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Tatsächlich schwul

von

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Mächtig viel Theater

Nick hatte Angst. Er stand vor seinem Schlafzimmerspiegel und besah sich die Gestalt, die ihm von dort entgegenblickte. Er sah … anders aus. Jünger irgendwie. Es war nicht nur die Jeans, die er heute Vormittag tatsächlich gekauft hatte und von der die Verkäuferin nur gemeint hatte „Ich bringe Sie Ihnen mal eine Größe kleiner.“ Sie war nicht hauteng, aber definitiv anders geschnitten. Seine Beine wirkten länger. Das war jedoch nicht die einzige Veränderung. Statt sich wie immer einen Scheitel zu ziehen hatte er versucht, seine Haare einfach locker rund um den Kopf zu stylen. Jetzt hingen ihm einzelne Strähnen ins Gesicht und er wirkte fast ein wenig verwegen. Sexy. Und genau das ließ sein Herz gerade gegen seinen Brustkorb hämmern, wenn er daran dachte, was passieren würde, wenn Javier ihn nachher so sah.

 

Ihm war schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen, was sie heute Morgen unter der Dusche getrieben hatten. Natürlich waren sie beide erregt gewesen, das hatte er vorher schon geahnt. Aber dass er dann … Entspannt durch das warme Wasser und Javiers Enthusiasmus hatte er seine Hände über dessen Körper wandern lassen unter dem vollkommene fadenscheinigen Vorwand, ihn waschen zu wollen. Irgendwann hatte Javier sich umgedreht und gemeint, er müsse auch noch seinen Rücken waschen. Und das hatte Nick getan. Aber es war nicht beim Rücken geblieben. Langsam waren seine seifigen Hände immer weiter abwärts geglitten, bis sie schließlich in das Tal an dessen Ende eingetaucht waren. Javier hatte das zwar mit keiner Silbe kommentiert, aber die kleine Bewegung, mit der er sich den forschenden Fingern entgegen gedrückt hatte, war eindeutig gewesen.

Nick hatte der stummen Bitte Folge geleistet. Er hatte die Stelle gefunden, an der es seinem Finger möglich war, nicht nur hindurch- sondern hineinzugleiten. Er war … sehr, sehr vorsichtig gewesen. Eigentlich war es kaum der Rede wert, mehr ein festes Streicheln als alles andere. Ein winziges Stück war er dann doch eingedrungen und Javier hatte hörbar aufgestöhnt, als Nicks Fingerspitze den engen Muskelring durchbrochen hatte. Er hatte die Behandlung dann schnell wieder beendet und dafür einen sehr nassen und sehr leidenschaftlichen Kuss bekommen. Seit dem ging ihm das Ganze nicht mehr aus dem Kopf.

Es war ihm richtig vorgekommen … in dem Moment. Genauso wie das, was sie gestern getan hatten. Aus einem tiefen Gefühl heraus hatte er Javier geben wollen, wonach der sich sehnte. Aber jetzt, wo er darüber nachdachte, wo das noch hinführen konnte, hätte Nick am liebsten noch mal zwei Tage zurückgespult und komplett von vorne angefangen. Ganz, ganz langsam. Er war sich nämlich überhaupt nicht sicher, ob er schon soweit war. Vor allem, wenn er bedachte, was er vorhin alles darüber gelesen hatte. Er wusste zwar nicht, wie er mit 24 noch auf Seiten wie „Dr. Sommer berät“ gelandet war, aber er hatte sich trotzdem durch die Infos geklickt. Am Anfang war es ja noch harmlos gewesen, besonders der Teil, wo stand, dass nicht jeder Schwule auf diese Art von Sex stand und viele ganz ohne auskamen. Aber spätestens als das erste Mal etwas von Schmerzen erwähnt worden war, hatten seine Handflächen angefangen zu schwitzen. Er hatte zwar weiter gelesen, um sich ausreichend zu informieren, aber in seinem Kopf war ständig die gleiche Frage herumgeschwirrt und hatte alles andere übertönt.

 

Was passiert, wenn ich es falsch mache? Was passiert, wenn ich ihm wehtue?

 

Er wollte das nicht. Und trotzdem stand er jetzt hier in einer Aufmachung, die förmlich schrie: „Komm und nimm mich!“

 

Es geht nicht. Ich kann das nicht.

