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Fortune Files

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Rova 11: Faszinosum Elisabeth

Alle weiteren Ereignisse wurden von meiner Frau sicherlich weitestgehend wahrheitsgetreu und wahrscheinlich auch mehr als eindrücklich dokumentiert. Die Anzahl meiner Geheimnisse und unbekannten Parameter sank schließlich rapide, woran meine redseligen Geschwister die Hauptschuld trugen.

Mein Umgang mit der ebenso entzückenden wie anspruchsvollen Reinkarnation Elisabeths brachte unter anderem tief sitzende Erinnerungen hervor, die ich in dieser Eindrücklichkeit für vergessen hielt. Nach einhundert Jahren der Zeit des Unglücks wirkte das Glück früherer Tage wie ein weit entfernter Kerzenschein in der Finsternis, den ich konzentriert durch einen dunklen Schleier hindurch zu betrachten versuchte.

Wer Elisabeth nicht persönlich kannte, nur von ihren Taten hörte und sie darauf reduzierte, konnte gewiss niemals verstehen, was ihr zu ihrer Einzigartigkeit verhalf. Um- oder Beschreibung konnten ihr niemals gerecht werden. Man musste sie erlebt, ihre erhabene Aura gespürt, den sanft rosa Teint auf ihrer sonst blassen Haut und das Strahlen ihrer tiefblauen Augen gesehen haben. Ihr langes kastanienbraunes Haar erhielt im goldenen Schein der Petroleumlampen den brillantesten Glanz. Elisabeth war schön wie eine Rose in voller Blüte, aber auch stark und intelligent. Um ihre Faszination ansatzweise nachvollziehbar zu machen, sind präzise Beschreibungen besonderer Erlebnisse von Nöten. Erinnerungen, die ich tief in mir versiegelt hielt.
 

Dass sich Alucard weder für meine Erziehung noch für meine Bildung verantwortlich zeichnete, sollte weithin bekannt sein. Die Rolle der Lehrmeister, Erzieher und wohl auch meiner Bezugspersonen übernahmen meine Geschwister Vicco und Magna an seiner statt. Daric verweilte zu jener Zeit nicht im Palast in Argisch, da er sich erfolglos um einen Anschluss Amerikas an die loyale Vampirgesellschaft bemühte. Die zweitjüngste Bewohnerin des Anwesens war somit Magnas Tochter Elisabeth. Möglicherweise konnte ich sie aus diesem Grund schon seit frühester Kindheit als meine innigste Freundin bezeichnen. Einfluss hatte wohl auch ihr kaum stillbares Interesse an ehemaligen Mensch-Vampir Hybriden wie mir. Sie observierte meine Entwicklung mit unermesslichem Wissensdurst. Obendrein steckte sie mit der Bearbeitung der Forschungsunterlagen meiner menschlichen Mutter, die sich mit Blutgruppen, sowie der Gerinnung von Blut auseinandersetzte, in einer Sackgasse. El legte mir die handgeschriebenen Unterlagen und gedruckten Essays meiner verstorbenen Mutter vor die Nase, kaum dass ich lesen konnte. Dementsprechend war Chemie ein Fachbereich, mit dem ich bereits in frühesten Tagen in Berührung kam und infolgedessen eine tiefe Bindung einging. Dass sie von MEINER Mutter stammen sollten, verzauberte die Dokumente vor meinen kindlichen Augen zu Folianten mit magischen Formeln, die ich um jeden Preis zu entschlüsseln versuchte. Dies ebnete meine Karriere als Chemiker.

Wie kurz erwähnt lebten wir damals noch in jenem prunkvollen Königspalast im walachischen Argisch, den Daric später allein bewirtschaftete. Alucards Stammplatz fand sich auf einem vergoldeten Thron im Thronsaal. Ein Ort, den ich wie der Teufel das Weihwasser mied. Zu meinem Glück war der Palast deutlich zu geräumig für eine sechsköpfige Familie, was einen entscheidenden Vorteil mit sich brachte. Obwohl ich nicht nach draußen in die Welt durfte, konnte ich mich in unserem überdimensionierten Palast und auf dem Gelände frei bewegen und erhielt dennoch genügend Raum zur Entfaltung.

