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Tatsächlich schwul

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Aufgrund des Wunsches einer einzelnen Dame, dieses Mal der Link zum Lied, zu dem der erste Teil des Kapitels entstanden ist. Es handelt sich um „Creep“ von Radiohead, neu interpretiert von Scala & Kolacny Brothers: https://www.youtube.com/watch?v=Yt6-gBGCJ-4

Der zweiten Teil entstand dann zu „Nothing else matters“ von Metallica. Komplett anzeigen

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Heiter bis wolkig

Das Laken unter Javier war verschwitzt, sein Bauch klebte und er hatte das Gefühl, gleich umfallen zu müssen, wenn er nicht schon längst auf dem Rücken gelegen hätte mit Nick über sich, der gerade Anstalten machte, sich aus ihm zurückzuziehen.

„Bleib“, flüsterte er und hielt ihn fest.

Nick sah auf ihn herab und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Er lehnte sich vor und platzierte einen vorsichtigen Kuss auf Javiers Lippen. Der Kuss schmeckte noch genauso und doch war er ganz anders als die tiefen, leidenschaftlichen Küsse, die noch sie vor wenigen Augenblicken getauscht hatten.

„Wenn ich zu lange warte, gibt das wieder eine Sauerei. Und im Gegensatz zum Sofa ist das Bett nicht abwischbar.“

„Bleib trotzdem“, bat Javier und schlang kurzerhand die Beine um ihn. Er wusste, dass Nick Recht hatte. Er wusste auch, dass es vernünftiger gewesen wäre, eben kurz die Spuren zu beseitigen und sich dann aneinander zu kuscheln. Trotzdem wollte er diesen Moment der Vereinigung noch ein wenig länger genießen.

Nick schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. „Wenn das so weitergeht, können wir die Kondome auch weglassen.“

Der Gedanke war Javier bisher noch gar nicht gekommen. Seit dem einen sehr dummen und sehr betrunkenen Mal hatte er bisher immer darauf bestanden. Aber jetzt, wo er und Nick … Da konnten sie ja vielleicht …?

Irgendetwas in seiner Brust krampfte sich zusammen und er spürte, wie es in seiner Nase zu kribbeln begann. Scheiße! Schnell drückte er Nick an sich und ignorierte dessen Protest, als der in den zahlreichen Spritzern landete, die immer noch Javiers Brust bedeckten. Er spürte, wie Nick nun doch aus ihm herausglitt und bedauerte ein wenig das Gefühl der Leere, das damit einherging. Trotzdem hielt er ihn weiter fest.

„Beim nächsten Mal“, sagte er und drückte sein Gesicht an Nicks Hals, um ganz sicher zu gehen, dass der nicht sah, dass er kurz davor war zu flennen. Er hätte das Gefühl nicht erklären können und er wollte nicht, dass Nick sich Sorgen machte. Es war doch alles in Ordnung. Er war nur so unheimlich glücklich, dass es sich anfühlte, als wenn all das Glück nicht in ihn hineinpassen würde.

„Te quiero“, wisperte er so leise, dass Nick es nicht hören konnte. Mehr wagte er nicht, auch wenn es sich nach viel mehr anfühlte. Nach beängstigend viel mehr. Nach etwas, das er bis aufs Blut verteidigen würde, wenn jemals jemand versuchen würde, es ihm wieder wegzunehmen.

 

Nach einigen Augenblicken, begann Nick sich entschieden gegen die Umarmung zu stemmen.

„Jay, ich hab dich auch wirklich lieb, aber ich muss jetzt dieses Kondom entsorgen, sonst darf ich mich gleich mal wieder mit dem Problem rumschlagen, dass sich Bettwäsche in einer Wohnung wie dieser einfach bescheiden aufhängen lässt.“

Er klang dabei so entrüstet, dass Javier lachen musste und ihn freigab. Er beobachtete, wie Nick sich um das Gummi-Problem kümmerte und mit einem „Bin gleich wieder da“ zur Tür raus stolzierte. Nackt. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Nachbarn. Javier musste grinsen, als er das sah. Auch wenn Nick kurz darauf mit einem warmen, feuchten Handtuch zurückkehrte und es Javier reichte, damit der sich säubern konnte, war da doch dieser kleine Moment gewesen, in dem Nick nicht perfekt gewesen war. Kein sagenhafter Engel, der in Sphären wandelte, die Javier niemals erreichen konnte, sondern jemand, der ihn tatsächlich um sich haben wollte. Der sich jetzt neben ihn legte, die Arme um ihn schlang und ihn an sich zog mit den Worten: „Komm auf meine Seite, die ist trockener.“

