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Fortune Files

von

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Rova Bonus 2: Das Ende der Septem Lamiae

Ich war mitnichten bereit, mich dem Mann zu stellen, den ich mehr als alles andere verabscheute. Meine Zusage, ihn zu besuchen, nagte an mir und verhagelte meine Stimmung. Ich musste diese Last von mir werfen, die Höllenfahrt hinter mich bringen, also schnappte ich mir Lyz und Alexander schon am darauffolgenden Wochenende.

Wir flogen mit dem Jet des SOLV nach Siebenbürgen. An dieser Stelle nutzte ich meine Arbeitsmittel also sehr wohl für meinen persönlichen Vorteil, aber nur, da ein zweiter Flieger unwirtschaftlich gewesen wäre. Sprit, Pilot und Genehmigungen finanzierte ich selbstverständlich aus meinem Privatvermögen. Lyz verbrachte inzwischen die meiste Zeit damit, dem Piloten im Cockpit zuzusehen, denn dieses verrückte Ding war fest entschlossen, einen Flugschein zu machen.

So wie meine Laune, war auch Alexanders angespannt.

"Sprich!",

forderte ich ihn genervt auf, sich zu erklären.

"Du kennst meine Meinung schon",

behauptete er, aber das stimmte nicht, was ich ihm auch sagte. Er saß mir gegenüber, lehnte sich nach vorn und setze die Unterarme auf den Beinen ab. Während er sprach, sah er nach unten.

"In deinen Augen brennt Mordlust. Egal was du von ihm hältst, oder ob du ihn so nennst, ist er dein Vater. Ihn auszulöschen, bringt dir nicht zurück, was er dir genommen hat."

Er hob danach den Blick, sah mir sogar direkt in die Augen.

"Wenn du ihn jetzt tötest, nur weil du stärker geworden bist als er, macht dich das zu ihm."

Ich fletschte die Zähne und krallte mich in die Armlehnen vor Zorn, doch Alexander hörte nicht auf.

"Du rückst ihm auf die Position des einsamen Urvampirs nach, der vom Rest seiner Familie verabscheut wird."

Aggressiv packte ich in einer schnellen Bewegung seinen Oberarm, stand auf und zog ihn mit mir nach oben.

"Lyz wird es verstehen und Magna auch",

fauchte ich ihm direkt in sein nun doch verschrecktes Gesicht. Die Wucht hatte ihm einige Haare vor die Augen geweht, durch die er hindurch blaffte:

"Ich aber nicht!"

Ich warf ihn zurück auf seinen Sitz. Verdammt! Warum kümmerte es mich überhaupt, was ein Jüngling dachte, der in einer liebenden Familie aufgewachsen war?

Er richtete sich ein wenig auf und brachte seine Haare in Ordnung. Meine Drohung hatte ihn nicht ansatzweise eingeschüchtert.

"Du weißt ja noch nicht mal, warum er dich zu sich bestellt hat. Du gehst einfach vom Schlimmsten aus, denkst, dass er dich angreift, weil er dich nicht akzeptiert. Damit beherrscht er deine Gedanken und dich gleich mit."

"Schon wieder siehst du in meine Seele hinein. Wie ist das möglich?!",

brüllte ich ungehalten.

"Kapierst du das immer noch nicht? Ich habe mein ganzes Leben danach ausgerichtet, zu verstehen, wie du tickst."

Ja, das hatte er… und ich hatte meines nach Lyz ausgerichtet, was bedeutete, dass wir beide am Ende des Tages ihr folgten. Und in genau diesem Moment kam sie zurück.

"Rova! Ich hab dich bis ins Cockpit meckern gehört."

Ich hob die Hände in ihre Richtung.

"Ich weiß, ... es ist alles okay. Ich beruhige mich schon wieder."

"Sicher?",

fragte sie und sah Alexander an, der mit gekräuselten Lippen nickte. Danach fiel ihr Blick wieder auf mich und meine mitgenommenen Armlehnen.

"Arrww, mit mir schimpfst du, aber selber machst du mit deinen Nägeln alles kaputt!",

beschwerte sie sich und stellte sich dann, zu mir gewandt, zwischen mich und ihn. Sie legte eine Hand in meine Haare und schob meinen Kopf an ihren flachen, warmen Bauch. Ich schloss die Augen und ließ ihre Liebe in mich einströmen. Das war wunderbar. Es beruhigte meine angespannten Nerven. Alexander stand auf, der einen Arm um ihre Schultern legte. Nun verstand ich, was er meinte. Mein Leben war zu gut, als dass ich es durch einen Vatermord gefährden durfte.
 

