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TMNT - Es liegt in deiner Hand

von

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Die ersten Erinnerungsfragmente

Aus Bernadettes Sicht:
 

Wie ein Kind, welches neu in eine Stadt kommt, blicke ich aus dem Fenster. Es ist ein seltsames Gefühl, gespickt mit Neugier, Aufregung und Angst. Trotz, dass ich von liebenden Menschen umgeben bin, die alles in ihre Macht Stehende tun, um mir zu helfen, fühle ich mich dennoch irgendwie verloren. Allerdings ist das nicht das Einzige, was mich beschäftigt. Ich spüre tief in mir drin diese Unruhe. Als würde irgendetwas dort draußen auf der Lauer liegen und auf mich warten. Im Krankenhaus selbst war mir das noch nicht so bewusst, aber seitdem ich hier in diesem Wagen sitze, habe ich dieses seltsame Gefühl. Jeder einzelne Muskel ist angespannt und ich warte nur darauf, dass derjenige aus seinem Versteck auftaucht und mich überfällt. Ich habe Angst, will es aber vor Mom und Dorian nicht zeigen. Im Grunde macht sich meine Familie genug Sorgen um mich und da ich so vieles nicht verstehe und kein bisschen Zugriff auf meine Erinnerung habe, sehe ich keinen Sinn dahinter, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Vermutlich können mir die beiden im vorderen Teil des Wagens ohnehin nicht helfen und dies dürfte wohl auch auf meine Tante und meinem zweiten Bruder zutreffen. Selbst wenn diese nicht einmal hier sind. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, was ich wen überhaupt anvertrauen kann. Klar, sie sind meine Familie, aber könnte ich nicht genauso gut irgendwelche „Wahnvorstellungen“ haben? Die Ärzte meinten bezüglich meiner Lage nur, dass das „normal“ sei. Sie erklärten mir, dass mir für die nächste Zeit vieles seltsam vorkommen wird. Dadurch, dass ich mein Gedächtnis verloren habe, müsste ich erst einmal „Ordnung schaffen“ und das ist bei so vielen Reizen und Sinneseindrücken ziemlich schwierig, wenn nicht sogar verwirrend. Zusammengefasst, sind sowohl mein Körper, als auch mein Verstand einfach nur empfindlich.

Das sind ja „tolle“ Aussichten, aber Dorian versucht mir immer wieder Mut zu machen. Auch jetzt wieder, nachdem er und Mom mich nach einer letzten Untersuchung abgeholt haben, dreht er sich auf der Beifahrerseite zu mir nach hinten und meint: „Hey Sis, mach dir keinen Kopf. Je entspannter du bist, desto leichter wird es dir fallen und glaub mir, Paul und mir wird schon was einfallen, damit du dich zum Beispiel an unsere gemeinsame Kindheit erinnerst.“ Kurz lächle ich ihn an und murmle: „Kann sein.“ Danach starre ich einfach wieder aus dem Fenster aus. Ich beobachte meine Umgebung, bekomme davon aber nicht wirklich viel mit, weil mir einfach viel zu viel durch den Kopf geht. Ich kann mich einfach nicht entspannen, so wie sich Dorian das vorstellt. Genauso wenig kann ich mir ein Bild davon machen, dass mir Paul helfen wird. Seit unserer letzten Begegnung hat er sich nicht einmal mehr von sich hören, geschweige blicken lassen. Dies ist ein weiterer Grund, warum ich glaube, dass vor meinem „Blackout“ irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. Sonst würde er mir gegenüber nicht so abweisend sein. Tante Tina, die wahrscheinlich jetzt noch auf der Arbeit ist, hat mir letztens zwar noch einmal klarmachen wollen, dass Paul schon immer eine „eigene“ Persönlichkeit hat, die manchmal etwas „kalt“ wirkt, aber trotzdem würde er sich um mich sorgen. Sie alle können sagen, was sie wollen, aber ich lasse mir einfach nicht nehmen, dass irgendetwas an der Sache faul ist und ich selbst habe irgendetwas damit zu tun. Wie ist mir nur nicht klar.