Ausnahmen zum Ausgehverbot verschaffte mir Elisabeth, als ich zwischen 6 und 7 Jahren alt war. Sie bestand darauf, dass ich die Jagd erlernte, was zumindest von Alucard befürwortet wurde. Notwendig war dies zwar nicht, da in dieser Zeit bereits ein Netz aus Blutbanken aus dem Boden gestampft wurden, wenngleich die Haltbarkeit der lebensspendenden Flüssigkeit noch bei weniger als drei Tagen lag. Elisabeth war sich dennoch sicher, mir damit fundamentales Wissen zu vermitteln, was auch stimmte.

Von diesen nächtlichen Jagden brannten sich mir eindrückliche Erinnerungen an Elisabeths anmutigen Körper, der sich im silbrigen Schein des Mondes über den Leibern ihrer Opfer räkelte, tief in mein Gedächtnis ein. Sie verfügte über herausragendes Geschick, nutzte ihre ausgeprägte Grazie, um Menschen in ihren Bann zu ziehen und ihnen dann so behutsam die Halsschlagader zu öffnen, dass sie es nicht einmal direkt bemerkten. Ich lernte schnell. Damals empfand ich noch keine Schuld beim Töten meiner Beute. Es schien vollkommen normal zu sein. Erst als mir einige Jahre später meine menschliche Abstammung bewusstwurde, begann ich, Menschen zu respektieren.

Immer bevor meine geliebte Nichte ihre Zähne in ihrer Beute versenkte, flüsterte sie ihnen ihr Kredo ins Ohr:

"lamia regnat mundi",

was ausdrücken sollte, dass sie uns Vampire als künftige Weltherrscher betrachtete. Damals gefielen mir ihre Allmachtsvorstellungen noch, aber das gehörte zum Kindsein dazu. Demzufolge tat ich es ihr gleich und erlangte damit bereits in diesem jungen Alter große Anerkennung bei ihr.

Wenn wir morgens blutverschmiert nach Hause zurückkehrten, warteten Magna und Vicco bereits auf uns. Elisabeth konnten sie selbstredend nichts verbieten, mir aber schon. Doch selbst wenn ich Hausarrest erhielt, schlich sich El mit mir nach draußen in die Nacht. Wir gingen dazu über, das Blut im Fluss abzuwaschen, bevor wir den Rückweg antraten. Splitterfasernackt stieg sie mit mir ins kalte Wasser des Argeș. Sie ließ mich ihren Körper waschen, während sie den meinen säubere.

Meine Freundschaft zu Elisabeth wurde von Jahr zu Jahr tiefer. Sie stärkte mir den Rücken, schimpfte und lachte mit mir. Als ich elf war, stiftete sie mich an, Viccos Haartinktur mit roter Tusche zu ergänzen. Vier Wochen lang behielt sein helles Haar eine erdbeerfarbene Tönung bei, die ihm besser stand, als er wahrhaben wollte. Eine schöne Erinnerung.

Meine Hilfe bei Elisabeths Forschungen zahlte sich zudem nach und nach immer weiter aus. Mein wachsendes Verständnis für chemische Formeln ermöglichte uns, die Haltbarkeit von menschlichem Blut zu erhöhen. Dies wirkte sich positiv auf die Qualität unseres Blutprodukts aus und steigerte dessen Absatz. Sogar Daric, den ich nun erst kennenlernte, kehrte zurück aus Amerika, um die Filialketten auszuweiten.

Ich sah die Anerkennung in Elisabeths Augen, doch von Alucard erhielt ich sie nicht in angemessenem Umfang. Dies war der Zeitpunkt, an dem sie mir anvertraute, dass ich ein Fehlversuch bei der Zeugung einer zweiten Tochter gewesen sei. Für mich fühlte es sich an, als habe ich das Mysterium des Jahrhunderts aufgeklärt. Verzweifelt, nichts an meinem Geschlecht ändern zu können, wie sehr ich mich auch anstrengte, lieh ich mir Elisabeths weiße Kleider und band mir einen geflochtenen Zopf aus ockerfarbenen Wollfäden ins Haar. Doch natürlich blieb ich, was ich war, nämlich das einzige ungeliebte Kind der Familie Dracul. Ich wünschte mich zurück in den Schoß meiner toten Mutter. Erst durch diese zermürbenden Gedanken erlangte ich die Einsicht, sie eigenhändig getötet zu haben. Eine Erkenntnis, die mich in tiefe Verzweiflung stürzte. Elisabeth war die einzige, von der ich mir in meiner Trauer helfen ließ.