Deutlich besänftigt, kam ich mit meiner kleinen Delegation auf Schloss Bran an, wo Daric schon am Eingang auf mich wartete. Meine Drohung musste ihn dazu bewogen haben, die etwas mehr als hundert Kilometer von Argisch bis nach Törzburg anzureisen, aber bereits meine ausgeglichene Aura beruhigte ihn. Chance hätte er gegen mich inzwischen ohnehin keine mehr gehabt. Es ging wohl eher um die Verdeutlichung seines Standpunktes, oder aber um die Befriedigung seiner Neugier.

Still, wie er war, wechselten wir kaum ein Wort miteinander. Ich legte meinen Arm um Lyz' Rücken und schob sie in das düstere Schloss hinein. Selbst an einem warmen und hellen Tag wie diesem, drang kaum Licht in dieses verfluchte Gemäuer. Kühl, feucht und dunkel empfingen uns die kriegerischen Relikte unserer Familiengeschichte vergangener Epochen, Zeitzeugnisse schwerer Schlachten um das Überleben des Geschlechts der Vampire. Mit einem unguten Gefühl schritt ich die mir verhassten Stufen empor zu Alucard, dem letzten Urvampir, meinem verhassten biologischen Ursprung.
 

Seine dicke Holztür stand einladend für mich offen, durch die mir seine bedrohlich lodernden roten Augen bereits entgegen flammten. Vorsichtshalber bat ich meine Familie, zurückzubleiben.

Erhaben stolzierte ich zu ihm, bevor sich die Tür hinter mir, wie durch einen Windhauch, von selbst schloss. Er beherrschte es wie kein Zweiter, seine Aura an einem Punkt zu verdichten und so einen kleinen Windstoß zu erzeugen. Eine Manipulation, die er erst in den letzten Einhundert Jahren perfektioniert hatte. Es musste langweilig sein, immer nur in diesem düsteren Raum zu hocken.

"Mein Sohn",

empfing er mich mit einer tief vibrierenden Stimme, untersetzt mit einer eleganten Handbewegung. Abscheulich, so von ihm genannt zu werden, nach all den Jahren seiner Ablehnung. Er saß auf dem einzigen Stuhl des Raumes, dessen übermannshohe Lehne einschüchternd wirken sollte. Weitere Sitzgelegenheiten wären überflüssig gewesen, wo er Gesellschaft doch verabscheute. Auch wenn ich noch immer weit von ihm entfernt stand, blickte ich von oben auf ihn herab. Dieser Mann war ein Nichts. Ich war es, der den SOLV zu Ruhm geführt hatte, nicht er.

Da er nichts mehr tat, außer unangenehm zu starren, wurde ich ungeduldig.

"Was wollt Ihr von mir, Alucard?"

Er fuhr sich mit beiden Händen den langen violetten Kragen entlang, den er dabei richtete.

"Als wahrer Erbe betraue ich dich mit den Hintergründen unserer Herkunft. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten."

Das sah ich vollkommen anders, nicht nur deshalb, weil ich meinen Ursprung immer verabscheut hatte, sondern auch, weil mir Alucard eine Rolle aufzwang, die ich nicht erfüllen wollte. Im Herzen war ich ein Forscher, kein Anführer, tja und Historiker war ich auch nicht. Trotzdem musste ich feststellen, dass Alexander recht behalten hatte. Dem Grafen ging es um eine informelle Machtübergabe, keinen Kampf oder Vorwurf. Er erkannte meine Führung an. Grund, ihn zu töten, lieferte er mir mit seinem Verhalten somit überraschenderweise keinen.

"Ihr bedauert meine Geburt also nicht mehr, Graf?",

erkundigte ich mich.

"Das habe ich nie."

"Nur mein Geschlecht",

schnaubte ich, was er bestätigte.

"Nur dein Geschlecht. Heute jedoch nicht mehr. Ich habe auf der Suche nach dir mancherlei Fehler begangen. Der Größte lag darin, dich nicht zu lieben, den perfekten Sohn, den Einen, in dem sich die vortrefflichsten Eigenschaften meiner ehrwürdigen Mutter vereinen."

