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Ich bin doch kein Wolf!

von

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Auftakt

Dass die Dinge im Dorf hier etwas anders liefen als es üblich gewesen wäre lernte ich schon von Geburt an. Auch wenn meine Generation und die meiner Eltern sich schon sehr an das moderne Leben der anderen angepasst hatten lebten meine Großeltern größtenteils noch in der Vergangenheit. Sie verließen das Dorf nie, und wenn einer aus der Familie es wagte und seine Zelte wo anders aufschlug war er für sie gestorben. Entfernte Cousins und Cousinen wurden nie erwähnt, und wenn sie sich doch einmal hier her zurück verirrten wurden sie behandelt wie…die anderen.

Sie waren kein Teil des Rudels mehr.

Ich lebte mit meinen Eltern im Haus meiner Großeltern; es war klein, aber wir hatten alle Platz, und ich liebte den verwilderten Garten und den Wald direkt dahinter. Für mich war das alles lange Zeit das einzige was ich brauchte, es war mein verwunschenes Paradies, und ich vermisste nichts.

Meine Großeltern waren frisch in Rente gegangen als ich geboren wurde, sie hielten Haus und Garten in Schuss und passten auf mich auf während meine Eltern oft bis spät abends in der Stadt arbeiteten. Allein das war eigentlich schon ein Frevel, aber das Geld wurde gebraucht, also akzeptierten sie es stillschweigend.

Ich hatte nie das Gefühl anders zu sein, der Großteil der Dorfbewohner gehörte zu unserem Rudel, und da sich sowohl meine Eltern als auch meine Großeltern nur mit anderen Wölfen abgaben lernte ich bis zum Schuleintritt nichts anderes kennen.

Ich verstand mich mit den Nachbarsjungen gut und kleine spielerische Kämpfe um die Rangordnung waren ein völlig normaler Bestandteil unseres Miteinanders. Erst als ich in die Schule kam und auf Kinder von außerhalb traf merkte ich das mein Verhalten alles andere als normal war.

Wir Wölfe blieben weiter unter uns, und je älter ich wurde desto mehr bekam ich das Gefühl dass unsere Regeln und Traditionen mich einengten. Aus Spiel wurde Ernst, und da ich mich eher zu den geistig und literarischen Themen hingezogen fühlte litt ich sehr unter dem rohen Machtgebahren meiner Artgenossen. Sie waren grob und brutal und ich verlor mit jedem Jahr das verging weiter den Bezug zu ihnen. So wollte ich nicht enden.

Mit Eintritt der Volljährigkeit und Beendigung meiner schulischen Laufbahn packte ich meine Koffer und floh aus meinem alten Leben.

Ich sah nicht mehr zurück, auch wenn es mir vor allem für meine Eltern Leid tat. Sie selbst hatten den Absprung nie geschafft, und nun verloren sie auch noch ihren einzigen Sohn an ihren eigenen unerfüllten Traum.

Wir schrieben regelmäßig und telefonierten auch oft, aber dabei ging es meistens nur um Belanglosigkeiten. Ich verschwieg ihnen dass ich in einer Nachtbar jobbte und den Führerschein machte, und sie lernten auch nie meine erste Freundin kennen.

Ins Dorf zurück kam ich erst zu Großmutters Beerdigung, mein Großvater war damals schon viele Jahre tot. Man behandelte mich höflich, aber uninteressiert. Ich war keiner mehr von ihnen. Und ich war froh dass ich diese Reise ohne meine Verlobte und zukünftige Frau angetreten hatte. Das Verhalten meiner Eltern und der anderen Dorfbewohner hätte einfach zu viele unerklärbare Fragen aufgeworfen.

Ich reiste wieder ab, zurück in mein neues unbeschwertes Leben, und ich war ehrlich gesagt nicht böse darüber dass der Kontakt zu meinen Eltern immer weniger wurde und schließlich vollständig abbrach.

Ich wusste nicht was aus dem Haus und meinem Zaubergarten geworden war, aber es interessierte mich irgendwann auch nicht mehr.

Ich heiratete meine bezaubernde Verlobte, ich bekam einen wundervollen Sohn, und ich war der glücklichste Mann auf Erden.

Meine Zeit als Wolf war vorbei, und sie würde mich auch nie wieder einholen. Nicht wenn ich es verhindern konnte.

Ich bin kein Wolf!

Der Typ war groß, durchtrainiert, und sah auch noch verdammt gut aus. Klar dass er hier das Sagen hatte. Nur was er ausgerechnet von mir wollte, das wusste ich nicht.

Er betrat mein neues Klassenzimmer kurz nach der letzten Stunde, sein Blick glitt suchend über die anderen Schüler, und blieb schließlich an mir hängen.

Während die meisten der anderen einpackten und gingen blieb etwa ein halbes Dutzend meiner Mitschüler wie angewurzelt stehen und ließ ihn nicht aus den Augen, verfolgte jede seiner Bewegungen, und mir wurde direkt ein bisschen flau im Magen. Was wollte der von mir?

Ohne zu zögern bahnte er sich einen Weg zwischen den Tischen und Stühlen hindurch und blieb erst direkt vor mir stehen. Sein Blick war ernst, abschätzend, und ich wurde direkt noch ein bisschen kleiner. Hatte ich etwas angestellt?

Ich sah ihn fragend an, und auf seinem Gesicht erschien ein verärgerter Ausdruck.

„Senk den Blick wenn ich dich ansehe!“ knurrte er warnend, und ich starrte nur noch bedröppelter aus der Wäsche. Hinter mir hörte ich ein leises Hüsteln, gefolgt von geschäftigem Blätterrascheln. Anscheinend wurde da jemand nervös. Ich konnte es verstehen.

„Hörst du nicht? Du sollst den Blick senken!“ der andere hieb seine Fäuste vor mir auf den Tisch. Ich zuckte erschrocken zurück und wäre fast vom Stuhl gefallen. Warum rastete der so aus? Ich hatte doch gar nichts gemacht!

„Schrei mich nicht an, ich hab dir gar nichts getan!“ meine Stimme klang empört, ich fühlte mich im Recht, aber das schien den Muskelprotz gar nicht zu interessieren. Um uns herum wurden die anderen unruhig, aus den Augenwinkeln konnte ich sehen wie sie sich langsam in Bewegung setzten und hinter dem Spinner Aufstellung nahmen. Oh oh. Das war nicht gut.

Nur der Junge direkt hinter mir verharrte weiterhin auf seinem Platz.

Immerhin etwas.

Der aufgebrachte Typ setzte er plötzlich um meinen Tisch herum und zerrte mich mit einem wütenden Knurren vom Stuhl. Ich stieß gegen den Tisch hinter mir, ruderte mit beiden Armen um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und bekam es nun wirklich mit der Angst zu tun. Anscheinend hatte ich was falsch gemacht, auch wenn ich nicht wusste was, und jetzt wurde ich zur Rechenschaft gezogen.

Gerade als der Kerl zum ersten Schlag ausholte spürte ich plötzlich eine Hand an meinem Arm, irgendwer hatte mich gepackt und zog mich mit überraschender Kraft aus der Reichweite des tobenden Irren.

„Schnapp dein Zeug und renn!“

Dieser Aufforderung kam ich nur zu gerne nach.

Ich beugte mich blitzschnell nach unten, schnappte meine Tasche an einem Riemen, und flüchtete Hals über Kopf aus dem Klassenzimmer, direkt meinem unverhofften Retter hinterher.

„Haltet sie auf!“

Hinter uns ertönten hektische Schritte, Tische und Stühle wurden ohne Rücksicht auf Verluste zur Seite geschoben und umgeworfen, und dann hetzten uns unsere verbliebenen Mitschüler hinterher. Alle, bis auf den Anführer.

Ich warf einen Blick über die Schulter zurück und sah ihn im Türrahmen stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, ein siegessicheres Grinsen auf dem Gesicht. Ach, leck mich doch!

Der Junge der mich so eben aus der Gefahrenzone gebracht hatte sprintete den Flur entlang, eine Treppe hinunter, und raus aus dem Schulgebäude. Ich folgte ihm blind, ich hätte eh nicht gewusst wo ich sonst hätte hinrennen sollen. Und er schien sich hier auszukennen.

Gemeinsam überquerten wir den Schulhof, bogen um die Ecke des Kunstflügels, und versteckten uns schließlich hinter einem dunkelgrauen Kombi auf dem Lehrerparkplatz. Mein Atem ging pfeifend, dieser lächerliche Sprint hatte mich bereits an den Rand meiner Kräfte gebracht, und gerade konnte ich unsere Verfolger ebenfalls um die Ecke kommen sehen. Oh verdammt!

Ich warf meinem Retter einen hilflosen Blick zu, den er deutlich verärgert erwiderte. Auch er atmete schwer, sein Gesicht war ungesund gerötet.

„Warum…verärgerst du auch unseren Anführer? Jetzt…haben wir…das Rudel auf dem Hals!“ keuchte er leise, und auf meinem Gesicht erschienen noch mehr Fragezeichen.

„Wen?“

Der andere sah mich skeptisch an, er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da passierten unsere Mitschüler unser Versteck. Ich hielt vor Angst die Luft an, meine Knie zitterten, aber…sie entdeckten uns nicht. Sie gingen vorbei. Ich atmete erleichtert aus.

Wir warteten noch bis die Meute um die nächste Ecke verschwunden war, denn setzten wir uns auf einen Wink meines Retters wieder in Bewegung.

„Wir verstecken uns hinter der Turnhalle bis das Rudel das Gelände verlassen hat. Sie werden höchstwahrscheinlich am Eingang auf uns warten, und ich möchte ihnen ungern direkt in die Arme laufen.“

Da waren wir eindeutig einer Meinung.

Ungesehen gelangten wir hinter die bereits geschlossene Turnhalle und ließen uns auf der dem Schulhof abgewandten Seite ins Gras fallen. Mein Atem kam immer noch stoßweise, ich war völlig aus der Puste, und die Tatsache dass ich gerade eben fast verprügelt worden wäre tat ihr übliches zu meinem Allgemeinzustand.

So hatte ich mir den ersten Tag an meiner neuen Schule eindeutig nicht vorgestellt.

„Was war das eben? Wieso ist der Kerl so ausgerastet? Ich hab ihn wirklich nicht schief angeguckt! Der ist doch verrückt!“ ich wischte mir mit dem Handrücken das verschwitzte Haar aus der Stirn, dann sah ich meinen unverhofften Retter fragend an.

Der starrte angestrengt über das Gelände hinter der Schule, dann seufzte er leise.

„Verrückt trifft es ganz gut. Das sind hier so ziemlich alle. Du hast dich mit Hector angelegt, unserem Alphamännchen. Er ist der Anführer des hier ansässigen Rudels, und du hast ihn mit deinem unangebrachten Verhalten verärgert. Das war ziemlich dumm.“ er musterte mich von oben bis unten und blieb schließlich an meinem völlig verständnislosen Gesicht hängen.

Er runzelte verwirrt die Stirn.

„Du bist doch ein Wolf, genau wie der Großteil der hier lebenden Familien. Und deinem Nachnamen nach eindeutig einer unseres Rudels. Genau wie deine Eltern.“

Der Typ schien zu denken ich würde ihn für dumm verkaufen, das konnte ich an seiner Stimme hören. Aber ich hatte wirklich keinen Plan wovon er da redete.

„Du veralberst mich doch, oder?“

Und jetzt endlich begann er zu begreifen. Der misstrauische Ausdruck verschwand von seinem Gesicht und machte völligem Unglauben Platz.

„Du weißt von nichts? Du weißt echt nicht was du bist? Oh man, das erklärts natürlich. Niemand der ganz bei Trost ist würde Hector freiwillig herausfordern. Am Arsch bist du jetzt leider trotzdem, aber vielleicht kann ich dich wenigstens vor weiteren Katastrophen bewahren. Soll ich dir helfen?“

Der Typ war doch genauso verrückt.

Ich hockte nach Luft japsend hinter dieser Turnhalle und versteckte mich vor etwas dass er das „Alphamännchen“ unseres Rudels nannte.

Unseres Rudels!

Ich gehörte zu keinem „Rudel“, ich war ein Mensch, verdammt! Nur leider schien das dieser Hector nicht so zu sehen. Und der Junge neben mir auch nicht.

Ich wischte mir über das erhitzte Gesicht, dann machte ich Anstalten aufzustehen. Der fremde Junge packte mich kraftlos am Hosenbein und zupfte kurz daran.

„Bleib sitzen, die sind noch lange nicht weg. Und wenn wir uns still verhalten hören sie uns vielleicht nicht. Das wäre zu deinem besten, glaub mir.“ Er ließ mich los und lehnte den Kopf gegen die Mauer hinter uns, die Augen geschlossen. Er sah nicht besonders glücklich aus.

Und ich konnte es ihm nachfühlen.

Also ließ ich mich wieder in die Hocke sinken, die Hände zwischen den Knien, und versuchte meinen Atem zu beruhigen. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf, aber jedes Mal wenn ich den Mund öffnete um eine davon zu stellen merkte ich erst wie…lächerlich sie sich anhörte.

Wir waren Menschen, keine Wölfe! Das hier war doch eine ganz normale Schule, mit ganz normalen Schülern, und weder der Junge neben mir noch der der vor nicht einmal fünf Minuten versucht hatte mir seine Faust ins Gesicht zu rammen sahen aus wie welche!

Eher im Gegenteil.

Ich musterte meinen Retter schweigend von der Seite; er war zwar groß, aber eher schlaksig, mit unordentlichem lockigem braunen Haar und einer erstaunlich modernen großen schwarze Brille. Er trug Bluejeans, ein rot kariertes Holzfällerhemd, und abgelatschte dunkelgraue Turnschuhe.

Ein ganz normaler, durchschnittlicher Junge. Aber sicher kein Wolf!

„Du weißt wirklich von nichts, oder?“ unterbrach der Fremde meine verwirrten Gedanken. Er hatte die Augen geöffnet und sah mich fragend an. Und wieder misstrauisch. Oha.

Ich zuckte die Schultern.

„Offensichtlich nicht. Aber vielleicht kannst du mir ja auf die Sprünge helfen.“ Ich starrte ebenso offensiv zurück, und das war anscheinend schon wieder ein Fehler. Der andere erwiderte meinen Blick, dann senkte er die Augen und knurrte: „Hör auf damit! Wir starren uns nicht so an!“

Was sollte das denn jetzt? Was hatte ich nun schon wieder falsch gemacht? Ich hatte ihn doch nur angesehen, verdammt noch mal!

Aber ich wollte ihn nicht verärgern, ich brauchte dringend Antworten! Und so wie es aussah war er der einzige von dem ich sie gefahrlos und unkompliziert bekommen konnte. Also schluckte ich meinen Ärger hinunter und versuchte es mit einem beschwichtigenden Lächeln, ohne Blickkontakt aufzunehmen.

„Tut mir Leid, okay? Aber ich weiß gar nicht was ich falsch mache. Anscheinend trete ich hier von einem Fettnäpfchen ins nächste, und ich hab keine Ahnung warum!“ ich hob in einer hilflosen Geste beide Hände, und meine offensichtliche Ahnungslosigkeit schien ihn zum Glück zu besänftigen. Er lehnte sich wieder zurück, den Blick aber immer noch zu Boden gesenkt. Dann fuhr er sich etwas unschlüssig übers Gesicht.

Anscheinend war das hier eine ziemlich ernste Sache. Ich bekam direkt ein bisschen Mitleid mit ihm. Aber nur ein bisschen, schließlich konnte ich nichts für all das hier. Und er hatte sich freiwillig eingemischt. Zu meinem Glück, wie ich still zugeben musste. Sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich Hackfleisch.

„Wo fange ich an…?“ der Junge klang ziemlich ratlos, dann straffte er sich, und starrte mich erneut an. Ich hob ebenfalls den Blick, und es wahr als würde etwas zwischen uns…vorgehen. Ich spürte wie meine Muskeln sich strafften, meine Atmung beschleunigte sich, mein Herz raste. Ich hatte das dringende Bedürfnis die Zähne zu fletschen und zu knurren! Und ich konnte verdammt nochmal den Blick nicht abwenden! Was zur Hölle ging hier vor? Erst als der andere kurz zwinkerte gelang es mir meine Augen von seinen zu lösen, und meine Vitalwerte rutschten wieder zurück in den Normalbereich. Ich fühlte mich als hätte ich gerade einen zweiten Sprint hingelegt, und das obwohl ich mich keinen Millimeter bewegt hatte!

Was passierte hier mit mir?

„Ich hab dich gewinnen lassen, aber das ist nicht schlimm. Ich denke nicht dass wir beide Probleme miteinander bekommen werden. Du bist vernünftig, und ich bin es auch. Das hilft uns hier schon sehr viel weiter.“ Er klang zufrieden. Im Gegensatz zu mir. Ich wurde immer verwirrter.

„Was meinst du? Gewinnen? Was war das eben? Das war doch…verrückt!“ ich wollte aufspringen, weglaufen, aber ich befahl mir sitzen zu bleiben. Ich war aufgebracht, aber ich wollte Antworten. Und zwar jetzt! Nur schien es der andere es plötzlich gar nicht mehr so eilig zu haben. Er streckte die Beine im spärlich wuchernden Gras aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er lächelte.

„Wir hatten ein Duell. Mit Blicken. Deswegen habe ich dich erst so angeraunzt als du mich angestarrt hast. Das war eine Herausforderung gewesen. Nur dass du davon anscheinend überhaupt keine Ahnung hattest. Wir sind wie…naja, vereinfacht ausgedrückt: Hunde. Unsere Vorfahren waren Wölfe, aber deren Benimmregeln sind inzwischen ziemlich veraltet. Wir bringen uns nicht mehr gegenseitig um nur weil einer schief geguckt hat. Aber wie du bemerkt hast, eine Faust riskiert man damit trotzdem. Mein Rat: halte dich einfach bedeckt bis du unsere Regeln gelernt hast. Nicht alle hier sind Wölfe, aber viele. Das wirst du schon noch merken. Und Hector…“ der Junge sah mich durchdringend an, und jetzt senkte ich den Blick. „…ist unser Anführer. Dem solltest du besser nicht noch einmal dumm kommen. Geh ihm am besten aus dem Weg, wenn du kannst.“ Er seufzte. „Und ich werde fürs erste das gleich tun. Es war nicht sehr clever von mir dir zu helfen. Aber ich konnte nicht anders. Das sind alles hormongesteuerte Idioten, und denen konnte ich dich nicht einfach zum Fraß vorwerfen.“ Er lächelte fast schon peinlich berührt, dann straffte er sich wieder und streckte mir die Hand entgegen.

„Ich bin Georg, freut mich!“

Also...wann genau wolltest du es mir erzählen?

Wir hatten fast eine ganze Stunde hinter der Turnhalle gehockt, die Sonne war langsam Richtung Horizont gewandert, aber Georg schien es überhaupt nicht eilig zu haben. Auf meine Frage ob er zu Hause nicht erwartet wurde hatte er nur unbestimmt die Schultern gezuckt. Anscheinend nahmen es Wölfe nicht so genau mit der Pünktlichkeit.

Genau wie meine Mutter.

Georg hatte mir mit einer Engelsgeduld meine unzähligen, und wahrscheinlich zum Teil echt hirnrissigen, Fragen beantwortet, und nun war ich um einiges schlauer. Ich hatte noch tausend weitere, aber es wurde zumindest für mich Zeit zum Aufbruch, also mussten wir das auf ein andermal verschieben. Aber dank Georgs Hilfe bestand wenigstens eine geringe Chance das ich den morgigen Schultag überleben würde, und dafür war ich ihm sehr dankbar.

Wir tauschten noch schnell Handynummern aus um in Kontakt bleiben zu können, dann verabschiedeten wir uns voneinander, und jeder ging seiner Wege.
 

Nach dem Gespräch mit Georg war meine Wut weitestgehend verraucht, aber ich würde meine Mutter trotzdem zur Rede stellen. Immerhin hätte Hector beinahe Hackfleisch aus mir gemacht, und wenn ich meinem neuen Freund Glauben schenken durfte war diese Gefahr noch lange nicht gebannt.

Bei dem Gedanken an Hector und seine Schergen wurde mir gleich wieder ein bisschen schlecht, und die Wut kehrte mit einem kurzen Aufflackern zurück.

Hätte meine Mutter mir gleich reinen Wein eingeschenkt wäre es gar nicht erst zu dieser Auseinandersetzung gekommen! Dann hätte ich brav den Kopf gesenkt und der Typ wäre einfach wieder gegangen.

Stattdessen hatte ich jetzt eine ganze Menge Ärger am Hals!

Jetzt war ich doch wieder wütend, und es wurde auch nicht besser als ich bemerkte dass das Auto meiner Mutter nicht in der Einfahrt stand. Sie war also nicht mal da damit ich sie zur Rede stellen konnte! Na toll!

Ich rammte meinen Schlüssel ins Schloss und warf dann die Tür hinter mir zu. Es war still im Haus, nur der frisch angeschlossene Kühlschrank in der offenen Küche gab ein leises Brummen von sich. Meine Mutter hatte den freien Tag anscheinen genutzt und die restlichen Kartons ausgepackt, zumindest konnte ich auf den ersten Blick keinen mehr entdecken. Dafür hatte sie großzügig Deko und anderen Klimbim verteilt, vom Schuhschrank grinste mich jetzt eine hässliche Plastik-Winkekatze an. Zumindest konnte sie mir nicht winken, die Sonne war inzwischen so weit untergegangen dass ihr das nötige Licht dazu fehlte.

Ich zog meine Schuhe aus und ging hinauf in mein neues Zimmer.

Hier standen die Kartons noch fast unberührt unter der Dachschräge, nur auf meinem Bett lagen zwei frische Handtücher und ein Bademantel. Ich beförderte die Sachen auf den Boden und ließ mich in die Kissen fallen.

Natürlich hatte ich mir meinen ersten Schultag aufregend vorgestellt, aber ganz sicher nicht in so! Ich hatte mir nicht nur direkt einen sehr gefährlichen Feind gemacht, nein, ich hatte auch noch erfahren dass ich anscheinend einer anderen Spezies angehörte. Ich war ein Wolf.

Das leise Piepsen meines Handy riss mich aus meinen Gedanken. Ich lehnte mich seitlich aus dem Bett und fischte es aus der Schultasche.

„Gut zu Hause angekommen? Georg“

Ich musste grinsen. Vielleicht war der Tag doch nicht nur furchtbar gewesen.

Ich rollte mich auf den Bauch und tippte eine Antwort.
 

Ich musste eingeschlafen sein, denn als meine Mutter endlich die Einfahrt hinauf fuhr war es draußen bereits völlig dunkel. Ein Blick auf mein Handy sagte mir dass es kurz vor acht Uhr war. Zeit fürs Abendessen. Mein Magen knurrte, ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.

Unten wurde die Haustür aufgeschlossen, ich hörte meine Mutter leise vor sich hin summen, dann das Rascheln von Einkaufstüten. Hoffentlich war da ein schnelles Abendessen drin.

Ich rollte mich vom Bett, steckte mein Handy in die Hosentasche, und machte mich auf den Weg hinunter in die Küche.

„Hey, Ricci, entschuldige, ich hab mich in der Stadt ein bisschen verzettelt.“ Meine Mutter lächelte mir entschuldigend zu, dann wühlte sie weiter in ihren Tüten. Mein verkniffenes Gesicht schien sie gar nicht zu bemerken.

Ich sah ihr noch eine Weile schweigend zu, dann setzte ich mich an den Tisch und atmete tief durch. Ich wollte nicht gleich aus der Haut fahren, auch wenn die Wut bereits wieder in mir brodelte.

„Ich habe heute ein paar sehr nette Bekanntschaften in der Schule gemacht.“ eröffnete ich das Gespräch. Meine Mutter drehte sich zu mir um, eine Päckchen Zucker in der Hand. Ihre Blick war fragend, aber völlig ahnungslos. Wusste sie wirklich nicht was hier abging?

„Ein paar Typen die sich für Wölfe halten wollten mich verprügeln weil ich ihren Anführer falsch angeguckt habe, und danach haben sie mich quer durch die Schule gehetzt. Zum Glück hat mir ein anderer Wolfstyp aus der Patsche geholfen und mich versteckt. Sonst wäre ich jetzt Hackfleisch. Und dann hat er mir noch einige andere interessante Dinge erzählt.“

Ich holte tief Luft und warf meiner Mutter einen durchdringenden Blick zu. Während ich gesprochen hatte war sie immer blasser geworden, das Päckchen Zucker vergessen in ihrer Hand.

„Also…wann genau wolltest du mir erzählen dass wir keine richtigen Menschen sind sondern anscheinend nachts den Mond anheulen?“
 

Das Abendessen verlegten wir ins Wohnzimmer, meine Mutter hatte fertig belegte Baguettes und für jeden einen Hähnchensalat mitgebracht, und die ersten Minuten kauten wir schweigend. Dann räusperte sie sich und legte ihr angebissenes Brot beiseite.

„Was genau…hat dieser Junge dir erzählt?“ wollte sie schließlich wissen. Ich aß noch einige Augenblicke weiter, dann zuckte ich die Schultern.

„Das wichtigste, nehme ich an. Kurz zusammengefasst meinte er dass wir keine richtigen Werwölfe sind weil wir uns nicht mehr verwandeln. Das ist so weil unsere Vorfahren sich zu oft mit Menschen gepaart haben und diese Fähigkeit dann irgendwann verloren gegangen ist. Aber wir haben bestimmte Instinkte und Verhaltensmuster behalten. Wenn es geht leben wir in Rudeln, und dann ist es wichtig welchen Rang man hat. Den Anführer hat man zu respektieren, ansonsten bekommt man eins auf den Deckel und muss sich verprügeln lassen.

Man sollte niemandem direkt in die Augen schauen oder ihn irgendwie anders herausfordern wenn man nicht gerade um einen höheren Rang kämpfen will.

Bis man 21 ist gehört man zu den jungen und bildet ein eigenes Rudel, abgelöst von dem der Erwachsenen. Den älteren hat man aber immer Folge zu leisten, vor allem wenn es um rudelinterne Dinge geht.

Oh.

Und wir beißen nicht.“

Der letzte Satz klang etwas spöttisch, und meine Mutter erlaubte sich ein kleines Lächeln. Dann seufzte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Der Appetit war ihr anscheinend vergangen.

Ich dagegen nahm mein Baguette wieder auf und aß weiter. Jetzt war sie nämlich an der Reihe. Ich hatte genug gesagt.

Meine Mutter nahm sich die Zeit ihre Gedanken zu ordnen, das schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein. Hoffentlich zu dem nun endlich reinen Tisch zu machen. Meiner Meinung nach hatte ich das verdient.

Sie seufzte noch einmal, dann fing sie meinen Blick ein und hielt in fest. Nicht wie ein Wolf, sondern wie ein Mensch. Aha. Das könnte schon einiges erklären.

„Dein Vater war der Wolf in unserer Familie. Ich wusste von alledem nichts, immerhin habe ich ihn weit weg von diesem Dorf hier kennen gelernt. Alles was mit seiner Vergangenheit zu tun hatte hielt er gern unter Verschluss. Ich wusste nur dass er auf seine Familie nicht so gut zu sprechen war, deswegen fuhren wir auch nie hier her. Ich bin außer auf ihn nie auf andere Wölfe getroffen, und du warst zu klein als das ich sofort stutzig geworden wäre.

Dein Vater war manchmal anders, ja. Schwierig, aufbrausend, aber nie…ach, ich dachte einfach das wäre sein Charakter. Ich habe es mir schön geredet, und das hat auch geklappt, bis deine Großmutter bei uns aufgetaucht ist. Sie hat von dir erfahren und mir nach dem Tod deines Vaters reinen Wein eingeschenkt. Er selbst hat das Geheimnis seiner Herkunft mit ins Grab genommen. Das war hart, aber verständlich. Er wollte nicht dass ich mich zu irgendetwas verpflichtet fühle, und du auch nicht.“

Meine Mutter sah mich offen an. Ich musste schlucken. Sie war also gar kein Wolf, sondern nur ich. Sie würde mir keine große Hilfe sein können, denn sie hatte nie im Rudel gelebt oder überhaupt Kontakt zu anderen unserer Art gehabt. Außer zu meinem Vater. Und der hatte seine Abstammung verleugnet.

Jetzt war mir ebenfalls der Appetit vergangen.

Ich legte das halb aufgegessene Baguette zurück auf meinen Teller und seufzte leise. Das war wirklich keine besonders erfreuliche Situation.

„Du weißt also gar nicht was jetzt auf mich zukommen wird?“ fragte ich trotzdem. Meine Mutter schüttelte den Kopf.