 

Aber was, wenn Javier wieder in seiner Nähe war? Wenn sie anfingen, sich zu küssen und wieder eins zum anderen kam? Wenn er die Kontrolle verlor? Er bereute nicht, was bisher geschehen war. Das war alles wirklich wunderbar gewesen, wenngleich vielleicht auch etwas schneller als gedacht. Aber diesen einen, letzten Schritt zu gehen, von dem er wusste, dass Javier ihn sich so sehr wünschte, das schaffte er einfach nicht. Warum bestand er nur so sehr darauf? Warum konnte er nicht mit dem zufrieden sein, was Nick ihm von sich aus gab? Warum musste es immer nur um Sex gehen? Was war denn nur so wichtig daran? Er war über drei Jahre ohne ausgekommen, aber Javier schaffte es nicht einmal drei Tage? Wie bescheuert war das denn?

 

Nick begann, an dem Reißverschluss zu zerren, der die Jeans verschloss. Er würde das hier nicht tragen. Er würde Javier sagen, dass er sich nicht zum Affen machen würde, nur weil …

Es klingelte. Nick sah auf die Uhr. Oh verdammt, war es wirklich schon so spät? Er biss sich auf die Lippen. Nun konnte er Javier entweder draußen stehen lassen, bis er umgezogen war, oder sich wenigstens wieder in einen passablen Zustand bringen, bevor er ihn hereinließ. Er entschied sich für Letzteres. Zum einen weil es wirklich kalt draußen war, zum anderen weil Javier jetzt Sturm klingelte. Natürlich. Ungeduldig wie immer.
 

Nick riss die Tür auf und wurde von einem strahlenden Lächeln begrüßt.

„Hi, nimmst du mir die mal ab?“

Im nächsten Moment hielt er eine Reisetasche in den Händen. Er sah Javier verständnislos an, der mit einem Schirm rumhantierte. Anscheinend hatte es angefangen zu regnen.

„Na ja, ich hab gedacht, für den Fall, dass du nicht gleich wieder gewaschen hast, bringe ich mir mal eigene Sachen zum Wechseln mit. Ich darf doch heute Nacht wieder hier pennen?“

Er kam rein, ohne eine Antwort abzuwarten. Seine Schuhe flogen in eine Ecke und er nahm Nick die Reisetasche wieder ab, nur um sie gleich darauf auf den Küchentisch zu befördern. Wie unhygienisch. Und überhaupt, was fiel ihm eigentlich ein, sich selbst einzuladen? Womöglich noch in der Erwartung, dass hier heute Nacht etwas laufen würde, von dem sich Nick sehr sicher war, dass er es nicht wollte.

Er öffnete schon den Mund, um Javier zu verkünden, dass er heute Nacht allein zu nächtigen gedachte, als dieser sich umdrehte mit einer Plastikdose in der einen und einer DVD in der anderen Hand. Er grinste.

„Essen von Tante Nata. Sie lässt dich grüßen. Ich glaube, sie stellt dich echt wieder ein. Klang heute zumindest so, als ich sie danach gefragt habe. Und wenn nicht, werde ich sie solange nerven, bis sie es doch tut. Außerdem hab ich uns was zum Zeitvertreib mitgebracht, bis es nachher losgeht. Ich kann doch unmöglich zu lassen, dass mein … dass du nicht den besten Spiderman-Film aller Zeiten kennst.“

Er lächelte und Nicks Zorn war mit einem Mal wie weggeblasen. Hier stand Javier und hatte sich wirklich Gedanken gemacht. Über Essen, über seinen Job und nicht zuletzt über eine Abendgestaltung ohne Sex. Nick kam sich schäbig vor, wenn er daran dachte, was er ihm gerade im Geiste alles noch vorgeworfen hatte. Immerhin war er doch derjenige gewesen, der Javier gestern nicht in Ruhe gelassen hatte, obwohl der sich echt angestrengt hatte. Der sich heute Morgen zu dieser hirnrissigen Aktion hatte verleiten lassen, anstatt rechtzeitig an die Konsequenzen zu denken. Wie unfair war es da, wenn er alles auf ihn abwälzte?

Javier hörte auf zu lächeln und runzelte die Stirn. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Er legte die Sachen zur Seite und kam auf Nick zu. Dabei musterte er ihn von oben bis unten.