Seiner Mutter? Ich wusste, dass er sich mit Daric in grauer Vorzeit ein einziges Mal über die "Septem Lamiae", die sieben Urvampire unterhalten haben musste, von denen Alucard der Letzte war. Wir alle trugen ihr Andenken in unseren zweiten Vornamen: Valentin, Natalia, Constantin und Richard. Die Namen der verbleibenden zwei kannte ich nicht. Alle noch lebenden Vampire stammten von Natalia und Constantin ab und damit endete mein Wissen über sie. Ich verfolgte seine Rede also konzentriert weiter.

"Die Zeiten waren andere. Meine Geburt liegt nicht in der Antike, die im Zusammenhang mit meinem Namen oft genannt wird, sondern einem Zeitalter davor."

Vor der Antike… also vor mehr als 3000 Jahren. Bronzezeit? Laut unseren Geschichtsbüchern trat er im Fünfzehnten Jahrhundert das erste Mal in Erscheinung, jedoch mit dem Vermerk "wiedererstanden". Ein Begriff, den keiner hinterfrage. Sicher kam dieser Part noch. Ich lauschte seiner gemächlichen Erzählung also weiter.

"Ich und meine sechs Geschwister entstammen der Magna Mater Kybele, die in sieben Ländern, befruchtet vom Blut ihrer sieben Ehemänner, jedem ein Kind gebahr. Nach ihrem Verschwinden aus unserer Welt, blieben wir sieben Nachtkinder in alle Himmel verstreut zurück, doch wir spürten unsere Existenz und zogen uns gegenseitig an. Jeder von uns war einzigartig und doch alle vom gleichen Stamme. Phelia, die zweite Tochter Kybeles und edelste unter uns, erwies sich gar als ihr optisches Ebenbild."

Die große Mutter, befruchtet von menschlichem Blut, verstreut in alle Himmel - das waren sicher keine Metaphern, aber welche Art von Wesen konnte diese Frau sein? Alucard war darüber hinweg gegangen, also unterbrach ich seine Erzählung, auch auf die Gefahr hin, ihn damit zu verärgern. Darauf hoffte ich sogar insgeheim.

"Erzählt mir mehr von Kybele. Wer war sie?"

Er blieb ruhig.

"Eine Göttin, ohne Frage, deren Existenz von der Kirche später als heidnisch verunglimpft und verteufelt wurde. Darin liegt der Ursprungskonflikt begründet, zwischen uns und dem Glauben an eine göttliche Trinität."

Die Kirche machte also nicht nur Jagd auf uns, weil wir uns von Blut ernährten und das Licht mieden, sondern auch, weil wir in ihren Augen Ketzer waren, mehr noch, leibhaftige Götzen. Niemand von uns hätte Elisabeth aufhalten können, hätte sie dies zu Lebzeiten gewusst.

Davon abgesehen ließ sich eine heidnische Fruchtbarkeitsgöttin aus der Bronzezeit nicht wissenschaftlich erklären und befand sich damit außerhalb meines Verständnishorizonts. Tatsächlich traf das aber auch auf spontane Mutationen wie meine Flügel und Fingernägel zu.

Die Fähigkeiten, Auren durch Luftvibration und spezielle Pheromone zu erzeugen, diese zu wittern und auch mit unserem siebten Sinn zu spüren, war dagegen eine gut erklärbare Wissenschaft. Sich, wie in seiner Beschreibung, über Himmel, sprich, über große Entfernungen hinweg, finden zu können, schien mir nichts anderes als das zu sein.

Alucard bestätigte somit die Existenz höherer Wesen, die uns verlassen haben mussten. Dass ich noch nicht alles verstand, hieß keineswegs, dass ich es nicht glaubte, immerhin handelte es sich um, mit Tatsachen untermauerte, Zeitzeugenberichte. Nur ein Narr hätte seine Worte angezweifelt.

Nach meiner kurzen Denkpause setzte Alucard an, mir den Rest der Historie offenzulegen.

"Als Jüngster unserer Sippe ließ ich mich, so wie auch die anderen Fünf, von der mächtigen Phelia leiten. Diese Konstellation hielt Drei Jahrhunderte lang an, in denen die Differenzen wuchsen, bis unser göttlicher Bund zerfiel. Constantin als auch Natalia begannen sich mit Menschen zu vermehren, ein Frevel in Phelias Augen. Richard und Yanhje verschwanden miteinander, einzig ich und Valentin blieben bei unserer Königin, die weder mich noch ihn erwählte. Zu meinem größten Bedauern verhinderte sie die Geburt eines reinen Nachtkindes, das meine Ambition darstellte. Bevor ich den Ausgang der Geschichte erfuhr, versetzte sie mich in einen Schlaf, aus dem ich erst Zweitausend Jahre später erwachte."