Indes begann ich Vicco immer stärker zu beneiden. Er besaß alles, was ich begehrte. Nicht nur unser fehlgeleiteter Vater Alucard, auch Elisabeth liebte meinen wortgewandten und stets perfekt gekleideten Bruder. Was war es, das er besaß, mir aber fehlte? Auch ich verfügte über Sprachtalent sowie einen erlesenen Geschmack. Um dies unter Beweis zu stellen, begann ich Gedichte zu schreiben. Wirklich gut wurde ich darin zwar leider nie, Elisabeth mochte es dennoch, wenn ich sie vor ihr rezitierte. Vielleicht, weil sie nicht selten zu dessen Inhalt wurde.

Schon allein deshalb konnte ihr meine Bewunderung ihr gegenüber nicht entgangen sein, was auch meine brennende Eifersucht auf Vicco einschloss.

Den Blutmond verbrachte Elisabeth interessanterweise niemals mit ihrem Mann, möglicherweise, da sie sich nicht bereit für eigene Kinder fühlte. Um mich hatte sie sich stets gesorgt und in den meisten Fällen zu mir gestanden. In meinen Augen hätte sie eine hervorragende Mutter abgegeben. Ich fragte mich, ob sie Kindern im Grunde nicht abgeneigt war und sie nur mit Vicco keine wollte. Diese Interpretation gefiel mir, wo sie doch bedeuten würde, Elisabeth ginge in der Beziehung mit ihm nicht vollkommen auf. Mein Bruder selbst sprach dagegen gern von seinem Wunsch nach Nachwuchs. An ihm scheiterte es nicht.

In einer dieser speziellen Vollmondnächte kam El überraschend in mein Zimmer. Ich befand mich in meinem fünfzehnten Lebensjahr und so begann die Mondfinsternis auch bei mir einschlägige Wirkung zu zeigen. Elisabeth wusste von meiner Geschlechtsreife und doch setzte sie sich in dieser elektrisierenden Nacht neben mich an meinen Sekretär, an dem ich mich zuvor konzentriert versucht hatte, mit Belletristik abzulenken. Ihre erregende Nähe zu spüren, ließ mich auf der Stelle erstarren. Meine Fähigkeit, mich zu bewegen, kehrte auch dann nicht zurück, als sie mich an der Schulter zu sich drehte und sich mir dann bis auf wenige Zentimeter annäherte. Vollkommen überfordert ließ ich zu, dass sich unsere Lippen berührten. Elisabeth stahl mir meinen ersten Kuss und machte mich damit überglücklich. Kaum beschreibbare Prozesse liefen parallel in mir ab. Mein Körper bebte, mein Herz quoll über, meine Welt löste sich vor meinem inneren Auge auf und setzte sich erneut zusammen und das alles, während ich Elisabeths sanften Rosengeschmack auf der Zunge schmeckte. Natürlich verstand ich es nicht und fragte ich mich, wie ich reagieren sollte. Konnte ich mich der Frau, die ich über alles liebte, widersetzen, weil sie mit meinem Bruder liiert war?

Nein, unmöglich.

Noch immer vollkommen wortlos knöpfte sie mein Hemd auf und fuhr anschließend mit ihren weichen Fingerkuppen zart über meinen Oberkörper.

"Du bist so ein artiger Junge",

hauchte sie, bevor ich ihr kastanienbraunes Haar erneut näherkommen sah. Nur küsste sie mir nun nicht erneut auf den Mund, sondern auf die Brust, öffnete auch meine Hose und zog mich somit vollständig aus.

"Was machst du denn da?",

fragte ich mit dünner, aber dennoch hitziger Stimme. Sie lächelte zu mir nach oben, stand vor mir auf und ließ ihr weißes Spitzenkleid ihren weiblichen Körper vor meinen Augen hinabgleiten. Ihre fahle Haut wurde sanft vom Schein meiner beiden Petroleumlampen beschienen. Meine Blicke sprangen zwischen ihren straffen Brüsten, ihren duftenden Schenkeln und ihrem vereinnahmenden Lächeln hin und her. Ihr aufregender Körper überforderte meinen jugendlichen Geist.