Und scheiße, ja, er wollte auf Nicks Seite sein. Für jetzt und für immer. Selbst wenn er dafür anfangen müsste, Anzug und Krawatte zu tragen. Er gluckste, als ihm klar wurde, was er da gerade gedacht hatte.

„Warum lachst du?“, wollte Nick wissen, während er ihn noch ein Stück näher zog, sodass sie jetzt Rücken an Bauch nebeneinander lagen.

„Ach nur so. Ich musste gerade an diese Krawatte denken, die du an dem Tag umhattest, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Die mit den blauen und gelben Streifen.“

Er spürte, wie Nick stutzte. „Ja und? Was ist mit der?“

„Die ist furchtbar.“

Im nächsten Moment bohrten sich Nicks Zähne in seinen Hals und er schrie überrascht auf.

„Hey, bist du jetzt ein Vampir oder was?“

„Jaa, eine furchtbarä Vampirä und ichä werdä deinä Blutä trinkän.“

Noch bevor Javier etwas dagegen tun konnte, hatte Nick tatsächlich angefangen, an seinem Hals zu saugen. Nachdem er sich noch für einen Augenblick dagegen gewehrt hatte, hielt er plötzlich ganz still und genoss das feine Prickeln. Als Nick aufhörte, wusste Javier, dass an der Stelle jetzt ein dunkler Fleck prangte. Er lächelte ein wenig ungläubig.

„Hast du mich gerade markiert?“

„Mhm“, murmelte Nick und küsste die malträtierte Stelle leicht. „Stört es dich?“

„Nein, ich hätte nur nicht gedacht, dass du so was machst.“

„Ich auch nicht.“ Mehr federleichte Küsse strichen über seinen Hals. „Hat's wehgetan?“

„Nicht sehr.“

„Gut. Ich will dir nämlich nicht wehtun.“

 

Für einen Augenblick schwiegen sie, während die Welt außerhalb des Raums sich weiterdrehte und vermutlich gerade in sonntagnachmittäglicher Lethargie versank. Eine Zeit, die Javier normalerweise hasste und oft damit verbrachte, sich irgendwelche Filme reinzuziehen, bis es wieder Zeit wurde, sich hinaus zu begeben und irgendetwas zu tun. Aber jetzt hier mit Nick war es okay, einfach nur so dazuliegen und die Zeit verstreichen zu lassen. Er rückte noch ein Stück nach hinten und schloss die Augen. Ja, es war gut, einfach nur bei ihm zu sein.

„Sag mal …“, begann Nick jedoch nach kurzer Zeit und Javier stellte fest, dass Nick anscheinend nur schwer die Klappe halten konnte. Wahrscheinlich dachte er schon wieder irgendetwas. Javier seufzte innerlich und öffnete die Augen wieder.

„Ja?“

„Stehst du eigentlich auf Schmerzen? Im Bett meine ich.“

Javier zog die Augenbrauen zusammen. „Wie kommst du denn darauf?“

Nick atmete hörbar ein und aus. „Ach nur so. Weil du beim ersten Mal so … so angeturnt warst, als ich dich gefragt habe, ob du betteln würdest.“

Javier fühlte, wie sein Gesicht anfing warm zu werden. Mist. Das hatte Nick gemerkt? Er hatte eigentlich gehofft, dass es nicht allzu sichtbar gewesen war, obwohl er genau wusste, dass sein Schwanz deswegen gezuckt hatte. Allein die Vorstellung, dass Nick ihm etwas befehlen würde, ihn dazu bringen, sich ihm zu unterwerfen, hatte einen glühenden Blitz sein Rückgrat entlang geschickt. Aber konnte er Nick das sagen? Was würde der denken? Würde er es pervers finden? Ihn auslachen? Aber vielleicht … Er biss sich auf die Lippen, bevor er doch den Mund öffnete.