Dieser ersehnte Nachwuchs stammte mit Sicherheit von ihm, unfreiwillig womöglich. Alucard musste Phelia so lange nachgestellt haben, bis sie keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihn schlafen zu legen. Ich glaubte nicht, dass er großes Ansehen unter den Urvampiren besaß, sonst hätte er seine Position hervorgehoben. Zwischen den Zeilen verriet er mir damit, dass er vermutlich sogar der Schwächste unter ihnen allen war und doch hatte nur er überdauert.

Das Rätsel um die verschwundenen sechs Urvampire konnte demnach nicht einmal er lösen. Dieses Ergebnis war ernüchternd und aufschlussreich zugleich. Ich verstand gut, wieso er diese hochsensiblen Informationen nur seinem wahren Erben anvertrauen wollte.

"Ich verstehe, Alucard",

bestätigte ich, im Gegensatz zu seiner folgenden Anweisung.

"Mein Sohn, ich war 550 Jahre lang König. Beschreite du denselben Weg und sorge dann für eine EBENBÜRTIGE Nachfolge."

Sollte das etwa sein Ernst sein? Stelle er sich vor, dafür ein versöhnliches Lächeln von mir zu ernten? Das war lächerlich. Ich wusste, dass mich ein Auftrag aus seinem Munde, egal welchen Inhalts, wütend machen würde, aber nicht, wie sprunghaft impulsiv.

"Tse, ich habe lange genug nach Euren Regeln gelebt. Ein schwacher König, wie Ihr es wart, der sich von seinem 17- jährigen Sohn und seiner Enkelin übertrumpfen ließ, ist eine Schande für das göttliche Geschlecht der Lamiae."

Ich ging auf ihn zu, sodass er Aufstand, um nicht von oben herab betrachtet werden zu müssen. Das erlaubte ich ihm, nicht aber zu sprechen, solange ich noch nicht fertig war.

"Seid nicht so überheblich, zu glauben, Ihr könntet mir noch Befehle erteilen, Graf Alucard! Ihr habt mir die Führung nicht übertragen, sie wurde mir von meinen älteren Geschwistern, von meiner Frau, meinem Berater und sogar von meinem Volk aufgezwungen, weil IHR ein Versager seid!"

Die zornige Aura, die er aufbaute, war lächerlich gegen meine. Auge in Auge mit meinem Erzfeind dauerte es nicht lange, bis meine Flügel in voller Größe herausbrachen, die leider mein Hemd und mein Sakko zerrissen.

"Du bist also gekommen, um mich zu richten",

kombinierte der Graf mit aufgerissenen Augen, in denen ich Todesangst aufblitzen sah, die mir das warme Gefühl der Genugtuung verschaffte. Hinter mir stieß Daric, das spürte ich, die Tür auf. An seinem Schritt hörte ich, wie stark ihm meine Aura zu schaffen machte, schwächlicher Erstgeborener, ganz der Vater.

Obendrein spürte ich Alexanders schwindende Aura und die erwartungsgemäß widerstandsfähige meiner Frau. Blitzschnell setze ich meine Krallen an Alucards Halsschlagader und drehte mich dann ins Profil zu ihr.

"Sag mir, was ich tun soll, ...Lyz!"

Sie brauchte einen Moment, bevor sie die Lage erkannte.

"Was hat er getan?"

"Sich entbehrlich gemacht",

stieß ich erheitert hervor. Ich erinnerte mich. Vor Einhundert Jahren stand ich schon einmal an diesem Punkt. Damals entschied ich mich dazu, ihn zu verschonen, aber nicht, weil er mein Vater war, sondern weil ich Respekt unserem König gegenüber empfand.

Natürlich hatte ich Lyz mit meiner Aufforderung maßlos überfordert. Entbehrlichkeit war offenbar kein ausreichender Grund für sie und doch dachte sie darüber nach. Auch sie hatte nichts als Abscheu für ihn übrig. Seinem Blick nach zu urteilen, empfand Daric etwas ähnliches, allerdings für mich, aber mit seiner Anfälligkeit für Hypnose, war er kein Gegner.

Die eigentliche Frage für mich lautete: Hielt mich Lyz für einen Vatermörder? Ich tat es, ohne Zweifel, aber ich musste sichergehen, dass sie mir danach noch in die Augen schauen konnte, immerhin hatte sie ihre eigenen Eltern verschont.