Elisabeth begann mich erneut zu berühren, auch an jenen besonderen Stellen, die sie beim Baden im Fluss ausgespart hatte. Meine Unschuld starb in dieser Nacht, wenngleich Elisabeth den Beischlaf nicht vollendete, da er zu einer garantierten Schwangerschaft geführt hätte.
 

In der darauffolgenden Nacht begegneten wir uns erst zur geplanten Familienversammlung. Elisabeth funkelte mich wissend an, wobei wir kein einziges Wort darüber verloren. Auch später nicht und es wiederholte sich, zu meinem Bedauern, auch kein weiteres Mal. Nicht einmal ein Jahr später zur folgenden Mondfinsternis besuchte sie mich.

Die Auswirkungen jener Nacht auf mich wirken nachhaltig. Elisabeth hatte sich bereits vor dieser Begegnung zur Frau meiner Träume entwickelt, danach schienen für mich jedoch gar keine anderen Frauen mehr auf der Erde zu existieren. Diese Eine fraß all meine Gefühle und behielt sie für sich. Sie war meine Welt und selbst wenn sie einen schroffen Ton ansetzte, mich maßregelte, ob gerechtfertigt oder nicht, hing mein Herz allein an ihr. Nicht einmal ihr Tod vermochte daran etwas zu ändern.

Auch Vicco liebte sie über alle Maßen, doch er tat etwas, das ich ihm nicht zugetraut hatte. Er machte den Fehler, Elisabeth zu bedrängen. Nicht nur Kinder wollte er von ihr, sondern auch den Geschmack ihres Blutes auf der Zunge. Selbstverständlich respektierte er sie, forderte jedoch, sich stärker auf ihn einzulassen, doch wenn eines in unserem Universum unmöglich war, dann Elisabeth in einen Käfig zu sperren.

Als Resultat trennte sie sich von meinem Bruder als ich fünfzehn Jahre alt war und wählte mich an seiner statt. Dies geschah kurz vor unserem Umzug nach Deutschland, der auch die Namensänderung zu Lucard beinhaltete.

Ich konnte nicht fassen, dass ich den Mann, den ich neidete, besiegt hatte. Nie hatte ich geglaubt, den edlen, immer aufrechten Vicco vor Elisabeth wie einen gebrochenen Halm einknicken zu sehen. In gekränkter Ehre verließ er sogar den Familienrat und verwehrte den Umzug nach Deutschland.

Elisabeths Ketten waren somit gesprengt, auch was ihre Politik betraf. Neue Gesetze, denen Vicco nicht zugestimmt hätte, überfluteten die Vampirgesellschaft, während ich Elisabeths Libido auszugleichen hatte. Sie war kaum zu bremsen in ihrem Eifer, mich immerzu zu verführen. Schon bald kannte ich ihre Schenkel besser als ihren Mund. Leider ließ sie mich nur zu gern wissen, dass ich mich weniger geschickt anstellte als ihr erster Mann. Was wunderte es sie? Vor ihr unterhielt Vicco zwar keine ernsthaften Beziehungen, doch stieß er sich nur zu gern unverbindlich die Hörner bei hochgeborenen Damen ab.

Nach ihrer Trennung war er überstürzt abgereist, hatte all sein Hab und Gut zurückgelassen. Wie sich herausstellte, reiste er umher, kam aber ab und an für einen einzelnen Tag auf Besuch nach Deutschland, um sich bei Alucard über die politische Lage zu informieren.

In unserer neu erbauten, modernen Jugendstilvilla schliefen Elisabeth und ich nicht mehr getrennt, wie im Palast, sondern gemeinsam in etwas, das sich Ehebett nannte. Natürlich unterhielten wir als Vampire keine Ehen, wohl aber feste Partnerschaften.

Der Morgen dämmerte, als ich mich hinlegte und vergebens auf sie wartete. Es kam nicht selten vor, dass wir den Tag im Kellerlabor durcharbeiteten, dann aber üblicherweise gemeinsam. Ich zog einen Tagesmantel über, sah im Labor nach und im überfüllten Kerkertrakt, fand sie darin jedoch nicht vor.

Es überraschte mich, Magna auf halber Höhe auf der Treppe ins erste Obergeschoss anzutreffen. Sie sah zu mir herab, einen mitfühlenden Blick in den Augen.