„Ich … ich steht drauf, wenn man mir sagt, was ich tun soll.“

Nick machte ein unschlüssiges Geräusch. „Wie meinst du das?“

Javier war gerade sehr froh, dass er Nick nicht ansehen musste. „Na ja, so Sachen wie 'Zieh dich aus', 'Knie dich hin' oder 'Mach den Mund auf'. So was.“

Nick erwiderte nichts darauf. Er strich lediglich mit der Hand sanft über Javiers Brust, als wäre er in Gedanken versunken. Javier wagte kaum zu atmen, während er darauf wartete, wie Nicks Reaktion ausfiel.

„Würdest du …?“, sagte er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit. „Wenn ich dir etwas sage, würdest du es dann tun?“

Etwas in Javiers Bauch begann zu kribbeln. Konnte es sein, dass Nick auf das Spiel einstieg? Dass er womöglich …? Er schluckte.

„Wenn du es ernst meinst.“

Nick presste sich enger an ihn und ein Schauer rieselte Javiers Rücken hinab. Die Stellen, die Nicks Finger berührten, schienen plötzlich zu brennen.

„Ich will, dass du dich anfasst. Dass du … dass du dich selbst befriedigst und dass ich dabei zusehen darf.“

„Jetzt?“ Vor zwei Minuten hätte Javier gesagt, dass das gerade unmöglich war. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher.

Nick schüttelte den Kopf. „Nein, nicht jetzt. Aber … irgendwann mal?“

Javiers Mundwinkel hoben sich. „Klar, warum nicht? Wenn dich das anmacht.“

Nick hauchte ihm einen Kuss auf den Hals dicht neben der Stelle, an der sich jetzt der Knutschfleck befinden musste. „Sehr. Ich sehe dich gerne an. Du bist … schön.“

In diesem Moment konnte Javier nicht anders. Er drehte sich herum, schlang die Arme um Nick und drückte ihm einen Kuss auf, der eher grob als irgendetwas anderes war. Er presste seine Lippen auf Nicks und konnte nur hoffen, dass Nick verstand. Dass er verstand, was Javier ihm damit sagen wollte, auch wenn es weder gut noch romantisch noch sonst was war. Aber es war das, was er in diesem Moment empfand und das war einfach so viel mehr, als er in Worte zu fassen in der Lage war. So unendlich verdammt viel mehr.

 

 

 

„Musst du wirklich schon gehen?“ Nick stand an die Spüle gelehnt und sah Javier dabei zu, wie er seine Schuhe anzog.

„Ja, leider.“ Javier seufzte. Er wäre wirklich gerne noch geblieben, aber es wurde draußen bereits langsam wieder dunkel und er hatte das Gefühl, dass es besser war, wenn er sich mal wieder bei seiner Tante blicken ließ. Außerdem hatte er die Hoffnung, dass ihre Trennung nicht von langer Dauer sein würde. Morgen. Morgen würde Nick seinen Job zurückbekommen und dann konnten sie den ganzen Tag zusammen sein. Zusammen. Es war immer noch unbegreiflich. Unbegreiflich groß und unbegreiflich schön. Er war noch nie „der Freund“ von jemandem gewesen. One-Night-Stand, Bettbekanntschaft, Fickbeziehung. All das hätte er sicherlich auf seine Liste schreiben können. Aber so mit allem Drum und Dran und „ich stelle dich bei Gelegenheit mal meinen Eltern vor“, das war neu. Und eigentlich konnte er es auch jetzt noch nicht so richtig glauben. Er war niemand, den man dafür auswählte. Nick war so jemand. Javier hätte ihn ohne zu zögern mit zu seinen Eltern genommen. Er war sich sicher, sie wären begeistert gewesen. Na ja, zumindest so begeistert, wie sie eben hätten sein können. Nick war toll! Vielleicht, wenn er ihm noch Spanisch beibrachte … Ja, in der Tat. Der perfekte Schwiegersohn.

Er grinste.