Sie überraschte mich mit einer Anklage, nein, einem Tribunal für den Dämonen, den ich mit meinen Krallen bedrohte. Verzweifelt schrie sie an mir vorbei zu ihm:

"Bereut Ihr Eure Taten, Graf Alucard? Bereut Ihr die Vergewaltigung Eurer eigenen Tochter, die ihr später auch noch verstoßen habt? Bereut Ihr den Tod von Mags und Rovas Mutter, die ihr billigend in Kauf nahmt? Um ein Haar wäre ich die dritte Frau gewesen, die Ihr für Eure ekelerregende Reinheitsobession geopfert hättet. Habt Ihr Eure Familie etwa nur erschaffen, um sie leiden zu sehen?"

Selbstverständlich bereute er nichts davon, doch darum ging es ihm nicht. Lyz fixiert, riss Alucard seine roten Augen noch weiter auf, die glasig wurden, als er stammelte:

"Sie… sie ist..."

"Sie ist es. Auch schon gemerkt?",

flüsterte ich grinsend. Es gab nichts Erfüllenderes, als seine Welt bersten zu sehen. Lyz in meine Angelegenheiten einzubeziehen, zahlte sich immer wieder aufs Neue aus. Ich liebte diese Frau über alle Maßen. Ihr angewiderter Gesichtsausdruck beim Anblick seiner Tränen war Balsam für alle Wunden, die mir jemals in meinem Leben zugefügt wurden.

"Bring es zu Ende",

hauchte Alucard gebrochen, doch nicht er bestimmte über sein Leben. Das lag allein in den Händen seiner wundervollen Enkelin Lyz, die seiner geliebten Enkelin Elisabeth in diesem Moment bis aufs Haar glich. Diesen einen Fehler, ihre wahrhafte Reinkarnation um ein Haar getötet zu haben, bereute er ganz offensichtlich zutiefst.

"Lyz?!",

forderte ich sie auf, ihr Urteil zu sprechen. Ich versuchte, ihre Körpersignale zu deuten. Sie stand, trotz des Drucks meiner Aura, komplett aufgerichtet vor uns und bleckte die Zähne, was sehr selten bei ihr vorkam. Ihre Fingernägel waren allerdings schon verhärtet gewesen, als Daric die Tür aufstieß.

Alexander stöhnte von schräg hinter ihr auf. Das löste ihre Starre und lenkte kurz ihren Blick auf ihn. Als sie zu mir zurücksah, hatte sie ihre Entscheidung getroffen.

"Lass! Lass ihn! Er hat den Tod verdient, aber nicht durch dich! Auf keinen Fall durch dich, Rova!"

brüllte sie unter dem Druck meiner Macht nach Luft japsend und sackte danach ebenfalls auf ihre Knie. In mir tobte ein Kampf. Alucard niederzustrecken war nicht weniger als der Wunschtraum meiner Jugend, doch mein Lächeln verschwand. Es war mir nicht mehr möglich, meine Krallen in seinem Hals zu versenken, wenn meine Frau sich dagegen ausgesprochen hatte.

Ich ließ meine Aura fallen und stieß den Dämon von mir, der nun, an seinen Stuhl geklammert, auf dem Boden hockte und keuchte, vernichtend geschlagen, dieses Aas.

"Elisabeth…",

röchelte er.

"Elisabeth, sag mir, ... was hast du am Ende empfunden?"

Wie wichtig musste ihm diese Frage sein, wenn sie die erste war, die ihm zu ihr einfiel. Auch mich hätte eine Antwort darauf interessiert, doch Lyz konnte sie gewiss nicht geben. Selbst wenn ihr dieselbe Seele innewohnte, so verfügte sie doch nicht über ihre Erinnerungen.

Lyz legte eine Hand über ihre Augen und weinte. Das alles war zu viel für sie. Ich faltete meine Flügel ein, ging zu ihr, hob sie auf die Beine und lehnte sie an mich. Danach reichte ich Alexander eine Hand, die er ergriff und mit wackligen Beinen aufstand. Auch in seinem Gesicht erahnte ich Tränen.

Wir ließen Daric hinter uns zurück, der sich taumelnd zu Alucard schleppte.
 

Je weiter wir uns von den beiden alten Vampiren entfernten, desto klarer wurden meine Gedanken. Im Hof empfingen uns unzählige Krähen, die entweder ich oder auch der Graf gerufen haben konnte. Wir verscheuchten ein paar davon und setzen uns auf einen erhöhen Steinwall, auf den lindernd wirkende, warme Sonnenstrahlen fielen. Ich nahm meine aufgelöste Liebste auf den Schoß. In sich gebeugt, lehnte sie sich an meine nackte Brust und wimmerte vorwurfsvoll:

"Warum musstest du mir diese Entscheidung aufbürden?"