„Nein, tut mir Leid. Du weißt jetzt schon mehr als ich damals gewusst habe. Und deine Großmutter war nicht gerade gesprächig. Ich weiß nicht was sie dazu gebracht hat uns das Haus zu hinterlassen, und das werden wir wohl auch nie erfahren.“ Sie klang genauso hoffnungslos wie ich mich fühlte. Aber dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf, und sie beugte sich mit einem kleinen Lächeln wieder zu mir herüber. War ihr vielleicht doch noch etwas nützliches eingefallen?

Nein.

„Du könntest doch diesen Jungen aus deiner Klasse fragen ob er dich ein bisschen unter seiner Fittiche nimmt. Er hat dir doch schon einmal geholfen, vielleicht möchte er dein Freund sein!“ Diese Idee schien meiner Mutter offensichtlich zu gefallen, sie strahlte mich an, und ich betrachtete unschlüssig mein Abendessen. Natürlich wäre es ihr lieb wenn Georg mich „unter seine Fittiche“ nahm, dann wäre sie aus dem Schneider, und ihr schlechtes Gewissen wäre auch beruhigt. Und ich? Ich würde mein Schicksal in die Hände eines Typen legen den ich gerade einmal wenige Stunden kannte. Und den ich schon jetzt in gehörige Schwierigkeiten gebracht hatte. Super. Das war wirklich eine klasse Idee.

„Ich weiß nicht…“ meinte ich widerwillig, aber ich wusste bereits dass das meine einzige Möglichkeit war einigermaßen unversehrt aus der Sache herauszukommen. Zumindest was Hector und sein Rudel anging. Und dann könnte mir Georg zeigen wie ich in Zukunft solche Zwischenfälle vermeiden konnte. Vielleicht war die Idee doch nicht so dumm.

„Ich werde ihn fragen.“ antwortete ich schließlich, und meine Mutter nickte glücklich. Für sie schien die Sache damit fürs erste erledigt denn sie griff nach ihrem Salat und begann wieder zu essen. Klar, sie musste sich morgen ja auch nicht einem wildgewordenen Wolf und seinen Schergen stellen.

Eine blutige Lippe und ein Anarchist

Ich schaffte es mit der Hilfe meines neuen Freundes Georg genau eine Woche Hector aus dem Weg zu gehen, dann erwischte er mich doch. Bis jetzt hatte uns die gerade angelaufene Handballsaison in die Hände gespielt. Ein Großteil des Rudels war Mitglied in der Mannschaft und trainierte jede freie Minute für die kommenden Wettkämpfe. Und Hector war, wie hätte es anders sein können, ihr Captain. Da blieb glücklicherweise nicht viel Zeit übrig um nach einem aufmüpfigen neuen Rudelmitglied wie mir zu suchen.

Ich verbrachte die Pausen zusammen mit Georg entweder hinter der Turnhalle oder in der Bibliothek, und nach der Schule war ich einer der ersten die das Gelände verließen.

Ich wähnte mich in Sicherheit, irgendwie war ich der Meinung Hectors Macht würde sich einzig und allein auf die Schule und die Sportplätze darum herum beschränken.

Das stellte sich als fataler Fehler heraus.

Er erwischte mich nach Unterrichtsschluss auf dem Heimweg.

Normalerweise nahm ich immer den direkten Weg, das waren knapp zwanzig Minuten an einer gut befahrenen Hauptstraße entlang bis zu dem Feldweg der zu unserem Häuschen führte. Alles gut einsehbar und voller potentieller Zeugen.

Nur an diesem Tag entschied ich mich für eine kleine Änderung im Plan. Ich wusste dass es noch einen weiteren Weg gab den ich nehmen konnte, er führte jenseits der Straße zwischen den Feldern hindurch und dann durch den kleinen Wald der irgendwann direkt an unserem Garten endete. Das hörte sich romantisch an, und mir war nach einer Abwechslung.

Ich bog von der sicheren Hauptstraße ab und folgte dem Weg aus festgefahrener Erde bis hinter die ersten Ausläufer des Waldes, von dort führte er als besserer Trampelpfad zwischen Unterholz und dicken Baumstämmen hindurch bis zu einer kleinen Lichtung.

Und dort warteten sie auf mich.

Ich wusste nicht ob es einfach nur Zufall oder so geplant gewesen war, aber Hector wirkte kein bisschen überrascht als er mich zwischen den Bäumen hervorkommen sah. Um ihn herum hatten sich noch mindestens ein halbes Dutzend Mitglieder des Rudels verteilt, und auch sie beobachteten mich mit völlig ausdruckslosen Mienen.

„Wage es ja nicht abzuhauen, du hättest eh keine Chance. Nicht dieses mal!“ Hectors Stimme hallte weit, und ich zuckte ängstlich zusammen. Ich konnte die Wut in ihr brodeln hören, und mir wurde ganz elend. Er hatte Recht, das letzte Mal hatte ich einfach nur Glück gehabt. Und Georg, aber der war weit und breit nicht zu sehen. Das hier musste ich wohl oder übel alleine durchstehen.

Ich machte einen unsicheren Schritt auf die Lichtung hinaus und versuchte nicht ganz so verängstigt auszusehen wie ich mich fühlte.

Hector fletschte die Zähne, seine Augen waren zusammengekniffen, seine Körperhaltung drohend.

Ich überlegte fieberhaft. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich einem wütenden Artgenossen gegenüber, und ich wusste nicht wie ich mich verhalten sollte. Meine Instinkte rieten mir zur Flucht, ich war dem anderen hoffnungslos unterlegen, aber gleichzeitig drängten sie mich zum Angriff. Ein Wolf war wohl selten ein geborener Feigling.

Anstatt also das klügste zu tun und den Rückzug anzutreten spannte ich mich ebenfalls, meine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, ich zeigte die Zähne.

Das war das Signal zum Angriff.

Mit einem wütenden Brüllen stürzte Hector sich auf mich, riss mich zu Boden, und nur Sekunden später rollten wir eng umschlungen über den Boden. Es war ein ungleicher Kampf, ich hatte keine Chance. Der andere war nicht nur ein paar Jahre älter als ich, sondern auch deutlich kampferprobter. Es dauerte keine zwei Minuten dann lag ich festgenagelt im Dreck, Blut tropfte aus meiner aufgeschlagenen Lippe, ein Auge begann bereits zuzuschwellen.

Das war eine deutliche Niederlage.

Während des Kampfes hatten uns die anderen Jungen schweigend, aber interessiert zugesehen, nun begannen sie sich langsam abzuwenden. Anscheinend war ihr Interesse mit Hectors eindeutigem Sieg schlagartig erloschen; alles blieb so wie es war, ihr Anführer hatte dem neuen gezeigt wo sein Platz war, und nun konnten sie sich wieder anderen Dingen zuwenden.

Hector dagegen schien es überhaupt nicht eilig zu haben den Schauplatz des Kampfes zu verlassen. Er wartete noch bis der letzte der anderen die Lichtung verlassen hatten, dann erst erhob er sich, und streckte mir überraschenderweise die Hand entgegen.

Damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich ließ sich mir von Hector auf die Beine helfen, wischte mir mit dem Handrücken das Blut von der Lippe, und sah ihm misstrauisch ins Gesicht. Was sollte das jetzt werden? Unsere Zuschauer waren weg, verschwunden im Wald, es gab also keinen Grund mehr irgendeine Show abzuziehen.

Aber das hatte Hector anscheinend auch nicht vor. Er erwiderte meinen Blick ruhig und gelassen, dann lächelte er. Ohne gebleckte Zähne.

„Es war mutig von dir mich herauszufordern; dumm, aber mutig. Das hat dir Respekt bei den anderen verschafft. Und du weißt jetzt wo du stehst. Wir sind nicht nachtragend, und das solltest du besser auch nicht sein.“ Er deutete mit einem Nicken auf mein zerschlagenes Gesicht.

„ Trotz blutiger Lippe.“

Ich war immer noch völlig verblüfft über diesen plötzlichen Stimmungsumschwung und wusste nichts passendes zu erwidern. Gerade eben hatten wir uns noch knurrend im Dreck gewälzt, und jetzt wollte Hector Smalltalk machen. War das so üblich unter...uns?

„Soll ich dich nach Hause bringen oder schaffst du das alleine?“ unterbrach der andere meine Gedanken, und ich schüttelte schnell den Kopf. Mist, das war keine entweder-oder-Frage.

„Äh, ich schaffs allein, schon gut. Ist ja nicht mehr weit.“ stotterte ich, und Hector lachte. Er klopfte mir auf die Schulter und ich wurde direkt ein paar Zentimeter kleiner. Der Kerl hatte Kraft!

„Na gut, ich glaube dir mal. Wir sehen uns sicher in der Schule, und wenn nicht da dann auf der nächsten Versammlung. Mach´s gut!“ Er winkte mir zum Abschied, dann verschwand er genau wie die anderen vor ihm zwischen den Bäumen.

Ich blieb mit schmerzenden Gliedern und völlig verwirrt allein auf der Lichtung zurück.
 

Nach dem Kampf mit Hector wurde es erfreulich ruhig für Georg und mich. Wir wurden größtenteils ignoriert, aber laut meinem neuen Freund war das der normale Status quo. Solange wir niemanden herausforderten würden sie uns links liegen lassen, und das hatte ich ehrlich gesagt auch nicht vor. Einmal verprügelt werden hatte mir gereicht.

Georg und ich trafen uns nun auch nach der Schule häufiger, meistens bei ihm, aber es schien als würden ihm meine unzähligen Fragen zum Thema Wölfe langsam lästig werden. Er beantwortete sie mir zwar weiterhin geduldig, aber man merkte dass er am liebsten über etwas anderes geredet hätte. Es war mir nicht entgangen dass er den Kontakt zum Rudel so gut es ging vermied, aber ich traute mich nicht zu fragen warum das so war. Die Streitigkeiten mit Hector waren laut Georgs eigenen Worten durch meine Niederlage aus der Welt geschafft, zu befürchten hatte er also nichts mehr. Und trotzdem, mehr als eine unterwürfige Geste wenn wir Hector begegneten war nicht drin. Georg grüßte nicht, auch nicht die ihm gleichgestellten oder unterlegenen Rudelmitglieder, und das war laut meinen Beobachtungen so nicht üblich. Selbst mit mir betrieben die anderen ab und an mal Smalltalk, und ich war nicht nur neu, sondern auch noch gerade in meine Schranken verwiesen worden.

Irgendwann konnte ich meine Neugierde nicht mehr zurückhalten. Wir hatten uns zum Lernen für eine anstehende Matheklausur verabredet, aber noch bevor Georg seine Unterlagen auspacken konnte kam ich ihm mit meiner Frage zuvor.

„Warum hältst du dich eigentlich von den anderen fern? Ich dachte Hector ist jetzt nicht mehr sauer auf uns.“

Ich hockte rücklings auf Georgs Schreibtischstuhl, er zu meinen Füßen auf dem Boden, den Kopf in seiner Schultasche. Seine Stimme klang gepresst als er mir antwortete.

„Das hat mit Hector gar nichts zu tun. Ich will einfach nichts mit dem Rudel zu tun haben. Das sind alles Testosteron gesteuerte Idioten die sich grundlos die Köpfe einschlagen. Das ist mir zu blöd.“ Georg hörte auf in seiner Tasche zu kramen und sah mich an. Ich erwiderte den Blick, dann senkte ich schnell den Kopf. Sein Stirnrunzeln war Warnung genug. Ich biss mir auf die Lippe. War das echt schon alles? Georg hatte einfach keinen Bock auf die anderen weil sie ihm zu…primitiv waren? So ganz konnte ich ihm das nicht glauben, aber ich traute mich auch nicht weiter zu fragen. Er wollte eindeutig nicht darüber reden, und ich hatte seine Nerven mit meiner Fragerei schon genug strapaziert.

Jetzt war Zeit für Mathe.

Ich rutschte vom Schreibtischstuhl herunter zu ihm auf den Fußboden und zog meine eigene Schultasche heran.

„Hm, okay, keine Ahnung ob das alles Idioten sind. Aber du, du bist zumindest keiner.“ ich schenkte ihm ein breites Lächeln, und Georg erwiderte es. Zumindest für einen Moment, dann wies er mich schon wieder zurecht.

„Ricci, deine Zähne. Versuch zu lächeln ohne die Zähne zu zeigen. Du weißt doch…“

Ich verdrehte die Augen.

„Ja, ich weiß, keinem die Zähne zeigen. Man ist das nervig!“

Er lachte über mein Gemecker, dann schlug er das Mathebuch auf und riss zwei leere Blätter aus seinem Block. Eins davon gab er mir.

„Wie gut bist du in Mathe?“

Ich zuckte die Schultern.

„Grottig, befürchte ich.“

Jetzt war es an Georg genervt die Augen zu verdrehen. Er schob sein Mathebuch in die Mitte und tippte mit seinem Stift auf eine kompliziert aussehende Aufgabe.

„Versuch das hier zu lösen, und wenn du nicht mehr weiter weißt darfst du mich fragen.“

Ich warf einen zweifelnden Blick auf die Aufgabenstellung, las sie mir zweimal durch, dann setzte ich bereits zur ersten Frage an.

Georg unterbrach mich mit einem halb genervten, halb belustigten Seufzer.

„Okay, nicht nur ein schlechter Wolf, sondern auch noch ein Hohlkopf. Du passt wirklich gut ins Rudel. Also, wo ist das Problem?“

Ich schluckte eine passende Erwiderung auf diesen Seitenhieb hinunter und konzentrierte mich. Georg meinte es nicht böse, das konnte ich an seiner Stimme hören. Und trotzdem regte sich da etwas in mir, etwas das ihn für seine respektlosen Worte am liebsten bestrafen würde.

Das war doch verrückt! Ich würde niemanden für ein paar bedeutungslose Bemerkungen mir gegenüber den Kopf einschlagen. Und schon gar nicht Georg! Ich atmete tief durch und senkte meinen Blick erneut in das Mathebuch. Wir waren hier zum Lernen, und nicht um uns zu streiten. Und wenn man es genau nahm hatte ich ja sogar angefangen, ich mit meinen indiskreten Fragen. Georg traf keine Schuld. Er hatte nur gekontert.

Jetzt huschte sein Stift über mein Blatt, er dröselte die Aufgabe auf und erklärte mir Schritt für Schritt wie ich sie zu lösen hatte. Trotz seiner Hilfe scheiterte ich noch an zwei weiteren bis ich endlich auch von selbst zu einer richtigen Lösung kam. Ich warf meinen Stift in das immer noch aufgeschlagene Mathebuch und grinste ihn breit an.

„Siehst du? Anscheinend bin ich doch nicht so hohl wie du befürchtest hast!“

„Und deine Zähne hast du diesmal auch nicht gezeigt, du lernst wirklich dazu.“ erwiderte Georg und zwinkerte mir zu. Dann stand er auf und räumte seine Schulsachen zusammen. Ich tat es ihm gleich, ein Blick auf mein Handy sagte mir dass es bereits kurz nach sechs Uhr war. Zeit zum Heim gehen.

Georg brachte mich noch bis zur Haustür, dann verabschiedeten wir uns und ich machte mich auf den Heimweg.

Während ich die nur noch spärlich von der untergehenden Sonne beschienene Straße hinunter schlenderte musste ich über Georgs Worte nachdenken. Ich verstand noch nicht viel davon was es hieß das Mitglied eines Wolfsrudels zu sein, aber wenn man meinem neuen Freund Glauben schenken durfte war das alles andere als spaßig. Meine eigenen schmerzhaften Erfahrungen unterstützten diese Aussagen nur noch. Andererseits war Hector mir nachdem die Fronten geklärt worden waren wie ein ganz umgänglicher Kerl vorgekommen, und dafür dass er sich an bestimmte Regeln und Traditionen halten musste konnte er ja nichts. Er hatte mich ja offensichtlich auch nicht zum Spaß verprügelt.

Ich war verwirrt.

Einerseits mochte ich Georg und wollte es mir mit ihm nicht verscherzen, andererseits hatte ich keine Lust Hector und dem Rudel negativ aufzufallen.

Und Georg fiel negativ auf, das war mir nicht entgangen. So wie es aussah war er doch nicht die beste Wahl um mich mit den Gepflogenheiten des Rudellebens bekannt zu machen. Ich hatte mich offensichtlich mit einem Anarchisten angefreundet, und das machte die ganze Sache deutlich komplizierter. Georg versuchte den größtmöglichen Abstand zwischen sich und die anderen zu bringen während ich nichts lieber getan hätte als noch mehr über sie zu lernen. Für mich war meine neue Identität wie eine Offenbarung, sie war aufregend, aber Georg empfand sie eindeutig als Fluch.

Ich wusste nicht wie ich das unter einen Hut bringen sollte ohne mit einer der beiden Seiten Ärger zu bekommen. Ich konnte mich ja schlecht gleichzeitig anpassen und trotzdem rebellieren. Noch flog ich erfolgreich unter dem Radar, ich hielt mich von den anderen fern, aber das würde ich sicher nicht für den Rest meiner schulischen Laufbahn durchhalten. Das hatte selbst Georg zugeben müssen. Er war praktisch der Großmeister im Unsichtbarsein, aber selbst er geriet ab und an in die ein oder andere Außeinandersetzung. Und er hatte jahrelang Zeit gehabt die Regeln zu lernen! Für mich war das alles Neuland!

Es war frustrierend. Ich konnte nicht verhindern das meine Unwissenheit mich in Schwierigkeiten brachte, und Georg konnte nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf mich aufpassen. Wir sahen uns selbst in der Schule ja nur zu den gemeinsamen Unterrichtsstunden, und in den Pausen, aber wir hatten unterschiedliche Sportkurse und Georg gab zusätzlich noch Nachhilfe. Ich war umringt von anderen Wölfen die mich mit Argusaugen beobachteten und auf einen Fehler meinerseits lauerten. Da half auch Hectors sympathische Seite nichts. Laut Georg war es dem Anführer nicht erlaubt Partei für einen niedereren Wolf zu ergreifen oder sich in körperliche Außeinandersetzungen einzumischen, in Georgs Abwesenheit war ich also völlig auf mich allein gestellt.

Und machten wir uns mal nichts vor, ich war kein großer Kämpfer. Da halfen auch die vermeintlichen Wolfsgene nichts. Ich war kleiner als der Durchschnitt meiner Altersgenossen, dazu eher schlank als robust und auch nicht besonders ausdauernd. Ich konnte nur verlieren. Wahrscheinlich wäre es wirklich besser ich würde auf Georg hören und mich möglichst fern des Rudels halten. Die Truppe war zwar durchwachsen, aber selbst die schwächeren Mitglieder hatten deutlich mehr Kampferfahrung als ich. Egal wie ich es anstellte, es würde auf jeden Fall auf ein paar sehr schmerzhafte Erfahrungen für mich hinauslaufen. Und darauf hatte ich nach der Begegnung mit Hector erst einmal keine große Lust mehr.

Nur leider sahen das die anderen natürlich ganz und gar nicht so. Für sie war ich ein gefundenes Fressen und eine einfache Möglichkeit sich ein bisschen mehr Respekt in den eigenen Reihen zu verschaffen.

Und so dauerte es keine halbe Woche bis mich ich meinem nächsten Kampf um einen Platz im Rudel gegenübersah.

Ein Sieg!...und eine Niederlage?

Ich hatte mich noch nie ernsthaft geprügelt. Klar, ein bisschen Herumgeschuppse in der Grundschule und ein zwei Rangeleien während den Anfängen der Pubertät hatte es gegeben, aber die Außeinandersetzung mit Hector war die erste ihrer Art gewesen.

Zumal ich mich immer noch für völlig unschuldig hielt.

Aber wie hieß es doch so unschön, Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, und von der letzten schmerzte mir immer noch fast jeder Knochen im Leib.

Sie lauerten mir nach dem Musikunterricht auf, meiner letzten Unterrichtsstunde an diesem Tag. Beziehungsweise einer lauerte mir auf, die restlichen drei waren nur Publikum.

Normalerweise wäre ich an diesem Tag mit Gregor verabredet gewesen, aber dem war etwas dazwischen gekommen, und so traf ich ganz allein auf die übereifrigen Wölfe.

Der Herausforderer war eine Klasse unter mir, aber fast einen Kopf größer als ich und eindeutig überzeugter was seine körperlichen Fähigkeiten anging.

Er war nicht überheblich, und auch sein Gefolge erschien mir nicht besonders sensationsgeil, trotzdem wurde mir bei seinem Auftreten Angst und Bange. Ich war kein geübter Kämpfer, im Gegenteil, ich war ja kaum in der Lage mich effektiv zu verteidigen, aber Kneifen kam nicht in Frage. Die ganze Sache mit dem Rudel und den Wölfen war mir zwar immer noch suspekt und außerdem ein Buch mit sieben Siegeln, aber Feiglinge waren überall nicht gern gesehen.

Und irgendetwas tief in mir drin wollte die Herausforderung annehmen! Die gefletschten Zähne des anderen und dessen drohende Körperhaltung machten mich rasend, es war als würde ein frisch entfachtes Feuer meine Nervenenden in Brand setzen und dabei auch noch den letzten Rest menschliche Vernunft in Asche verwandeln.

Plötzlich war es mir egal dass mein Gegenüber mir sowohl körperlich als auch in seinen kämpferischen Fähigkeiten deutlich überlegen war. Ich wollte ihn unter mir sehen, ich wollte ihn unterwerfen, und zwar sofort, ohne Rücksicht auf Verluste.

Mit einem wütenden Knurren stürzte ich nach vorn, meine Schultasche landete achtlos neben mir im Dreck, und dann hatte ich den anderen bereits am Kragen gepackt und warf ihn zu Boden.

Offensichtlich kam mein Angriff überraschend, es dauerte zwar nur den Bruchteil einer Sekunde bis mein Herausforderer sich wieder gesammelt hatte, aber dieser winzige Augenblick reichte mir. Ich landete einen gezielten Schlag gegen seine Schläfe bevor er mich endlich zu fassen bekam und mir ebenfalls zwei schmerzhafte Treffer verpasste; einen gegen den Oberarm, und einen direkt in die Rippen. Wir prügelten uns noch eine ganze Weile, ich war rasend, und das gab mir einen gewissen Vorteil. Irgendwann bemerkte ich gar nicht mehr wo und wie oft ich getroffen wurde, ich wollte den anderen nur noch unter mir im Dreck sehen.

Und dem ging langsam die Puste aus. Er hatte mich eindeutig unterschätzt, und das wurde ihm nun zum Verhängnis.

Nach kaum zehn Minuten warf er schließlich das Handtuch und gab auf. Wir waren beide lädiert, aber zum Glück nicht ernsthaft verletzt. Ich rappelte mich auf und klopfte mir den Staub aus den Klamotten, dann suchte ich meine Schultasche. Einer der Zuschauer hatte sie während des Kampfes an sich genommen und sicher verwahrt, jetzt gab er sie mir zurück und klopfte mir mit einem anerkennenden Nicken auf die Schulter. Das fühlte sich unglaublich gut an.

Auch mein geschlagener Herausforderer war inzwischen wieder auf den Beinen, er blutete aus Lippe und Nase, war aber trotzdem erstaunlich gut gelaunt. Ich erinnerte mich an Hectors Worte, er hatte gesagt dass Wölfe nicht nachtragend seien, und offensichtlich hatte er Recht damit. Der andere streckte mir grinsend die Hand entgegen während er sich mit der anderen noch das Blut aus dem Gesicht wischte.

„Gut gemacht, hätte ich nicht gedacht. Du bist härter als du aussiehst.“ wir schüttelten uns die Hände, danach erfuhr ich noch dass er Alex hieß und sich darauf freute sich irgendwann noch einmal mit mir zu messen. Diese Freude war zwar nicht ganz meinerseits, aber ich erwiderte sein Lächeln und nickte unverbindlich. Sollte es noch einmal zu einem Kampf zwischen uns beiden kommen würde ich hoffnungslos unterliegen. Aber dieses Ereignis lag noch in ferner Zukunft, und momentan wollte ich mich einfach nur an meinem allerersten Sieg erfreuen.

Der Heimweg dauerte fast doppelt so lange wie normalerweise, vor allem meine Rippen und mein Arm schmerzten fürchterlich, aber ich hatte Glück, als ich endlich zu Hause ankam fand ich das Haus verlassen vor und so blieb mir noch genug Zeit mich zu waschen und die verdreckten Klamotten ganz unten in die Wäschetonne zu stopfen.

Auf Arm und Rippen erblühten bereits hässliche tiefblaue Blutergüsse und auch im Gesicht hatte ich etwas abbekommen. Ansonsten war ich aber erstaunlich glimpflich davon gekommen.

Ich überlegte einen Moment ob ich Georg von meinem glorreichen Sieg erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben. Ich wusste ja wie er zu den Prügeleien zwischen den Rudelmitgliedern stand. Er würde sich kaum über meinen Sieg freuen.

Des Rest des Nachmittags verbrachte ich mit Hausaufgaben und Fernsehen bis meine Mutter am frühen Abend nach Hause kam.

Mein lädiertes Gesicht bedachte sie mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue, aber ich winkte ab und kommentierte es nur mit einem „Hab gewonnen, alles gut. Kommt so schnell nicht wieder vor.“

Sie beließ es bei dieser Erklärung, und erst als ich nach dem Bettfertig machen noch einmal ins Wohnzimmer kam um Gute Nacht zu sagen kam sie noch einmal darauf zurück.

„Kommst du klar mit dieser…Wolfsache?“ ihre Stimme klang erstaunlich besorgt, und in mir regte sich fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Warum? Ich hatte keine Ahnung.

„Klar, siehst du doch. Mir ist nichts passiert, und außerdem habe ich doch Georg. Der hilft mir wenn was ist.“ versuchte ich sie zu beruhigen. Ich wollte nicht dass sie sich einmischte, ich wollte das alleine regeln. Alles andere fühlte sich irgendwie falsch an.

Meine Mutter lächelte mich über die Rückenlehne unserer Couch an, sie wirkte erleichtert. Zum Glück.

„Okay, wenn du dir da so sicher bist. Ich glaub an dich, du schaffst das schon. Und jetzt ab ins Bett, bis morgen.“

Ich huschte die Treppe hinauf und kroch unter meine Bettdecke. Vor dem Zähneputzen hatte ich zwei Aspirin genommen, und die begannen nun endlich zu wirken. Fast schmerzlos driftete ich langsam in einen erstaunlich ruhigen und erholsamen Schlaf hinüber, wohl wissend dass der nächste Morgen höchstwahrscheinlich die Hölle werden würde.

 

Kaum hatte es zur nächsten Pause geklingelt sprang Georg hinter mir von seinem Stuhl auf und packte mich unsanft am Arm.

„Aua!“ ich versuchte mich zu befreien, aber sein Griff wurde nur noch fester. Was war denn jetzt los? Hatte ich es schon wieder geschafft in irgendein Fettnäpfchen zu treten? War Georg sauer auf mich? Ich sah ihn fragend an, aber da zog er mich bereits von meinem Stuhl hoch und führte mich zielstrebig aus dem Klassenzimmer. Dass die anderen Rudelmitglieder uns dabei interessiert beobachteten schien ihm gar nicht aufzufallen. Das war ungewöhnlich, und beunruhigend. Mir schossen tausend Fragen durch den Kopf während wir über den vor Schülern wimmelnden Schulflur gingen, aber erst als wir eine etwas ruhigere Ecke erreicht hatten schaffte ich es endlich mir bei Georg Gehör zu verschaffen.

„Was soll das? Warum zerrst du mich so rum? Hab ich dir was getan?“ knurrte ich wütend und versuchte erneut ihm meinen Arm zu entwinden. Diesmal ließ Georg mich los, aber sein Blick nagelte mich fest. Er war wütend, und ich wusste einfach nicht warum!

„Mit wem hast du dich geprügelt?“ zischte er.

Ich setzte gerade zu einer bissigen Antwort an, dann hielt ich verblüfft inne. Das war sein Problem? Dass ich mich geprügelt hatte? Ich hatte ja mit vielen Gründen gerechnet, aber nicht damit. Sofort entspannte ich mich etwas und strich mir verwirrt über den noch frischen Kratzer an der Wange. Es war nicht einmal schlimm gewesen, nur eine kleine Rangelei, und mehr als ein paar Schrammen hatte keiner dabei davon getragen. Warum war Georg also so aufgebracht?

Ich war ratlos.

„Ich hab mich mit Alex geprügelt, gestern, nach der Musikstunde. Du warst schon weg. Und es war auch gar nichts großartiges. Nur ein bisschen Kräfte messen. Und ich habe gewonnen!“ verteidigte ich mich. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Georg herausfordernd an. Der schnaubte nur verächtlich und schnippte mir mit den Fingern gegen die Stelle an der er mich zuvor aus dem Zimmer gezerrt hatte.