Nick sah ihn fragend an. „Was ist los?“

„Ach nichts. Ich musste nur gerade an etwas denken.“ Er trat zu Nick, legte die Arme um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Wir sehen uns morgen, Großer.“

„Ich freu mich schon“, erwiderte Nick und küsste ihn ebenfalls noch einmal kurz, bevor er ihn mit einem ebenso tiefen Seufzen wie Javiers wieder losließ. „Mach's gut und grüß deine Tante von mir.“

„Mach ich.“

 

Die ganze Zeit, während er zum Bahnhof lief, in der Schweinekälte auf den Zug wartete, sich auf einen der Sitze schmiss, um dann zum Fenster hinaus in den trüben Novemberabend zu starren, konnte Javier an nichts anderes denken als an Nick. Wie er sich anfühlte, wie er schmeckte, wie er roch. Er hatte festgestellt, dass seine Hände Nicks Geruch angenommen hatten und er musste sich wirklich zusammen reißen, um nicht die ganze Zeit an ihnen herumzuschnüffeln.

Ich werde sie nie wieder waschen, dachte er und musste über sich selber lachen. Ging es eigentlich noch bekloppter? Oder verliebter? Vermutlich nicht. Vermutlich würde er irgendwann durchdrehen deswegen. Dann ließ er sich Nicks Namen quer über den Bauch tätowieren und schlief nachts in einem Körbchen vor seinem Bett, nur um die ganze Zeit in seiner Nähe sein zu können. Oder in einem Nest, dass er sich aus seinem Bademantel gebaut hatte.

Als er aufstand, merkte er ganz kurz, dass er heute schon zweimal Sex gehabt hatte. Es war nicht schmerzhaft, einfach nur eine Erinnerung daran genau wie der Fleck, der jetzt an seinem Halsansatz prangte. Das ließ ihn daran denken, was Nick über die Kondome gesagt hatte. Javier stellte fest, dass er das wollte. Er wollte wissen, wie es sich anfühlte, Nick voll und ganz zu spüren.

 

Als er ausstieg, prangte direkt vor seiner Nase ein Plakat. Darauf waren zwei Typen zu sehen, die sich gerade abknutschten. Über ihnen prangte der Slogan: „Heiße Nacht? Benutzt Kondome.“

„Die wollen mich doch verarschen“, murmelte Javier und klappte den Kragen seiner Lederjacke hoch. Er beeilte sich, um endlich wieder ins Warme zu kommen, aber das Bild ging ihm nicht aus dem Kopf. Ob er … ob er sich auch nochmal testen lassen sollte? Er hatte Nick zwar gesagt, dass alles in Ordnung war und er war sich im Grunde genommen auch sicher, aber der Gedanke ließ ihn trotzdem nicht los. Er hatte vor nicht allzu langer Zeit einen HIV-Test machen lassen. Aber gab es da nicht eine Frist? Sechs Wochen oder so, bis eine Infektion nachweisbar war. Javier wusste, dass er immer vorsichtig gewesen war. Sogar an dem Abend, als er so sauer gewesen war, dass ihn sein Vater wegen dem Mist angemacht hatte. Dass er ihre Familie und besonders seine Mutter gefährden würde. Dass er sich schämen sollte, sich so zu benehmen. „Herumhuren“ hatte er es genannt und Javier hätte ihm dafür am liebsten ins Gesicht gespuckt.

Er hatte keine Lust gehabt, seinem Vater auseinanderzusetzen, dass er alles dafür tat, dass nichts passierte. Dass er nicht so dumm war, wie sein Vater zu glauben schien. Aber er hatte nur gesagt, dass er den Test machen würde und danach war er losgegangen und hatte sich einen Typen aufgerissen. Einen blonden Bären; den größten, den er finden konnte. Riesig und mit einem Bart! Von dem hatte er sich in der Nacht das Hirn rausvögeln lassen wollen, um nicht mehr an die Sache denken zu müssen. Er lachte auf, als er daran dachte, wie der Abend weitergegangen war. Wie ihm der Kerl, als sie bei ihm zu Hause durch die Tür gestolpert waren, ins Ohr geraunt hatte, dass er gleich loslegen könne, weil er einen Plug im Hintern hätte. Und dann hatte er sich ernsthaft ausgezogen und hatte Javier seinen Hintern entgegengestreckt, in dem so ein schwarzes Silikonteil gesteckt hatte. Javier hatte kurz geschluckt und dann hatte er es ihm besorgt. So richtig. Er hatte den Kopf ausgeschaltet – nachdem er das Kondom übergezogen hatte – und hatte den Kerl gefickt. Anders konnte man das einfach nicht bezeichnen. Eine rein mechanisches Rein und Raus, bis sie irgendwann beide abgespritzt hatten. Das Witzige war, dass es dem Typ sogar gefallen hatte. Er hatte sich überschwänglich bedankt und hatte ihm an der Tür noch seine Nummer in die Hand gedrückt. Javier hatte sie weggeworfen, noch bevor die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Es hatte sich zu sehr danach angefühlt, für den Fick bezahlt worden zu sein. Seit dem war nichts mehr gewesen bis zu der Sache mit Nick. Aber was, wenn er in den sechs Wochen vor dem Test …