„Du siehst übrigens gut aus. Hab ich gleich gesehen.“ Er zupfte an einer Ponyfranse herum. „Ein bisschen wie Chris Hemsworth nur ohne Bart.“

„Wie wer?“

Javier rollte mit den Augen. „Okay, ich schreibe 'Thor' auch mit auf die Liste.“

Er drückte Nick einen kurzen Kuss auf den Mund. „Also was ist jetzt? Hast du Hunger? Die Empanadas schmecken warm oder kalt. Was ist dir lieber?“

„Warm.“

Nick sah zu, wie Javier anfing, sich an seinem Backofen zu schaffen zu machen, weil Empanadas aus der Mikrowelle angeblich schmeckten wie durchgekaut und ausgespuckt. Er ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken und betrachtete die DVD-Hülle. Darauf waren zwei Köpfe zu sehen. Einer gehörte Spiderman und der andere? Er wusste es nicht und fragte Javier danach.

„Das ist der grüne Kobold, einer seiner Erzfeinde. Aber das wirst du alles noch sehen. Leider haben sie den ja in den neuen Verfilmungen die ganze Geschichte mit der geheimen Identität total rausgekürzt. Das hat mich echt genervt. Die Geschichte von Spiderman lebt doch davon, dass er eben keine Freunde hat und seine Kräfte vor allen geheimhalten muss. Der neue Kram zielt total darauf ab, wie man ihn am besten bei den Avengers integrieren kann. Obwohl es natürlich schon cool ist, wenn da auf einmal Spidey mit rumschwingt, weil Ironman ihn ins Team geholt hat.“

Auf Nicks Gesicht bildeten sich viele, viele Fragezeichen. Javier sah ihn an.

„Du hast echt so überhaupt keinen Schimmer, wovon ich spreche, oder?“

Nick schüttelte langsam den Kopf.

„Hast du wenigstens irgendeinen der Filme gesehen? Wenn du Science Fiction magst, wäre doch 'Guardians of the Galaxy' was für dich gewesen. Der ist so lustig und die Musik hätte dir bestimmt gefallen. Der Soundtrack ist legendär. Ich steh ja total auf Rocket.“

„Wer ist Rocket?“

„Ein Waschbär.“

„Wasch~bär?“

Nick hatte so langsam den Eindruck, dass Javier ihn auf die Schippe nahm. Aber der schien das vollkommen ernst zu meinen.

„Ja, ein genetisch veränderter Waschbär. Der baut dir aus ner Büroklammer und ner Tube Klebstoff innerhalb von fünf Minuten ne Bombe. Quasi ein MacGyver im Pelz. Und dann sein Freund und Leibwächter, Groot. Ein riesiger, laufender, sprechender Baum, dessen Vokabular aber nur aus drei Wörtern besteht, die je nach Betonung was anderes bedeuten. Zum Schießen die Dialoge zwischen den beiden.“

Javier hielt in seinem Überschwang an und musterte Nick mit gerunzelten Augenbrauen.

„Also schön, hier ist ganz dringend Nachhilfe angesagt. Ich will zu dir sagen können 'Ein Fahrstuhl ist nicht würdig' und du sollst darüber lachen und mich nicht angucken, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.“

Nick konnte nicht anders, er musste jetzt schon lachen. „Na von mir aus. Dann weih mich mal ein in die Geschichte, in der Mutantenspinnen und Männer aus Eisen und genetisch veränderte Waschbären mitspielen.“

Javier legte die Hände zusammen und ließ die Fingerknöchel knacken. "Dann hör zu und lerne. Es begann alles zur Zeit des zweiten Weltkrieges, als die Amis dachten, dass es ne total gute Idee wäre, einen Super-Soldaten zu züchten. Einen, der den Nazis so richtig in den Arsch tritt. Das war die Geburtsstunde von Captain America, dem ersten Avenger ...“

 

Javier sprach nicht, er referierte. Über Super-Soldaten und nordische Götter und Wissenschaftler, die sich in grüne Monster verwandelten, wenn sie wütend wurden, und allerlei mehr. Vor Nicks geistigem Auge entspann sich eine phantastische Welt und er musste mit Erstaunen feststellen, dass er den Ausführungen ziemlich gut folgen konnte. Sogar denen über die Zeitreisen eines gewissen Dr. Strange, von dem sie einen kurzen Exkurs zu Sherlock Holmes machten, bis Javier wieder auf das eigentliche Thema zurückkam und ihm weiter die Geschichte um sechs magische Edelsteine erzählte, die schlussendlich zur Auslöschung der Hälfte allen Lebens im Universum führten. Dazwischen vernichteten sie den kompletten Stapel an spanischen Teigtaschen und Nick hatte das Gefühl, er könnte dem völlig begeisterten Javier, dessen Augen leuchteten wie die eines Kindes am Weihnachtsabend, ewig zuhören, als es plötzlich draußen hupte.