„Aua! Warum machst du das?“ ich wurde wieder wütend. An dem Arm hatte Alex mich gestern auch erwischt, und es tat immer noch weh. Dort hatte sich im Laufe des Abends ein wirklich beachtlicher Bluterguss gebildet.

Georg versperrte mir den Weg, er betrachtete mich mit gerunzelter Stirn, anscheinend war er noch nicht fertig mit dem was er mir sagen wollte. Warum klingelte es nicht endlich zur nächsten Stunde?

Ich lehnte mich abwartend gegen die Wand in meinem Rücken, den schmerzenden Arm wieder vor der Brust verschränkt.

„Du hast es verdient. Wie kannst du nur so dumm sein und dich provozieren lassen? Ich dachte wir sind uns einig dass das alles nur hirnlose Idioten sind. Aber nein, du musst ja trotzdem hinrennen und dich verprügeln lassen. Du bist genauso dumm wie sie!“ fauchte Georg.

Ich schoss nach vorn und wollte ihn am Kragen packen, das war genug, aber er kam mir zuvor und ergriff meine Handgelenke. Verdammt war Georg schnell. Wir rangen eine Weile stumm, dann ließ er mich plötzlich los. Ich stolperte vor Überraschung ein paar Schritte nach vorn, ruderte mit den Armen, und hätte beinahe äußerst unsanft den Boden geküsst wenn Georg mich nicht noch rechtzeitig gepackt hätte.

Ich fuhr sofort wieder zu ihm herum, bereit für Runde zwei, aber er schüttelte nur den Kopf und trat einen Schritt zurück, beide Hände erhoben. Gab er auf? Ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Lass gut sein, Ricci. Prügel dich von mir aus so viel du willst, aber lass mich damit in Frieden. Ich hab besseres zu tun.“ Er winkte ab und trat an mir vorbei, und diesmal war ich es der ihn am Weitergehen hinderte. Ich packte ihn am Arm und hielt ihn fest.

Georg war gar nicht wütend auf mich, er war enttäuscht! Und ich hatte es dank meiner sinnlosen Wut einfach nicht gemerkt. Und ihn auch noch angegriffen. Er hatte also doch Recht, ich war ein hirnloser Idiot.

„Georg, bleib stehen.“ bat ich leise. Das schlechte Gewissen musste mir anzuhören sein, denn er blieb tatsächlich stehen und sah mir zweifelnd ins Gesicht. Er wirkte gar nicht mehr wütend, nur tief verletzt. Mein Magen zog sich zusammen, und ich schluckte schwer.

„Ich…ich wollte nicht auf dich losgehen. Wirklich nicht. Das war dumm von mir. Und die Prügelei auch.“ Ich sah betreten zu Boden. Würde Georg mir verzeihen? Ich wagte einen vorsichtigen Blick in sein Gesicht, aber das war immer noch unergründlich. Er sagte gar nichts. Und ich wurde langsam nervös.

„Georg?“ versuchte ich es noch einmal, und diesmal regte er sich. Ein Seufzer kam über seine Lippen, dann streckte er die freie Hand aus und strich mir vorsichtig über den verletzten Arm. Seine Stimme schwankte zwischen Besorgnis und mühsam unterdrücktem Zorn.

„Ich will nur nicht dass du dir Ärger einhandelst, das ist alles. Für dich war es nur eine Prügelei, aber für das Rudel ist es weit mehr.“ Er ließ meinen Arm los und befreite danach seinen aus meinem Griff. Es klingelte zum Unterricht. Georg seufzte erneut, dann trat er an mir vorbei und wandte sich zurück in Richtung Klassenzimmer. Ich folgte ihm auf dem Fuße, aber aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung war. Hatte uns jemand belauscht? Ich kniff die Augen zusammen und starrte den Flur hinunter. Schülermassen eilten in ihre Klassenräume, aber keiner schien uns besondere Beachtung zu schenken. Wahrscheinlich litt ich an Verfolgungswahn.

„Ricci, komm!“ Georg winkte mir zu, und ich eilte an seine Seite. Es war alles wieder gut, wir hatten uns vertragen, und die anderen konnten uns egal sein. Ich würde einfach versuchen das Rudel zu ignorieren, genau so wie Georg das machte. Das würde schon funktionieren. Und wenn nicht…ich hatte ja bewiesen dass ich durchaus in der Lage war mich zu wehren, also brauchte ich mir auch da keine Sorgen machen. Ich schloss zu Georg auf und grinste ihn an.

„Kommst du heute mit zu mir? Meine Mutter ist nicht da, sie kann uns also nicht auf die Nerven gehen.“

Georg runzelte die Stirn.

„Ich muss Nachhilfe geben.“

Ich zuckte die Schultern.

„Dann warte ich eben auf dich, kein Problem.“

Jetzt erwiderte Georg mein Grinsen. Er war wirklich nicht mehr sauer auf mich. Schön!

„Okay, dann nach der achten Stunde. Ich werde versuchen mich zu beeilen.“ antwortete er, und ich jubelte innerlich. Wir waren wieder Freunde, zum Glück! Und ab jetzt würde ich mich ein bisschen mehr zusammenreißen um ihn nicht gleich wieder zu enttäuschen. Wir erreichten unser Klassenzimmer und nahmen unsere Plätze ein. Nicht einmal die jetzt drohende Mathestunde konnte mir noch die Laune verderben. Georg war wieder mein Freund, und das war das wichtigste.

Ziemlich feige

„Du hast dich gestern ziemlich gut geschlagen.“

Ich fuhr erschrocken von meinen Geschichtshausaufgaben hoch und stieß dabei mein Stiftemäppchen von meinem Schoß. Der Inhalt purzelte ins Gras, aber das war mir im Moment völlig egal.

„Hector?“ ich sah den anderen verblüfft an, dann senkte ich schnell den Blick. Was wollte der denn jetzt von mir? Wir waren zwar im Guten auseinander gegangen, aber mir wurde trotzdem sofort flau im Magen als ich ihn erkannte. Er war immerhin der Rudelführer, und ich noch ziemlich ungeschickt in allen Dingen die das Wolfeinmaleins betrafen. Die Gefahr dass ich mich erneut in die Nesseln setzte war dementsprechend nicht gerade gering.

Hector schien meine Unsicherheit zu bemerkten, er grinste breit, dann klopfte er mir auf die Schulter und ließ sich mir gegenüber ins Gras fallen. Ich versuchte das Lächeln zu erwidern, aber am liebsten hätte ich meine Sachen eingesammelt und wäre geflüchtet. Hector flöste mir Respekt ein, und ich wusste ja dass er mich binnen Sekunden fertig machen konnte.

Ich musste mich zusammen reißen!

Er war sicher nicht hergekommen um mich zu verprügeln, immerhin hatte er mich ja gerade sogar gelobt, oder nicht? Ich atmete tief durch, dann begann ich beiläufig meine Stifte vom Boden aufzulesen. Hector hatte damit bereits begonnen, er drehte einen Kugelschreiber zwischen den Fingern, dann reichte er ihn mir.

„Danke.“ nuschelte ich leise und stopfte ihn zurück in mein Mäppchen. Vor wenigen Stunden hatte ich mit Georg zusammen beschlossen dem Rudel aus dem Weg zu gehen, und schon suchte mich der Rudelführer höchstpersönlich auf. Konnte das ein Zufall sein? Ich hoffte es sehr.

Hector ließ sich Zeit bis ich meine Stifte komplett aufgesammelt hatte, dann erst ergriff er wieder das Wort.

„Für deinen ersten richtigen Kampf war das wirklich nicht schlecht, ehrlich. Du hast bewiesen dass der Wolf in dir keine Memme ist. Und solche Leute brauchen wir. Das verstehst du doch sicher, oder?“ seine Stimme klang betont fröhlich, aber ich wusste das da mehr unter der Oberfläche lauerte. Hector war nicht gekommen um Smalltalk zu machen, er wollte etwas von mir. Und so langsam dämmerte mir auch was. Genau das Gegenteil von dem was ich Georg versprochen hatte. Hector wollte mich für das Rudel, und zwar nicht nur als stillen Mitläufer. Ich hatte gekämpft, und ich hatte gewonnen. Und damit erneut seine Aufmerksamkeit erregt.

Ich war ein hirnloser Trottel.

„Hm, ich weiß nicht. Es war ja nur eine kleine Auseinandersetzung, kein richtiger Kampf.“ versuchte ich abzuwiegeln. Ich wollte mich aus den Rudelangelegenheiten raushalten und nicht an erster Stelle mitkämpfen. Aber Hector schien da andere Pläne mit mir zu haben. Er beugte sich bedächtig nach vorn und packte mich erneut an der Schulter. Sein Griff war fest, aber nicht schmerzhaft. Trotzdem zuckte ich zusammen. Ich würde ihm nicht ins Gesicht sehen. Ich würde ihm keine Vorlage bieten um mir noch einmal die Leviten zu lesen.

Meine Angst musste fast greifbar in der Luft liegen, denn plötzlich lockerte sich Hectors Griff und er rutschte wieder ein Stück von mir weg, und dann hörte ich ihn lachen. Was denn nun? Ich wagte es ihm einen verwirrten Blick zuzuwerfen, und er erwiderte ihn grinsend.

„Ricci, echt, jetzt mach dir nicht ins Hemd. Ich werde dir sicher nicht den Kopf abreißen oder so. Was hat Georg dir denn erzählt? Also außer das er uns für triebgesteuerte Idioten hält.“ Hectors Grinsen wurde noch eine Spur breiter als er mein verblüfftes Gesicht sah. Er wusste also was Georg von ihm und dem Rudel hielt? Und nahm das einfach so hin?

Ich war ehrlich verwirrt. Für mich hatte es sich bis jetzt so angehört als wäre es ein Sakrileg sich gegen das Rudel zu stellen, aber Hector nahm es erstaunlich gelassen.

„Da bist du überrascht, was? Natürlich weiß ich was Georg von mir denkt, wir kennen uns praktisch schon seit dem Kindergarten. Aber trotzdem ist es mir bis jetzt noch nicht gelungen ihn von unserer Sache zu überzeugen.“ Nun beugte Hector sich wieder nach vorn und zwinkerte mir verschwörerisch zu.

„Und da, mein lieber Ricci, kommst du ins Spiel.“

Mein ratloser Gesichtsausdruck brachte Hector erneut zum Lachen, nur mir wurde die Sache immer unangenehmer. Ich wollte mich nicht hinter Georgs Rücken mit jemandem verschwören, das fühlte sich falsch an. Aber hatte ich denn eine Wahl? Hector tat zwar einen auf freundlich aber wer wusste schon wie er reagieren würde wenn ich eine Zusammenarbeit ablehnte. Er war stärker als ich, und er hatte das komplette Rudel hinter sich. Und ich? Ich hatte nur Georg. Den ich heute beinahe erfolgreich vergrault hätte. Ich lebte wirklich gefährlich.

„Wie denn?“ fragte ich und sah Hector dabei gespielt interessiert an. Ich würde erst einmal mitspielen, meiner eigenen Gesundheit zu liebe. Und dann weitersehen. Wahrscheinlich würde Georg mich sowieso sofort durchschauen, er wusste ja dass ich mich genau wie er selbst vom Rudel fernhalten wollte. Da würde er mir einen so plötzlichen Sinneswandel garantiert nicht abnehmen. Dieser Gedanke beruhigte mich etwas, und ich wurde ein bisschen entspannter. Hector konnte von mir nicht verlangen Georgs Einstellung zu ändern, zumal er es ja anscheinend selbst nicht geschafft hatte. Und er kannte ihn schon deutlich länger als ich.

„Georg wird da nicht auf mich hören, er scheint mir viel zu festgefahren. Auf dich hat er ja auch nicht gehört.“ versuchte ich also mein Glück. Vielleicht konnte ich Hector mit Vernunft kommen.

Aber der winkte nur ab, immer noch dieses kleine verschwörerische Lächeln auf den Lippen.

„Der Unterschied zwischen dir und mir, mein lieber Ricci, ist: er mag dich. Also wird er auf dich hören. Und das ist wichtig. Es untergräbt mein Ansehen als Anführer wenn einer von uns aus der Reihe tanzt. Georg hatte bis jetzt Narrenfreiheit weil wir eigentlich gut miteinander auskommen. Aber langsam wird er mir zu hochmütig, und damit muss Schluss sein.“ Hectors Stimme klang plötzlich ernst, er warf einen Blick über meine Schulter, dann erhob er sich plötzlich und warf mir noch einen letzten eindringlichen Blick zu.

„Es liegt an dir ob die Sache freundlich…oder unfreundlich geregelt werden muss.“

Und damit drehte Hector sich um und ließ mich mit meinen völlig verwirrten Gedanken allein zurück.

„Was wollte der denn?“

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag fuhr ich erschrocken hoch, aber diesmal behielt ich mein Stiftemäppchen in der Hand. Ich wandte mich um und schirmte mein Gesicht gegen die Sonne ab.

Georg.

Er sah dem davon schlendernden Hector mit einen verkniffenen Ausdruck im Gesicht hinterher. Ich rappelte mich auf und packte meine Sachen zusammen. Bloß weg hier, bevor noch einer kam und mich in irgendwelche Intrigen verstricken wollte. Für heute hatte ich genug. Ich schulterte meinen Rucksack und zuckte betont gleichgültig mit den Schultern.

„Nur bisschen reden, glaube ich. Er hat mir zu meinem Sieg gratuliert, das war alles. Gehen wir jetzt?“ ich wollte dringend das Thema wechseln, aber Georg schien nicht so recht überzeugt. Er starrte Hector noch einen Augenblick hinterher, dann wandte er sich zu mir um.

„Gratuliert, ja? Lass dich von ihm bloß nicht einlullen, das versucht er bei jedem. Aber so dumm wirst du ja nicht sein, hab ich Recht?“ Georgs Worte klangen mehr wie eine Drohung als ein gut gemeinter Rat. Hätte ich nicht so ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber gehabt wäre ich wahrscheinlich direkt wieder aus der Haut gefahren. So aber beließ ich es bei einem zustimmenden Grummeln und schwieg zu dem versteckten Vorwurf. Ich musste mir das jetzt alles erst einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen bevor ich mir weiteren Ärger einhandelte. Und vor allem musste ich Georg auf andere Gedanken bringen.

Ich hakte mich kurzerhand bei ihm unter und zog ihn mit mir Richtung Schultor.

„Hör jetzt auf darüber zu reden, okay? Ich dachte das Thema ist fürs erste abgehakt. Und ich will jetzt heim, ich bin am Verhungern. Nur wegen dir!“ versuchte ich Georg abzulenken, und zu meiner Freude ging er darauf ein. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann löste er seinen Arm aus meinem und legte ihn mir stattdessen auf die Schulter.n Er schien mir wirklich nicht mehr böse zu sein, und wenn mir Hectors letzter Satz nicht immer noch im Kopf herumspuken würde hätte ich richtig glücklich sein können. Stattdessen fraß mich das schlechte Gewissen auf.

Ich seufzte leise und lehnte meinen Kopf an Georgs Schulter. Der warf mir einen überraschten Blick zu und zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Alles okay?“

Ich nickte schnell und versuchte ein unverfängliches Lächeln.

„Alles okay, war nur ein komischer Tag. Gehen wir irgendwo eine Pizza essen? Ich hab wirklich riesigen Hunger, und die Hausaufgaben können doch noch warten. Mit Geschichte habe ich schon angefangen!“ plapperte ich, und Georg stöhnte theatralisch. Er zog seinen Arm zurück und schnippte mir gegen die Schulter.

„Du hast bloß keine Lust auf die Hausaufgaben, gib´s zu. Aber weil du so nett warst und auf mich gewartet hast gehen wir nicht nur Pizza essen, ich lade dich sogar ein. Ist das ein Deal?“ er grinste breit während ich mir die schmerzende Schulter rieb, dann knurrte ich ein gespielt beleidigtes: „Das ist ja wohl das mindeste.“Gemeinsam schlenderten wir Richtung Pizzeria, und es wurde ein richtig schöner Nachmittag. Bis auf die Tatsache dass mein schlechtes Gewissen auch weiterhin ständig präsent war. Ich konnte Georg nicht so hintergehen, aber ich hatte einfach keine andere Wahl.

Herzlose Krankenschwester

Ich zog mein Handy aus meiner Schultasche und öffnete die Frontkamera.

Nicht so schlimm wie befürchtet, aber ein blaues Auge war mir sicher. Was mir dagegen eindeutig mehr Sorgen machte war meine Hüfte. Vor den anderen hatte ich noch die Fassung bewahrt, aber jetzt verzog ich schmerzvoll das Gesicht und ließ mich vorsichtig neben meiner Tasche auf den Boden sinken. Gebrochen war sicher nichts, aber die Schmerzen waren schon heftig. Ich stöhnte leise und versuchte mich bequemer hinzusetzen.

Dieser Kampf war wirklich keine Glanzleistung von mir gewesen, und das obwohl mein Herausforderer gar kein so harter Brocken gewesen war. Aber ich hatte mich in Sicherheit gewiegt, und das war mir zum Verhängnis geworden.

Zwei Schläge ins Gesicht, zwei in die Rippen, und ein heftiger Tritt gegen die Hüfte. Das hatte ausgereicht um mich zu Boden zu schicken.

Meine Klamotten waren dreckig und an manchen Stellen sogar zerrissen, das lag aber eher daran dass wir den Kampf auf Schotter ausgetragen hatten als an den Angriffen meines Kontrahenten. Ich spürte wie mir Blut den Rücken hinunter lief und auch mein Arm fühlte sich verdächtig feucht an. Wenigsten hatte ich robuste Jeans und ein langärmliges Shirt getragen sonst sähe ich wahrscheinlich noch schlimmer aus.

Ich warf noch einen Blick auf mein Handy um die Uhrzeit zu checken, dann rappelte ich mich vorsichtig auf und schulterte meine Tasche. Meine Hüfte protestierte sofort mit bohrenden Schmerzen, aber ich biss die Zähne zusammen und setzte mich in Bewegung. Es war nicht weit bis nach Hause, das würde ich schon schaffen.

Ich war kaum hundert Meter weit gekommen da klingelte mein Handy. Auf dem Display blinkte Georgs Name, und ich nahm mit einem leisen Seufzen ab. Wenn der von meiner Niederlage erfuhr war sicher die Hölle los.

„Hey Georg.“

Wir plauderten eine Weile und ich versuchte dabei möglichst keinen verräterischen Laut von mir zu geben. Meine Hüfte schmerzte mit jedem Schritt heftiger, und ich wurde immer langsamer.

„Ist alles okay bei dir? Du keuchst so.“ fragte Georg misstrauisch. Ich zuckte ertappt zusammen und versuchte ruhiger zu atmen.

„Alles gut, ich hatte nur gerade…Sport.“ log ich, aber meine Stimme verriet mich. Und die Tatsache dass Georg meinen Stundenplan kannte.

„Du hattest als letzte Stunde Deutsch, also verarsch mich nicht.“ knurrte er verärgert, und dann fiel bei ihm offensichtlich der Groschen. Seine Stimme wurde um mehrere Stufen kühler als er weitersprach.

„Du hast dich geprügelt, hab ich Recht? Und das obwohl ich dich gewarnt habe!“

„Ja.“ gab ich zerknirscht zu. Leugnen brachte nichts, spätestens morgen in der Schule hätte Georg es sowieso herausgefunden. Mein blaues Auge würde mich verraten.

„Verloren?“ setzte er hinterher, und ich bejahte noch einmal kleinlaut. Georg stöhnte genervt, dann schwieg er kurz. Sammelte er sich für die nächste Standpauke? Mir wurde ganz elend.

Aber nein, seine Stimme klang erstaunlich gefasst als er weitersprach.

„Wo bist du? Ich komm dich abholen. Du klingst als wärst du ernsthaft verletzt, das will ich mir ansehen.“

Soviel Anteilnahme hätte ich gar nicht erwartet. Ich gab Georg meinen Standort durch und setzte mich dann an den Straßenrand um auf ihn zu warten. Er wohnte in der entgegengesetzten Richtung, aber mir fehlte einfach die Kraft um ihm entgegen zu laufen. Inzwischen dröhnte mir zu allem Überfluss auch noch der Schädel und ich spürte Übelkeit meine Kehle hinaufkriechen.

Mir ging es wirklich richtig dreckig.

Georg brauchte insgesamt fast vierzig Minuten bis er bei mir eintraf, und sein verkniffenes Gesicht machte all meine Hoffnungen auf ein bisschen Mitgefühl zunichte. Er griff sich meine Tasche und warf sie sich über die Schulter, dann reichte er mir die Hand und zog mich auf die Beine.

Ich stöhne hinter zusammen gebissenen Zähnen und Georg warf mir einen fragenden Blick zu.

„Hab mir die Hüfte verletzt.“ presste ich hervor, dann griff ich mir an die Seite und richtete mich langsam vollständig auf. Georg beobachtete mich genau, sagte aber nichts.

Obwohl ich mich bemühte mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen brauchten wir bis zu mir nach Hause fast doppelt so lang wie normalerweise.

Als wir den Hausflur betraten sandte ich ein Stoßgebet gen Himmel, dann dirigierte mich Georg die Treppe hinauf in mein Zimmer. Das war noch einmal eine Herausforderung, aber die Aussicht darauf endlich Sitzen zu können gab mir noch einmal neue Kraft.

Ich ließ mich mit einem erleichterten Seufzer auf meinen Schreibtischstuhl sinken und zuckte sofort vor Schmerz zusammen. Selbst sitzen tat weh! Ich versuchte die verletzte Seite meiner Hüfte ein wenig zu entlasten und hätte dabei fast das Gleichgewicht verloren. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt ich mich an der Tischplatte fest und brachte mich wieder in eine einigermaßen aufrechte Position. Zum Glück war Georg direkt im Bad verschwunden um Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel zu holen, das hier war wirklich ganz großes Drama.

Nach zwei zittrigen Atemzügen hatte ich mich endlich wieder so weit im Griff dass ich zumindest nicht mehr Gefahr lief vom Stuhl zu fallen, da ging auch schon meine Zimmertür auf und Georg kam herein. Er ließ mehrere Knäuel Verbände, sterile Tupfer, Klebeband und eine große Flasche Desinfektionsmittel auf meinen Schreibtisch fallen, dann ging er noch einmal zurück und holte eine Schüssel mit Wasser.

Ich fragte mich wirklich in welchen Untiefen unseres Badschrankes er das alles aufgetrieben hatte, aber ich hielt klugerweise den Mund und fragte nicht nach. Georg war eindeutig nicht zum Plaudern aufgelegt, das verriet mir schon die Art wie er sich kommentarlos und nicht gerade sanft meinen zerschundenen Arm griff und den zerrissenen Ärmel nach oben rollte. Er stieß einen halb wütenden, halb resignierten Seufzer aus, dann zupfte er den ersten Tupfer auseinander und tränkte ihn großzügig mit Desinfektionsflüssigkeit.

„Aua, pass doch auf!“ fluchte ich erschrocken und versuchte meinen Arm aus Georgs Griff zu befreien. Das tat gleich noch mehr weh und ich gab den Versuch direkt wieder auf.

Ohne mit der Wimper zu zucken zog Georg meinen malträtierten Arm wieder zu sich heran und setzte seine Behandlung mit der gleichen fehlenden Feinfühligkeit fort. Diesmal stöhnte ich nur innerlich.

Nachdem er jeden Kratzer einzeln gereinigt und versorgt hatte umwickelte Georg meinen kompletten Arm mit einem langen Verband, dann schien er kurz zu überlegen, und kam anscheinend zu einem Entschluss. Seine Miene blieb undurchdringlich.

„Zieh dein T-Shirt aus.“

„Was?! Warum denn?“ Ich löste den Blick von meinem bandagierten Arm und sah ihn verblüfft an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Er sollte sich um meinen Arm kümmern, nichts weiter. Den Rest würde ich schon allein versorgen können. Nahm ich an. Aber anscheinend hatte Georg keine Lust auf einen Streit mit mir, er zupfte ungeduldig an meiner Schulter und warf mir erneut einen missbilligenden Blick zu. Seine Stimme klang ungeduldig.

„Es ist kaputt, du kannst es eh gleich weg werfen. Und ich möchte mir deinen Rücken ansehen.“

Aha, das machte Sinn.

Ohne weitere Widerworte schlüpfte ich aus meinem Shirt und legte es mir über die Knie. Georg hatte Recht, es war wirklich kaputt. Und schmutzig. Und voller Blut. Sofort wurde mir noch ein bisschen schlechter.

„Georg, ich glaub ich muss mich hinlegen.“ stöhnte ich leise.

Hinter mir ertönte ein ärgerliches Zischen, dann spürte ich Georgs Hand auf meiner Schulter während er mir vorsichtig aufhalf.

„Kotz mir nicht auf die Schuhe!“ knurrte er warnend, und ich musste trotz der Schmerzen ein bisschen lachen. Und bereute es sofort wieder. Aua!

„Ich geb mir Mühe!“

Mit zusammengebissenen Zähnen ließ ich mich von Georg zu meinem Bett führen und legte mich bäuchlings darauf. Das tat noch viel mehr weh, aber immerhin konnte ich jetzt meinen schmerzenden und sich wie wild drehenden Kopf ablegen. Oh man, mir ging es so dreckig!

Ich spürte wie Georg neben mich trag und meinen Rücken inspizierte, dann seufzte er leise und resigniert und wischte mit einer erstaunlich sanften Bewegung die Haare zur Seite. Ich drehte den Kopf und versuchte ihn anzusehen.

„Ist es schlimm?“

Er schien kurz zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf.

„Nein, wenn es sich nicht entzündet nicht. Du hast Glück gehabt, Ricci.“

Ich grummelte leise und versuchte mich etwas gemütlicher hinzulegen. Meine Hüfte machte mir am meisten Sorgen, es fühlte sich an als wäre mindestens ein Knochen gebrochen, aber ich wagte nicht mich zu beschweren. Ich wollte nicht ins Krankenhaus, nicht wenn es sich vermeiden lies. Und ich glaubte auch kaum dass der andere genug Kraft angewendet hatte um mir ernsthaft etwas zu brechen. Wahrscheinlich war es nur eine weitere Prellung, wenn auch eine besonders schmerzhafte.

Georg hatte sich inzwischen den Kratzern auf meinem Rücken zugewandt und säuberte sie ebenfalls mit reichlich Desinfektionsmittel. Ich biss mir in den unverletzten Arm um meine Schmerzenslaute zu dämpfen. Ich wollte Georg durch meine Jammerei nicht noch weiter verärgern. Er beendete seine Arbeit, dann ging er wie selbstverständlich hinüber zu meinem Kleiderschrank und suchte mir ein sauberes T-shirt heraus welches er mir ohne Hinzugucken aufs Bett warf.

„Trag in nächster Zeit lieber ein paar dunkle Sachen falls etwas nachblutet. Dann sieht man die Flecken nicht sofort.“

Danach räumte Georg ohne ein weiteres Wort das Verbandszeug auf und verabschiedete sich mit einem halb verärgerten, halb besorgten Blick von mir.

Ich wurde aus ihm nicht schlau. Aber ich hatte auch keine Lust mir jetzt den Kopf über ihn oder irgendetwas anderes zu zerbrechen. Mir ging es hundsmiserabel, und ich wollte einfach nur schlafen. Ich griff nach den Aspirin die Georg mir genauso vorsorglich wie kommentarlos auf den Nachttisch gelegt hatte, und schluckte direkt zwei trocken hinunter. Vielleicht würden sie das Feuer in meiner Hüfte dämpfen.

Lang ausgestreckt und mit schmerzenden Gliedern schloss ich die Augen, und glitt hinüber in einen tiefen, aber ruhelosen Schlaf.

Lüg mich nicht an!

Zum Glück waren es nur noch drei Tage bis zum Wochenende, meine Mutter schrieb mir ohne mit der Wimper zu zucken eine entsprechende Entschuldigung, und so konnte ich die freie Zeit nutzen um mich zu erholen. Meine Wunden heilten, nur meine Hüfte protestierte weiterhin bei jeder unbedachten Bewegung, und ich gewöhnte mir eine gewisse Schonhaltung an. Aber es wurde besser, mit Schmerzmitteln war ich fast wieder der Alte. Meine Mutter beobachtete meine Genesung trotz alledem kritisch, ich wusste dass sie mich am liebsten sofort zu einem Arzt geschleift hätte und ich benötigte meine ganze Überzeugungskraft um sie von dieser Idee abzubringen. Ich wollte nicht zum Arzt, ich wollte die ganze Sache nur so schnell wie möglich vergessen.