Ich legte meinen Kopf sanft auf ihrem ab. Nicht nur ihr Herz schmerzte. Dies war meine bisher beste Gelegenheit, meinen Hass auf meinen Ursprung ein für alle Mal loszuwerden, doch ich hatte sie für sie und auch für Alexander vergeudet. Da er sich nun schneller erholte als Lyz, stellte er sich vor uns, sodass uns die Sonne nicht mehr blendete. Er bemerkte, dass ich gerade nicht zur Antwort fähig war und übernahm sie für mich.

"Weil er es sonst getan hätte."

Dieser Jüngling war nicht nur ein ausgezeichneter Beobachter, sondern auch ein treffsicherer Sprecher für mich, wenngleich er sich den anklagenden Unterton hätte sparen können. Seufzend legte er sanft eine Hand auf meiner Schulter ab, die sofort Wärme in meinen gesamten Körper ausstrahlte, mehr noch als die Sonne es tat. Ich hob den Kopf und sah nun Entschlossenheit in seinen Augen funkeln, die tröstlich auf mich wirkte.

"Es war die richtige Entscheidung, Rova, nicht nur für Lyz und mich, sondern auch für dich. Mit einer Last, wie einem Vatermord, hätten wir nicht nur uns, sondern noch dazu den Rest der Familie und die ganze Vampirgesellschaft unnötig gespalten. Diese alte Vogelscheuche ist es nicht wert, das alles zu zerstören."

Mit einem Hauch von Einsicht legte ich meine Hand auf seine. Kaum zu glauben, welches innere Eingeständnis diese Berührung nach sich zog.

Dieser Junge hatte sich, mit seinen läppischen 25 Jahren, von einem Angestellten, über meinen persönlichen Diener und schließlich meinem Adjutanten zu etwas noch Größerem entwickelt. Zu meinem Erstaunen war er zu dem geworden, was meine Frau mir schon vor Monaten ans Herz gelegt hatte, meinem ersten und einzigen wahren Freund. Vertrauen, … ein merkwürdiges Gefühl. Ich hatte ja nur lausige 119 Jahre dafür benötigt.
 

Zu viele verschwendete, rückwärtsgewandte Jahre der Trauer und damit einhergehend, der mentalen Isolation lagen hinter mir, die mein Leben in ein verkratertes Trümmerfeld verwandelt hatten. Mein erstes Leben endete mit Elisabeth, das sich in einem lodernden Hass gegen meinen Vater verzehrte in dem ich alles, mit Ausnahme der Forschung, verabscheute. Mein zweites Leben begann mit Lyz und Alexander, die mich etwas verloren Geglaubtes wiederfinden ließen: meine Jugend. Vicco meinte, ich opfere dafür meinen Stolz, doch wenn er sich künftig tatsächlich der bedingungslosen Liebe seiner Söhne und Töchter hingeben wollte, würde er begreifen, wie weit ich ihm inzwischen voraus war. Er würde spüren, welchen Reichtum uns die Jugend zu schenken vermochte.

Ellys und auch Alexander - Allein diesen beiden jungen Vampiren an meiner Seite hatte ich es zu verdanken, dass ich mich umblicken konnte, ohne ein von bodenlosen Kratern zerfurchtes Schlachtfeld um mich herum erblicken zu müssen, in dem jeder Schritt in einen Abgrund führte. Sie verfüllten einige der unüberwindlich scheinenden Löcher, womit sie mir einen sicheren Baugrund ebneten, den ich bereit war, konstruktiv zu nutzen. Ein weiteres Mal würde ich mich nicht der Zerstörung hingeben, sondern mich mit Muße dem Aufbau meiner geschundenen Seele widmen. Das war ich nicht nur mir selbst schuldig, sondern auch denen, die mir etwas bedeuteten.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war zwar das letzte Kapitel der Fortune Files, aber eigentlich gibt es noch ein viertes, den Alucard Part.
Da er viel härter ist und eine in sich geschlossene Geschichte darstellt, veröffentliche ich sie einzeln unter dem Namen Draculas Kinder.
Vielleicht sehen wir uns in dieser Geschichte wieder, aber egal ob ja oder nein, vielen lieben Dank fürs Lesen. ❤️ Komplett anzeigen

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