 

Plötzlich hatte er ein bisschen Schiss. Um sich, aber vor allem um Nick. Was, wenn er es doch versemmelt hatte? Es konnte nicht sein, wirklich nicht, aber was, wenn doch? Er musste an das Gesicht seiner Mutter denken. Wie sie ihm am nächsten Tag Frühstück gemacht hatte. Sie hatte sich auf die andere Seite des Tisches gesetzt und ihn angesehen.

„Dein Vater liebt dich“, hatte sie gesagt. „Er ist nur nicht besonders gut darin, es zu zeigen.“

„Er ist verdammt beschissen darin“, hatte er gefaucht und hatte sie sitzen lassen. Er war rausgegangen und zum Arzt gelaufen, um sich Blut abnehmen zu lassen. Drei Tage später hatte er seinem Vater den Wisch auf den Tisch geknallt und der hatte nur genickt. Genickt. Kein weiteres Wort. Nicht einmal angesehen hatte er ihn. Und auf einmal verstand Javier. Der Gedanke, dass jemand, den er liebte, zu Schaden kam, machte ihn rasend und schnürte ihm gleichzeitig die Kehle zu. Es gab keine Worte dafür, wie es sich anfühlte. Nur die Wut, wenn man den Umständen so hilflos gegenüberstand. Selbst wenn derjenige, der Schuld an dem Ganzen war, einem so nahestand. Selbst, wenn derjenige man selber war.

„Fuck“, fluchte er und trat gegen einen Laternenpfahl, der ihm gerade in den Weg kam. Das Licht über ihm schwankte und warf wilde Schatten auf die Straße wie ein dunkles Zerrbild seiner selbst. Für einen Augenblick stand er einfach nur da und sah sie an, bis er seinen Schattenriss wieder klar erkennen konnte. Und dann fasste er einen Entschluss. Er würde sich nochmal testen lassen. Scheiß drauf, wie ihn irgendein bekloppter Arzt ansehen würde. Scheiß drauf, dass er sich nochmal diesen ganzen Sermon über Ansteckungsgefahren und Risikoprävention und was sonst noch alles anhören musste. Er konnte das und er würde es tun. Für Nick und auch für seine Familie. Das hier war verdammt nochmal wichtig und er würde es nicht vermasseln. Nicht dieses Mal.

 

Mit grimmig zusammengezogenen Augenbrauen stapfte er weiter den Weg entlang. Eisiger Nebel kletterte langsam an den Häusern empor und verpackte die Baumkronen in weiße Wattewolken. Man merkte einfach, dass sie hier näher am Meer waren als in seiner Heimatstadt. Wenn man dieses grüngraue Wässerchen, das sich alle paar Stunden irgendwohin verpisste, denn so nennen konnte. Im Sommer würde er mit Nick mal an ein richtiges Meer fahren. Mit weißem Sand und blauem Wasser und der Sonne, die den ganzen Tag vom Himmel knalle. Er konnte es quasi schon auf seiner Haut spüren. Nicks Küsse fühlen, die nach Salz und Sonnencreme schmecken würden. Eine wunderbare Vorstellung.

Er schob das Gartentörchen auf und stellte schon von Weitem fest, dass im Haus kein Licht brannte. War seine Tante gar nicht zu Hause? Er kramte den Schlüssel heraus und schloss die Haustür auf.