Entgeistert sahen sie sich beide an.

„Wie spät ist es?“

„Gleich halb elf. Das müssen Natascha und Alex sein. Sie wollten uns abholen.“

„Was? So spät schon? Ich wollte mich doch noch fertig machen.“

Javier raufte sich verzweifelt die Haare. Nick musste unwillkürlich grinsen.

„Tja, dann werde ich dich wohl so mitnehmen müssen, mein kleines Aschenputtel.“

„Ich geb dir gleich mal Aschenputtel.“

Javier machte zunächst den Eindruck, als wolle er nach ihm schlagen, als er plötzlich zu grinsen begann. Er setzte sich geziert auf den Rand des Küchenstuhls und hielt Nick einen Fuß hin.

„Wenn ich um meinen Schuh bitten dürfte?“

Nick schnappte sich einen der weißen Sneaker und hielt ihn Javier hin. Der schlüpfte hinein, schlug die Hände vor den Mund und rief: „Nein so was! Er passt!“

Draußen hupte es, dieses Mal länger.

„Ich glaubte, Aschenputtel muss sich beeilen, sonst wird aus der Kutsche ganz schnell wieder ein Kürbis.“

„Ist recht. Du gehst schon mal und becirct die böse Fee, während ich mir noch ein frisches Shirt anziehe.“

„Wieso? Das da sieht doch gut aus.“

„Das hat aber lange Ärmel und ich will nachher mit dir tanzen. Das ist mir zu warm.“

Javier streifte das Shirt über den Kopf und fing an, in seiner Tasche herumzugraben. Draußen hupte es jetzt eindeutig ungeduldig. Nick warf einen letzten, bedauernden Blick auf den halbnackten Javier und hetzte dann nach draußen, um die Wogen etwas zu glätten. Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört zu regnen.
 

„Wird aber auch Zeit“, schnauzte Natascha, sobald er die Tür geöffnet hatte, und Alex ausstieg, um Nick auf den Rücksitz zu lassen. „Wir warten hier schon fast zehn Minuten.“

Alex begrüßte ihn mit einer Umarmung. Sie wuschelte ihm ein bisschen durch die Haare. „Was ist den mit dir los? Du siehst ...“

„... aus wie Chris Hemsworth nur ohne Bart“, seufzte Nick. „Ja, ich weiß.“

„Ich wollte eigentlich sagen anders aus, aber okay.“ Sie grinste und zwinkerte ihm zu.

„Wo bleibt Javier?“, kam es von drinnen aus dem Auto.

„Hat mich jemand gerufen?“ Tatsächlich stand Javier wie aus dem Boden gewachsen neben ihm. Nick betrachtete missmutig das weiße Shirt, das unter der weit aufklaffenden Lederjacke gut sichtbar war.

„Wolltest du dir nicht ne neue Jacke kaufen?“

„Keine Zeit gehabt. Einige von uns müssen arbeiten.“ Er streckte Nick die Zunge raus und kletterte ins Auto.

„Boah, wie taktlos“, schimpfte Alex, aber Nick legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

„Nicht der Rede wert. Javier hat gemeint, Renata wird mich wahrscheinlich wieder einstellen.“

„Ach echt? Das ist toll!“ Sie wollte wohl noch einiges mehr sagen, aber Nataschas liebliche Stimme schnarrte aus dem Auto:

„Wundern Sie sich drinnen oder draußen aber machen Sie die Tür zu. Es zieht!“

Ergeben kletterten Nick und Alex ebenfalls in das kleine, rote Auto.

 

Natascha war kaum losgefahren, als Javier sich halb zu Nick herumdrehte. Auf der engen Rückbank musste Nick ohnehin schon zusehen, wo er seine Beine ließ, und durch Javiers Bewegung, stießen jetzt ihre Knie zusammen.