"Sie sind oben",

sagte sie so sanft, als wolle sie mich auf etwas Ernstes vorbereiten. Ich sog tief Luft durch die Nase ein und stieg die Holzstufen zu ihr hinauf. Dann hörte ich es. Elisabeths wohlbekanntes, heißes Stöhnen, aus dem Gästezimmer. Ich erkannte zwar nicht, was die männliche Stimme sagte, wohl aber, dass sie zu meinem Bruder gehörte.

Ich schloss für einen Moment die Augen, presste sie dann zusammen, öffnete sie wieder und ging zurück ins Erdgeschoss in meines und Elisabeths Ehebett. Was hätte ich schon tun können? Sie war eine Frau, die sich nichts sagen ließ. Mir blieb die Wahl, mir dies bieten oder sie loszulassen. Was für eine Frage…

Sie kehrte in den Nachmittagsstunden zu mir ins Bett zurück, legte sich beschwingt neben mich und säuselte ein süffisantes:

"Ahh, das hat gutgetan."

Ich schluckte alle Vorwürfe herunter und fragte:

"Wird das jetzt öfter vorkommen?"

"Oh, das weiß ich noch nicht. Vielleicht schon. Es müsste doch in Ordnung für dich gehen, oder? Immerhin war ich tausende Male mit Vicco im Bett. Auf die paar Mal kommt es jetzt auch nicht mehr an."

Für sie vielleicht nicht, dachte ich, doch daran ändern konnte ich nichts. Wahrscheinlich, da ich unbewegt liegen blieb, beugte sie sich zu mir, gab mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte in einem süßlichen Ton:

"Keine Sorge, Rova. Dich liebe ich viel mehr als ihn."

Ironischerweise linderte das den Schmerz ein wenig. Immerhin, dachte ich…

Am Abend nach dem Aufstehen suchte ich Vicco dennoch auf. Er wirkte gelöster als direkt nach der Trennung, was mich nicht wunderte. Er schien im Aufbruch begriffen, da er gerade die Metallschnallen seines ledernen Reisekoffers schloss, der auf einem kleinen, runden Beistelltisch lag. Ich betrachtete das zerwühlte Gästebett, das Elisabeths und seinen Duft absonderte. Widerlich! Als mich mein Bruder im Türrahmen stehen sah, hielt er inne.

"Ich war nicht zu diesem Zweck auf Besuch."

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Überhaupt fragte ich mich, worüber ich mit ihm sprechen wollte. Vicco ließ seinen Koffer auf dem Tisch zurück und lief zu mir. Er versuchte eine Hand auf meine Schulter zu legen, vor der ich mich angewidert wegdrehte. Dies löste einen weiteren Impuls in mir aus, der mich dazu brachte, in gewinseltem Tonfall zu schreien:

"Nimm sie mir nicht wieder weg!"

"Das ist nicht meine Entscheidung, Robert",

beschwichtigte er und fuhr gewohnt gefasst fort.

"Dies ist wohl der geeignete Zeitpunkt, dir mitzuteilen, dass ich sehr wohl von eurem Blutmond Abenteuer vor eineinhalb Jahren weiß. Ich kenne deinen Schmerz also nur zu gut, aber verstehe mein Handeln deshalb nicht als späte Rache."

"Tss!",

spuckte ich aus, worauf er schulterzuckend reagierte.

"Sprich dich mit Elisabeth aus. Das habe ich damals auch getan. Und nur als Hinweis. Ich habe gegen ihr anhaltendes Interesse an mir nichts einzuwenden und werde sie auch weiterhin mit offenen Armen empfangen."

Damit machte er mehr als klar, dass er ebenso bereit war, nach Els Pfeife zu tanzen wie ich.

Hoffnungslos.

Wir beiden waren hoffnungslos an diese Frau verloren. Ich konnte dieses Missverhältnis wenigstens meiner Jugend zuschreiben, doch bei Vicco half diese Erklärungsweise nicht. Warum er sich unter allen Aristokratinnen, die er haben konnte, unbedingt für Elisabeth entscheiden musste, hatte einen anderen Grund. Er verbot sich die Liebe zu einer Frau unreiner Abstammung. Was als unrein deklariert wurde, bestimmte Alucard und dieser schloss ausschließlich die direkte Lucard Blutlinie ein. Ironischerweise gab es zu diesem Zeitpunkt aber nur zwei Lucard Frauen - unsere Schwester Magna und deren Tochter Elisabeth. Soweit ich wusste, war Vicco ungeheuer nah dran, seine Schwester zur Braut zu nehmen, doch sie entschied sich in letzter Sekunde gegen ihn. Ganz anders als ihre Tochter, die sich sofort an Viccos Hals warf. Sicher war sie dem Wahn der Blutreinheit ebenso verfallen wie er und so schloss sich der Kreis. Dennoch bleibt es ein Mysterium für mich, warum sie sich nicht bereits in jungen Jahren von Vicco schwängern ließ.