Die Niederlage nagte dabei weniger an mir als die Tatsache dass ich Georg schon wieder verärgert hatte. Er war richtig sauer gewesen, und er hatte jeden meiner Versuche mit ihm Kontakt aufzunehmen und mich zu entschuldigen ignoriert. Ich wusste was zu tun war, nur leider war ich weiterhin an Haus und Bett gefesselt. Weiter als die Treppe hinunter und bis ins Wohnzimmer hatte ich es bis jetzt nicht geschafft ohne mich vor Schmerzen nach Luft japsend irgendwo festzuhalten, und zu Georgs Haus war es ein hoffnungslos langer Fußweg.

Aber am späten Sonntag Nachmittag nahm ich ihn dann doch auf mich, ich wollte Georg nicht ohne eine vorherige Aussprache in der Schule gegenüber treten, und so blieb mir nur die Möglichkeit die Zähne zusammen zu beißen und es in Angriff zu nehmen.

Meiner Mutter erzählte ich von einem kleinen Spaziergang um die Felder, als Rehamaßnahme sozusagen, und sie ließ mich mit einem resignierten Seufzer ziehen.

Es dauerte das dreifache der üblichen Zeit, und ein paar Mal war ich kurz davor aufzugeben und mich abholen zu lassen, aber der Gedanke an Georg und die Schmach der Abweisung am nächsten Tag trieben mich voran. Ich hatte mir klugerweise die doppelte Anzahl Schmerztabletten eingeworfen, und bis zur Hälfte des Weges hatten sie meine Schmerzen in ein erträglich dumpfes Pochen verwandelt. Erst als ich die wenigen Stufen zu Georgs Haustür erklomm wurden sie langsam wieder nervig. Hoffentlich würde ich nicht einfach zusammen brechen.

Ich war kurz davor.

Mein Finger landete auf der Klingel, dann konnte ich nur noch warten und beten.
 

„Was willst du?“ Georg lehnte sich gegen den Türrahmen, er sah immer noch sehr wütend aus. Ohje, anscheinend war er doch nachtragend. Oder ich hatte es diesmal wirklich übertrieben. Wahrscheinlich letzteres.

„Lässt du mich rein? Ich will mich entschuldigen.“

Georg verzog unwillig das Gesicht, dann trat er zur Seite und ließ mich eintreten. Es war ruhig und dunkel im Hausflur, außer uns schien niemand zu Hause zu sein. Na wunderbar, so konnte er mich ungehindert anschreien wenn ihm danach war. Ohne ein Wort bedeutete Georg mir ihm die Treppe hinauf in sein Zimmer zu folgen, und ich war froh dass er mich nicht gleich hier im Flur abfertigen wollte. So bestand wenigstens eine geringe Chance dass er bereit war mir zuzuhören, und mir danach hoffentlich zu verzeihen.

In seinem Zimmer angekommen ließ ich mich vorsichtig auf seinem Bett nieder, Georg nahm auf seinem Schreibtischstuhl Platz. Er musterte mich ernst, und ich senkte den Blick. Ich wollte ihn durch eine unbedachte Geste nicht noch wütender machen. Und ich war nervös! Georgs Freundschaft bedeutete mir viel, und ich hatte Angst sie mit meinem Handeln nun völlig kaputt gemacht zu haben. Ich wollte nicht dass er mich fallen ließ!

Georg schien meine Unsicherheit zu bemerken, er räusperte sich kurz und ergriff schließlich als erster das Wort.

„Wie geht es deinen Verletzungen?“ seine Stimme klang nicht wirklich interessiert, aber immerhin, er sprach mit mir. Das machte mir Hoffnung.

„Alles gut, sie verheilen, ich bin fast wie neu.“

Das…war die falsche Antwort. Georgs Gesicht verdunkelte sich, und jetzt war seine Stimme eindeutig wütend. Oh nein.

„Lüg mich nicht an!“ knurrte er, dann erhob er sich von seinem Stuhl und baute sich vor mir auf. Ich kauerte mich auf dem Bett zusammen und senkte den Kopf, ich wollte ihn nicht provozieren. Auch wenn mir diese unterwürfige Haltung ihm gegenüber sehr schwer fiel.

„Du humpelst beim Gehen, und du belastest deine Hüfte nicht richtig. Glaubst du das merke ich nicht? Warum lügst du mich an?“ Er klang wütend, aber auch enttäuscht. Und ich fühlte mich gleich noch viel viel schlechter. Ja, warum log ich ihn an?

„Ich möchte nicht dass du noch wütender auf mich wirst.“ gab ich kleinlaut zu, und wagte es zum ersten Mal ihn vorsichtig anzusehen. Georg hatte die Hände in die Hüfte gestemmt und sah auf mich herab, das Gesicht eine undurchdringliche Maske. Ohne Vorwarnung stürzte er plötzlich nach vorn, packte mich an den Handgelenken, und warf mich aufs Bett.

Ich keuchte vor Überraschung, und dann vor Schmerz. Verdammt, das tat weh! Ich wollte mich gerade beschweren, da fiel mein Blick auf seine gefletschten Zähne, und ich hielt den Mund. Wenn ich ihm jetzt Widerworte gab oder mich wehrte würden wir nie wieder friedlich zusammen kommen. Das war mir klar.

Also blieb ich regungslos liegen, hielt noch für einen Moment Blickkontakt, und senkte dann die Augen. Das war das Zeichen.

Georg verharrte noch einen Moment über mir, dann ließ er mein Handgelenke los und gab mich frei. Ich rutschte eilig ein Stück zur Seite, dann stöhnte ich erneut auf. Meine Hüfte brachte mich um!

Sofort erschien ein besorgter Ausdruck auf Georgs Gesicht, dann berührte er mich sanft an der Schulter.

„Hab ich dir weh getan?“

„Nei…ein bisschen.“ Ich warf ihm ein schiefes Grinsen zu, und er lachte. Endlich!

Seine Hand glitt von meiner Schulter, und ich rückte vorsichtig näher, lehnte mich seufzend an ihn. Georg legte einen Arm um mich. Er war mir nicht mehr böse, und das war das einzige was für mich zählte.

Auch wenn er mich unterworfen hatte.

Wir saßen eine ganze Weile schweigend so da, hingen beide unseren Gedanken nach, bis Georg schließlich von mir abrückte und aufstand. Er streckte sich, dann lächelte er mich an.

„Nimmst du dich jetzt ein bisschen zusammen? Oder muss ich nochmal sauer werden?“ seine Worte waren keine ernsthafte Drohung, also machte ich ein gespielt betroffenes Gesicht und meinte bedauernd: „Heißt das ich darf keine anderen Kerle mehr aufs Bett werfen und ihnen…die Zähne zeigen?“

Georg lachte erneut, dann schüttelte er den Kopf.

„Was du IM Bett treibst ist mir egal, aber ja, hör bitte auf dich weiter sinnlos herumzuprügeln.“ Er wurde wieder ernst.

„Du bist noch recht jung, zumindest was die Wolfsache angeht. Ich möchte nicht dass du dich übernimmst. Irgendwann kann ich dich vielleicht nicht mehr zusammen flicken.“ Er warf mir einen eindringlichen Blick zu, und ich nickte ergeben. Er hatte ja Recht. Bis jetzt hatte ich mich nicht gerade vernünftig verhalten, aber das wollte ich ändern! Wenn schon nicht mir, dann wenigstens ihm zuliebe. Bevor ich aufgetaucht war war Georg ziemlich erfolgreich unter dem Radar der anderen Wölfe geflogen, er war zwar unwillig, aber nie aufmüpfig gewesen. Erst durch mich waren sie auf ihn aufmerksam geworden, dank meiner wenig glorreichen Aktion an meinem ersten Schultag.

„Am Freitag ist übrigens die nächste große Versammlung. Ich hatte eigentlich nicht vor hinzugehen, aber ich werde wohl müssen. Und für dich ist es vielleicht nicht ganz schlecht wenn jemand dabei ist der sich nicht hoffnungslos belabern lässt.“

Lass dich nicht beeindrucken!

Die anderen hatten sich bereits alle einen Platz gesucht und hockten wild verstreut auf dem Boden herum. Ich sah mich suchend um, dann entdeckte ich Georg der mir mit einem kleinen Nicken zu verstehen gab dass ich mich zu ihm setzen sollte. Ich zog für einen Moment in Erwägung diese Einladung abzulehnen, ein winzig kleines Aufbäumen meines Egos, aber ein Blick in die Gesichter der anwesenden Rudelmitglieder brachte mich dann doch dazu mich neben meinen besten Freund zu setzen.

Noch bevor ich den Boden mit meinem Hintern berührte packte er mich am Unterarm und zog mich näher zu sich heran. Unsere Schultern berührten sich als ich mich neben ihn setzte, und ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Aber Georg starrte nur stur gerade aus, seine Hand wanderte von meinem Arm auf meinen Oberschenkel, und jetzt beugte er sich langsam zu mir herüber und flüsterte mir leise ins Ohr: „Die anderen beobachten dich. Jeder von denen denkt gerade darüber nach ob er es schaffen würde dich zu unterwerfen. Verhalt dich möglichst unauffällig. Egal was gleich noch passieren wird.“ er lehnte sich wieder zurück, aber jetzt war ich es der ihm mit seinem Körper folgte. Ich runzelte die Stirn und fragte ebenso leise zurück: „Was wird denn gleich passieren?“

„Sch!“ Georgs Griff an meinem Oberschenkel verstärkte sich, und ich schloss beleidigt den Mund. Warum machte er erst solche Andeutungen wenn er mir danach sowieso nicht erklären wollte worum es ging? Ich verschränkte die Arme vor der Brust und rutschte ein Stück weiter nach hinten um mich gegen die Wand in meinem Rücken lehnen zu können. Georg folgte mir nicht, aber er nahm seine Hand von meinem Bein.

Ich spürte die Blicke der anderen Wölfe auf mir und begann mich immer unwohler zu fühlen. Wo blieb Hector denn nur? Mit jeder Sekunde die verging wurde die Spannung im Raum greifbarer, ich hörte leises Getuschel und verhaltenes Gelächter, und ich wusste genau um wen es dabei ging. Wäre ich nur neben Georg sitzen geblieben, jetzt fehlte mir seine beruhigende Nähe. Aber die Blöße geben und mich wieder zu ihm nach vorn bewegen wollte ich auch nicht. Also blieb ich an die Wand gelehnt sitzen und versuchte mich hinter dem Vorhang meiner langen Haare zu verstecken. Solange ich niemandem in die Augen sah oder ihm versehentlich die Zähne zeigte würde schon alles gut gehen. Georg schien meine Unsicherheit nun doch zu bemerken, er kam zu mir nach hinten und knurrte leise.

„Unauffällig heißt nicht unterwürfig. Die machen Hackfleisch aus dir wenn du so offensichtlich Schwäche zeigst.“

Ich schluckte schwer und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Hier konnte man aber auch gar nichts richtig machen. Ich griff hilfesuchend nach Georgs Hand die zwischen uns auf dem Boden lag, und er verschränkte unauffällig seine Finger mit meinen. Auf seinem Gesicht erschien ein kleines Lächeln.

„Konzentrier dich einfach auf Hector, dann passiert dir nichts. Aber hör möglichst nicht auf das was er sagt, da kommt eh nur Bullshit raus.“ Ich blickte ihn überrascht an, aber in diesem Moment ging am anderen Ende des Raumes eine Tür auf, und unser Anführer gab sich endlich die Ehre.  Ich atmete erleichtert aus und entspannte mich etwas. Jetzt war ich nicht mehr die interessanteste Person im Raum.

Hector wartete bis sich die allgemeine Unruhe gelegt hatte, dann schenkte er uns allen ein gewinnendes Lächeln und nahm an einem kleinen Schreibtisch Platz, die Beine lässig von sich gestreckt. Ich sagte es nicht gern, aber der Kerl hatte Charisma. Es war wirklich kein Wunder dass er sich so erfolgreich als Rudelführer hielt. Und so lange sich Georg erinnern konnte hatte es auch noch keiner ernsthaft versucht ihm diesen Titel streitig zu machen.

Ich ließ meinen Blick unauffällig über die anwesenden Rudelmitglieder wandern, da waren schon einige dabei denen ich es zumindest körperlich zugetraut hätte mit Hector fertig zu werden. Aber ihnen fehlte einfach diese…Präsenz, die unseren Anführer umgab. Er wirkte gleichzeitig sympathisch und furchteinflößend, und man war sich nie sicher ob er einen freundlich umarmen oder gleich in Stücke reißen wollte. Ich hatte jedenfalls keine Lust ihm in nächster Zeit noch einmal frech zu kommen.

Die Themen die Hector anschnitt interessierten mich kaum bis gar nicht, ich kannte keinen einzigen der Leute um die es ging, und dank Georg war ich bis jetzt ja nur mit recht oberflächlichen und dazu noch dem Rudel gegenüber negativen Informationen gefüttert worden. Das was Hector erzählte hörte sich dagegen viel...positiver an. Und kein bisschen nach hormongesteuerten Vollidioten die sich alle naselang die Köpfe einschlugen.

Georg schien meine Verwirrtheit zu bemerken, er beugte sich unauffällig zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr.

„Lass dich nicht beeindrucken, das hört sich nur beim ersten Mal so großartig an. Je öfter du das hörst desto primitiver wird es.“

Na da war aber einer unvoreingenommen.

Nach der Versammlung strömten alle nach draußen, Georg und ich waren unter den letzten die die große Halle verließen, niemand beachtete uns weiter, und dafür war ich wirklich dankbar. Mein Kopf schwirrte, und das nicht nur von den vielen neuen Informationen die da auf mich eingeprasselt waren.

„Hey, Georg! Ricci! Kommt mal her!“

Ich zuckte erschrocken zusammen als ich meinen Namen hörte. Georg packte mich am Arm, die Geste war eine stumme Warnung. Aber wovor?

Vor Hector?

Der war nämlich derjenige der uns gerufen hatte.

Es dauerte eine Weile bis ich ihn entdeckt hatte, der Platz vor der Halle war zwar groß, aber immer noch voller Menschen. Und den meisten reichte ich kaum bis unters Kinn.

„Da drüben. Komm.“ Georgs Stimme klang gepresst, aber gefasst. Er war ganz offensichtlich überhaupt nicht begeistert davon dass unser Anführer Interesse an uns zeigte. Konnte ich verstehen. Ich fand das auch nicht gut.

Hector stand etwas abseits, er hatte ein Lächeln aufgesetzt, aber mir war trotzdem etwas mulmig zu Mute. Ich konnte nämlich seine Zähne sehen. Auch wenn diese Geste wohl nicht uns galt. Sie hielt ihm die anderen Wölfe vom Leib.

Erst als Georg und ich bis auf wenige Schritte an ihn heran gekommen waren fiel mir das Mädchen auf das neben unserem Rudelchef stand. Sie war einen halben Kopf kleiner als Hector und mochte auch ein bisschen jünger sein als er, aber ihr Aussehen und die Ähnlichkeiten ließen keine Zweifel. Die Unbekannte musste eine Verwandte sein, vielleicht eine Cousine, oder aber...
 

„Das ist Mariam, meine Schwester.“ stellte Hector uns vor. Das Mädchen mit dem kecken Lächeln schüttelte mir kräftig die Hand, dann begrüßte sie Georg. Die beiden kannten sich anscheinend schon, für ihn gab es statt des Händedrucks nämlich eine Umarmung.

„Hi, freut mich mal wieder hier zu sein. Hat sich ja nicht viel geändert.“ sie zwinkerte ihrem Bruder zu, dann strich sie sich das lange Haar von der Schulter und strahlte mich an.

„Man lernt selten neue Wölfe kennen, und wenn dann sind sie meistens alt und eigenbrötlerisch. Nicht so hübsch wie du.“

Ich wurde sofort knallrot und senkte den Blick. Mariam lachte, neben mir hörte ich Georg verächtlich schnauben.

„Mari, bring ihn nicht in Verlegenheit.“ Hector trag neben seine Schwester und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Er klang belustigt, aber die Autorität in seiner Stimme entging keinem von uns. Auch seiner Schwester nicht. Sie seufzte ergeben, dann kehrte das Lächeln auf ihre Lippen zurück.

„Das wollte ich nicht, sorry. Auf gute Freundschaft, ja?“ Ich hob den Blick, und erwiderte das Lächeln. Verdammt, sah sie gut aus!

 

„Du brauchst Mariam gar keine schönen Augen machen. Hector hat da seine Hand drüber. Auch wenn sie nicht mehr zum Rudel gehört.“ Georgs Stimme klang verärgert, und ich warf ihm einen betroffenen Blick zu. Voll ins Schwarze. Natürlich hatte sie mir gefallen, sie war hübsch, lustig, und sie fand mich ebenfalls zumindest nicht schlecht. Das machte doch Hoffnung! Und ich war schließlich auch nur ein Mann, ich hatte Interesse daran eine Frauen kennen zu lernen, und bis jetzt hatte sich da noch nicht wirklich viel ergeben. Außer Georg hatte ich in der Schule und im Rudel keine Freunde, und wenn man ehrlich war, der war nicht gerade ein Frauenmagnet.

„Ich hab ihr keine schönen Augen gemacht.“ murrte ich als Antwort, und Georg schnaubte erneut verächtlich. Seit diesem kleinen Vorfall in seinem Zimmer benahm er sich mir gegenüber immer öfter sehr überheblich, und das gefiel mir gar nicht. Es war natürlich sein Recht, aber es ärgerte mich trotzdem höllisch.

„Georg, hör auf damit. Ich will nichts von ihr, okay? Es war peinlich, und ich hab ihr nur die Hand gegeben!“ versuchte ich es erneut, aber Georg schien das Thema nicht weiter vertiefen zu wollen. Er biss die Zähne zusammen und zischte nur: „In zwei Wochen ist sie wieder weg, mach dir also keine Hoffnungen.“

Ich beließ es dabei, auch wenn es in mir brodelte. Georg war übergriffig, es ging ihn überhaupt nichts an mit wem ich meine Zeit verbringen wollte, und wenn Hector nicht gewesen wäre…schweigend setzten wir unseren Heimweg fort, ich frustriert, Georg aus irgendeinem Grund verärgert, und erst als sich unsere Wege trennten ergriff er wieder das Wort: „Halt dich einfach von ihr fern, sie macht nur Probleme, glaub mir.“ Er drehte sich um und winkte mir zum Abschied. „Wir sehen uns!“

Ich erwiderte das Winken, sagte aber nichts. Sonst wäre mir vielleicht doch noch etwas unüberlegtes herausgerutscht.

"Schau mal, es gibt einen Werwolffilm!"

„Hey Ricci, hättest du eine Minute?“ Mariam stand plötzlich hinter mir. Ich war so in Gedanken gewesen dass ich sie nicht hatte kommen hören, und jetzt fuhr ich mit einem äußerst unmännlichen Quieken herum. Und wurde sofort feuerrot. Schon wieder so ein peinlicher Auftritt.

Mariam hielt sich eine Hand vor den Mund und lachte.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.  Ich wollte dich eigentlich nur etwas fragen.“

Ich stopfte schnell den Rest meiner Unterlagen in meinen Rucksack und versuchte tief durchzuatmen. Zum Glück konnten Georg und Hector mich jetzt nicht sehen. Ersterer hätte mich wohl ausgelacht, letzterer eher umgebracht.

Meine Wangen glühten immer noch als ich endlich alles verstaut hatte, aber ich fühlte mich wenigstens wieder dazu in der Lage mich wie ein normaler Mensch zu verhalten. Zumindest so lange wie ich Mariam nicht ins Gesicht sehen musste.

Die schien auf eine Reaktion von mir zu warten, sie wippte auf den Zehenspitzen vor und zurück und hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Ihre langen blonden Haare fielen ihr offen über die Schultern, ihre grauen Augen blickten mich erwartungsvoll an.

„Ähm, ja, kein Ding. Frag ruhig.“

Was für eine Glanzleistung. Das Blut schoss mir direkt wieder ins Gesicht und meine Stimme schwankte vor Nervosität. Aber Mariam schien meine Unsicherheit entweder nicht zu bemerken, oder es war ihr egal. Sie lächelte mich so offen an das mir ganz schwindelig wurde.

„Du bist echt niedlich. Ich wollte dich fragen ob wir mal einen Kaffee zusammen trinken gehen wollen? Oder ins Kino? Ich war schon ewig nicht mehr mit einem hübschen Jungen im Kino, also bitte sag ja!“

Ich wand mich. Einerseits vor Verlegenheit, andererseits...

„Aber Georg hat gesagt...“

Mariam blies die Wangen auf und guckte mich empört an.

„Ist er deine Anstandsdame oder was? Ich hab DICH gefragt, und nicht unseren Mister Unberührbar. Also?“

Ohje, hatte ich es mir jetzt bei ihr verscherzt? Ich ruderte schnell zurück.

„Nein, ist er nicht, ich meine, wegen Hector...“ stammelte ich ein bisschen unglücklich, und sofort hellte Mariams Miene sich wieder auf.

„Achso! Ach, meinem Bruder ist egal mit wem ich mich treffe! Er plustert sich zwar gerne auf, aber ich gehöre nicht mehr zum Rudel, also kann ich machen was ich will.“

Sie zwinkerte mir zu.

„Was ich auch vorher schon gemacht habe, aber pssst!“
 


 

„Wartest du schon lange?“ Mariam strahlte mich an als ich mich zu ihr umwandte, und ich erwiderte ihr Lächeln genauso glücklich. Sie war wirklich gekommen! Ich gab es nicht gern zu, aber ich hatte nicht wirklich damit gerechnet. Nicht weil ich sie für einen unzuverlässigen oder gemeinen Menschen hielt, sondern wegen Hector. Egal was Mariam gesagt hatte, wenn ich Georg glauben durfte war der nicht so begeistert davon wenn seine Schwester sich mit jemandem aus dem Rudel einlies, und er besaß theoretisch die Autorität um genau das zu unterbinden.

Andererseits, Mariam gehörte wirklich nicht zu unserem Rudel, und damit war Hector auch nicht ihr Rudelchef. Und wenn sie nur normale Geschwister waren…konnte er ihr schlecht etwas verbieten.

Meine Gedankengängen wurden je unterbrochen als Mariam sich wie völlig selbstverständlich bei mir unterhakte und mich in Richtung Kino zog. Ich stolperte neben ihr her und versuchte so gut es ging Haltung zu bewahren.

Meine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht tendierten peinlicherweise ziemlich gegen Null, und Mariams forsche Art verunsicherte mich noch zusätzlich. Ich hätte Georg gern ein bisschen über sie ausgefragt, aber sein Ausbruch direkt nach unserer ersten Begegnung hatte mich dazu gebracht lieber den Mund zu halten. Ganz offensichtlich konnte er sie nicht leiden, und ich wollte ihn nicht noch weiter verärgern in dem ich ihn über sie ausquetschte.

Mariam dagegen schien überhaupt keine Berührungsängste zu haben und so wie sie aussah war das hier auch garantiert nicht ihr erstes Date. Warum sie keinen festen Freund hatte war mir ein Rätsel.

„Was wollen wir sehen? Schau mal, es gibt einen Werwolffilm!“ Mariam deutete kichernd auf ein Plakat über dem Verkaufstresen. Ich folgte ihrem Blick und runzelte die Stirn. Das Bild zeigte ein geiferndes blutverschmiertes Wesen halb Mensch, halb Wolf welches den Mond anheulte. Seine klauenbewerten Füße standen auf einem Berg aus milchigweißen Menschenknochen, sein Körper trug noch die letzten Fetzen menschlicher Kleidung.

Widerlich.

„So sehe ich aber nicht aus.“ Knurrte ich missmutig, und Mariam stieß mir lachend in die Seite.

„Das hab ich ja auch gar nicht behauptet. Aber stell dir mal vor ihr würdet euch jeden Vollmond zusammen rotten und gemeinsam den Mond anheulen. Ich finde das lustig!“ sie grinste mich breit an, und ich musste ebenfalls grinsen. Ihr Lachen war einfach ansteckend.

„Also keinen Film über deine Verwandtschaft…wie wäre es stattdessen hiermit?“

Wir entschieden uns schlussendlich für eine seichte Komödie und amüsierten uns beide prächtig. Der Film ging bis kurz nach neun Uhr, es blieb also noch Zeit genug um etwas essen zu gehen. Mariam schlug ein etwas abgefahrenes Sushi-Restaurant nur ein paar Straßen weiter vor, und da ich noch keine Gelegenheit gehabt hatte die Stadt genauer zu erkunden überließ ich ihr die Entscheidung.

Dafür dass das hier nur eine Kleinstadt war war noch erstaunlich viel los auf den Straßen, Mariam erklärte mir auf meine überraschte Beobachtung hin dass sich die Jugend der umliegenden Dörfer vor allem am Wochenende gerne hier sammelte. Die nächstgrößere Stadt war über eine Dreiviertelstunde Autofahrt entfernt, und die wenigsten hier hatten ein Auto.

Also blieb ihnen nur dieses kleine Kaff.

Ich blickte mich verstohlen um ob ich ein paar bekannte Gesichter entdeckte, aber zu meiner Erleichterung kannte ich keinen der Nachtschwärmer. Ich wusste nicht ob Mariam ihrem Bruder gesagt hatte was und vor allem mit wem sie heute Abend etwas vorhatte, aber ich wollte nicht riskieren dass uns irgendjemand bei ihm verpetzte.

„Suchst du jemanden?“ Mariam musste meine umherschweifenden Blicke bemerkt haben und ich zuckte ertappt zusammen.

Dann schüttelte ich den Kopf.

„Nein, alles gut. Ich gucke nur so.“

Ich war ein schlechter Lügner.

„Mach dir keine Sorgen wegen Hector, ich habe ihm gesagt dass wir uns treffen.“ Mariam lächelte mir beruhigend zu. „Er war zwar nicht begeistert, aber er weiß dass er mir nichts verbieten kann. Und dir wird er auch nichts tun, dann bekommt er nämlich Ärger mit mir!“ sie zeigte mir grinsend die Zähne, und ich zuckte erschrocken zurück. Mariam lachte, dann hakte sie sich wieder bei mir unter und seufzte.

„Ich vergesse immer wieder wie sehr ihr auf solche Gesten anspringt, sorry. Seit ich nicht mehr im Dorf lebe muss ich auf sowas nicht mehr achten, und bei den wenigen Besuchen hier treffe ich außer auf Hector und meinen Vater kaum auf andere Wölfe. Du bist der erste. Naja, und Georg natürlich.“ Bei der Erwähnung von letzterem verzog Mariam unwillig das Gesicht, und ich nutzte den sich bietenden Augenblick um direkt nachzuhaken.

„Was hast du denn gegen Georg?“

Mariam schien genau zu überlegen was sie antworten sollte, sie hatte ja gesehen dass wir ganz offensichtlich befreundet waren und wollte jetzt wohl nichts falsches sagen.

Sie zuckte die Schultern und hielt sich wage.

„Ich hab nichts gegen ihn, zumindest nicht direkt. Er mag meinen Bruder nicht und ist ihm gegenüber ziemlich respektlos. Das gefällt mir nicht. Es geht mich zwar nichts an, aber er sorgt für Unruhe im Rudel. Und das macht Hector Kopfschmerzen. Für mich ist Georg einfach ein Störenfried der meinem Bruder das Leben schwer macht, nichts weiter.“

Egal wie uninteressiert Mariam sich gab, ich konnte die Abneigung in ihrer Stimme deutlich heraus hören. Ich bereute es überhaupt nachgefragt zu haben, aber jetzt war es zu spät. Am liebsten hätte ich mir für meine Neugier in den Hintern gebissen.

Also ruderte ich zurück.

„Ich mag Georg, aber du hast schon recht. Er könnte manchmal wirklich etwas höflicher sein. Vor allem zu Hector.“ Vielleicht würde sie das Thema fallen lassen wenn ich ihr zustimmte. Ich wollte die Stimmung nicht verderben, und zu meinem Glück ging Mariam auf meine Ablenkungstaktik ein. Sie lächelte mich freundlich an und zwinkerte mir zu.

„Hector kommt schon klar, keine Sorge. Und jetzt gehen wir Sushi essen!“

Der Rest des Abends verlief deutlich entspannter als vorher, wir aßen, lachten, und vermieden das Thema Wolfsrudel so gut es eben ging. Da wir den letzten Bus zurück in unser Heimatdorf längst verpasst hatten musste ich meine Mutter anrufen damit sie uns abholen kam, aber in weiser Voraussicht hatte ich ihr bereits angekündigt dass so etwas passieren konnte.

Sie fuhr erst Mariam nach Hause, dann bog sie wenig später auf unsere Einfahrt ein.

„Kein Küsschen zum Abschied?“ neckte sie mich beim Aussteigen und ich warf ihr einen bitterbösen Blick zu.

„Das war erst unser erstes Treffen, jetzt übertreib mal nicht. Und außerdem will ich nichts überstürzen, okay?“ knurrte ich missmutig was meine Mutter mit einem Lachen quittierte. Sie schloss zu mir auf und öffnete die Haustür, dann warf sie den Schlüsselbund in die kleine Schale neben dem Telefon und räusperte sich.