„Ich hab dir noch gar nicht erzählt habe, was im letzten Teil passiert. Die Hälfte allen Lebens war ja nun von Thanos ausgelöscht worden, aber …

„LALALA!“, kam es überlaut von Natascha. „Ich will doch nicht hoffen, dass du Nick gerade erzählen wolltest, was in 'Endgame' passiert? Ich hab's immer noch nicht geschafft, den zu gucken.“

Javiers Knie wandten sich von Nick ab und dem Vordersitz zu. „Du magst die Avengers?“

„Klar! Hallo? Scarlett Johansson als Natasha Romanoff? Das muss Schicksal sein. Außerdem war ich schon X-Men-Fan, als sie dich noch gar nicht ins Kino gelassen haben.“

„Echt? Ist ja geil!“

Und schon waren Javier und Natascha in eine wilde Diskussion über Superhelden verstrickt, die Nick einigermaßen sprachlos zurückließ. Er lehnte sich leicht vor und flüsterte Alex, die ebenso wie er gerade nichts zu melden hatte, zu:

„Was meinst du, ob wir die beiden nachher einfach im Auto lassen und alleine feiern gehen?“

„Das klingt nach einer Super-Idee“, gab sie zurück und der Rest der Fahrt gehörte wieder den Rächern der Kinoleinwand.

 

 

Das „Metropolitan Theatre“, wie der Laden mit vollem Namen hieß, war passend zum ersten Teil des Abends aus einem ehemaligen Kino erbaut worden. Nachdem es mehrere Jahre leer gestanden hatte, hatte es ein Investor für einen Spottpreis gekauft, die Sitzreihen entfernen lassen, eine Bar in eine Ecke geklatscht und das Ganze in eine Disko umfunktioniert. Noch einen Besitzerwechsel später war der Laden dann richtig renoviert worden. Man hatte den alten Flair des Gebäudes wieder zum Leben erweckt mit roten Vorhängen und Kordeln mit Goldquasten sowie einem riesigen Kronleuchter, der im Saal von der Decke hing und in unterschiedlichen Farben ausgeleuchtet werden konnte. Die Empore war zu einem Bereich mit Tischen und Stühlen umgestaltet geworden, wo man sich niederlassen und unterhalten konnte, während man auf die Tanzenden hinuntersah. Einen dieser Tische strebte Natascha jetzt zielstrebig an und ließ sich dort nieder, als wolle sie sich den Abend über nicht mehr wegbewegen.

„Nachher tanzen wir aber“, verkündete Alexandra, als sie sich neben ihre Freundin setzte.

„Klar“, sagte Natascha. „Aber jetzt brauche ich erst mal was zu trinken. Ohne kriegen mich keine zehn Pferde da unten zum Rumzappeln. Außerdem ist doch noch gar nichts los.“

Nick warf einen Blick über die Balustrade. Auf der Tanzfläche war tatsächlich noch nicht besonders viel Betrieb. Lediglich am Rand hüpften einige vereinzelte Mädchen zu Klängen von „Babra Streisand “ herum, denn heute Abend standen im Metropolitan alle Zeichen auf Eurodance und ähnlichen schrägen Zeitgenossen. Sogar die Deko schien direkt aus den 90ern zu kommen. Im Foyer, das neben roten Samtteppichen und alten Kinoplakaten auch ein Verkaufsstand für Popcorn und Hot Dogs zierte, hatte man ihnen doch tatsächlich Knicklichter in die Hand gedrückt. Javier hatte seins gleich benutzt und es sich wie eine Zigarette hinters Ohr gesteckt. Er wirkte ein bisschen wie ein spanischer James Dean.

 

„Hey!“ Ein Paar Arme wanden sich um Nicks Taille. „Sorry, dass ich dich hab links liegen lassen.“

„Kein Ding.“ Nick drehte sich um und befand sich somit in Javiers Umarmung. „Ich kann bei dem Thema leider nicht so wirklich mitreden.“

„Was wir ändern werden“, versprach Javier. Er sah ebenfalls nach unten. „Ist ja irre. Von hier oben kann man ja alles sehen.“

„Wenn's nachher voll ist, kannst du dich schon mal von deinem Aussichtsplatz verabschieden. Dann werde ich nämlich da unten sein und du mit.“

„Alles klar, Captain Dancefloor“, grinste Javier und ließ Nick los. „Komm schon, wir besorgen den Schnecken mal was zu trinken.“