Wenn ich doch nur irgendwelche Erinnerungsfetzen hätte, an die ich mich orientieren könnte. Ich komme mir vor, als würde ich blind in einem Irrgarten herumlaufen. Ohne irgendeinen Anhaltspunkt komme ich einfach nicht weiter und meine Gefühle zu den anderen helfen mir auch nicht. Ich weiß ja nicht einmal, was es mit Raphael auf sich hat. Er scheint sehr nett zu sein und auf irgendeine Weise verbindet uns etwas. So wie er mich letztens unterstützt hat, habe ich diese Vertrautheit zu ihm gespürt. Mehr noch, ich konnte mich am Ende sogar fallen lassen, bis ich irgendwann mal einschlief. Wie auch immer das möglich war, doch was jetzt? Ich hätte am liebsten Mom oder Dorian darauf angesprochen, habe es aber am Ende doch nicht übers Herz gebracht. Nicht nur, dass mich die beiden für verrückt halten könnten, ich bin mir einfach nicht sicher, ob dies überhaupt richtig wäre. „Alles in Ordnung mein Schatz? Du wirkst so blass.“, werde ich auf einmal von Mom gefragt, die einen Blick in den Rückspiegel riskiert hat. Ich murmle nur ein schnelles „Ja, geht schon.“, ehe ich wieder aus dem Fenster starre. „Ich weiß, dass ich dir das schon im Krankenhaus bereits einige Male gesagt habe, aber mach dir keine Sorgen mein Schatz. Wir werden das schon irgendwie hinbekommen und wenn wir zuhause sind, wird dir bestimmt einiges klarer sein.“, fügt sie noch hinzu und Dorian stimmt ihr sogar zu. Sie beide scheinen so optimistisch zu sein und ich habe keine Ahnung, woher sie das nehmen, aber vielleicht glauben sie einfach, dass das so einfach ist. Schön wäre es zwar, aber ich habe einfach meine Zweifel.

Schließlich halten wir vor einem mehrstöckigen Gebäude. Das Haus selbst wirkt eher einfach, scheint aber gut gepflegt zu sein. Allerdings sieht die Regenrinne an der Seite danach aus, als ob sie einem eine andere Geschichte erzählen will. Als hätte jemand versucht, damit eine Kletteraktion zu starten, was vielleicht sogar mit gut Glück erfolgreich gewesen ist. Lange kann ich aber nicht darüber nachdenken, als ich schon von Dorian an der Hand gepackt und in Richtung Eingang gezogen werde. Wir betreten einen kleinen Eingangsbereich, von wo aus man schon das Wohnzimmer, die Küche und andere Räume erahnen kann. „Na Schwesterherz, trautes Heim Glück allein, oder nicht?“, fragt mich mein Bruder, aber ich zucke nur kurz mit den Achseln. Vermutlich hat er geglaubt, dass schon ein kurzer Blick auf die Inneneinrichtung reichen würde, um den einen oder anderen Gedankensprung heraufzubeschwören, aber Fehlanzeige. Da ist nichts. Das hindert ihm aber nicht daran, wie ein kleines Kind bei der Treppe herumzuspringen und mit Geschichten aus der Kindheit zu starten. Von Streichen bis hin zu anderen Spielen hat der Kerl einiges zu berichten und er fängt immer mit dem Satz: „Weißt du noch, als …“ an. Ich kann daraufhin immer nur den Kopf schütteln, oder eine andere Art für ein Nein äußern, was ihm zwischendurch immer wieder ins Grübeln bringt. Er bleibt aber stur und gemeinsam mit Mom versucht er alles, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Es wird sogar beschlossen, eines meiner Lieblingsgerichte zu kochen, was auch immer das sein mag.

Was aber zuvor in Angriff genommen wird, ist mein Zimmer, welches sich eine Etage höher befindet. Vorbei an Treppe und Bad wird mir oben ein ziemlich gemütlicher Raum vorgestellt. Beinahe vollgestopft mit Büchern und allerlei Krimskrams eröffnet sich mir eine scheinbar eigene Welt. In den Regalen entdecke ich so einige interessante Werke. Von Gedichten über Romane finde ich sogar ein paar Sachbücher und auch einige Märchen stechen mir ins Auge. Scheinbar bin ich ziemlich stark an der Literatur interessiert und selbst auf dem Schreibtisch werden mir Ausdrucke über Kalligraphie präsentiert, an denen ich scheinbar zuletzt gearbeitet habe. Zumindest wird mir das erzählt. „Tante Tina meinte, du seist in deiner jetzigen Schule in der Literatur-AG.“, behauptet Dorian, aber was meint er mit „in deiner jetzigen Schule“? Ich komme gar nicht dazu ihn das direkt zu fragen, denn schon werde ich, wenn auch etwas unsanft, von jener Frau begrüßt, von der gerade die Rede ist. Hat sie sich etwa herbeigezaubert, oder wie kommt sie so schnell hier her? „Schön dich zu sehen Bernadettchen! …Ich dachte schon, die Ärzte würden dich noch ewig dortbehalten wollen, aber jetzt bist du endlich hier.“, plappert meine Tante vor sich hin, bis sie nach der starken Umarmung mein Gesicht mit beiden Händen fasst und mich angrinst. Doch dann schaut sie mich genauer an und wendet ihren Blick schließlich zu Mom, die sich beim Türrahmen positioniert hat. Mit einem leicht genervten Unterton fragt Tante Tina sie: „Hättest du sie nicht wenigstens in eines der neuen Kleider stecken können. Die meisten ihrer Sachen sind eh schon so abgetragen.“ „Du meinst doch nicht das, was hauptsächlich rosa ist?“, erwidert die Angesprochene und ohne groß nachzudenken, klinke ich mich einfach ein: „Rosa? Ernsthaft?!“ Mich schauderts bei dem Gedanken und ich muss sogar leicht angewidert den Kopf schütteln. Doch dann blicke ich in erstaunte Gesichter.