„Übrigens, dein Freund aus der Schule hat hier angerufen weil du nicht ans Handy gegangen bist, dieser Georg. Ich habe ihm gesagt dass du ein Date hast und ihn danach sicher zurückrufen wirst. War das okay?“

Ich blieb mitten im Flur stehen und spürte wie es mich abwechselnd heiß und kalt durchfuhr. Georg wusste es.

Und er war nicht dumm. Er würde eins und eins zusammenzählen und sofort wissen mit wem ich ausgegangen war. Ich drehte mich langsam zu meiner Mutter um und versuchte betont gleichgültig zu klingen, aber innerlich zitterte ich vor Aufregung.

„Hat er gesagt was er wollte?“

Meine Mutter zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.

„Nein, nur dass er versucht hat dich zu erreichen und du nicht ans Handy gehen würdest.“ Sie sah mich prüfend an.

„Hab ich was falsches gesagt?“

„Nein nein, alles gut! Ich werde ihm einfach eine Nachricht schreiben, er schläft ja sicher schon längst. Gute Nacht, und danke fürs Heimfahren!“ ich trat geschwind den Rückzug an. Tatsächlich zeigte mein Handy drei verpasste Anrufe und zwei Nachrichten, anscheinend alle von vor Georgs Kontrollanruf bei meiner Mutter. Sollte ich ihm antworten?

Nein, wahrscheinlich wäre es besser das am Montag persönlich zu klären. Mit diesem Gedanken zog ich mich um und machte mich bettfertig, und als ich zurück in mein Zimmer kam blinkte mein Handy erneut. Für einen Moment wurde mir flau im Magen, dann erkannte ich Mariams Namen auf dem Display und lächelte erleichtert.

Ich löschte das Licht und kroch mit dem Handy in der Hand unter die Bettdecke, dann erst öffnete ich die Nachricht.

„Ich hoffe ihr seid gut nach Hause gekommen! Kino und Sushi war toll, vor allem mit dir! Ich hoffe wir wiederholen das! Küsschen! Mariam“

Mein Grinsten wurde noch eine Spur breiter, dann tippte ich schnell eine zustimmende Antwort und schob das Handy unter mein Kopfkissen. Alles in allem war der Tag doch super gelaufen. Die Sache mit Georg würde ich am Montag klären, und bis dahin würde ich mir einfach keine Gedanken darüber machen. Ich war glücklich, und das wollte ich mir auf keinen Fall verderben lassen!

 

Kein Rebell, ein Mitläufer

Keine Ahnung warum ich geglaubt hatte dass Georg das mit Mariam und mir nicht herausfinden würde. Es war mir gar nicht so bewusst gewesen was für einen großen Teil er bereits in meinem Leben einnahm, und das nicht nur weil er der einzige war der mir innerhalb des Rudels noch einigermaßen normal vorkam.

Er schirmte mich systematisch vor unseren Artgenossen hab, allein seine Anwesenheit reichte meistens schon aus um die anderen auf Abstand zu halten. Und natürlich war es auch kein Geheimnis dass er und Hector sich nicht besonders grün waren. Im Zweifelsfall immer für den Ranghöheren, und wer das war darüber musste man nicht lange nachdenken.

Nur ich, ich hielt weiter zu Georg.

Oder ich versuchte es zumindest. Ich wusste dass er mich mochte, oder dass er mich zumindest mögen wollte, denn seine Abneigung gegenüber den anderen Wölfen machte leider auch vor mir nicht Halt. Egal wie gern wir uns das schön geredet hätten, ich war einer von ihnen. Und ich war beeinflussbar. Bleckte einer die Zähne war ich der erste der den Schwanz einkniff.

Bildlich gesprochen.

Ich war kein Rebell, ich war ein Mitläufer.

Und das ging Georg gehörig auf die Nerven.
 

Es war einer der wenigen Nachmittage an denen ich nicht mit Georg irgendwo herumhing oder er versuchte mir Mathe und Geschichte mit seiner ungewöhnlichen Engelsgeduld was Schulstoff anging näher zu bringen.

Und es war der letzte Tag an dem ich mich mit Mariam treffen konnte bevor sie wieder zu ihrer Mutter in die Stadt fuhr. Für ein weiteres Date hatte es keine Gelegenheit mehr gegeben, aber ich fühlte mich trotz alledem unglaublich optimistisch was diese...ganze Sache anging. Ich nannte es noch nicht Beziehung, aber es lief eindeutig darauf hinaus.

Verdammt, ich war glücklich!

Zum ersten Mal seit diesem dämlichen Umzug.
 

Wir hatten uns im Wald hinter der Schule verabredet, nicht direkt vor dem Gebäude, aber immer noch fast in Sichtweite. Ich war nervös, und aufgeregt, und ich hatte mir fest vorgenommen sie um einen Kuss zu bitten. Oder sie einfach zu küssen. Ich WÜRDE sie küssen! Was war ich denn? Ein Mann (ein Wolf?) oder eine Maus?!

Aber so weit kam es gar nicht erst.

Auf der kleinen Lichtung die wir uns als Treffpunkt ausgemacht hatten wartete nicht nur Mariam auf mich, sondern auch ihr Bruder.

Und...Georg.

Sie entdeckten mich alle drei im gleichen Moment, aber noch bevor auch nur ein einziger von ihnen das Wort an mich richten konnte stürmte mein bester Freund bereits direkt auf mich zu.

Und er sah alles andere als glücklich aus.
 

„Du bist ein mieser Verräter!“ Georgs Stimme war vor Wut verzerrt, er hatte die Hände zu Fäusten geballt und zitterte am ganzen Körper. Es kostete ihn all seine Beherrschung sich nicht einfach auf mich zu stürzen und die Sache so zu regeln.

Noch nie hatte ich ihn so wütend gesehen. Und dabei war ich mir nicht einmal einer Schuld bewusst. Ich hatte Mariam nur gedatet, nichts weiter. Wenn mir hier einer hätte den Kopf abreißen dürfen, dann Hector.

Aber der stand nur schweigend hinter mir und beobachtete den aufgebrachten Georg. Ihn schien die Sache zwischen seiner Schwester und mir völlig kalt zu lassen. Zumindest äußerlich. Vielleicht würde er mir später noch die Leviten lesen. Aber jetzt war erst einmal Georg das größere Problem. Der starrte mich immer noch wutentbrannt an, und es kostete mich eine Menge Überwindung es ihm nicht gleich zu tun. Ich wollte mich nicht mit ihm prügeln, aber alles in mir schrie danach.

Er hatte einfach kein Recht so sauer auf mich zu sein, Mariam war freiwillig mit mir ausgegangen, ich hatte sie nicht einmal darum gebeten, und jetzt machte er mir hier so eine Szene und forderte mich heraus! Vor ihr und Hector! Wie konnte ich da klein beigeben?

Meine angeborenen Instinkte übernahmen schließlich die Entscheidung für mich. Ich hob den Blick, fixierte Georg, und bleckte die Zähne. Er schrie vor Wut auf, dann stürzte er sich auf mich zu und riss mich zu Boden. Wir waren beide etwa gleich schwer, Georg war etwas größer als ich, aber ich war eindeutig besser in Form. Ineinander verkeilt rollten wir über den Boden, ich landete einen hübschen Treffer auf Georgs Nase der seiner Brille nicht gerade gut bekam, er erwischte mich an der Schläfe. Trotz allem bekam keiner von uns die Oberhand.

Ich hörte Mariam kreischen Hector solle uns trennen, aber der ging natürlich nicht dazwischen. Das mussten wir unter uns klären, egal wie blutig es am Ende ausging.

Mir dröhnte der Schädel von Georgs Schlägen, auch ohne Brille traf er erstaunlich zielsicher während mir langsam die Puste ausging. Meine Hüfte schmerzte wieder, und es machte sich bemerkbar dass mein letzter Kampf noch nicht allzu lange zurück lag. Ich war unterlegen.

Ich warf das Handtuch.

„Georg, bitte, hör auf…!“ keuchte ich zwischen zwei Schlägen, und Georg ließ sofort von mir ab. Er blieb zu meinen Füßen hocken, und ich stützte mich vorsichtig auf die Ellenbogen. Blut tropfte von meine Schläfe und von meiner Lippe, mir war schwindelig, und ich hatte das Gefühl meine Hüfte wäre in tausend glühende Scherben zersprungen.

Georg sah nicht besser aus. Er blutete aus Nase und Mund, seine Brille lag irgendwo zerbrochen im Dreck, und sein Shirt hatte mehrere unschöne Löcher. Und er sah überhaupt nicht glücklich aus. Jedenfalls nicht wie ein Gewinner.

Ich hörte Mariam hinter mir rufen, aber ich reagierte nicht. Hector schien ihr irgendetwas zuzuflüstern, sie protestierte, aber kurz darauf wandte sie sich ab und ließ uns drei allein.

Er half zuerst Georg auf die Beine, dann wollte er mir die Hand reichen, aber ich winkte mit verkniffenem Gesicht ab. Ich glaube ich konnte nicht aufstehen. Meine Hüfte schmerzte höllisch, selbst atmen war eine Qual. Ich würde unmöglich laufen können.

Georg war neben Hector aufgetaucht und warf mir einen ehrlich besorgten Blick zu. Das Blut hatte er sich inzwischen grob aus dem Gesicht gewischt, aber er sah immer noch erbärmlich aus. Naja, wahrscheinlich nicht halb so erbärmlich wie ich.

Er ging neben mir in die Knie und legte mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Ich wagte es nicht ihn anzusehen, außerdem kamen mir gerade die Tränen. Vor Wut, vor Schmerz, und vor Erniedrigung. Ich hatte versagt, und das auf ganzer Linie.

Georg schien mein Dilemma zu bemerken. Er rutschte noch etwas näher, dann legte er sanft die Arme um mich und zog mich in eine Umarmung. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter und weinte. Und selbst das tat weh.

Hector beobachtete uns eine Weile schweigend, dann ergriff er das Wort: „Braucht ihr einen Krankenwagen?“ die Frage war berechtigt, aber Georg schüttelte nach kurzer Überlegung den Kopf.

„Nein, ich glaube nicht. Und wenn doch kann ich einen rufen. Trotzdem danke.“

Hector erwiderte nichts, aber anscheinend verabschiedete er sich stumm von Georg, denn kurz darauf entfernten sich seine Schritte. Wahrscheinlich wollte er nach Mariam sehen.

Wir blieben noch fast fünf Minuten so auf dem Boden sitzen, dann schob Georg mich vorsichtig von sich und sah mir fragend in das völlig zerschlagene Gesicht.

„Brauchst du einen Krankenwagen?“ widerholte er Hectors Frage, aber ich verneinte ebenfalls. Ich wollte nicht ins Krankenhaus. Das würde mit Sicherheit zu viele Fragen aufwerfen, und ich wusste nicht wie ich diese sinnvoll beantworten sollte. Außerdem schmerzte meine Hüfte nicht mehr ganz so stark wie am Anfang, es war zwar immer noch furchtbar, aber auszuhalten. Und die anderen Verletzungen waren eher oberflächlicher Natur.

Ich würde es überleben.

Ich wischte mir Blut und Tränen aus dem Gesicht, oder versuchte es zumindest, dann räusperte ich mich leise und ein bisschen peinlich berührt.

„Tut mir Leid wegen deiner Brille.“

Georg lachte unterdrückt, dann winkte er ab.

„Nicht so schlimm, die war versichert. Soll ich dir aufhelfen?“

Mich vorsichtig an Arm und Schulter haltend zog Georg mich schließlich auf die Füße, es dauerte eine halbe Ewigkeit, und jeder Millimeter jagte glühende Pfeile durch meine malträtierte Hüfte; aber schließlich stand ich, am ganzen Körper zitternd und schon wieder den Tränen nahe, aber ich stand.

„Du siehst furchtbar aus. Geht es wirklich?“ Georg betrachtete mich zweifeln, er musste mich immer noch stützen, aber ich nickte tapfer. Antworten konnte ich ihm nicht, dazu fehlte mir die Kraft. Es tat so weh!

Er war eindeutig nicht überzeugt, und bevor ich ihn daran hindern konnte zog er mein Handy aus meine Hosentasche und wählte eine Nummer.

In knapp zehn Minuten würde meine Mutter mich abholen kommen. Vorsichtig ließ Georg mich wieder zu Boden gleiten, ich schnappte vor Schmerzen nach Luft als ich endlich unten angekommen war, dann schloss ich die Augen und stöhnte leise. Vielleicht hätte ich ihn doch den Krankenwagen rufen lassen sollen.

Georg setzte sich genauso vorsichtig neben mich, eine Hand auf meinem Oberschenkel.

„Soll ich bei dir bleiben und warten?“

Ich schüttelte den Kopf. Wenn meine Mutter sein Gesicht sah würde sie eins und eins zusammen zählen und sofort wissen wer für meinen Zustand verantwortlich war. Und dann würde sie ihn vielleicht nicht mehr als meinen Freund akzeptieren. Und das wollte ich nicht.

Georg schien meine Gedanken erahnen zu können, er erhob sich langsam, suchte seine zerbrochene Brille zusammen und beugte sich schließlich noch einmal zu mir herab, seine Hand berührte vorsichtig meine Wange.

„Ich melde mich. Machs gut.“

Dann verschwand er, so schnell es ihm möglich war, hinter mir im Wald.

„Keine Ahnung, aber den hätte ich auch nicht geküsst!“

Keine Sorge, auch wenn es nach den letzten Kapiteln scharf den Eindruck macht, ich bleibe dem Boys-Love-Genre treu ;D
 

Es tut mir übrigens Leid dass es jetzt soooo lange gedauert hat bis hier mal was neues kam, ich gelobe nun aber Besserung! Vielleicht muss ich sogar nochmal die Einstufung überdenken...momentan ist es zwar recht jugendfrei, aber ich bin gern bereit das zu ändern. Als kleine Entschuldigung sozusagen. ;)
 

~*~
 

Ich konnte meine Mutter davon überzeugen mich nicht ins Krankenhaus zu bringen, stattdessen hütete ich eine Woche streng das Bett, vollgedröhnt mit Aspirin und noch irgendetwas stärkerem das meine Mutter aus den Untiefen ihres Medizinschrankes zu Tage gefördert hatte.

Meine Hüfte erholte sich nur langsam, aber stetig. Was deutlich mehr schmerzte als die Verletzungen war die die Tatsache dass Georg sich nicht wie versprochen meldete. Sogar Mariam schrieb mir kurz vor ihrer Abreise noch eine SMS, nur mein angeblich bester Freund hüllte sich in tiefes Schweigen.

An Tag drei hörte ich auf ihn anzurufen oder ihm Nachrichten zu schicken, ich wollte nicht zu verzweifelt wirken. Aber innerlich zerriss es mich fast. Ich schlief mit Handy neben mir auf dem Kopfkissen, aber es klingelte nicht ein einziges Mal.

War Georg immer noch wütend auf mich?

Aber warum? Wegen Mariam, oder wegen unserem Kampf? Er hatte doch gewonnen, und Mariam war längst abgereist. Es gab keinen Grund mehr sauer zu sein.

Wenn ich ihn doch nur erreichen würde!

Am siebten Tag, genau eine Woche nach unserer Auseinandersetzung, weckte mich mein klingelndes Handy aus einem späten Mittagsschlaf. Ich schoss sofort in die Höhe, verfluchte mich für den Schmerz der prompt in meiner geschundenen Hüfte aufflackerte, und hielt es mir aufgeregt ans Ohr.

„Ja?“

„Ich bins, Georg. Kann ich vorbeikommen?“

Mein Herz klopfte bis zum Hals, ich wusste nicht ob ich mich jetzt freuen oder doch sauer sein sollte, aber ich entschied mich dass ich das gern von Angesicht zu Angesicht klären wollte. Also beließ ich es erst einmal bei einem emotionslosen „Natürlich“, und legte auf.

Es dauerte keine halbe Stunde, dann stand Georg in meinem Zimmer. Sein Gesicht sah schon wieder ganz passabel aus, es waren nur noch ein paar Kratzer und ein paar blasse blaue Flecken zu sehen.

Ich richtete mich vorsichtig auf und deutete mit einem Kopfnicken auf meinen Schreibtischstuhl, aber Georg ignorierte die Geste und setzte sich stattdessen zu mir aufs Bett. Er musterte mein Gesicht ohne zu Blinzeln, dann beugte er sich langsam nach vorn und küsste mich sanft auf den Haaransatz.

„Sorry dass ich mich nicht gemeldet hab. Ich musste nachdenken.“

Ich blickte ihn überrascht an als er sich wieder zurücklehnte, ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit so einer…intimen Geste. Natürlich hatte Georg mich schon oft umarmt, ich ihn ja auch, aber geküsst hatte er mich noch nie. Ich war verwirrt, und das schien er zu bemerken. Aber er ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht, und er wechselte das Thema.

„Wie geht es deiner Hüfte?“

Ich war eigentlich noch nicht bereit die Sache damit auf sich beruhen zu lassen, aber ich wollte mich auch nicht direkt wieder streiten. Also lehnte ich mich mit einem leisen Seufzen zurück und verzog kurz das Gesicht.

„Tut noch weh, aber es wird besser. Wenn ich langsam mache schaffe ich es sogar alleine auf Toilette.“ Ich grinste schief, und Georg lachte leise. Dann fuhr er sich durchs Haar und sein Blick wurde wieder ernst. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen, er wirkte angespannt, und das machte mich ebenfalls nervös. Wollte er mir vielleicht doch die Freundschaft kündigen? Das wäre furchtbar, und meine Laune sank bei diesem Gedanken direkt wieder in den Keller.

Diese Ungewissheit machte mich fertig. Ich räusperte mich, dann beugte ich mich trotz schmerzhaft protestierender Hüfte wieder noch vorn und fing Georgs Blick ein. Das war unangenehm und alles in mir schrie danach die Augen zu senken, aber ich hielt diesem Drang stand. Ich musste endlich wissen woran ich bei ihm war.

Georg sah mich irritiert an, dann runzelte er die Stirn. Seine Lippen bebten, der Wolf in ihm reagierte auf meine Herausforderung und wollte die Zähne blecken. Aber er hielt ihn zurück.

„Was machst du da?“ Georgs Stimme klang gepresst, seine Hände gruben sich in meine Bettdecke. Ich antwortete nicht, wich aber auch nicht zurück. Würde er mich in diesem Zustand angreifen? Er schien mit sich zu ringen, alles in ihm wollte sich auf mich stürzen und mich unterwerfen, aber die Vernunft hielt ihn zurück. Ein fast lautloses Knurren kam über Georgs Lippen, dann schoss er plötzlich nach vorn, seine Hand packte mich im Nacken, und sein eben noch vor stiller Wut verzogener Mund presste ich auf meinen. Ich zuckte überrascht zurück, aber Georgs Griff hinderte mich daran vor ihm zurückzuweichen. Der Kuss dauerte nur wenige Sekunden, aber ich hatte das Gefühl wir hätten eine Ewigkeit in dieser Position verharrt. Als er sich von mir löste war die Wut aus seinem Blick verschwunden, nur ich war noch verwirrter als vorher. Warum hatte er das gemacht? Ich wollte gerade zu genau dieser Frage ansetzen da kam Georg mir zuvor. Ihm schien der Kuss überhaupt nichts ausgemacht zu haben, seine Stimme klang sogar ziemlich gefasst. Für ihn war es höchstwahrscheinlich auch nicht der erste gewesen. Bei diesem Gedanken breitete sich ein seltsames Gefühl in meinem Magen aus, und ich rutschte gleich noch ein paar Zentimeter weg. So hatte ich mir meinen ersten richtigen Kuss eigentlich nicht vorgestellt.

„Tut mir Leid, aber ich wusste mir nicht anders zu helfen. Sonst hätte ich dir wahrscheinlich weh getan.“

Georg wirkte zerknirscht, er streckte die Hand nach mir aus und berührte mich vorsichtig am Arm. Ich starrte ihn immer noch völlig verblüfft an, aber ich versuchte nicht mich seiner Berührung zu entziehen. Er hatte mich geküsst um einen Kampf zu vermeiden und das war ziemlich verrückt. Aber clever.

Ich wischte mir mit beiden Händen über die Augen und grinste.

„Meinst du bei Hector würde das auch funktionieren?“ ich blinzelte Georg zu, und er lachte.

„Keine Ahnung, aber den hätte ich auch nicht geküsst!“

Ich grinste noch breiter, dann rutschte ich wieder zurück auf meinen angestammten Platz und lehnte mich leicht erschöpft in die Kissen. Meine Hüfte machte sich bemerkbar, und ich war immer noch etwas angeschlagen. Aber auch erleichtert. Georg hatte mich lieber geküsst als mich anzugreifen, und damit sogar unsere Freundschaft riskiert. Er hatte ja nicht wissen können dass ich darauf so gelassen reagieren würde.

„Alles wieder gut?“ er sah mir fragend an.

Ich nickte.

„Alles wieder gut.“
 

Aber das war es nicht. Ganz und gar nicht. Auch wenn Georg sich besorgt gezeigt und mich sogar geküsst anstatt erneut verprügelt hatte, er hatte sich nicht bei mir entschuldigt. In seiner Welt hatte er alles richtig gemacht, und ich war eigentlich der Schuldige. Ich hatte nicht auf ihn gehört, und ich hatte es sogar gewagt diesen Ungehorsam vor ihm geheim zu halten.

Das hatte nichts mehr mit uns Wölfen zu tun, das war ganz allein Georgs Ding. Vielleicht wäre es ganz gut wenn ich anfing mich ein bisschen von ihm zu distanzieren. Nicht ganz, ich mochte ihn ja immer noch, aber unsere Freundschaft wurde langsam zum Problem. Sie bekam einen fahlen Beigeschmack, und das war nicht das einzige was mir Sorgen machte.
 

Die Lage zwischen Hector und Georg spitze sich immer weiter zu. Keine Ahnung ob es daran lag dass ich mich nun auch immer öfter mit unserem Rudelchef traf und Georg deswegen ab und an absagen musste, aber die Abneigung meines besten Freundes gegen das Rudel an sich wuchs immer weiter.

Ich dagegen begann mich langsam wohl zu fühlen.

Hector hatte mir ja schon am Anfang unseres Kennenlernens gesagt dass er mich gern mehr integrieren würde, und bis jetzt hatten ich mich nur Georgs Einfluss und seine Vorurteile davon abgehalten diesem Wunsch nachzukommen. Aber nach der Sache mit Mariam war meine Hemmschwelle was Aktionen für das Rudel und damit gegen Georg anging deutlich gesunken.

Ich wurde den Gedanken nicht los dass es ihm gar nicht darum ging mich vor unseren angeblich ach so primitiven Artgenossen zu schützen, sondern dass das alles nur sein eigener kleiner Egotrip gegen Hector war.

Georg gönnte seinem Feind keinen neuen Rekruten in den eigenen Reihen, also versuchte er mich von ihnen fern zu halten.

Nur passte mir das langsam nicht mehr. Ich fühlte mich bevormundet, vor allem seit Georg angefangen hatte mich auch körperlich zu unterdrücken. Und das passierte eindeutig nicht weil ich mich ihm gegenüber respektlos verhielt.

Hector war momentan einfach die angenehmere Gesellschaft.

Das was ich bis jetzt über die Wölfe und das Rudel gelernt hatte hatte ich größtenteils aus Georgs Mund erfahren, und jetzt hörte ich noch einmal die andere Seite. Hector glorifizierte nichts, er blieb bei den Fakten, aber was noch viel wichtiger war: er versuchte nicht mich zu beeinflussen. In ihm hatte ich einen unvoreingenommenen Gesprächspartner, und meine manchmal unsinnigen Fragen schienen ihn eher zu belustigen als zu verärgern. Hector stand mir geduldig Rede und Antwort, und dafür war ich ihm sehr dankbar.

Georgs Sticheleien dagegen nahmen immer weiter zu. Er wagte es nicht sich offen gegen Hector zu stellen oder seinen Unmut zu äußern, aber ich war ein willkommenes Ventil für seinen Frust. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wie ein dummes kleines Kind das ohne nachzudenken einer zweifelhaften Autorität hinterher und damit direkt in sein Verderben rannte. Zumindest stellte Georg das so dar. Er ließ keine Gelegenheit aus um Hector und das Rudel schlecht zu machen, und ich wurde seines gehässigen Geredes langsam überdrüssig. Es nervte, er schien so von Wut zerfressen dass er gar nicht merkte wie albern er sich benahm.

Aber ich konnte ihm kein Kontra geben.

Auch wenn ich es nie für möglich gehalten hätte, aber Georg war mir körperlich und kräftemäßig überlegen. Und er wusste wie er seine Stärken einsetzen konnte. Auch wenn er es nach Möglichkeit immer noch vermied in einen Kampf verwickelt zu werden, im Falle eines Falles zeigte er anderen gegenüber eine so brutale Hemmungslosigkeit dass ich ihn nicht wieder erkannte.

Von dem Georg den ich am Anfang kennen gelernt hatte war nicht mehr viel übrig.

"Er muss dich nicht mal unterwerfen damit du nach seiner Pfeife tanzt!“

Das einzige was mich an Hector ein bisschen nervte war sein Drängen darauf dass ich meinen Stand im Rudel verbessern müsste. Den letzten Kampf hatte ich verloren, und bis jetzt war ich jeder weiteren Konfrontation erfolgreich aus dem Weg gegangen. Ich stand nicht darauf mich zu prügeln, aber wenn ich dazu gehören wollte führte leider keine Möglichkeit daran vorbei.

Mit Hectors Hilfe bekam ich einen groben Überblick darüber wer sich an welcher Stelle befand, und ich begann mir einen Plan zurecht zu legen. Natürlich durfte Hector mir nicht sagen bei wem ich die besten Chancen auf einen Sieg haben würde, das wäre unfair den anderen gegenüber, aber ich traute mir auch alleine zu zu entscheiden bei wem ich es versuchen könnte ohne gleich wieder im Dreck zu landen.

Meine erste Wahl fiel auf einen meiner eigenen Klassenkameraden. Er war mir körperlich in etwa gleich gestellt aber im Rang weit genug über mir um meinen Stand im Falle eines Sieges gleich um mehrere Punkte zu verbessern.

Wir trafen uns nach der Schule hinter dem Sportplatz, es gab keine Zeugen, und im Nachhinein war ich dafür auch sehr dankbar. Vielleicht lag es daran dass ich körperlich noch nicht völlig wieder hergestellt war, oder ich hatte mein Gegenüber einfach maßlos unterschätzt.

Er machte mich problemlos fertig.

Mein erster Impuls nach dieser Niederlage war es Hector anzurufen, aber dann wählte ich doch Georgs Nummer. Schmach gegen Vorwürfe, es war wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Aber ich wollte einfach nicht dass Hector mich so sah, ich fühlte mich erniedrigt, und das würde Georg kaum noch schlimmer machen können.

Ich hatte mich geirrt.

Er war bereits wütend als er nach endlos langem Klingeln endlich ans Handy ging, ich hatte ihn mit meinem Anruf mitten aus einer Nachhilfestunde geklingelt, und als ich ihm auch noch den Grund mitteilte warum ich anrief war es völlig vorbei.

Hirnloser hormongesteuerter Idiot war noch eine der netteren Sachen die ich mir von ihm anhören durfte. Georg tobte noch eine Weile, dann atmete er tief durch und schien sich zu sammeln. Ich hatte seine Schimpftirade schweigend über mich ergehen lassen, mir dröhnte der Schädel, und ich spürte wie mir feine Blutfäden über Wange und Stirn liefen. Ich wagte es nicht deren Ursache genauer auf den Grund zu gehen.

Georg hatte sich inzwischen wieder soweit beruhigt dass er normal mit mir sprechen konnte. Er fragte wie schwer es mich erwischt hatte, und als ich ihm nur von ein paar oberflächlichen Verletzungen im Gesicht und einem harten Schlag gegen den Kopf berichtete entschied er das die erste Hilfe auch noch bis nach seiner Nachhilfestunde warten konnte. Ich sollte mich einfach so wenig wie möglich bewegen und mich nicht von der Stelle rühren.

Auch wenn es mir gegen den Strich ging schon wieder so bevormundet zu werden  blieb ich brav wo ich war und wühlte in meiner Schultasche nach ein paar Taschentüchern. So wie ich aussah hätte ich eh nicht zu Hause aufschlagen können, meine Mutter wäre glatt in Ohnmacht gefallen.

Bis Georg endlich auftauchte hatte ich mir das Gesicht bereits grob mit Taschentüchern gesäubert, aber seinem missbilligenden Blick nach zu urteilen sah ich immer noch furchtbar aus. Ohne etwas zu sagen reichte er mir die Hand und zog mich auf die Beine, dann schulterte er meine Schultasche und deutete mit einem Nicken Richtung Haupthaus.