„Tante Nata?“, rief er, aber er erhielt keine Antwort. Anscheinend war sie tatsächlich ausgeflogen. Wo sie wohl immer hinging? Ob sie sich mit jemandem traf? Er legte den Schlüssel auf das kleine Tischchen im Flur, streifte die Schuhe ab und hängte seine Jacke ausnahmsweise mal ordentlich auf einen Bügel, statt sie nur unten in die Garderobe zu schmeißen wie sonst.

Unschlüssig blieb er stehen und überlegte, ob er sich etwas zu essen machen sollte.

Später, entschied er und wollte schon nach oben gehen, um seine Tasche auszupacken, als er sah, dass die Tür zum Arbeitszimmer nur angelehnt war. Das war ungewöhnlich. Diese Tür wurde, seit er ein Kind gewesen war, immer fest verschlossen. Seit dem Tag, als er als sechsjähriger Stöpsel irgend so einen hässlichen Porzellanhund mit seinem Fußball gekillt hatte. Das Ding war umgekippt und in tausend Scherben zerbrochen. Sein Vater hatte geschimpft, seine Mutter hatte angefangen zu weinen, aber seine Tante war nur ganz still gewesen. Sie hatte einen Handfeger und Schaufel geholt und hatte die Überreste zusammengefegt und sie in die Mülltonne getan. Später hatte er erfahren, dass der Hund ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes gewesen war. Er hatte es ihr kurz vor seinem Tod in einem Antiquitätengeschäft gekauft.

 

Als er jetzt die Tür aufschob, blickte er automatisch zu der Stelle, wo der Hund gesessen hatte. Das Ding war riesig gewesen, fast wie ein echter Hund, und eigentlich hatte er es als Kind toll gefunden. Er hatte sich immer vorgestellt, dass es sein Hund war. Nur Fußball spielen hatte das Ding halt nicht gekonnt. Vermutlich konnte man ihm deswegen keinen Vorwurf machen, aber im Nachhinein tat es ihm trotzdem leid. Ein Strich mehr auf einer langen Liste von Dingen, die er verbockt hatte. Aber hieß es nicht immer: „Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens“? Den Hund konnte er nicht wieder kitten, aber Nicks Leben. Das würde er wieder zusammenkriegen.

Er wollte sich schon umdrehen und das Zimmer verlassen, als etwas auf dem Schreibtisch seine Aufmerksamkeit erregte. In dem liebevollen Chaos, das hier drinnen herrschte mit all den Bücherregalen und dem Nippes, der jede erdenkliche Fläche bedeckte, hätte es ihm eigentlich nicht auffallen dürfen. Aber das, was dort lag, kannte er. Es war Nicks Arbeitsmappe. Die, die Javier bei seinem ersten Besuch heimlich vom Schrank geholt und die seine Tante zur Ansicht mit nach Hause genommen hatte. Das Ding lag jetzt dort auf dem Schreibtisch und Javier wollte schon hingehen und noch einmal hineinsehen, als er bemerkte, dass auf der Mappe noch eine zweite lag. Sie war kleiner, dunkelblau und im schwindenden Licht konnte er sehen, dass etwas darauf gedruckt war.

Er ging um den Schreibtisch herum und knippste die kleine Lampe an, die darauf stand. Die Aufschrift der Mappe glänzte silbern.

„Bewerbung“, las er halblaut und runzelte die Stirn. War das etwa …? Er begann zu grinsen. Einen ganz kurzen Augenblick regte sich sein schlechtes Gewissen, aber dann warf er seine Zweifel über Bord. Er hatte schon viel intimere Fotos von Nick gesehen, da konnte ein Blick in seine Bewerbungsunterlagen doch nicht schaden. Immer noch grinsend nahm er die Mappe und schlug sie auf. Als er sah, was sich darin befand, stockte sein Atem.

Auf dem Bild war nicht etwa Nick zu sehen, sondern eine junge Frau. Er erkannte auf den ersten Blick, dass es nicht Lisa war. Dazu war sie zu schlank und außerdem hatte sie kurze, dunkle Haare. „Bettina Anders“ war ihr Name, wie ihm der Lebenslauf neben dem Foto verriet, und sie bewarb sich auf die ausgeschriebene Verkäuferstelle im „El Corpiño“.