„Ähm, ist was?“, frage ich verwirrt, aber ich bekomme nicht sofort eine Antwort. Denn deren Erstaunen wandelt sich gleich in Begeisterung um, aber was zum Henker habe ich denn jetzt schon wieder gemacht?! „Du hast dich an etwas erinnert!“, jubelt meine Tante, aber ich begreife gar nichts. Wie und woran soll ich mich bitteschön erinnert haben, aber die drei machen mich darauf aufmerksam, was ich zuletzt gesagt habe. Scheinbar hasse ich die Farbe Rosa wie die Pest und ohne es selbst bemerkt zu haben, habe ich genauso reagiert, wie früher. Jetzt bin auch ich ganz schön baff, denn ich habe das nicht einmal mitgekriegt und trotzdem ist scheinbar etwas, wenn auch eine „Kleinigkeit“, ganz von allein gekommen. Stolz auf mich klopft mir Dorian auf die Schulter und meint: „Na bitte, wenn du so weitermachst Sis, dann wirst du dich ziemlich dein Gedächtnis wiederhaben.“ Mit einem breiten Grinsen drückt er mich plötzlich an sich, aber so gehypt wie er ist Tante Tina nicht: „Na, na, wir wollen mal nicht übertreiben. Es ist noch ein beschwerlicher Weg bis dahin, aber es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.“ Damit wird sie wohl nicht ganz unrecht haben und ich selbst kann es noch gar nicht so richtig begreifen. Ich habe mich schließlich nicht wirklich angestrengt, sondern einfach reagiert. Vielleicht wird mir das noch öfters passieren und ich hoffe es sogar. Denn das Gefühl, keinerlei Vergangenheit zu haben, ist einfach nur beschissen. Jetzt allerdings ist meine Hoffnung ein kleines Bisschen stärker geworden.

Die Stunden schienen mir heute ziemlich schnell zu vergehen. Den ganzen Tag über habe ich allerlei Geschichten über Vergangenes gehört und habe sogar einige Fotoalben durchforstet. Leider kann ich mit vielem, was ich bisher erzählt bekommen habe, immer noch nicht wirklich etwas anfangen. Allerdings habe ich es geschafft, dass mir, wenn auch meist eher durch Zufall, wieder etwas eingefallen ist. Wie die Sache mit der Farbe, waren es auch diesmal Kleinigkeiten, welche überraschend bei mir etwas auslösten. Ein einzelnes, altes Foto, oder eine DVD, es waren viel mehr irgendwelche alltäglichen Dinge, die aber trotzdem eine ganz bestimmte Bedeutung in meiner Erinnerung haben. Ich sah entweder mich selbst, oder jemand aus dieser Familie. Es war eher kurz und doch bewies mir das, dass ich tatsächlich zu dieser Familie gehöre. Anfänglich habe ich daran gezweifelt, aber nun glaube ich es wirklich. Ich konnte mich allerdings nur an kurzen Szenen entsinnen. Wohl eher waren das „herausgerissene Stücke“, die leider nicht mehr viel hergaben, so sehr ich mich auch konzentrierte. Es blieb einfach bei den kurzen Momenten, die, bildlich gesprochen, mir das Gefühl gaben inmitten eines Daumenkinos zu stecken. Es ist frustrierend! Denn wenn es nur möglich wäre, dass ich mein Gedächtnis mit einem Schnipp vollständig wiederbekommen könnte, ich würde es sofort tun. Nicht nur, dass ich mir momentan wie ein Trottel vorkomme, ich werde zu allem auch noch wie ein rohes Ei behandelt. Um mich ja nicht zu überfordern, will man mich jeden Tag aufs Neue irgendetwas zeigen, Schritt für Schritt. Ich bin zwar wirklich dankbar dafür, keine Frage, aber wieso schaffe ich es einfach nicht sämtliche Fragmente zu ein Ganzes zusammenzufügen?! Das kann doch nicht so schwer sein, wenn ich doch selbst dabei war, oder nicht?!