„Ich hab den Schlüssel fürs erste Hilfe-Zimmer, du hast Glück.“ er musterte mich noch einmal prüfend, dann verzog er das Gesicht.

„Auch wenn man dich eigentlich eher Einschläfern lassen müsste, allein für deine Dummheit hättest du es verdient.“

Ich biss mir so heftig auf die Zunge dass ich Blut im Mund schmeckte.
 

Wir betraten das Schulgebäude und Georg führte mich zielstrebig zu dem kleinen Raum Nahe den Naturwissenschaftsräumen. Er schloss die Tür auf und schob mich hinein, dann verriegelte er sie hinter uns und deutete mit einem Kopfnicken auf den Stuhl der neben der ausgeklappten Erste-Hilfe-Barre stand.

Ich nahm Platz, inzwischen fühlten sich meine Beine an wie warmer Pudding.

„Du lässt dich von Hector jedes Mal aufs neue um den Finger wickeln, merkst du das gar nicht? Erst spuckst du große Töne, und dann knickst du doch wieder ein! Er muss dich nicht mal unterwerfen damit du nach seiner Pfeife tanzt!“ Georg funkelte mich an, die Luft um ihn herum knisterte praktisch vor Wut. Ich wusste ja dass er Recht hatte, aber das half meiner aufmüpfigen Ader auch nicht weiter. Eher im Gegenteil. Ich wollte nicht hören wie leicht beeinflussbar ich war.

Also fletschte ich nur im Stillen die Zähne. In meinem momentanen Zustand hätte ich gegen Georg sowieso keine Chance, ihn herauszufordern hätte mir nur eine weitere Tracht Prügel eingebracht. Sauer genug dafür war er auf jeden Fall.

Ich schniefte also nur leise und wischte mir mit dem Pulloverärmel über das blutige Gesicht. Die Demütigung saß tief, und eigentlich hatte ich auch keine Energie mehr um auf jemanden wütend zu sein. Ich wollte nur noch nach Hause und mich in meinem Bett verkriechen, und für den Rest meines Lebens niemanden mehr sehen. Nicht einmal Georg.

Den schien mein fehlendes Kontra ein bisschen aus dem Konzept gebracht zu haben. Er stockte in seinem wutgeladenen Hin- und Hergestapfe, hockte sich vor mir auf den Boden und sah mir prüfend ins Gesicht.

„Hat´s dir die Sprache verschlagen? Oder kommst du langsam zur Vernunft? Das wäre schön, das nächste Mal zerschlagen sie dir nämlich vielleicht nicht nur dein hübsches Gesicht.“ er schnaubte abfällig und stand wieder auf. Diesmal konnte ich von Georg wohl kein Mitleid erwarten. Ich sank auf meinem Stuhl zusammen und vergrub mein geschundenes Gesicht in den Händen. Ich wollte nicht dass er mich heulen sah.

Georg bemerkte es natürlich trotzdem, meine zuckenden Schultern waren kaum zu übersehen. Er seufzte genervt, dann trat er neben meinen Stuhl und zog mich hoch, direkt in seine Arme. Ich wollte nichts lieber als mich in diese Umarmung fallen lassen, aber mein Stolz verbot es mir. Ich schniefte noch einmal kurz auf, dann befreite ich mich aus Georgs Armen und trat einen Schritt zurück, den Blick auf einen Punkt irgendwo hinter seiner linken Schulter gerichtet. Ich wollte vor ihm keine Schwäche mehr zeigen, er hatte mich bereits mehrmals zu Boden geschickt, und ich hatte vor das zu ändern. Georg hatte weder vor mir noch vor Hector Respekt, und ich stand wegen ihm ständig zwischen den Stühlen. Und bekam die schmerzhafte Quittung dafür. Ich musste das beenden sonst würden sie mich irgendwann in Stücke reißen.

Ein letzter zittriger Schluchzer kam über meine Lippen, dann schloss ich die Augen und wappnete mich für das was jetzt kommen würde.

„Ich komme zur Vernunft, ja. Und ich hab genug von euch und euren Machtspielchen. Entweder haust du mir eine aufs Maul oder einer von den anderen, darauf hab ich keinen Bock mehr. Ich mach eh immer alles falsch. Also lasst mich doch einfach in Ruhe!“ die letzten Worte spie ich Georg regelrecht entgegen, dann schnappte ich meine Tasche und stürmte an ihm vorbei aus dem Raum. Mein Herz klopfte zum Zerspringen und mir rannen erneut Tränen über das Gesicht. Ich war praktisch blind, trotzdem fand ich fast problemlos den Weg nach draußen und war froh dass mir dabei kein anderer Schüler begegnete. Ich musste furchtbar aussehen.

Hunde die bellen beißen...zwar nicht, führen aber vielleicht etwas im Schilde

Der Anruf kam nur zwei Tage nachdem ich so heftig mit Georg gestritten hatte.

Ich lag auf meinem Bett, der Tiefpunkt war erreicht.

Oder nein, ich hatte die momentane Situation für den Tiefpunkt gehalten. Aber als mein Handy klingelte wurde mir klar, es ging noch tiefer. Noch viel viel tiefer.
 

„Gute Arbeit!“

„Was hab ich denn gemacht?“ ich war ehrlich verwirrt, für was hatte ich den Lob verdient? Für den letzten Kampf sicher nicht. Oder nahm Hector mich etwa auf den Arm? Das sah ihm gar nicht ähnlich. Ich presste das Handy dichter an mein Ohr und setzte mich auf. Hoffentlich kam jetzt nicht der nächste Tiefschlag.

Aber entgegen meiner Befürchtungen lachte Hector gut gelaunt in den Hörer.

„Du bist lustig. Georg war gerade eben bei mir. Er hat sich bei mir für so ziemlich alles was er je verbrochen hat entschuldigt, und mir versprochen ab jetzt tatkräftig hinter dem Rudel zu stehen. Wie zur Hölle hast du das geschafft?“

„Was?!“ ich keuchte überrascht, mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Das konnte doch nicht wahr sein! Georg hasste das Rudel, nie im Leben würde er sich offiziell zu ihnen bekennen.

Aber anscheinend…hatte er das getan. Ich hatte ihn völlig falsch eingeschätzt. Ich rieb mir hektisch mit dem Handballen über die Stirn und versuchte irgendetwas kluges zu sagen.

Hector nahm mir diese Entscheidung ab.

„Ach, nun tu doch nicht so bescheiden. Er meinte du hättest ihm die Augen geöffnet, und er wolle noch mal ganz von vorn anfangen. Das ist fantastisch! Mehr wollte ich doch gar nicht! Du bist wirklich ein Genie!“ Hector schien ganz aus dem Häuschen, und mir wurde bei jedem seiner Worte immer schlechter. Das war alles gar nicht mein Verdienst.

Aber Georg ließ es aus irgendeinem Grund so aussehen. Und mir wurde einfach nicht klar was er damit bezweckte. Wollte er sich damit wieder mit mir gut stellen? Das wäre eine logische Erklärung, aber ich hatte ihm wirklich schlimme Dinge an den Kopf geworfen, an seiner Stelle hätte ich alles getan um sich an mir zu rächen. Stattdessen lief er direkt zu Hector, verriet damit jede seiner Prinzipien, und sorgte auch noch dafür dass ich bei unserem Rudelführer gut da stand.

Das war NICHT logisch! Ganz und gar nicht!

Ich musste sofort mit ihm reden.

Direkt nachdem Hector aufgelegt hatte versuchte ich Georg zu erreichen, aber er nahm natürlich nicht ab. Das Freizeichen bohrte sich nervtötend in mein Gehör, dann sprang die Mailbox an.

Ich warf das Handy frustriert auf die Bettdecke.

Um noch einmal bei ihm vorbei zu gehen war es bereits zu spät, ich musste also mindestens bis morgen zur ersten Stunde warten bis ich mit ihm sprechen konnte. Aber bis dahin würde ich durchdrehen!

Ich schnappte mir erneut das Handy und tippte eine kurze Nachricht.

„Ruf mich an!!!“

Ich hatte es kaum zur Seite gelegt da ertönte das Nachrichtensignal.

Georg

„Lieber persönlich? Komm raus.“

Ich starrte verwirrt auf das Display, dann dämmerte mir was er damit sagen wollte. Er war hier! Er hatte gewusst dass Hector mich anrufen würde, und wartete jetzt irgendwo unten im Garten.

Ich sprang aus dem Bett, schnappte mir meinen dicken Pullover und versuchte so schnell und leise wie möglich die Treppe hinunter zu huschen. Meine Mutter würde nur nervige Fragen stellen wenn sie mich jetzt erwischte.

Ich schlüpfte in meine Schuhe, zog mir den Pullover über den Kopf, und verließ ungesehen das Haus.

 

Die Sonne war bereits hinter den Baumkronen verschwunden, der verwilderte Garten lag in einem unheimlichen Dämmerlicht. Ich sog die kühle Nachtluft ein, dann sah ich mich suchend um. War Georg wirklich hier? Oder hatte er mich zum Spaß raus in die Kälte gelockt?

Ich rieb mir fröstelnd die Arme und machte ein paar Schritte die Auffahrt hinunter. Alles war still, nur das Rauschen der Bäume und der knirschende Kies unter meinen Schuhen durchbrachen die Nacht.

Wo steckte Georg? Plante er irgendeinen fiesen Hinterhalt?

Ich wurde langsam unruhig. Der Wind blies mir unangenehm ins Gesicht und ich verfluchte mich dafür dass ich mein Handy nicht mitgenommen hatte. Vielleicht musste er kurzfristig wieder los und ich irrte hier völlig umsonst hier durch die Dunkelheit.

Gerade als ich beschlossen hatte wieder nach drinnen zu gehen wurden rechts von mir Schritte laut, und ich fuhr angespannt herum. Auch wenn ich es vor mir selbst nicht zugeben wollte, ich traute Georg nicht mehr über den Weg. Nicht nach der Aktion bei Hector.

Er trat aus dem Schatten des knorrigen Apfelbaumes heraus und kam direkt auf mich zu, anscheinend hatte er da schon ein paar Minuten gestanden und mich beim Suchen beobachtet. Ich spürte wie ein kleiner Funken Wut in mir hochzüngelte, aber ich erstickte ihn direkt im Keim. Erst wollte ich hören was Georg mir zu sagen hatte. Mit verschränkten Armen wartete ich bis er bei mir angekommen war, dann wischte ich mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte ihn herausfordernd an.

„Bisschen kalt zum Verstecken spielen, findest du nicht?“ machte ich meinem Unmut Luft, aber Georg grinste nur breit und tippte sich an den dicken Schal um seinen Hals.

„Mir nicht, ich hätte noch deutlich länger da stehen können.“ Seine Stimme klang ein kleines bisschen überheblich, und ich merkte wie mein Blut erneut zu kochen begann. Es war doch zum Verrücktwerden, egal was er sagte, ich fühlte mich sofort angegriffen. Und meiner Meinung nach auch zu Recht, immerhin hatte er mich hintergangen. Die ganze Zeit hatte er mir gepredigt wie schlecht das Rudel für uns wäre und das ich mich von ihm fern halten solle, und dann war er selbst zu ihnen gekrochen und hatte Hector praktisch die ungeschützte Kehle dargeboten.

Ganz plötzlich, ohne Vorwarnung.

Ich spürte wie meine Laune in den Keller sank, und auch Georg schien zu bemerken dass ich nicht mehr zu Scherzen aufgelegt war. Das überhebliche Grinsen verschwand von seinem Gesicht, stattdessen trat er noch einen Schritt auf mich zu und legte beide Arme auf meine Schultern. Ich wollte im ersten Moment zurückweichen, aber sein Blick hielt mich fest. Er war mir immer noch überlegen.

Ich knurrte unwillig und starrte auf meine Schuhe, die Kälte biss durch die groben Fasern meines Pullovers und mir wurde immer ungemütlicher. Wäre ich bloß nicht vor die Tür gegangen! Aber für taktische Überlegungen war es nun zu spät, ich war bereits mitten drin. Und Georg erschien mir mit einem Mal unberechenbar.

Seine leise Stimme riss mich aus meinen Gedanken, und ich wagte einen vorsichtigen Blick in sein Gesicht. Er lächelte wieder, aber diesmal war es ein aufmunterndes Lächeln.

„Du kannst mich ruhig ansehen, ich beiß dich diesmal nicht. Und ich wollte dich auch nicht gleich wieder verärgern. Es war nur so lustig wie du da im Dunkeln herumgeirrt bist, da konnte ich einfach nicht anders.“ Georg zwinkerte mir zu, und ich verzog abwehrend das Gesicht. Das war überhaupt nicht witzig! Ich fror mir den Hintern ab während er Verstecken spielte und mich dabei auch noch auslachte.

„Ich bin nicht herumgeirrt, und ich wollte auch gerade wieder reingehen als du aufgetaucht bist. Ich bin immer noch sauer auf dich! Und außerdem hat Hector mich angerufen! Warum hast du das gemacht?“ meine Stimme überschlug sich fast, ich wusste gar nicht wie aufgebracht ich war bevor ich den Mund aufmachte. Aber Georg blieb völlig gelassen. Er seufzte leise, dann zog er seine Arme zurück und sah mich ein bisschen verwundert an.

„Warum ich das gemacht hab? Ich dachte da kommst du von selber drauf. Naja, wahrscheinlich hat dein Kopf bei der letzten Prügelei doch mehr Schaden genommen als wir dachten.“

Ich wollte gerade wieder aufbrausen aber er fiel mir direkt ins Wort.

„Ich hab das gemacht damit wir weiter befreundet sein können. Dann musst du dich nicht mehr zwischen mir und dem Rudel entscheiden. Ich werde einfach gute Miene zum bösen Spiel machen und Hector nach der Schnauze reden, und alles ist paletti. Also hör auf sauer zu sein. Ich hab für dich ein echt großes Opfer gebracht.“

Mein Mund stand immer noch offen, aber ich war zu fassungslos um auch nur einen Ton herauszubringen. Er hatte das für mich getan! Er war wegen mir zu Hector gegangen und hatte sich ihm zu Füßen geworfen,  und das nur damit ich nicht mehr zwischen den Stühlen saß.

Und das alles nachdem ich so ungerecht zu ihm gewesen war. Das schlechte Gewissen musste mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Georg beugte sich grinsend nach vorn und klopfte mir leicht auf die Schulter.

„Was ist los, ist dir dein vorlautes Mundwerk jetzt eingefroren? Na macht nichts, keine Antwort ist auch eine Antwort.“ Er grinste noch breiter, dann überwand er auch noch die letzten Zentimeter zwischen uns und küsste mich sanft auf den Mundwinkel.

Meine Augen weiteten sich erschrocken, aber noch bevor ich reagieren konnte hatte er sich bereits umgedreht und ging schnellen Schrittes die Einfahrt hinunter, hinein in die abendliche Dunkelheit.

„…Georg!“

Er winkte mir lässig über die Schulter zu ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Wir sehen uns morgen in der Schule!“

Und dann war er verschwunden.

Träum was schönes!

Ich schlich mich zurück ins Haus, immer noch völlig überrumpelt. Ich wusste nicht was mich mehr aus der Bahn geworfen hatte, die Tatsache dass Georg sich nur wegen mir mit Hector vertragen hatte, oder sein Beinahe-Kuss am Ende unseres Gespräches. Ich war völlig durch den Wind. Und an Schlaf war so auch nicht zu denken.

Ich schlüpfte aus meinem Pullover und warf mich wieder aufs Bett, dann griff ich nach meinem Handy und wählte Georgs Nummer. Er dürfte noch nicht zu Hause sein, von mir bis zu ihm waren es knapp dreißig Minuten Fußweg.

Das Freizeichen ertönte, und diesmal ging er direkt ran.

„Was ist los, hast du schon Sehnsucht nach mir?“

Ich schnaubte abfällig, und er lachte.

„Ganz sicher nicht, ich wollte wissen warum du mich geküsst hast!“ ich versuchte vorwurfsvoll zu klingen, aber man musste schon taub sein um nicht zu hören wie peinlich mir das Thema war. Ich glaube, ich wurde sogar rot.

Georg dagegen schien immer noch bester Laune, er seufzte theatralisch, und meine Befangenheit wechselte wieder in leise Wut. Er nahm mich überhaupt nicht ernst!

Ich wollte gerade einen Rückzieher machen und dann schnellstmöglich auflegen, da ergriff Georg doch noch das Wort. Seine Stimme klang belustigt, aber ich konnte einen Unterton wahrnehmen der mich stutzig werden ließ.

„Wenn du das für einen richtigen Kuss hältst ist das schon ganz schön traurig, Ricci. Das war nur eine nette Geste, nichts weiter.“ Er seufzte noch einmal, und diesmal klang es schon echter.

Ich kam mir plötzlich reichlich blöd vor. Immerhin hatte er mich schon einmal geküsst, und da hatte ich keinen Aufstand gemacht. Aber da war der Grund auch ein ganz anderer gewesen.

Ich war verwirrt.

Georg schien auf eine Antwort zu warten, aber mir wollte darauf einfach nichts sinnvolles einfallen. Am liebsten hätte ich einfach aufgelegt, aber das wäre wohl falsch rüber gekommen. Ich räusperte mich leise und versuchte wieder Boden unter den Füßen zu bekommen.

„Hab ich gar nicht. Ich war nur…überrascht, okay? Ich hatte eher damit gerechnet dass du mir noch eine reinhaust, und nicht sowas.“

„Dann kennst du mich aber schlecht.“ antwortete Georg knapp.

Ja, das hatte ich auch schon gemerkt. Ich wollte die Sache eigentlich geklärt haben, aber stattdessen verrannte ich mich immer mehr. Es war mir nicht einmal unangenehm gewesen dass Georg mich geküsst hatte, und das war ein Kuss gewesen, egal was er behauptete. Und vielleicht war es genau das was mich so aus der Fassung brachte. Ich hatte überhaupt keine Erfahrung mit körperlicher Nähe dieser Art, und Georg hatte mich bereits zum zweiten Mal damit überrumpelt. Und ich hatte mich nicht einmal gewehrt. Wie kam ich da nur wieder raus.

Georgs Geduld mit mir schien am Ende zu sein, er knurrte etwas unverständliches, dann hörte ich wie er seine Haustür aufschloss.

„Ricci, komm lassen wir das. Ich geh jetzt ins Bett, und du solltest auch endlich schlafen. Wir sehen uns dann morgen in der Schule. Träum was Schönes.“

Und damit legte er auf.

„Ja, ich hab von dir geträumt. Ein Alptraum.“

Zwischen Georg und mir war anfangs fast wieder alles beim Alten, es war als hätten wir uns nie so heftig gestritten. Wir verbrachten weiterhin die Pausen zusammen, und am Nachmittag trafen wir uns entweder zum Lernen oder zum gemeinsamen Zocken.

Neu war nur das uns bei letzterem nun auch öfters andere Jungs aus unserer Klasse Gesellschaft leisteten, alles natürlich ausnahmslos Rudelmitglieder. Die Nachricht von Georgs Kapitulation hatte sich unter unseresgleichen ausgebreitet wie ein Lauffeuer, und damit waren weder er noch ich weiter ein rotes Tuch für sie. Vor allem Hectors offensichtliches Wohlwollen brachte uns viele neue Freunde.

Ich genoss diese Art der Aufmerksamkeit, aber Georg fiel es sichtlich schwer sich vorbehaltlos darauf einzulassen. Er war jahrelang ein Einzelgänger gewesen, und jetzt musste er sich plötzlich mit einer ganzen Gruppe von Menschen arrangieren. Ich wusste nicht in wie weit die anderen bemerkten wie viel Kraft ihn dieses Theater kostete, aber ich bemerkte es auf jeden Fall. Vor allem dann wenn wir alleine waren.

Seine zynische Ader versteckte er vor den Jungs erstaunlich gut, aber mich schonte er dagegen nicht. Manchmal hatte ich das Gefühl er ließ all die aufgestauten Emotionen an mir aus, und ich musste die Zähne zusammenbeißen und es ertragen, ihn körperlich herauszufordern hatte ich bis jetzt nämlich noch nicht wieder gewagt.

Die anderen Rudelmitglieder behandelten Georg immer noch mit einer gewissen Vorsicht, die wenigen Herausforderungen denen er sich hatte stellen müssen hatte er spielend gewonnen, während ich mit meiner geringen Körpergröße und meiner immer noch angeschlagenen Gesundheit das Nachsehen hatte. Ich wurde nicht noch einmal ernsthaft verletzt, aber ich verlor nacheinander zwei Kämpfe, und Georg kletterte in der Rangfolge unaufhaltsam weiter nach oben. Wir waren schon längst nicht mehr gleichgestellt.

Dadurch dass wir auch weiterhin viel Zeit miteinander verbrachten kam es öfter zu kleinen Reibereien, vor allem Georgs Überheblichkeit machte mir zu schaffen. Aber ich hielt es aus, trotz allem war er auch weiterhin mein einziger enger Freund, und ich wollte ihn nicht verlieren.

 

„Du siehst furchtbar aus, hast du schlecht geschlafen?“ Georg musterte mich kritisch als ich mich mit einem Stöhnen auf sein Bett rollte und mir mit beiden Händen übers Gesicht rieb.

Es war später Nachmittag, wir hatten uns für den Abend zum Pizzaessen verabredet, und das ausnahmsweise mal nur zu zweit. Ich war mit gemischten Gefühlen zu diesem Treffen gekommen, ich fühlte mich wirklich nicht gut, aber das lag sicher nicht an zu wenig Schlaf. Das hatte andere Ursachen.

Ich setzte mich wieder auf und zog die Knie an den Körper, dann warf ich Georg einen trotzigen Blick zu.

„Ja, ich hab von dir geträumt. Ein Alptraum.“

Georg sah mich verblüfft an, ich gab selten eine freche Antwort, aber heute war mir einfach danach. Von meiner letzten Niederlage schmerzte mir immer noch jeder Knochen, und die letzte Mathearbeit war auch eine Katastrophe gewesen. Meine Laune war praktisch im Keller.

Mit gerunzelter Stirn erhob Georg sich von seinem Schreibtischstuhl und setzte sich vor mich auf sein Bett. Ich konnte an seinem Gesicht nicht ablesen ob ich ihn ernsthaft verärgert hatte, aber ehrlich gesagt war mir das in diesem Moment auch egal. Noch ein paar Schläge würde ich sicher wegstecken können, und bei allem anderen stellte ich einfach auf Durchzug.

Georg wusste inzwischen wie er mich packen musste, im Gegensatz zu ihm war ich nämlich leider sehr leicht zu durchschauen. Aber anstatt mir wie erwartet gehörig Konter zu geben oder mir einfach eine reinzuhauen legte er mir nur eine Hand auf das Knie und sah mich ernst an.

„Wenn ich drin vorgekommen bin kann es gar kein Alptraum gewesen sein. Aber mal im Ernst, wo liegt das Problem?“ Sein Blick wurde eindringlicher, und ich versteckte schnell mein Gesicht in meinen Armen. Ich wollte ihm nicht Rede und Antwort stehen müssen, aber er konnte mich dazu zwingen. Und bis jetzt hatte er auch immer gemerkt wenn ich versucht hatte ihm etwas vorzumachen.

Es war zum Verzweifeln.

„Es gibt kein Problem, ich bin nur kaputt. Können wir nicht einfach Pizza bestellen und dann einen Film gucken? Ich will mich nicht unterhalten.“

Ich spürte wie Georg seine Hand zurückzog und wieder aufstand, dann ging er hinüber zu seinem Schreibtisch und klappte den Laptop auf. War´s das etwa schon?

Nein.

„Du bist in letzter Zeit echt super zickig, das nervt. Reiß dich mal bisschen zusammen, wenn weiter nichts ist musst du auch nicht so rumjammern. Kaputt sind wir alle. Das ist doch nichts neues.“

Er kam mit dem Laptop wieder zurück zum Bett und setzte sich neben mich.

Ich kochte innerlich. Ich war überhaupt nicht zickig, und kaputt war ich weil ich ständig eins auf die Mütze bekam. Im Gegensatz zu ihm.

Ich rieb mir über meine schmerzende Stirn, dann stand ich auf und bückte mich nach meiner Tasche. Für heute hatte ich einfach genug. Sollte Georg doch alleine glücklich werden.

Ich schulterte die Tasche und warf ihm noch einen wütenden Blick zu.

„Wenn ich dir zu zickig bin gehe ich jetzt, dann hast du deine Ruhe und musst dir mein Gejammer nicht mehr weiter anhören! Machs gut!“ ich stapfte los in Richtung Tür, aber ich kam kaum einen Schritt weit da hatte Georg mich schon wieder gepackt. Ich fuhr auf dem Absatz herum und versuchte mich loszureißen, aber er hielt mich eisern fest. Er schob den Laptop langsam von seinem Schoß herunter, dann stand er auf und trat einschüchternd nah an mich heran. Seine Hand umklammerte weiterhin mein Handgelenk, die andere lag auf meiner Schulter, verdächtig nah an meinem Kragen.

Für ein paar Sekunden hielt ich seinem Blick stand, dann senkte ich den Kopf und atmete zitternd aus. Im Kampf hatte ich ihm momentan nichts entgegenzusetzen.

Georg wartete noch ein paar Augenblicke ab ob ich mich wehren würde, dann ließ er mich los und strich mir mit einer Hand fast zärtlich durchs Haar.

„Schau mich an.“

Ich hob vorsichtig den Blick, und die Tasche rutschte von meiner Schulter. Georgs Hand lag jetzt an meiner Wange, sein Daumen strich sanft über den fast verblassten Bluterguss unter meinem Auge. Und dann tat er es wieder.

Diesmal hatte ich es kommen sehen, aber ich wich nicht zurück. Ich wollte wissen wie es sich anfühlte wenn ich auch mit Gedanken völlig dabei war und nicht davon überrascht wurde.

Georgs Lippen strichen vorsichtig über meine, er schien testen zu wollen wie weit er gehen konnte, und ich ließ ihn. Es fühlte sich seltsam an, ungewohnt, aber nicht abstoßend. Seine Finger schlossen sich erneut um mein Handgelenk, ich spürte wie sich sein Griff verstärkte, und mein Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt konnte ich nicht mehr weg, selbst wenn ich es gewollt hätte. Georgs Kuss wurde drängender, er schob mich langsam Richtung Bett, und nun wagte ich es doch die Reißleine zu ziehen. Ich drehte den Kopf zur Seite und legte ihm eine Hand auf die Brust.

„Georg, Stopp!“ ich sah ihn um Verständnis bittend an, und er ließ wirklich von mir ab. Das hätte er nicht gemusst, und das wussten wir beide. Aber Georg war wohl doch kein Arschloch, trotz allem. Er fuhr sich etwas unsicher durchs Haar, dann schenkte er mir ein zerknirschtes Lächeln.

„Sorry, das war wohl zu übergriffig.“ Er wandte mir den Rücken zu und ging zurück zum Bett, dann ließ er sich neben den Laptop auf die Decke fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Willst du immer noch mit mir Pizza essen oder gehst du nach Hause? Jetzt könnte ich das verstehen.“ Er sah mich fragend an, und ich runzelte die Stirn. Meinte er das ernst? Mich zu beleidigen war also okay, da hatte ich mich nur zickig, und erst wenn es fast zu einer…ach, zu was auch immer kam war es in Ordnung zu gehen?

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Georg wütend an.

„Ich will nach Hause gehen, ja. Aber nicht wegen dem Kuss, sondern weil du mich beleidigt hast! Warum machst du das? Ich bin vor zwei Tagen schon wieder verprügelt worden, mir dröhnt immer noch der Schädel davon, und anstatt mir beizustehen machst du dich über mich lustig! Darauf hab ich keinen Bock mehr!“

Ich war mit jedem Wort lauter geworden, meine Hände waren zu Fäusten geballt, und wäre in mir nicht irgendwo noch ein letzter Funken gesunden Menschenverstandes gewesen hätte ich mich höchstwahrscheinlich direkt auf Georg gestürzt. Aber so blieb ich einfach nur zitternd vor Wut stehen und versuchte meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

Georg hatte meinen kleinen Ausbruch mit gleichgültiger Miene über sich ergehen lassen, jetzt streckte er die Hand nach mir aus und zwinkerte mir zu.

„Pizza und ein Aspirin? Und ich verspreche dir den Rest des Abends die Klappe zu halten und kein unnötiges Wort mehr zu verlieren. Einverstanden?“

Ich blieb noch einen Moment standhaft, dann seufzte ich ergeben und ließ mich von ihm zurück aufs Bett ziehen. Meine Wut verrauchte so schnell wie sie gekommen war, ich war einfach nur noch erledigt, und ich wollte Pizza und einen Film und vor allem ein Aspirin!