„Schnecken?“ Nick glaubte, sich verhört zu haben. „Lass das bloß nicht Natascha mitkriegen. Die macht dir einen Knoten in dein Knicklicht.“

Javier lachte. „Na wenn's nur da rein ist, kann ich damit leben.“

Er zwinkerte Nick zu und strebte dem Treppenaufgang zu, der sie nach unten zur Bar brachte. An dem Monstrum aus dunklem Holz, das am Rande der Tanzfläche thronte, konnte man so gut wie alles erstehen, was der Getränkemarkt zu bieten hatte. Nick lauschte neidvoll, wie Javier zwei 'Sex on the Beach' bestellte, ohne sich auch nur ein bisschen dabei zu verhaspeln, dazu noch ein Bier und eine Cola für Nick. Mit vollen Händen balancierten sie wieder die Treppe hinauf und lieferten ihre Getränke ab.

„Auf einen gelungenen Abend“, rief Alexandra und Gläser und Bierflasche klirrten aneinander. Als sie einen Schluck ihres Cocktails getrunken hatte, grinste sie Nick an.

„Und?“, fragte sie scheinheilig. „Kriegen wir jetzt die schmutzigen Einzelheiten, was ihr beide nun eigentlich miteinander habt?“

Nick spürte, wie sich eine leichte Röte über sein Gesicht zog, und warf einen hilfesuchenden Blick zu Javier. Eigenartigerweise wirkte der ebenfalls unschlüssig und blickte mit großen Augen zu Nick zurück. Alexandra sah interessiert zwischen ihnen beiden hin und her und schien sich prächtig zu amüsieren.

„Na wie mir scheint, besteht da irgendwie noch Klärungsbedarf“, wurden sie schließlich von Natascha gerettet, die bereits einen Gutteil ihres Cocktails – des einzigen, den sie heute Abend zu trinken gedachte – vernichtet hatte. „Ich geh solange mal für kleine Mädchen. Kommst du mit?“

Die angesprochene Alexandra lachte und knuffte Nick noch in die Seite, bevor sie zusammen mit Natascha nach unten entschwebte, wobei ihr einige bewundernde Blicke folgten. Die Hotpants, die sie heute trug, und das passende, bauchfreie Top konnte sie nur mithilfe eines Schuhlöffels angekommen haben und die blonden Haare wippten zu zwei hohen Pferdeschwänzen zusammengebunden hinter ihr her. Es sah wirklich verboten aus, obwohl Nick zugeben musste, dass Alexandra wahrscheinlich eine der wenigen Personen war, die so was tatsächlich tragen konnten. Natascha verschwand mit ihrer schwarzen Palazzohose und dem schlichten, roten Top dagegen einfach in der Menge. Er sah den beiden noch eine Weile nach, bis er keine Ausrede hatte, sich nicht Javier zuzuwenden. Der musterte ihn immer noch.

Nick räusperte sich. „Tja und jetzt?“

Javier zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich meine … müssen wir das denn klären?“

In diesem Moment schallte ein neuer Hit durch den Saal, der einen Aufschrei unter einer Gruppe von Leuten auslöste, die daraufhin die Tanzfläche stürmten. Nick wies mit dem Kopf nach unten.

„Alternativ könnten wir uns zu 'Barbie Girl' ins Getümmel stürzen.“

Javier sah aus, als hätte er ihn geschlagen. Er holte tief Luft, leerte sein Bier fast bis zur Hälfte und machte ein tapferes Gesicht. „Na meinetwegen. Aber dann erklärst du Natascha, warum der Tisch weg ist.

„Deal.“

 

 

Die Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte, war anspruchslos, bot aber jede Menge Möglichkeiten für albernen Party-Spaß. Sie hopsten zu „Cotton Eye Joe“ Arm in Arm im Kreis herum, ließen sich bei „Macarena“ von Javier zeigen, was er als Fast-Spanier für einen richtigen Hüftschwung hielt, und waren rechtschaffen empört, als Natascha und Alexandra bei „Männer sind Schweine“ lauthals mitsangen. Bei „Mr. Vain“ packte Nick dann der Schalk im Nacken. Er schnappte sich Alexandra und begann mit ihr, einen Diskofox zu tanzen. Sie lachte und ließ sich von ihm durch die Gegen wirbeln, bis ihr auf einmal Javier auf die Schulter tippte.

