Lord Griefs oder dem Personal des Anwesens sprach. Und dazu schien Reel auch noch in etwa in ihrem Alter zu sein.
 

Corvo hatte recht gehabt. Nathalie war tatsächlich sehr schmal und wirkte schwach und kränklich. Das konnte man trotz des weiten Rüschen-Nachthemdes erkennen, aber es tat ihrer Schönheit keinen großen Abbruch. Ihre Augen waren leuchtend blau, aber hatten einen gebrochenen Ausdruck, den Reel nicht so recht zu deuten wusste.

Schließlich entschied Reel, dass es draußen wieder sicher für ihn war.

„Dann lass ich dich jetzt mal wieder allein, Lady Nathalie.“ Er zwinkerte ihr zu und ging zum Fenster.

„Reel? Kommst du... Kommst du morgen wieder?“ Reel stutzte. Sie verblüffte ihn immer wieder.

„Wenn du willst.“

„Du bist das einzige interessante, was mir hier passiert. Also komm bitte wieder.“ Reel wusste nicht so recht, was er mit dieser Antwort anfangen sollte.

„Sag mal, hast du gar keine Angst vor mir? Ich könnte hier sein um dich zu töten. Ich bin sogar bewaffnet.“ Zur Demonstration zog er seinen Dolch hervor und führte betont beiläufig einige Tricks damit vor. Doch sie blieb ganz ruhig.

„Ich hab keine Angst vor dem Tod. Und du hast doch nicht vor mich zu töten, oder?“

„Nein, eigentlich nicht. Also dann. Bis Morgen.“ Und im nächsten Augenblick war er auch schon durchs Fenster verschwunden.
 

Mit einem Dauergrinsen im Gesicht stahl sich Reel wieder in die Schatten. Verdammt, er hatte sich grade verliebt – in die Ehefrau seines nächsten Opfers. 'Toll... da hab ich ja mal wieder ein Glück.' Er war noch nie ernsthaft verliebt gewesen und es fühlte sich so belebend an. Reel konnte den nächsten Abend kaum abwarten.

Bei seinem nächsten Besuch fand er schnell einen sicheren Weg aufs Dach und damit in Nathalies Zimmer.

Anfangs unterhielten sich nur über belanglose Dinge, damit Reel nichts über den eigentlichen Grund seiner Anwesenheit preisgeben müsste, aber durch seine allabendlichen Besuche entwickelte sich schnell eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen und Reels Anwesenheit war für Nathalie immer weniger ein Grund zur Nervosität.

„Guten Abend, Lady Nathalie“, erklang die vertraute Stimme des jungen Diebes. „Was machst du?“ Gedankenlos ließ er seinen Umhang in der Nähe des Fensters, durch welches er täglich ein- und ausstieg, fallen und kam zu Nathalie aufs Bett. Ungefragt ließ er sich neben ihr aufs Bett fallen und sah sie an.

„Ich lese. Doktor Luis – mein Leibarzt – hat mir heute ein neues Buch mitgebracht. Magst du mal einen Blick rein werfen?“ Auffordernd hielt sie ihm das Buch hin, doch dieser winkte ab.

„Das ist nicht so unbedingt mein Ding.“

„Ach komm schon. Sieh es dir wenigstens mal an. Es ist wirklich interessant.“ Reel wurde leicht rot und sah beschämt zur Seite. „Ich kann nicht...“, druckste er herum. Verwirrte sah Nathalie ihn an. „Was meinst du?“

„Nathalie, ich kann nicht lesen.“ In diesem Moment wurde ihr ihr Fehler bewusst. Natürlich, woher sollte er es auch können? Sie wusste mittlerweile, dass Reel nicht nur aus ärmlichen Verhältnissen stammte, sondern mehr oder weniger auf der Straße lebte. Ans Lesen lernen war da natürlich gar nicht zu denken.

„Entschuldige bitte, das war unsensibel von mir. Wenn du willst kann ich es dir beibringen. Es ist gar nicht so schwer.“ Reel sah sie unschlüssig an.

„Naja, ich kann es ja mal versuchen.“ Nathalies Gesicht hellte sich auf. Sofort rückte sie ein Stück näher an Reel, damit sie gemeinsam in das Buch sehen konnten und begann damit ihm die einzelnen Buchstaben zu erklären.

Reel machte relativ schnell Fortschritte. Er hatte schon immer ein gutes Gedächtnis gehabt und einige wenige Buchstaben und Wörter kannte er durch Schenken-Namen und ähnliches vorher schon.

Nathalie blühte in ihrer Rolle als Lehrerin richtig auf und Reel konnte nicht anders, als sich von ihrem Enthusiasmus anstecken zu lassen.

Irgendwann schwirrte Reels Kopf vor lauter Buchstaben und Nathalie beendete den Unterricht für diesen Abend.