Georg dirigierte mich ans Kopfende des Bettes, dann rutschte er neben mich und schob mir den Laptop auf den Schoß.

„Ich weiß schon was ich will, also such du dir jetzt was aus. Egal was, ich lad dich ein.“ Er grinste mir gönnerhaft zu, aber ich verzog keine Miene.

„Wolltest du mir nicht ein Aspirin holen?“

Georg lachte, dann stand er auf und ging Richtung Zimmertür.

„Mach ich, mal sehen, vielleicht hab ich auch noch was stärkeres da, vom letzten Mal als du Prügel bezogen hast.“

Ich knurrte warnend, und Georg verschwand immer noch lachend aus der Zimmertür.

 

Verrat ist also ansteckend

„Du siehst ziemlich unglücklich aus. Bedrückt dich was?“

Ich hatte Hector gar nicht kommen hören, erst als er sich auf die Kante von meinem Tisch setzte fuhr ich erschrocken hoch und sah ihn überrascht an. Dann schüttelte ich den Kopf.

„Nee, alles gut. Hab bloß wenig geschlafen, wegen den Prüfungen.“ Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht.

Bis auf zwei weitere Jungs in den ersten Reihen war der Raum schon leer, die meisten waren bereits raus auf den Hof gegangen. Aber mir war nicht nach frischer Luft und Gesellschaft. Ich wollte eigentlich nur allein sein.

Das traute ich mich Hector nur nicht zu sagen.

Der musterte mich immer noch prüfend und machte überhaupt keine Anstalten sich wieder zu erheben, ganz im Gegenteil. Er wartete bis die beiden anderen Jungs das Zimmer verlassen hatten, dann ergriff er wieder das Wort.

„Ich dachte Georg hilft dir beim Lernen? Der gibt doch sogar Nachhilfe. Oder habt ihr euch schon wieder gestritten?“

Warum wollte er das wissen? Es war vielleicht nicht nett, aber ich wurde sofort misstrauisch. Und das obwohl Hector mir so gesehen noch nie wirklich geschadet hatte. Bis auf die Prügelei ganz am Anfang unseres Kennenlernens, aber das war ja unvermeidbar gewesen.

Georg hatte mich was das anging ziemlich stark beeinflusst, und das nicht gerade positiv.

Ich seufzte leise, und schüttelte erneut den Kopf.

„Haben wir nicht, keine Sorge. Ist nur gerade alles ein bisschen schwierig.“ Damit hatte ich ihn zumindest nicht angelogen. Ich wusste nicht wieviel Hector bereits wusste, einerseits kam er mir oft ziemlich oberflächlich vor, andererseits hatte er das Rudel fest im Griff, und damit seine Ohren überall. Ich durfte ihn nicht unterschätzen, egal für was für einen Idioten Georg ihn hielt.

Denn ein Idiot war Hector ganz eindeutig nicht.

Inzwischen hatte er sich einen Stuhl herangezogen und mir gegenüber Platz genommen, er wollte wohl wirklich die komplette Pause bei mir verbringen. Jeder andere hätte sich wohl geehrt gefühlt, mir dagegen wurde Angst und Bange. Ich kam mir vor wie bei einem Verhör. Nur wusste ich nicht ob ich überhaupt etwas verbrochen hatte.

Hectors Haltung blieb weiterhin freundlich, er lächelte mich offen an, aber hinter seinen Lippen konnte ich gebleckte Zähne erkennen. Ich würde es nicht wagen ihn für dumm zu verkaufen. Seine Finger trommelten vor ihm auf dem Tisch, und ich wusste nur zu genau wie sie sich an meiner Kehle anfühlen würden.

„Ich weiß, das merke ich. Georg erscheint mir recht zufrieden, oder zumindest wagt er es nicht etwas anderes zu behaupten. Aber du…“ er beugte sich ein kleines Stück nach vorn, sein eisgrauer Blick nagelte mich fest. Ich schluckte schwer, wagte es aber auch nicht zur Seite zu schauen. Seine bloße Anwesenheit bereitete mir fast körperliche Schmerzen. Ich wusste ja dass wir ein bisschen anders tickten als normale Menschen, das lag uns in den Genen, aber ich unterschätzte diese urtümliche Macht immer wieder. Und Hector führte sie mir gerade unmissverständlich vor Augen.

Ich wand mich auf meinem Platz, meine Finger gruben sich fest in die Tischplatte, der Wolf in mir schrie nach Unterwerfung. Aber ich konnte mich ja schlecht auf den Boden werfen.

Hector erlöste mich schließlich. Mit einem Kopfnicken erlaubte er es mir den Blickkontakt zu unterbrechen, dann streckte er die Hand aus und tippte mir mit dem Finger vorsichtig gegen den Bluterguss auf meiner Stirn.

„Du hast deine letzten beiden Kämpfe verloren, und das obwohl du den Jungs körperlich eigentlich überlegen warst. Das zeugt nicht gerade von Kampfgeist. Ich dachte jetzt wo Georg dich nicht mehr mit seinen rebellischen Ideen vollstopft würdest du dich noch mehr engagieren, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Du ziehst dich zurück. Und ich möchte jetzt wissen warum das so ist.“ Hectors Stimme klang erstaunlich verständnisvoll, er lächelte mir sogar aufmunternd zu, aber ich hatte das Gefühl ich würde schon wieder zwischen den Stühlen sitzen.

Ich konnte Hector nicht sagen dass der Grund für meinen Rückzug Georgs neue Position im Rudel war, dass er mich, bewusst oder unbewusst, klein hielt, und ich deswegen immer wieder meine Kämpfe verlor. Andererseits traute ich mich auch nicht Hector anzulügen, er wusste wie sein Rudel tickte, und es war nur eine Frage der Zeit bis er von selbst auf die Lösung kam. Was also sollte ich tun?

Ich wusste es nicht.

Also entschied ich mich für die Wahrheit.

„Ich weiß nicht was ich dir antworten soll. Ich hab das Gefühl ich mache alles nur noch schlimmer wenn ich mit dir rede.“ Ich sah Hector hilfesuchend an, was anderes fiel mir nicht ein. Diese ganze Sache überforderte mich so sehr dass ich am liebsten direkt hier in Tränen ausgebrochen wäre, aber das wagte ich dann doch nicht. Irgendwo war die Grenze.

Hector schien mir meine Verzweiflung trotzdem anzusehen, er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, dann musterte er mich ernst.

„Wie wäre es mit der Wahrheit? Ich werde dich nicht in Stücke reißen, egal was du mir jetzt erzählst. Ich bin zwar dein Rudelführer, aber ich bin auch dein Freund. Ich weiß dass Georg kein gutes Wort für mich übrig hat. Von mir aus könnt ihr gern so dick befreundet sein wie ihr wollt, aber ich merke dass dir diese Freundschaft nicht mehr gut tut, und deswegen möchte ich dir helfen. Also spucks aus, was ist los?“

 

Wir redeten fast die ganze Pause lang. Beziehungsweise ich redete, und Hector hörte zu. Ich erzählte ihm fast alles; wie Georg mich behandelte wenn kein anderer dabei war, wie er dafür sorgte dass ich in der Rangfolge immer weiter hinter ihm zurück fiel, und wie er mich vor den anderen herabsetzte.

Die einzigen beiden Dinge die ich verschwieg waren Georgs wahren Gefühle für das Rudel, und seine Annäherungsversuche mir gegenüber. Das konnte ich einfach nicht. Ersteres nicht weil es mir wie Verrat vorgekommen wäre, und letzteres nicht weil es mir schlichtweg zu peinlich war.

Aber Hector schien zufriedengestellt. Er hatte nichts von dem was ich ihm offenbart hatte kommentiert, aber ich wusste dass er sich bereits jetzt schon seine Gedanken machte.

Und ich fühlte mich erleichtert. Das schlechte Gewissen gegenüber Georg nagte zwar immer noch an mir, aber es war deutlich kleiner geworden. Ich hatte mir das alles einfach von der Seele reden müssen, und niemand außer Hector wäre dafür in Frage gekommen. Was er mit diesen Infos jetzt anfangen würde wusste ich nicht, aber das war in erster Linie nicht mehr mein Problem. Ich hatte mein Bestes gegeben um Georg nicht schlecht da stehen zu lassen, aber das was ich erzählt hatte entsprach nun mal der Wahrheit! Er war mir gegenüber ein Arschloch geworden, und die paar Streicheleinheiten die er mir ab und an zukommen ließ machten daran nichts besser.

Als es zur nächsten Stunde klingelte erhob Hector sich endlich und streckte sich, dann schenkte er mir ein aufmunterndes Lächeln. Ich erwiderte es, aber innerlich war ich noch immer aufgewühlt. Ich wusste nicht was ich mit meinem Geständnis losgetreten hatte, aber ich nahm an ich würde es so bald wie möglich erfahren.

Beim Hinausgehen traf Hector direkt auf Georg, er klopfte meinem besten Freund freundschaftlich auf die Schulter, ließ ihn dann aber kommentarlos passieren. Ich schluckte und wurde auf meinem Stuhl immer kleiner.

„Wollte Hector was von dir?“

Natürlich war Georg sofort misstrauisch.

Ich zuckte die Schultern und vermied es ihm ins Gesicht zu sehen.

„Nur bisschen quatschen, nichts weiter.“

Er war nicht überzeugt, aber der gerade hereinkommende Lehrer unterbrach das Verhör das mir sonst höchstwahrscheinlich gedroht hätte. Noch nie war ich so dankbar gewesen meinen Mathelehrer zu sehen.

Georg schenkte mir noch einen letzten prüfenden Blick, dann setzte er sich in die Bankreihe vor mir und wandte seine Aufmerksamkeit dem Unterricht zu.

Auch Lügen sind Rudeltiere

Ich starrte verblüfft auf die Nummer, dann nahm ich ab.

„Ja?“

„Hallo Ricci, hier ist Mariam. Tut mir Leid dass ich mich nicht mehr gemeldet habe. Ich dachte das wäre besser so. Aber Hector sagt du könntest jetzt eine Freundin gebrauchen. Ich bin in einer Dreiviertelstunde am Bahnhof, holst du mich ab?“

Ich war völlig überrumpelt, ich brauchte einen Moment um mich zu sammeln, aber dann sagte ich ihr zu. Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit dass Hector seine Schwester mit hineinziehen würde. Ihm lag wohl wirklich viel daran mich von Georg fern zu halten, und ich würde ihm da sicher keine Steine in den Weg legen.

Außerdem freute ich mich auf das Wiedersehen.

Aber vorher musste noch eine Sache geklärt werden.

Ich zog mein Handy wieder aus der Tasche und schickte Hector eine Nachricht.

„Hallo, hab gerade mit Mariam gesprochen. Danke. Was hast du ihr erzählt?“

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

„Kein Ding ;) Nur das nötigste, dass du bisschen Stress im Rudel hast. Nichts von Georg. Das kannst du selbst machen.“

Ich steckte das Handy weg und atmete tief durch. Das hatte ich hören wollen. Damit hatte ich die Möglichkeit meinen Zwist mit Georg außen vorzulassen ohne unhöflich zu wirken. Mariam würde sicher nicht nur herkommen um mir stillschweigend das Händchen zu halten, aber ich fühlte mich einfach noch nicht bereit dazu noch jemandem von meinen Problemen zu erzählen. Also mussten meine  Niederlagen als Thema ausreichen.

Ein kleines bisschen schlechtes Gewissen hatte ich schon, immerhin kam Mariam extra angereist um sich meine Sorgen anzuhören, und ich würde sie nur mit dem nötigsten abspeisen. Aber damit hätte Hector auch rechnen können, er hatte ja gemerkt wie viel Überwindung es mich gekostet hatte selbst ihm von meinen Problemen mit Georg zu berichten. Und egal wie sehr ich Mariam mochte, so gesehen war sie eine Fremde für mich. Ein hübsches Mädchen, ja, bei dem ich wirklich gerne Chancen gehabt hätte, aber niemand mit dem ich ernsthaft meine Probleme bereden wollte.

Aber nun war sie unterwegs, und ich würde mich natürlich bemühen und mich von meiner besten Seite zeigen.

 

Der Bahnhof lag genau wie unser Haus etwas außerhalb des Dorfes, das war unpraktisch, aber früher war er wohl nur für den Güter- und nicht für den Menschenverkehr angefahren worden, und bis jetzt hatte man offensichtlich noch keinen Grund gesehen seine Lage etwas besucherfreundlicher zu machen.

Mariam hatte mir noch eine Nachricht geschrieben dass ihr Vater ihr Gepäck mit dem Auto abholen würde und wir zwei dann ja einen gemütlichen Spaziergang Richtung Dorf machen könnten. Das Wetter war passend, erstaunlich warm und sonnig für diese Jahreszeit, also hatte ich nichts dagegen.

Zum Bahnhof hin brachte mich meine Mutter, trotz aller Vorfreude schmerzte mir immer noch fast jeder Knochen im Leib, und zweimal die ganze Strecke laufen traute ich mir dann doch nicht zu.

Mariam wartete bereits am Ausgang auf mich, sie trug eine dicke himbeerfarbene Jacke, schwarze Winterstiefel, und einen großen mausgrauen Schal mit passender Mütze. Sie sah hinreißend aus. Ihre ebenfalls grauen Augen strahlten als sie mich aus dem Auto steigen sah, dann verdunkelte sich ihr Blick und sie wirkte besorgt.

Natürlich, mein zerschlagenes Gesicht.

Inzwischen sah ich zwar nicht mehr ganz so ramponiert aus, aber die Blutergüsse waren immer noch als dunkle Schatten zu erkennen.

Ich begrüßte Mariam mit einem schiefen Lächeln, ich wusste nicht so recht wie ich auf sie zugehen sollte, aber sie nahm mir diese Entscheidung natürlich postwendend ab. Sie schloss mich in die Arme und küsste mich dann überraschenderweise sogar auf die Wange.

Mein Herz begann schneller zu schlagen und ich räusperte mich ein bisschen verlegen.

„Hattest du eine angenehme Fahrt?“

Mariam überhörte meine Höflichkeitsfrage und musterte mich ernst.

„War Georg das?“ sie deutete auf die blauen Flecken in meinem Gesicht, und ich schüttelte ohne schlechtes Gewissen den Kopf.

„Nein, das ist noch von meinem letzten Kampf. Da habe ich mich ja nicht gerade mit Ruhm bekleckert.“ Ich versuchte möglichst gelassen zu klingen, aber Mariam ließ sich davon nicht beeindrucken. Ihr Blick blieb weiterhin misstrauisch.

„Hector hat mir gesagt dass du Probleme hast, aber er hat mir nicht genau gesagt was das für welche sind. Aber wenn du darüber reden willst, dann bin ich für dich da!“ jetzt endlich lächelte sie wieder, und mir wurde direkt ein bisschen leichter ums Herz.

Nun war ich doch froh dass sie da war.

Ich würde ihr einfach von meinen letzten beiden Niederlagen erzählen, und vom Prüfungsstress, und damit wäre sie hoffentlich zufrieden gestellt. Ich musste Mariam ja nicht direkt anlügen, ich würde ihr einfach nur nicht alles erzählen. Bei der Sache mit Georg konnte sie mir eh nicht helfen, das konnte allerhöchstens Hector, und außerdem war sie was ihn anging nicht gerade vorurteilsfrei. Ich wollte die Sache nicht noch komplizierter machen als sie sowieso schon war.

Wir setzten uns langsam Richtung Dorf in Bewegung, Mariam hatte sich wie selbstverständlich bei mir untergehakt, und ich erzählte ihr lang und breit von meinen letzten beiden Kämpfen, und wie ich sowohl in Mathe als auch in Geschichte zu scheitern drohte. Die schulischen Probleme waren mir dabei ehrlich gesagt völlig schnuppe, die taten mir nicht weh, aber als ich jetzt die Prügeleien noch einmal Revue passieren ließ merkte ich erst dass die Niederlagen mich doch ganz schön mitgenommen hatten. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. In Hectors Gunst war ich zwar nicht gesunken, aber die anderen Rudelmitglieder behandelten mich seit dem zweiten verlorenen Kampf ganz öffentlich von oben herab, und das machte mir schon zu schaffen. Normalerweise fiel es mir nicht schwer Freunde zu finden. Aber die Hierarchie des Rudels legte mir unüberwindliche Steine in den Weg. Solange ich weiter verlor solange würden die anderen mich weiter schneiden. Oder im schlimmsten Fall sogar noch nachtreten.

Ich verstummte, und wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Der Wind hatte inzwischen aufgefrischt und pfiff uns eisig um die Nase, aber die Sonne schien und es war keine einzige Wolke am Himmel. Wäre unser Gesprächsthema nicht so bitterernst gewesen wäre das hier ein wirklich wundervoller Spaziergang gewesen.

Als wir das Ortsschild passierten blieb Mariam plötzlich stehen und zog ihr Handy aus der Jackentasche, sie schien etwas zu überprüfen, dann schenkte sie mir wieder ihr strahlendes Lächeln.

„Lass uns noch einen Kaffee oder einen heißen Kakao trinken gehen, ich bin völlig durchgefroren, und das lenkt dich vielleicht auch ein bisschen ab.“

Ich hatte nichts dagegen, also änderten wir unsere Route und setzten uns schließlich in das einzige Bistro des Dorfes, idyllisch gelegen direkt neben der ebenfalls einzigen Tankstelle. Ich war noch nie hier gewesen, aber es hatte schon irgendwie Charme. Der Besitzer war offensichtlich ein großer Fan amerikanischer Diner, der Boden war mit weißen und schwarzen Fliesen im Schachbrettmuster ausgelegt, es gab eine lange rot-verchromte Verkaufstheke, eine Jukebox, blinkende „Open“- und „Beer“-Reklamen, und auf der gegenüber liegende Seite eine Reihe klebrig aussehender, mit rotem Leder bezogene Sitzbänke, verteilt um tischdeckenlose Metalltische.

Um diese Uhrzeit war nicht allzu viel los, die einzigen Gäste außer uns schienen Leute auf der Durchreise zu sein, und die saßen auf den Barhockern direkt an der Theke und futterten fettige Pommes und matschig aussehende Burger.

Mariam verzog keine Miene als sie sich mir gegenüber auf eine der Lederbänke fallen ließ, sie schälte sich aus ihren dicken Winterklamotten, dann griff sie nach der fleckigen Speisekarte und grinste mir verschwörerisch zu.

„Die Burger solltest du hier meiden, aber die Sandwiches sind okay, und die Pommes auch, wenn man keine allzu hohen Ansprüche hat.“ Sie blätterte kurz, dann tippte sie mit dem Finger auf eine Stelle in der Karte.

„Aber ich denke ich werde mich auf einen großen Cappuccino mit Sahne beschränken, und du?“ Mariam schob mir die Karte zu, und ich entschied mich für einen heißen Kakao ohne alles. Es dauerte keine zehn Minuten, dann standen die dampfenden Getränke vor uns. Nach den eisigen Temperaturen draußen war das wirklich eine Wohltat, und nach den ersten beiden Schlucken begann auch meine Laune langsam wieder zu steigen.

Mariam löffelte den Schaum von ihrem Cappuccino und starrte dabei gedankenverloren aus dem Fenster, so hatte ich ein paar  Augenblicke um sie in Ruhe zu mustern.

Sie trug einen geringelten Rollkragenpullover mit grauen und dunkelgrünen Streifen, dazu unauffällige silberne Armkettchen und Perlenohrstecker. Ihr langes blondes Haar lag in einem lose geflochtenen Zopf auf ihrer linken Schulter, außerdem hatte sie ein dezentes Makeup aufgelegt.

Sie war wirklich atemberaubend.

Unter normalen Umständen wäre ich wirklich glücklich gewesen dass sich ein so hübsches Mädchen für mich interessierte, aber die Konflikte mit Georg und meine Probleme mit dem Rudel überschatteten unser Treffen wie drückende dunkle Wolken. Ich war viel zu sehr mit Grübeln beschäftigt als dass ich unsere Zweisamkeit hätte genießen können.

„Du siehst schon wieder so bedrückt aus. Woran denkst du?“ unterbrach Mariam meine trüben Gedanken, und ich zuckte erschrocken zusammen. Ich versuchte mich mit einem flüchtigen Lächeln zu retten und nippte schnell an meinem inzwischen lauwarmen Kakao. Warum war ich nur so einfach zu durchschauen? Wenn selbst Mariam mir meine Gedanken vom Gesicht ablesen konnte war es kein Wunder dass Georg mich immer wieder eiskalt erwischte.

Ich war ein offenes Buch, und das anscheinend für wirklich jeden.

„An gar nichts, ich bin nur froh dass du da bist.“ Ich schenkte Mariam noch ein zweites Lächeln, und diesmal erwiderte sie es. Vielleicht könnten wir so das Thema wechseln. Ich wollte ihr wirklich nichts von Georg erzählen, ich hatte ja noch nicht einmal richtig verdaut dass ich das alles Hector gegenüber zugegeben hatte. Und da waren Folgen meiner Tat einfach noch nicht vorhersehbar genug als das ich ein weiteres Risiko hätte eingehen wollte.

Zum Glück sprang Mariam auf meinen Themenwechsel an, sie wischte sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn und lehnte sich mit einem kleinen Seufzer auf der quietschenden Lederbank zurück.

„Ich hatte mich eigentlich schon viel früher melden wollen, aber Hector hielt es für besser wenn ich mich erstmal zurückhalte. Er will keine Unruhe in seinem Rudel, und das kann ich verstehen. Ich fand es zwar nicht gut, aber ich wollte ihm auch keine zusätzlichen Probleme machen.“ Mariam rührte kurz gedankenverloren in ihrem Getränk, dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Der Ausdruck in ihren Augen gefiel mir gar nicht.

„Wie läuft es eigentlich mit Georg? Habt ihr euch wieder vertragen? Hector hat mir erzählt dass er nun plötzlich doch hinter dem Rudel steht. Das ist doch eine Erleichterung für dich, oder nicht?“

Und ihre Fragen gefielen mir genauso wenig.

Das waren genau die Dinge über die ich nicht mit ihr reden wollte, und sie traf sie genau auf den Punkt.

Ich nahm noch einen Schluck von meinem Kakao, einzig und allein um Zeit zu schinden, aber natürlich fielen mir in den paar Sekunden auch keine passenderen Antworten ein.  Mariam zu belügen war das letzte was ich wollte, das hatte sie auch nicht verdient, aber mir würde nichts anderes übrig bleiben wenn ich die Wahrheit vermeiden wollte.

Also zuckte ich betont gleichgültig die Schultern und senkte den Blick auf mein Heißgetränk.

„Wir haben uns direkt danach wieder vertragen. Wir sind immer noch Freunde, und dass er jetzt zum Rudel gehören will ist toll. Hector hat sich riesig gefreut. Und ich mich natürlich auch.“

Kein Wort davon war wirklich gelogen. Georg und ich waren weiterhin befreundet, und Hector und ich waren auch glücklich über seinen plötzlichen Sinneswandel gewesen. Nur leider hatte letzterer sich zu einem völligen Desaster entwickelt. Sowohl für Hector, als auch für mich. Und ich wusste einfach nicht wo das noch hinführen würde. Ich hatte das Gefühl Georg wurde von Tag zu Tag ätzender, er behandelte mich mit einer Arroganz die ich vorher nie an ihm wahrgenommen hatte, und von Hector hielt er sich so gut es ging fern. Wahrscheinlich war es ihm einfach zu anstrengend unseren Rudelchef auch noch an der Nase herumzuführen so wie den Rest des Rudels.

„Das hätte ich nie von Georg gedacht.“ Mariam klang nachdenklich, und ein bisschen ungläubig. Man konnte sehen wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Ich wusste nicht wie gut sie Georg kannte, aber ich hoffte wirklich dass sie ihm nicht auf die Schliche kam. Denn dann würde es auch Hector erfahren, und er würde wissen dass ich ihm nicht alles erzählt hatte. Das musste ich verhindern!

„Ich war auch überrascht, aber vielleicht ist er einfach vernünftig geworden. Das ist doch gut.“ versuchte ich Mariams Bedenken zu zerstreuen. Sie misstraute Georg, und das leider zu Recht. Was das anging war sie eindeutig cleverer als ihr Bruder.

„Na ich weiß nicht, Georg war nie besonders vernünftig. Aber wenn er etwas im Schilde führen würde würdest du das doch merken, oder?“ sie sah mich fragend an, und ich spürte wie mir das Herz in die Hose rutschte. Ich musste sie anlügen. Es ging nicht anders.

„Ja, ich denke schon. Aber er macht uns nichts vor, das weiß ich. Und Hector vertraut ihm doch auch!“

Beziehungsweise hatte er das. Dann war ich gekommen und nun hatte er Zweifel.

Ich hatte wirklich ein Händchen für heikle Situationen.

Mariam war nicht überzeugt, aber sie schien zu merken dass sie mit dem Thema bei mir nicht weiterkommen würde, und ließ es zu meiner Erleichterung fallen.

Ich trank den letzten Schluck meines inzwischen völlig kalten Kakaos und winkte dann die Bedienung heran um zu bezahlen. Natürlich lud ich Mariam ein, immerhin war sie nur wegen mir hier.

Wir verließen das Bistro und tragen hinaus in die kalte Abendluft.

„Bringst du mich noch nach Hause? Oder soll ich meinen Vater anrufen damit er mich abholt?“ fragte Mariam während sie sich den Schal tiefer ins Gesicht zog. Unser Atem dampfte in kleinen Wölkchen vor unseren Gesichtern.

„Ich bring dich heim, ist doch selbstverständlich.“

Schweigend traten wir ihren Heimweg an, es waren kaum noch Autos unterwegs, und die wenigen Leute die uns begegneten beachteten uns nicht weiter. Ich genoss diese Ruhe.

Mariam hatte sich wieder bei mir eingehakt und schien tief in Gedanken versunken. Ich wusste nicht was Hector mit diesem Treffen bezwecken wollte, aber ich verbot es mir schon wieder misstrauisch zu sein. Mariam hatte mich nicht ausgehorcht, sie war anständig. Viel anständiger als Georg.

Kurz bevor wir in die Straße einbogen in der ihr Vater und Hector wohnten blieb Mariam plötzlich stehen und wandte mir ihr Gesicht zu. Ihr Ausdruck war undurchdringlich, und mir wurde ein bisschen flau im Magen. In diesem Moment hätte ich vieles dafür gegeben ihre Gedanken lesen zu können.

Sie biss sich auf die Lippe und schien offensichtlich etwas sagen zu wollen, doch dann beugte sie sich plötzlich vor und küsste mich.

Das war nicht mein erster Kuss, und trotzdem fühlte ich mich völlig unbeholfen. Und mal wieder überrumpelt.

Mariams Lippen waren warm, ihre Nasenspitze eiskalt, sie schmeckte nach Cappuccino und dem Lipgloss das sie aufgetragen hatte. Ich versuchte nicht zu viel zu denken, ich wollte diesen Augenblick genießen, aber meine Gedanken rasten unaufhörlich durch meinen Kopf, und ich spürte…nichts.

Mariam wusste was sie tat, man merkte dass das hier nicht ihr erster Kuss war, aber schließlich gab sie es auf und löste sich von mir. Sie musterte mich genau und sah zum ersten Mal verunsichert aus.

„War das falsch?“ flüsterte sie, und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Sie konnte ja nicht wissen was zwischen Georg und mir vorgefallen war, und ich hatte ihr höchstwahrscheinlich auch noch Hoffnungen gemacht.

Ich schüttelte den Kopf und lächelte sie an, dann nahm ich ihre behandschuhte Hand und drückte sie leicht.

„Nein, war es nicht. Ich weiß nur nicht wo mir der Kopf gerade steht. Ich mag dich wirklich sehr, aber ich glaube ich bin momentan einfach nicht bereit dafür.“ Ich versuchte aufrichtig zu klingen, aber meine Stimme schwankte verdächtig. Ich wollte Mariam nicht verletzen, ich fühlte mich wie ein Arschloch, aber ich konnte ihr auch  nichts vormachen. Sie würde es so oder so herausfinden. Und dann wäre es noch schlimmer für sie.

Mariam wischte sich mit ihrer freien Hand über die verdächtig glitzernden Augen, dann schenkte sie mir ein kleines Lächeln. Sie sah so niedergeschlagen aus dass sich alles in mir zusammenzog.

„Schon okay. Ich mag dich auch, aber ich werde versuchen nichts zu überstürzen. War wohl wirklich ein schlechter Zeitpunkt.“ Sie drückte mich noch einmal kurz zum Abschied, dann wandte sie sich ab und bog in ihre Straße ein. Ich blieb wie festgefroren stehen und starrte ihr hinterher. Ich hätte gerne noch etwas gesagt, mich irgendwie bei ihr bedankt, aber mir fiel einfach nichts passendes ein. Mein Gehirn war wie leergefegt, und ich kam mir vor wie der letzte Trottel.