„Ich glaube, das nennt sich Abklatschen“, grinste sie und bevor Nick wusste, wie ihm geschah, hatte sie ihm Javier in den Arm geschoben. Der sah Nick von unten herauf an.

„Wo sie Recht hat.“ Er legte den Kopf schief. „Und? Tanzt du mit mir?“

„Kannst du denn Diskofox?“

Javier schüttelte den Kopf.

„Okay, pass auf, ist ganz einfach. Schritt zur Seite, wieder zurück und mit dem freiwerdenden Fuß einmal auftippen. Den Rest erledige ich.“

Javier probierte die Schrittfolge aus und Nick schoss ganz kurz durch den Kopf, dass Javier jetzt den Damenpart übernehmen und somit mit dem falschen Fuß anfangen musste. Aber da der ohnehin keine Ahnung vom Tanzen hatte, war das sicherlich nicht so wild. Als Javier schließlich nickte, übernahm Nick die Führung.

 

Zu sagen, dass es gut klappte, wäre übertrieben gewesen, aber anhand von Javiers so gut wie gar nicht vorhandener Paartanzerfahrung und dem wirklich schnellen Rhythmus des Liedes schlugen sie sich gar nicht schlecht. Als sich das Stück seinem gnädigen Ende zuneigte und Michael Jackson einen seiner unzähligen Hits anstimmen durfte, drehte Nick Javier noch einmal unter seinem Arm hindurch und schloss dann die Arme um ihn.

„Du hast Talent“, sagte er.

„Liegt am Lehrer“, gab Javier zurück und hob den Kopf. In dem Moment, als sich ihre Lippen trafen, flammte auf einmal ein Blitzlicht neben ihnen auf. Irritiert wandte Nick den Kopf und sah gerade noch, wie ein Kerl mit einer großen Spiegelreflex den Daumen in seine Richtung reckte, um dann in der Menge zu verschwinden. Nick erstarrte.

„Was war das denn für einer?“, fragte ein Mädchen, das neben ihnen tanzte.

„Der macht hier Fotos von den Events für die Website", antwortete ihre Freundin. "Kannst du dir Morgen bei Facebook ansehen."

„Hast du gehört, wir sind im Fernsehen“, rief Javier und lachte.

Nick hingegen hatte das Gefühl, dass sich auf einmal der Raum um ihn drehte. Ein Bild von ihm. Im Internet. Mit Javier im Arm. Der ihn küsste.

Die Geräusche in seiner Umgebung wurden plötzlich ganz leise. Nur das laute Hämmern seines Herzens und das Geräusch, mit dem das Blut in seinen Ohren rauschte, waren noch hörbar. Er atmete flach und flacher, versuchte die Panik niederzuringen, die sich mit Zähne und Klauen ihren Weg nach oben kämpfte. Er durfte jetzt nicht durchdrehen. Er musste … musste …

„Hey, Nick, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

Nick blinzelte und blickte in Javiers besorgtes Gesicht. Ihm war schlecht und er fühlte den Schweiß, der ihm in Strömen den Rücken hinabrann. Javier sah ihn an, blickte sich kurz um und seine Augen wurden groß.

„Scheiße!“, entfuhr es ihm. „Okay, Nick, warte hier. Ich regle das.“

Javier ließ ihn los und drängelte sich in die Richtung davon, in der der Fotograf verschwunden war.

„Was ist denn in den gefahren?“, hörte Nick jemanden fragen, doch er konnte nicht antworten. Seine Augen klebten an Javier, der jetzt den Fotografen auf der Treppe nach oben erwischt hatte. Sie wechselten einige Worte und Javier zeigte in Nicks Richtung. Der Typ hob die Kamera und man sah in der Entfernung das Display aufblitzen. Nick konnte nicht erkennen, was sie anschließend taten, aber nach einigen Augenblicken lachte Javier, schlug dem Mann noch einmal mit der flachen Hand gegen den Oberarm, drehte sich um und kam wieder zurück. Als er bei Nick ankam, lächelte er.

„Kannst dich wieder entspannen. Er hat das Bild gelöscht.“

Nick spürte eine große Welle von Dankbarkeit, die ihn durchströmte und die ganzen hässlichen Gefühle mit sich fortschwemmte. Er zog Javier an sich und vergrub sein Gesicht in dessen Halsbeuge. In diesem Moment wollte er ihn einfach nur festhalten und nie wieder loslassen.