Schwärmerisch sahen ihr Reels Augen entgegen. Sie waren hellgrau – eine ungewöhnliche Augenfarbe und Nathalie liebte sie.

„Du bist wunderschön, weißt du das?“ Nathalie wurde rot. Sie war es nicht gewohnt Komplimente zu bekommen und besonders von Reel bedeutete ihr das viel. Verlegen rollte sie sich auf den Rücken und schlug die Hände vor die Augen um ihre Röte zu verstecken.

Reel beobachtete sie amüsiert. Er brachte sie gerne in Verlegenheit. Unverwandt ließ Reel seinen Blick von Nathalies Gesicht weiter nach unten wandern. Der Kragen von ihrem Nachthemd war verrutscht und gab ein gutes Stück ihrer Brust frei, die in ihrer momentanen Körperhaltung noch flacher wirkte als eh schon.

Reel stutzte. Unauffällig zog er an dem Band, dass den Kragen noch notdürftig zusammenhielt. „Nathalie?“

„Ja?“ Sie setzte sich auf und Reel sah ihr nicht in die Augen sondern etwas tiefer. Nathalie folgte seinem Blick und bemerkte schnell was ihn so verwirrte. Die Schnürung ihres Nachthemdes hatte sich durch ihr Aufsetzten nun völlig gelöst und gab ihre gesamte Brust frei. Sie lief hochrot an und sah beschämt zur Seite. „Reel, es tut mir so leid. Ich … Ich wollte dich nicht anlügen... Ich...“ Reel wusste nicht so richtig wie er regieren sollte. Er war völlig perplex.

„Wie heißt du wirklich?“

„ … Nathaniël“, gab dieser beschämt von sich.

„Darf ich?“ Reel machte sich daran das Nachthemd weiter zu öffnen um sich zu vergewissern. „NEIN!“ Panisch zog Nathaniël die Schnur wieder fest und bedeckte seine Blöße.

„Ich bin ein Mann. Ja. Ich... ich wollte nicht lügen, aber ich... Reel, ich dachte dann magst du mich vielleicht nicht mehr.“ Tränen bildeten sich in seinen blauen Augen.

Vorsichtig rückte Reel näher und berührte sanft seine Wange um diese wegzuwischen. Nathaniël hatte in letzter Zeit so viel Angst und Zweifel angestaut, dass diese jetzt in Form von Tränen hervorbrachen. Zaghaft legte Reel seine Arme um ihn und dieser weinte leise an Reels Brust.

„Hasst du mich jetzt?“, schluchzte er leise in Reels Leinenhemd.

„Wie kommst du denn da drauf? Klar, finde ich es nicht in Ordnung, dass du mich belogen hast, aber dafür hasse ich dich doch nicht.“

„Wirklich nicht?“, murmelte er verweint.

„Versprochen.“

„Danke.“ Reel hielt ihn fest, strich behutsam über seinen Rücken und verhedderte ab und an seine Finger in Nathaniëls langen Haaren.
 

Irgendwann bemerkte Reel, dass Nathaniël eingeschlafen war. Unkoordiniert flogen seine Gedanken durcheinander. Reel war schon früher aufgefallen, dass er Frauen nicht als anziehend empfand, daher hatte ihn seine Zuneigung für Nathalie doch sehr gewundert. Aber wie sich herausstellte fühlte er sich zu Nathaniël und nicht zu Nathalie hingezogen und irgendwie beruhigte ihn das fast schon wieder. Eine weitere Phase der sexuellen Verwirrung konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooooooo. Ich hoffe der kleine Stilbruch stört nicht zu sehr. Die Relakesch-Kapitel wirken beim Lesen vermutlich etwas "gerushed". Ich muste arg kürzen, damit die Backstory nicht absolute überlänge bekommt und das merkt man besonders im diesem Kapitel (finde ich persönlich).
Ich hoffe es gefällt euch trotzdem ein bisschen. Liebe Grüße
Lycc

FunFact: Der Name 'Nathaniel' bedeutet 'Geschenk Gottes'. Daher die Bezeichnung 'Engel'. ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Toshi
2020-08-01T22:06:20+00:00 02.08.2020 00:06
ohhh, welch wendung!!
ich mag den namen Nathaniël übrigens sehr gern hihi
Antwort von:  Lycc
04.08.2020 14:03
Hi. Ich hab deine lieben Kommentare erst jetzt gesehen ^^“
Freut mich, dass Dir meine Geschichte soweit ganz gut gefällt und du mir hier sogar so nettes Feedback hinterlässt. ^~^
Ich werde hoffentlich auch bald wieder zum Schreiben kommen und Cursed updaten.
Liebe Grüße und vielen Dank fürs lesen und dein Feedback. ^~^
Antwort von:  Toshi
04.08.2020 19:26
Ach, sehr gern!
Und nur keine Eile :3


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