 

Der Raum schien sich plötzlich um ihn zu drehen. Was hatte das zu bedeuten? Warum … warum hatte seine Tante eine Bewerbung von irgendeiner Tussi hier liegen? Hatte sie etwa … hatte sie vor sie einzustellen? Womöglich an Nicks Stelle? Hatte sie wirklich so schnell nach Ersatz gesucht? Wie? Wann?

Sein Blick blieb am Computer seiner Tante hängen. Natürlich. Heutzutage ging ja alles schneller. Ein paar Klicks und schon hatte man eine Anzeige ins Internet gestellt. Er wusste, dass seine Tante da nicht so unbeleckt war wie andere in ihrem Alter. Er hatte das eigentlich immer cool gefunden, aber jetzt verfluchte er diesen Umstand. Und er verfluchte diese dämliche Bettina, die nichts Besseres zu tun hatte, als sich wie ein Aasgeier auf die Stelle zu stürzen.

Er überflog die Bewerbung. Sie war gut, eine nahezu perfekte Kandidatin. Zumal sie eine Frau war. Die Tatsache, dass Nick jetzt mit ihm zusammen war, würde seine Tante wohl kaum darüber hinwegtäuschen, dass er dem weiblichen Geschlecht trotzdem nicht so ganz abgeneigt war. Himmel, es täuschte ja nicht einmal Javier darüber hinweg. Er sah sich bereits im Konkurrenzkampf gegen pralle Monstermöpse und selbstschmierende Lustgrotten und fand den Gedanken auch nicht eben beruhigend. Aber das hier, das war einfach nur scheiße.

 

Er ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er den Bildschirm vom Schreibtisch geschubst und die Bewerbung in tausend Fetzen gerissen. Aber das würde Nick auch nicht helfen, sondern seine Tante im Gegenteil nur noch mehr von ihrem Beschluss überzeugen. Dann würde sie Javier nämlich gleich mit rausschmeißen und war mit einem Schlag alle ihre Probleme los. Nein, so konnte er nicht gewinnen. Er musste sich einen Plan zurechtlegen. Aber was für einen? Er war nicht gut in so was. Nick war jemand, der mit einem Plan durch sein Leben ging. Er … Nick!

„Scheiße“, fluchte Javier halblaut.

Nick saß jetzt zu Hause in seiner gemütlichen Wohnung und ahnte nichts von alldem. Und wenn er morgen ins „El Corpiño“ kam, um seinen Job zurückzukriegen, dann würde ihn wieder die volle Breitseite erwischen. Und Javier war sich nicht sicher, ob er das überstehen würde. Und ob das nicht sogar einen Bruch zwischen ihnen beiden zur Folge haben würde. Immerhin war Javier derjenige, der an diesem ganzen Bockmist Schuld war. Er musste das unbedingt verhindern.
 

Seine Finger glitten zu seinem Handy, aber er holte es nicht aus der Hosentasche. Das konnte er Nick nicht am Telefon erzählen. Er konnte ihn damit nicht alleine lassen. Vielleicht … vielleicht würden sie ja gemeinsam eine Lösung finden. Es gab immerhin noch mehr Jobs da draußen und Javier war gewillt, seinen Teil dazu beizutragen. Gemeinsam würden sie das schon irgendwie schaffen.

Kurzentschlossen verließ er das Arbeitszimmer, nachdem er alles wieder so hergerichtet hatte, wie es gewesen war, und sprang die Stufen zum ersten Stock empor. Oben angekommen riss er ein paar Sachen aus den Schubladen der Kommode im Gästezimmmer und rannte wieder hinunter, wo er alles in seine Reisetasche stopfte. Er warf einen Blick auf den Hausschlüssel und ließ ihn, wo er war. Ohne sich noch einmal umzusehen, schlüpfte er in seine Schuhe und zur Haustür hinaus, die er einfach hinter sich zuzog.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Eine kurze Anmerkung noch zum Schluss, damit man die Entwicklung innerhalb des Kapitels noch ein bisschen besser versteht.