Das hatte ich also auch versaut.

Weder die Kälte noch der einsetzende Nieselregen wurden mir auf meinem Heimweg richtig bewusst, ich setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen und ignorierte die Schmerzen die inzwischen wieder in jeder Ecke meines Körpers aufflammten.

Mariam tat mir leid, ich mochte sie wirklich, und ich hatte sie auch nicht vor den Kopf stoßen wollen, aber selbst wenn da mal irgendwann Gefühle für sie gewesen waren, nun waren sie weg. Auch wenn es gemein klang, aber der Kuss hatte mir nichts bedeutet. Ich bedauerte dass ich Mariam verletzt hatte, ich wollte nicht dass sie schlecht von mir dachte, aber mir war einfach nichts Besseres eingefallen. Die Situation hatte sich plötzlich ergeben und ich hatte darauf reagiert. So ehrlich wie es mir möglich gewesen war.

Und trotzdem fühlte ich mich hundeelend.

 

Ich schlich mich leise ins Haus und lief direkt hoch in mein Zimmer. Ich hatte keinen Appetit, und als meine Mutter mich kurz darauf zum Essen rief war ich bereits tief und fest eingeschlafen.

"Jetzt lass mich los, oder ich sage Hector was du mit mir gemacht hast!“

Bis Georg von meinem Treffen mit Mariam erfahren würde war es nur eine Frage der Zeit. Inzwischen schien er seine Ohren über all zu haben, vor allem wenn es um Dinge ging die mich betrafen. Es war als hätte er eine krankhafte Obsession entwickelt, eine die sich nur damit beschäftigte mich unter seiner Fuchtel zu halten.

Ich bekam Angst vor Georg.

Und da ich auch noch mehr als einmal für ihn gelogen hatte konnte ich nicht zu Hector laufen und bei ihm um Schutz bitten.

Das nannte sich dann wohl mitgehangen, mitgefangen.
 

Es war kurz nach der letzten Pause als mich das Glück verließ. Wer auch immer Georg die ach so tollen Neuigkeiten gesteckt hatte, er hatte es auf jeden Fall nicht sehr zurückhaltend getan. Wenn jemand mit der Schwester des Rudelchefs ausging war das eine große Sache, und wenn er das sogar noch ein zweites Mal wagte...
 

„Georg, bitte lass mich los!“ ich versuchte verzweifelt mich aus seinem Griff zu befreien, aber er hatte mich fest am Kragen gepackt. Seine Hände waren wie Schraubstöcke.

„Was hast du bei Mariam gemacht?“ seine Stimme war dunkel vor Zorn, ich konnte ein Grollen tief in seiner Kehle vernehmen. Noch nie hatte ich Georg so außer sich erlebt. Er tat mir körperlich weh, und das obwohl ich ihm überhaupt nichts getan hatte. Hector hatte dem Treffen mit seiner Schwester zugestimmt, höchstwahrscheinlich mit Hintergedanken, aber das hieß auch dass die ganze Sache Georg nichts mehr anging! Er stand in der Rangfolge zwar weit über mir, aber immer noch unter Hector. Und wenn er uns seine Erlaubnis gegeben hatte…

Ich zappelte in Georgs Griff, dann bleckte ich die Zähne und spuckte ihm mitten ins Gesicht.

Mein Todesurteil.

„Gar nichts, und selbst wenn, das geht dich einen feuchten Dreck an! Jetzt lass mich los, oder ich sage Hector was du mit mir gemacht hast!“

Zu meiner Verblüffung ließ Georg mich tatsächlich los, dann trat er einen Schritt zurück und wischte sich mit einer wütenden Bewegungen den Rotz von der Wange.

Seine Augen bohrten sich in meine und der blanke Zorn der mir daraus entgegenschlug ließ mich erschrocken zusammenfahren. Wenn Georg seine Ehre retten wollte müsste er mich für diese Aktion halbtot prügeln. Ich versuchte noch weiter zurückzuweichen, aber ich hatte immer noch die Wand in meinem Rücken, und an ihm vorbei konnte ich auch nicht. Inzwischen war Georg nicht nur kräftiger, sondern auch schneller als ich. Ich senkte den Kopf und hielt mir die Hände vors Gesicht.

Der erste Schlag kam nicht überraschend, aber deutlich brutaler als ich es erwartet hatte. Der zweite schickte mich zu Boden, und alle weiteren nahm ich kaum noch wahr. Mein Körper schaltete irgendwann auf Autopilot, ich spürte wie mir das Blut über Gesicht und Hände lief, aber ich bemerkte nicht wann Georg endlich aufhörte.

Ich vernahm wütende Stimmen, dann ein Klatschen, und dann nur noch Stille.

Ein Querulant und Einzelkämpfer

„Hey Ricci, komm wach auf, sonst fange ich an mir ernsthaft Sorgen um dich zu machen.“ Irgendjemand berührte mich an der Schulter, rüttelte mich sanft, und ich öffnete unter Stöhnen die Augen. Grelles Licht blendete mich, es roch nach kalter Nachtluft und irgendetwas anderem, beißenderem, und ich verzog angewidert das Gesicht. Mein Handrücken pochte unangenehm, meine rechte Schläfe fühlte sich seltsam gespannt an, aber ansonsten war ich wie in Watte gepackt. Eigentlich ein ganz nettes Gefühl.

Ich hob meinen Arm um mir über das Gesicht zu fahren, aber sofort legte sich eine Hand auf meinen Unterarm und drückte ihn zurück auf die Matratze auf der ich allem Anschein nach lag.

„Nicht, dein hübsches Gesicht hat ziemlich was abbekommen.“ ich hörte ein leises Seufzen. „Und der Rest von dir leider auch.“

Jetzt erst fiel mir wieder ein dass mich ja jemand geweckt hatte, und ich blickte mich überrascht um.

Neben meinem Bett, auf einem sehr unbequem aussehenden Stuhl saß Hector und musterte mich mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht. Ich war verwirrt.

„Wo bin ich denn?“ meine Stimme klang kratzig, und ich räusperte mich. Eigentlich konnte ich mir denken wo ich war, aber ich wollte es nicht wirklich glauben. War ich so schlimm verletzt? Ich fühlte mich eigentlich gut, bis auf das Pochen in meiner Hand und dem Ziehen an der Stirn.

Nur Hectors besorgtes Gesicht sagte etwas anderes.

„Georg hat dich ins Krankenhaus geprügelt. Du warst bewusstlos, deswegen haben wir einen Krankenwagen gerufen. Aber bis auf deinen Kopf bist du nicht ernsthaft verletzt.“ Er seufzte und tätschelte mir beruhigend den Arm. „Das übliche, Prellungen und blaue Flecke. Du wirst also wieder.“

Ich stöhnte ergeben und schloss die Augen. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf, aber ich war zu erschöpft um auch nur eine einzige zu stellen. Eigentlich wollte ich nur weiterschlafen und mir um überhaupt nichts mehr Gedanken machen.

Hector schien zu bemerken dass ich meine Ruhe brauchte, er klopfte mir noch einmal aufmunternd auf die Schulter und erhob sich dann.

„Ich werde dich mal noch ein bisschen schlafen lassen, Ruhe kannst du auf jeden Fall gebrauchen. Ich komme morgen nach der Schule noch mal vorbei, dann können wir reden wenn du willst. Bis dahin!“ er winkte mir zum Abschied und verließ dann das Krankenhauszimmer.

Im Laufe des Nachmittags kam meine Mutter vorbei und brachte mir noch ein paar Sachen; sie stellte keine Fragen, nur ob ich wüsste wer mich so zugerichtet hatte. Ich log sie an und verneinte, ich wusste nicht in wie weit Hector sich mit der Sache schon befasst hatte, und ich wollte ihm nicht zuvor kommen.

Auf meinem Handy trudelten Gute Besserungs-Wünsche meiner neuen Bekanntschaften ein, sogar Mariam meldete sich. Ich bedankte mich bei allen und blieb wage was meinen Zustand anging, ich erfuhr sowieso erst gegen Abend bei der Visite dass ich an einer schweren Gehirnerschütterung und unzähligen Prellungen und Quetschungen litt. Eine Platzwunde an meiner Stirn hatte genäht werden müssen, alles andere würde ohne sichtbare Spuren von selbst verheilen.

Von Georg kam kein Lebenszeichen.

Einerseits war ich froh darüber, ich hätte auch nicht gewusst wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte, andererseits saß ich deswegen wie auf Kohlen. Wäre ich nicht voller Beruhigungs- und Schmerzmittel gewesen wäre ich wohl durchgedreht. Aber Hector hatte ja gesagt wir würden reden, und damit sicher auch über Georg. Ich musste mich nur ein bisschen gedulden.

Die Nacht war die Hölle, trotz hochdosierter Schmerzmittel bekam ich rasende Kopfschmerzen und ich musste mich mehrmals übergeben. Das waren die Nachwirkungen der Gehirnerschütterung, und erst in den frühen Morgenstunden kam ich endlich zu etwas Schlaf.

Als Hector am Nachmittag endlich aufkreuzte musste ich aussehen wie ein Zombie, und er war sichtlich erschrocken. Aber er fing sich schnell wieder und begrüßte mich mit einem breiten Lächeln.

„Die Frage wie es dir geht spar ich mir mal, du hast heut sicher schon selbst in den Spiegel geguckt. Aber ich bring dir was nettes zur Aufmunterung!“ er kramte in seiner Jackentasche und überreichte mir dann einen blassrosa Briefumschlag mit hübschen roten aufgedruckten Herzen.

„Von meiner Schwester.“ Hector zwinkerte mir zu, dann zog er sich den Stuhl von gestern an mein Bett und wurde ernst.

Ich legte den Brief auf meinen Nachtschrank und senkte den Blick. Ich wusste nicht ob ich schon bereit war um über das Geschehene zu sprechen, aber es musste ja irgendwann getan werden. Und wahrscheinlich besser eher als später.

Hector seufzte und fuhr sich durchs Haar, dann beugte er sich nach vorn und sah mich durchdringend an.

„Ich weiß dass du die Sache wahrscheinlich lieber totschweigen würdest, und ich weiß auch dass du mir damals nicht alles über Georg und dich erzählt hast.“ Er hob beschwörend die Hand als ich etwas einwerfen wollte, und brachte mich damit wieder zum Schweigen.

„Keine Sorge, ich bin dir deswegen nicht böse. Ich kann´s sogar verstehen. Ich will nicht schönreden was Georg dir angetan hat, aber wenn ich es ein bisschen eher gewusst hätte hätten wir es vielleicht verhindern können.“ Er tippte sich mit einem Finger ans Kinn und schien zu überlegen. Ich starrte auf meine Hände und hielt den Mund.

„Weißt du, normalerweise mische ich mich in Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern meines Rudels nicht ein, das ist eure Sache, damit habe ich nichts zu tun solange es mich nicht selbst direkt betrifft. Aber bei euch ist das etwas anderes. Du bist nicht in unserer Gemeinschaft und als Wolf aufgewachsen, und Georg war die ganze Zeit schon ein Querulant. Und jetzt geratet ausgerechnet ihr beiden aneinander. Du bist ein netter Kerl Ricci, und ich mag dich. Deswegen finde ich auch nicht gut was Georg mit dir gemacht hat. Er hat dich nicht verprügelt weil du ihn herausgefordert hat sondern weil du nicht nach seiner Nase getanzt hast. Und das geht nicht. Das hat nichts mit unserem Verhalten als Rudel zu tun, das ist ein einziger Egotrip. Und wir können keine Einzelkämpfer gebrauchen.“ Hector hatte sich richtig in Rage geredet, seine Stimme war zwar immer noch ruhig aber ich konnte die Emotionen hören die unter seiner Oberfläche brodelten. Und auch wenn es absolut unangebracht war, ich bekam Angst um Georg. Ich hatte Hector noch nie ernsthaft wütend erlebt, aber nun war er es. Und wenn er sich Georg vorknöpfte würde der höchstwahrscheinlich nicht im Zimmer neben mir, sondern direkt auf der Intensivstation landen. Oder gleich im Sarg. Ich schluckte schwer und knetet unruhig die Bettdecke zwischen meinen Fingern.

„Und…was hast du jetzt mit ihm vor?“ ich versuchte möglichst gleichgültig zu klingen, aber meine Stimme zitterte verräterisch. Ich stand wohl immer noch unter Drogen.

Hector beobachtete mich genau, er schien zu überlegen ob er mir überhaupt antworten sollte, aber schließlich gab er sich einen Ruck. Ich würde es ja sowieso herausbekommen. Er sah ein bisschen unglücklich aus als er wieder das Wort ergriff.

„Das kommt ganz drauf an. Als Rudelführer müsste ich eure Uneinigkeiten eigentlich ignorieren, aber ich kann auch keine Störenfriede in meinen Reihen dulden. Georg hat sich Mühe gegeben, natürlich, aber er reagiert immer noch zu…unberechenbar, und er nutzt seine neue Stellung aus. Wer weiß, vielleicht würde er sogar versuchen mir die Rangfolge streitig zu machen.“

Ich sah Hector überrascht an, und er nickte ernst.

„Georg ist nicht dumm, ich weiß dass er mit dem Gedanken auf jeden Fall schon gespielt hat. Und das ist auch riskant für mich. Deswegen muss ich Konsequenzen ziehen. Und die einzigen logische wird sein ihn des Rudels zu verweisen.“

Ich spürte wie mein Herz einen Schlag aussetzte und dann doppelt so schnell weiterschlug. Mir wurde heiß, und ich brauchte ein paar Minuten um diese Information sacken zu lassen. Ich hatte nicht einmal gewusst dass es diese Möglichkeit überhaupt gab, aber so wie Hector sich anhörte war sie weitaus schlimmer als nach einem Kampf im Krankenhaus zu landen. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Einerseits hatte Georg sich selbst zuzuschreiben was er nun bekam, andererseits…war das alles nur passiert weil er eifersüchtig gewesen war. Erst auf Hector, dann auf Mariam. Er mochte mich; ja, vielleicht liebte er mich sogar, und dadurch war alles außer Kontrolle geraten. Ich betrachtete den rosa Brief auf meinem Nachtschrank und mir wurde ganz elend. Mochte ich Mariam mehr als Georg? Ich war mir nicht mehr sicher. Nicht nachdem Hector so ein Ultimatum stellte. Ich wusste nicht genau was es bedeutete aus dem Rudel ausgeschlossen zu werden, aber es würde höchstwahrscheinlich auch das Ende unserer Freundschaft bedeuten.

„Steht das schon fest? Das mit dem Rauswurf?“ ich sah Hector unsicher an, und zu meiner Erleichterung schüttelte er den Kopf.

„Nein, noch nicht. Ganz so einfach geht das auch nicht. Da gehört mehr dazu als nur mein Wort.“ Sein Blick wurde wieder eindringlicher, und ich zuckte ertappt zusammen. Offensichtlich las er in mir wie in einem offenen Buch.

„Aber du willst das nicht, oder? Du ergreifst weiter Partei für ihn, und das obwohl er dich so schlecht behandelt und dich so zugerichtet hat. Ich weiß wie Georg zu dir steht, aber was ist mir dir? Wie stehst du zu ihm? Willst du mir das jetzt vielleicht sagen?“

Ich spürte wie mir das Blut in die Wangen schoss, die frische Naht an meiner Stirn begann  unangenehm zu pochen. Das Thema war mir peinlich, ich wollte nicht darüber reden, und schon gar nicht mit Hector. Ich datete immerhin seine Schwester! Aber wenn ich Georgs Haut retten wollte musste ich ehrlich sein, und tief in mir drin wollte ich das. Er konnte schließlich nichts dafür dass er mich mehr mochte als gut für uns beide war.

„Ich…weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich möchte nicht dass er Ärger bekommt, zumindest nicht so viel. Aber ich möchte auch nicht dass er mich weiterhin schikaniert. Oder dir gefährlich wird. Ich möchte eigentlich nur dass wir uns alle gut verstehen ohne dass es jedesmal eskaliert. Aber das geht wohl nicht.“ Ich ließ mich resigniert zurück in die Kissen sinken und schloss die Augen.

Hector schwieg, ich hörte ihn gleichmäßig atmen, dann berührten seine Finger vorsichtig meine Hand.

„Es gäbe vielleicht eine Möglichkeit, aber dann musst du meine nächste Frage wirklich ehrlich beantworten. Davon hängt alles ab.“

Ich öffnete die Augen und sah ihn fragend an. Er hatte die Stimme gesenkt und seine Miene war so ernst dass ich erschauderte.

„Ich bin ehrlich. Was willst du wissen?“

Hector schien sich noch einmal zu sammeln, er wählte seine Worte ganz genau bevor er sie an mich richtete.

„Ich habe dir die Frage schon einmal gestellt, aber du bist ihr elegant ausgewichen. Deswegen stelle ich sie dir jetzt noch einmal, und diesmal musst du mir antworten: Was fühlst du für ihn?“

Ich ließ mir Zeit mit meiner Antwort. Ich wusste nicht genau warum Hector das unbedingt wissen musste, aber ich wollte ihm eine klare Antwort geben. Und eine ehrliche.

Ich musste an den Kuss denken den Georg mir gegeben hatte; nicht den ersten, und nicht den draußen vor dem Haus. Sondern den anderen. Den bei dem er mir zum ersten Mal gezeigt hatte was er wirklich von mir wollte.

Ich hatte ihn abgeblockt, und er hatte es kein weiteres Mal probiert. Und dann hatte ich Mariam geküsst. Und das war anders gewesen. Aber auch besser?

Ich konnte das einfach nicht vergleichen. Es ging auch nicht. Georg war mein Freund, wir verstanden uns die meiste Zeit gut auch wenn es die letzten Male oft zum Streit gekommen war, aber er war eben auch ein Wolf, und er dominierte mich jedes Mal wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Während Mariam…mit ihr könnte es herrlich unkompliziert werden. Sie war zwar immer noch Hectors Schwester, aber sie gehörte nicht mehr zu unserem Rudel, und außerdem war sie ein Mädchen. Auch wenn Hector anscheinend nichts gegen eine Verbindung zwischen Georg und mir einzuwenden hatte, wie würden das die anderen sehen? Von denen konnte ich noch keinen gut genug einschätzen um zu wissen wie sie reagieren würden.

Ich rieb mir mit den Handballen über beide Augen und stöhnte resigniert. Ich kam zu keinem Ergebnis. Zumindest nicht sofort. Würde Hector das verstehen?

„Ich würde dir gern eine ehrliche Antwort geben, aber ich kann nicht. Nicht jetzt. Ich muss zuerst mit Georg sprechen. Ginge das?“ ich sah Hector um Erlaubnis bittend an, und er überlegte einen Moment. Dann nickte er. Er schien mit meiner Bitte nicht zufrieden, aber er sah wohl ein dass das keine Entscheidung war die ich sofort treffen konnte. Ich dankte ihm im Stillen.

„Ich werde ihn anrufen und ihm sagen dass du mit ihm sprechen willst. Er weiß um den Ernst der Lage, also wird er sich nicht sträuben. Aber wir können uns damit nicht allzu viel Zeit lassen, das Rudel ist unruhig und will eine Entscheidung. Und die muss ich ihm so bald wie möglich bringen.“

Hector erhob sich und zog sein Handy aus der Hosentasche, dann verabschiedete er sich und ging raus auf den Flur. Ich wusste nicht ob er noch mal zurückkommen würde, aber knapp fünf Minuten später öffnete sich meine Zimmertür wieder und er kam doch zurück, das Handy immer noch in der Hand.

„Heute hat er keine Zeit, er gibt Nachhilfe. Aber er kommt morgen vor der Schule vorbei, das muss ausreichen. Überlege dir genau was du sagst.“ Hector sah mich noch einmal eindringlich an, dann lächelte er.

„Das wird nicht nur wichtig für Georg, sondern auch für dich. Ach, und den solltest du vielleicht besser verstecken.“ er deutete mit einem Kopfnicken auf den rosa Briefumschlag, und ich schob ihn mit hochrotem Kopf schnell in meinen Nachttisch. Das entlockte Hector ein Lachen, und er klopfte mir noch einmal auf die Schulter.

„Gar nicht so leicht so begehrt zu sein, was? Aber du machst das schon. Ich vertrau dir. Und jetzt mach ich mich mal lieber auf die Socken, ich habe dich lange genug belästigt. Du sollst dich ja ausruhen und gesund werden. Wenn was ist, ruf mich jederzeit an. Okay?“ Ich nickte stumm, und dann verabschiedete Hector sich endlich. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel ließ ich mich erschöpft in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Die Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, aber ich war zu müde um nach einer entsprechenden Tablette zu klingeln. Ich wollte eigentlich nur noch schlafen. Und tatsächlich, obwohl meine Gedanken wie wild Karussell fuhren dauerte es keine fünf Minuten bis ich tief und fest eingeschlafen war.

Blut und Schokolade

Hier ist es, das letzte Kapitel!
 

~*~
 

Georg kam kurz nach sieben Uhr. Seit fünf in der Früh war ich munter gewesen und hatte überlegt was ich ihm sagen sollte, aber als er schließlich vor mir stand brachte ich keinen Ton heraus. Ich blickte betreten auf meine Hände hinunter während er eine Tafel Schokolade auf den Nachttisch legte und sich dann den gleichen Stuhl heranzog auf dem Hector tags zuvor gesessen hatte. Ich wartete noch einen Moment, dann ergriff ich das Wort. Die Luft im Raum war zum Zerreißen gespannt.

„Hat Hector dir was gesagt?“ frage ich vorsichtig. Ich wagte es nicht Georg anzusehen, aber ich konnte hören wie er den Kopf schüttelte.

„Nein, nur dass wir uns unterhalten sollen. Aber ich denke ich weiß auch so worum es geht.“ Seine Stimme klang erstaunlich abgeklärt, fast kalt, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich hätte nicht angenommen dass er sich entschuldigen würde, das wäre zuviel, aber dass er sich immer noch wie ein Arschloch benahm, das war heftig. Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen stiegen und wandte verstohlen den Kopf ab. Zum Glück war direkt neben meinem Bett ein Fenster, da konnte ich unauffällig hinaussehen. Eigentlich hatte ich vorgehabt mich mit Georg zu versöhnen, aber so…

„Hector will dich aus dem Rudel verstoßen weil du überreagiert und mich verprügelt hast. Das hättest du nicht tun dürfen, ich habe dir keinen Grund gegeben!“ ich biss mir auf die Lippe und starrte weiter stur aus dem Fenster. Es kostete mich alle Kraft nicht einfach loszuheulen, aber diese Blöße wollte ich mir nicht geben.

Georg schnaubte abfällig und rutschte auf dem Stuhl herum, seine Stimme war schneidend.

„Du hast mir einen Grund gegeben, aber das versteht Hector nicht. Der sieht nur das Rudel und seine Position als Obermacker. Und deswegen will er mir ans Leder. Weil ich ihm gefährlich werden könnte. Du und unser kleiner Disput sind für ihn nur Mittel zum Zweck. Also hör auf mich so anzugehen. Es tut mir Leid dass du so schwer verletzt wurdest, das wollte ich nicht, aber verdient hattest du es.“

Ich fuhr herum und starrte Georg völlig fassungslos an. Sofort wurde mir schwindelig und ein scharfer Schmerz zuckte hinter meiner Stirn, aber ich ignorierte ihn. Ich konnte nicht glauben was ich gerade gehört hatte. Das war etwas völlig anderes als ich erwartet hatte. Georg war nicht hier um über uns und unsere „Beziehung“ zu reden, er war hier weil er Hector eins auswischen wollte. Völlig egal wie es mir dabei ging. Ich wischte mir die letzten Tränen aus den Augen und fletschte wütend die Zähne. Georg zuckte überrascht zusammen, dann spannte er sich ebenfalls und knurrte leise.

Aber diesmal war ich schneller. Ich war verletzt, und das sollte er merken!

„Hörst du dich überhaupt reden? Ich dachte du kommst her weil du dich bei mir entschuldigen willst, und ich hätte diese Entschuldigung sogar angenommen weil ich dir damit Arsch gerettet hätte. Du hast mich verprügelt weil ich mich wieder mit Mariam getroffen habe und dir das nicht gepasst hat. Und nicht weil du Hector eins reindrücken wolltest. Du bist ein noch größeres Arschloch als ich dachte, und ich werde jetzt den Teufel tun und dir weiterhin helfen. Soll Hector dich nur aus dem Rudel werfen, ich werde auf jeden Fall gegen dich stimmen. Und jetzt verpiss dich, und nimm deine Scheiß Schokolade mit!“ die letzten Worte hatte ich bereits geschrien, ich war fuchsteufelswild, und Georg tat mir den Gefallen. Nur die Schokolade ließ er liegen. Sie traf die Tür kurz nachdem er diese hinter sich zugeschlagen hatte.

Ich brauchte fast zwei Stunden bis ich mich so weit beruhigt hatte dass ich Hector anrufen konnte. Obwohl er gerade im Unterricht sitzen musste ging er sofort ran, und ich erzählte ihm alles bis zum Schluss. Jedes Wort. Egal was das für Georg bedeuten würde. Aber ich wusste ja schon was ihm nun blühte. Und Hector bestätigte es mir.

Sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen worden wäre würde er eine große Versammlung einberufen, und dann würde es eine Abstimmung geben. Und da Georg sich trotz seiner neuen Stellung im Rudel noch nicht wirklich beliebt gemacht hatte war es schon jetzt abzusehen wie diese ausgehen würde. Und es tat mir kein bisschen Leid.

Ich hatte zwei Stunden lang geheult, mir tat jeder Knochen im Körper weh, und ich war einfach fertig mit der Welt. Ich wollte das Georg aus meinem Leben verschwand, und die Abstimmung würde mir dabei helfen.

Ich konnte es kaum erwarten entlassen zu werden.

Hector besuchte mich noch ein paar Mal, und zweimal brachte er auch Mariam mit, aber die Situation zwischen uns beiden war zu verkrampft als dass sich weitere Treffen gelohnt hätten. Ihren Brief hatte ich ungelesen zerrissen und weggeworfen. Ich war nicht bereit mich so bald wieder jemandem zu öffnen.

 

Einen Tag vor meiner Entlassung und damit kurz vor der am folgenden Abend geplanten großen Versammlung geschah etwas das mein weiteres Leben im Rudel völlig aus der Bahn werfen sollte.

Ich war gerade vom letzten Kopfultraschall zurückgekommen und wollte mich mit einem Buch aufs Bett legen, da klingelte mein Handy. Ich registrierte fünf verpasste Anrufe, alle von Mariam.

Ich nahm mit klopfendem Herzen ab.

„Was ist passiert?!“

Mariam schluchzte, sie brauchte drei Anläufe bis sie mir endlich sagen konnte was geschehen war.

Georg hatte Hector zum Kampf herausgefordert.

Und er hatte gewonnen.

Wir hatten einen neuen Rudelführer.

Es würde keine Abstimmung geben, sondern die Krönung eines neuen Alphawolfes. Und das war ausgerechnet der Kerl den ich mit gefletschten Zähnen zum Teufel gejagt hatte.

Nachdem Mariam aufgelegt hatte musste ich mich erst einmal sammeln. Ich versuchte Hector zu erreichen, aber der nahm natürlich nicht ab. Er würde mich nicht mehr beschützen können.

Mir wurde eiskalt.

In knapp vierundzwanzig Stunden würde ich Georg gegenüber stehen, und es gab nichts und niemanden mehr der ihn davon abhalten konnte mich in Stücke zu reißen.

Die Hölle hatte ihre Pforten für mich geöffnet, und dahinter wartete der große böse Wolf.
 

~*~
 

Ein fieses offenes Ende, was? :P

Aber keine Sorge, es gibt eine Fortsetzung.

Und die ist, oh Wunder, nicht ganz so zahm wie der erste Teil.
 

In jedem Fall:

Danke fürs Lesen <3

Man sieht sich sicherlich bald wieder ;)



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Rentierchan
2019-11-07T09:34:17+00:00 07.11.2019 10:34
😱 oha
Dazu fällt mir nichts weiter ein.
Bitte schreib schnell! Das ist ja nicht auszuhalten.
Antwort von:  aceri
07.11.2019 16:13
Ich bin schon dabei :P
Von:  Rentierchan
2019-10-13T19:57:53+00:00 13.10.2019 21:57
Ich kann ihn absolut verstehen. Er wird immer wieder zwischen zwei Stühlen hin und her gezerrt.
Noch ist mir Georg ziemlich unsympathisch, vielleicht ändert sich das noch.


Antwort von:  aceri
14.10.2019 12:18
Ich mach dir nicht allzu viel Hoffnung :P
Antwort von:  Rentierchan
15.10.2019 21:26
XD na toll


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