Aber trotz aller emotionaler Abhängigkeit von meiner Rose, setzte ich ihr auch Grenzen, insbesondere wenn es um unsere Menschenversuche, die Politik und die Entwicklung der Vampirgesellschaft ging. Ihre Vorstellungen überspannten den Bogen gern oder gingen mir zu stark auf Kosten der Menschen. Ich war in der Lage sie zu bremsen. Auf Vicco hatte sie diesbezüglich nicht gehört. Nur Alucards Wort stand über meinem. Meine Vergötterung ihr gegenüber war vergleichbar mit ihrer für den Urvampir. Ich konnte von Glück reden, dass sie ihn als Partner ausschloss. Sein Fehler bestand darin, ihren leiblichen Vater, eine Schlosswache und zugleich Magnas Geliebten, getötet zu haben. Auch ich hasste ihn wegen des Mordes an meinem zweiten Elternteil. Er war tatsächlich ein Mann, der ein- und dieselben Fehler immer neu zu wiederholen vermochte und sich dennoch über den ihm entgegengebrachten Hass wunderte. Was für ein Psychopath!

Es folgte Elisabeths tragischer Tod, dessen Umstände ungeklärt blieben. Zuletzt lebend gesehen hatte sie Alucard und ich schloss nicht aus, dass er der Auslöser war. Mitgerissen von meiner Trauer, die sich augenblicklich in rasende Wut verwandelte, tötete ich sämtliche Bedienstete und Zelleninsassen. Erst Alucard machte mich darauf aufmerksam, dass es unter ihnen einen Zeugen gegeben haben konnte. Doch was änderte das schon?

Elisabeth, die Liebe meiner Jugend, war für immer verloren.
 

Lyz gab mir diese vergessen geglaubten Gefühle zurück. Insbesondere nach der Konvertierung gewann sie zuträgliche Eigenschaften. Über ihr wachsendes Selbstwertgefühl und ihre Fähigkeit, auszusprechen, was sie sich wünschte, freute ich mich. Es erleichterte mir den Umgang mit ihr immens. Auch, dass ich mich nicht mehr in vollem Umfang zu verstellen brauchte, da sie in vielen Belangen kaum weniger radikal veranlagt zu sein schien, brachte erholsame Erleichterung. Sah ich von ihrer Zuneigung zu meinem Diener ab, entwickelte sie sich prächtig.

Wobei, … wenn ich wirklich vollkommen ehrlich zu mir war, und das stellte mich sogar mir selbst gegenüber vor eine große Herausforderung, dann empfand ich im Herzen etwas anderes, als mir mein Verstand Glauben machen wollte.

So unwahrscheinlich es auch klang, musste ich zugeben, dass mir dieser vorlaute Bengel namens Alexander tausendmal lieber war als Vicco. Wäre mein Diener nicht für meine Frau da gewesen, stünde zu vermuten, dass sie während meines Rückzugs nach ihrer Konvertierung andernfalls in die Arme meines ach so perfekten Bruders geflüchtet wäre. Dabei war es doch unwahrscheinlich, dass ich es ein weiteres Mal ertragen konnte, meine Frau ausgerechnet mit ihm teilen zu müssen. Alexander jedoch, störte mich von Tag zu Tag weniger. Natürlich geriet ich mit diesem Burschen gelegentlich aneinander, natürlich nutze er meine Schwäche aus und doch war da etwas, … eine eigenartige Wärme, die immer tiefer in mein Herz vordrang, die sich wahrhaftig anfühlte und nicht aufgesetzt wie Viccos ungebetene Ratschläge.

Alles in allem hatte sich mein Leben deutlich verbessert und das nicht nur im Vergleich zu den vergangenen einhundert Jahren, sondern auch im Verhältnis zu meinen Jugendjahren. Wie schwer er mir auch fiel, war dies der Neuanfang, auf den ich immer gewartet hatte und ich wusste ihn zu schätzen.



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