Da ich ja mit Pimiento bei ff.de im Austausch stehe, was die spanischen Einwürfe angeht, wollte ich noch kurz erklären, dass „Te quiero“ zwar „Ich liebe dich“ heißt, aber es ist mehr so ein alltägliches Feld-Wald-und-Wiesen-“Ich liebe dich“ wie man es auch unter Freunden oder innerhalb der Familie verwendet. Und es lässt sich zudem auch noch wunderbar verstecken, weil es wortwörtlich eigentlich „ich will dich“ heißt und somit auch schnell zu etwas anderem umgeformt werden kann, z.B. (ich zitiere mal die Mail von der lieben Paprika) „te quiero sentir = ich will dich spüren“. Ein tiefergehendes, verpflichtenderes „Ich liebe dich“ würde man mit „te amo“ übersetzen. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  FreeWolf
2019-12-06T13:45:03+00:00 06.12.2019 14:45
Oh, ich wünsche mir dass Javier mit Renata spricht. So sehr.
Antwort von:  Maginisha
06.12.2019 15:01
Hey FreeWolf,

ich fürchte, Javier ist gerade nicht besonders gut auf seine Tante zu sprechen. Da wirst du wohl abwarten müssen. ;)

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  FreeWolf
06.12.2019 15:51
hach, und wie ich warte! Sehnsüchtig! :D
Antwort von:  Maginisha
06.12.2019 17:26
Wirst leider dieses Mal etwas länger warten müssen. Geplant ist, die nächsten zwei Kapitel in einem Rutsch zu posten, wird also a weng dauern. ;)
Antwort von:  FreeWolf
06.12.2019 18:35
Ich hab Geduld. :-) Ich freu mich dass du mir bis jetzt die Tage so regelmäßig verschönert hast!
Von:  KaffeeFee
2019-12-06T12:36:31+00:00 06.12.2019 13:36
Ähm... haut Javier etwa gerade ab?! o.O das nenne ich mal eine Kurzschlussreaktion... ok, warten wir erstmal ab. DU hast mich ja schon des Öfteren sehr übergerascht (<-- ja, das schreibt man so!) ;)

Oookay... ja, Javier hat ein Monster erschaffen XD Hach, Nick ist einfach zuckersüß... und eine kleine Sau, wie ich lese! Aber hey, so what?! Wenn es denn beiden gefällt, bin ich die letzte, die etwas dagegen sagt ;)

Es ist echt süß, was Javier sich für Gedanken macht. Sei es jetzt um Nick und seine Gefühle, als auch um seine und Nicks Gesundheit. Finde ich sehr gut, dass du das Thema anschneidest und vor allem, wie du es anschneidest. Ist wichtig, wie ich finde.

Dein Nachwirt ist super! Hätte ich so mit null spanisch (außer etwas Standard, was man irgendwann mal aufschnappt) gar nicht gewusst.

bis zum nächsten Mal :)
koffeeinhaltige Grüße,
die KaffeeFee

PS: du, und nur du!!!, bist schuld, dass ich jetzt Pink in meiner Playlist habe XD höre ich normalerweise gar nicht... ;)
Antwort von:  Maginisha
06.12.2019 14:03
Hallo liebe KaffeeFee!

Nee, Javier haut nicht ab. Der fährt nur zu Nick, keine Angst. ^_~

Aber ne Sau soll Nick sein? :D Ich hatte eher an Giraffe gedacht. Du weißt ja, Giraffen sind Augentiere. Und wenn du Lust hast, kannst du ja mal nach "Giraffensprache" googeln. ^_~

Das HIV-Thema war ja schon mal gaaaanz am Rande angedeutet, aber ich fand, dass es nochmal einen Platz verdient hat. Auch um zu zeigen, dass Javier auch anfängt, den Kopf ein bisschen mehr in die Luft zu strecken.

Das Plakat hing hier übrigens letztens wirklich ne ganze Weile: https://www.queer.de/bild-des-tages.php?einzel=2658

Freut mich, dass es dir sog gut gefallen hat und was Pink angeht: Sorry, not sorry! Die Frau ist einfach nur genial. :P
Antwort von:  KaffeeFee
06.12.2019 15:16
haha, das Plakat find ich super! Das sollten die hier mal aufm pllatten Land aufhängen XD das würde gerede geben... XD XD XD
ich stelle mir Nick gerade als glotzende Giraffe vor... Herrlich!!! Hast recht, passt noch besser ;)
Also nochmal: Nick ist eine GlotzGiraffe! Ha!


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