„Danke“, flüsterte er so leise, dass Javier es eigentlich nicht gehört haben konnte.

„Kein Problem, immer gerne“, wisperte der jedoch zurück und zog Nick noch ein Stück näher. Warme Lippen streiften seinen Hals und wanderte in Richtung seines Mundes.

„Hey, nehmt euch ein Zimmer“, rief da plötzlich Alexandra. Sie hielt einen neuen Cocktail in der Hand, den sie anscheinend gerade an der Bar geholt und somit von allem nichts mitbekommen hatte. Sie prostete Nick zu, der sich ein wenig verschämt aus Javiers Umarmung löste.

Javier sah ihn an. „Ich brauch jetzt was zu trinken. Willst du auch noch ne Cola?“

Nick überlegte kurz und fasste einen Entschluss.

„Nein“, sagte er und atmete tief durch. „Bring mir bitte einen Caipi mit.“

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  KaffeeFee
2019-11-28T17:07:13+00:00 28.11.2019 18:07
Ich bin Groot!
Ich liebe das Marvel Universe!!! Ohhh, ich hab fast mitdiskutiert XD Bei Rocket hatte ich sofort Thor im Kopf: Hör auf das Karnickel! Die Scene feier ich jedes Mal wieder.
Hihi, im Gegensatz zu Natascha hab ich Endgame schon mehrmals geguckt ;) ziemlich cool. Javier hat einen seeeehr guten Filmgeschmack! Chapeau!

Nick ist so herrlich unsicher... ich wollte ihn fast in den Arm nehmen und sagen, alles wird gut.. hach... aber ich hatte mir von Javier ja eine etwas andere Reaktion hinsichtich der engen Jeans erhofft... aber vielleicht kommt das ja noch. Wenn Nick schon einen Caipi möchte... vielleicht muss er sich ja Mut antrinken...?
Ohhh, lass mich mitte nicht zu lange auf das nächste Kapitel warten! Ich lass dir auch ganz viel Kaffee da.

bis dahin, koffeeinhaltige Grüße,
die KaffeeFee
Antwort von:  Maginisha
28.11.2019 19:06
Hallo KaffeeFee!

Zu Javier und der Jeans kommt auf jeden Fall noch was, aber er hatte sich doch anhand des vorherigen Kapitels vorgenommen, mal ganz brav zu sein. Nicht dass nick denkt, er will immer nur das Eine. ^_~

Mut antrinken? Na du hast ja gewagte Theorien. Wo soll das denn hinführen? *lach* Na du wirst es dann schon sehen. Die Planung für das Kapitel steht auf jeden Fall schon, ich muss es nur noch aufschreiben.

Ich nehme mal einen Extrakaffee!

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  Maginisha
28.11.2019 19:12
Ich hab "Endgame" übrigens auch schon gesehen, aber nur einmal im Kino. Das sind so die seltenen Highlights, die wir uns gönnen. Wobei ich fast schon überlegt habe, ob ich "Maleficent 2" nicht noch irgendwie eingebaut bekommen. Schneewittchen würde mir ja schließlich noch in meiner Märchensammlung fehlen. ;)
Antwort von:  KaffeeFee
28.11.2019 22:53
oh ja bitte, bau es irgendwie ein *.* das wäre ja mega!
Naja, Nick trinkt doch sonst kaum was und dann plötzlich ein Caipi? Wenn es nur bei einem bleibt, ist es ja ok und nur des Geschmacks wegen ;)
Ich bin auf jeden Fall schon gespannt und stolz auf Javier, dass er so brav ist und sich zurückhält
Von:  FreeWolf
2019-11-28T07:27:14+00:00 28.11.2019 08:27
Nick macht Dinge, die close to home liegen: Ich mag es, dass er unsicher ist und sich den neuen Erlebnissen doch stellt. Und Javier scheint trotz des schlechten Starts ein guter Junge zu sein. Ich freu mich zu lesen wie es weitergeht!
Antwort von:  Maginisha
28.11.2019 10:17
Hallo Freewolf,

du hast da ganz recht, Komfortzone ist anders. Er will ja eigentlich, aber...
Mal sehen, ob sie's im nächsten Kapitel zurechtgerückt kriegen. ^_~


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