K.o. vom Tag liege ich nun mit ausgestreckten Armen im Bett und starre zur Decke empor. Anders als im Krankenzimmer, in der alles so steril und kahl wirkte, bin ich nun inmitten von Gegenständen aus meiner Vergangenheit und trotzdem helfen die mir kaum weiter. Ein paar Sachen habe ich mir schon näher angesehen. Dabei ist mir auch ein Buch in die Hände gefallen, was bei einigen Seiten sogar mit kleinen Lesezeichen markiert worden ist. Ich habe es nur kurz aufgeschlagen gehabt und wieder zurückgelegt, da es sich dabei nur um Traumsymbolik gehandelt hat. Wie könnte mir dieses Buch auch helfen, meine Erinnerungen anzukurbeln? Zumindest dachte ich das am Anfang, aber nun geht es mir nicht aus dem Kopf. Als hätte ich da etwas übersehen, ignoriert, oder einfach nur mit der falschen Einstellung in meinen Händen gehalten. Denn ich weiß genau, dass ich, wenn auch nur kurz, markierte Seiten entdeckt habe. Daher muss es für mich irgendwie wichtig gewesen sein und wenn ich es vielleicht sogar nur für diese Literatur-AG verwendet habe, reizt es mich gerade wieder, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Schaden kann es ja nicht und es wäre zumindest sinnvoller, als wie ein Klotz im Bett herumzuliegen und mit verschlafenen Augen auf die Decke zu starren. So setze ich mich schließlich wieder auf, schalte das Licht ein und steh auf. In meinem Pyjama schlürfe direkt zum Bücherregal, wo ich dieses Buch vermute. Ich muss nicht lange suchen. Der dicke Band lässt sich ziemlich leicht von den anderen Werken unterscheiden, weswegen ich diesen sofort aus dem Regal ziehe und an der ersten markierten Stelle aufschlage.

Das Bild einer Schildkröte ist das Erste, was ich darin entdecke und das kann doch kein Zufall sein. Immerhin hatte ich bereits eine Begegnung mit solch einer, wenn auch in einer eher anderen Form. Dennoch, als ich das Bild betrachte, muss ich automatisch lächeln. Denn ich denke sofort an Raphael. Ein wenig neugierig geworden, was ich vor meinem Krankenhausaufenthalt damit gemacht habe, mache ich es mir wieder in meinem Bett bequem und lege das aufgeschlagene Buch auf meinem Schoß. Von allmöglichen Ideen, Hintergründen und der Symbolik ist hier die Rede. Was aber noch interessanter ist, ist, dass manche Stellen sogar durch einen Leuchtstift stärker hervorgehoben wurden. So wie einige der positiven Eigenschaften der Schildkröte: « Wissen, Ausdauer, Stabilität, Güte, Geduld, Stärke » Doch auch ein weiteres Wort sticht mir förmlich ins Auge. Die Schildkröte kann, besonders innerhalb eines Traumes, als Beschützer symbolisiert werden, was mir Raphaels Bild noch stärker ins Hirn brennt. Mehr noch, ich erinnere mich sogar wieder an etwas. Doch im Gegensatz bei den letzten Malen, bei denen es einfach kurze Sequenzen waren, die jeweils nur einen bestimmten Moment offenbarten, handelt es sich dieses Mal um mehrere Puzzlestücke, die sich zu einem Gesamtpaket vereint haben. Weit intensiver, schneller und sogar so durcheinander, sodass ich nicht weiß, wie ich diese zusammensetzen soll, geschweige, wie mir geschieht.

Mein Puls rast mit einem rasanten Tempo, genauso wie es der Truck in meinem Kopf tut, welcher unerschütterlich auf mich steuert. Ich spüre förmlich den Asphalt, auf dem ich liege, genauso, dass ich unfähig bin, mich irgendwie zu bewegen. Am liebsten würde ich schreien, kann es aber nicht und ehe das Fahrzeug mich überfahren kann, werde ich ohne Vorwarnung in eine völlig andere Szene gerissen. Als wäre ich gepackt und in eine andere Richtung geschleudert worden, genauso hat sich das angefühlt, ehe ich mich in der nächsten Erinnerung in Raphaels Armen wiederfinde. Es ist vollkommen anders. Als wäre mein Gefühlsbarometer um 180° gewendet worden, erfasst mich eine vollkommen andere Emotion. Ich spüre einen inneren Frieden, Glück, vollkommene Zufriedenheit und ich glaube sogar noch mehr. Doch ich verstehe nicht ganz, was ich in dieser Szene erlebe. Sie ist ganz anders. In der liege ich einfach in Raphaels Armen und schmiege mich sogar an ihn. Als wäre das etwas vollkommen Normales für mich, liegt mein Kopf ruhig an seiner Brust, während er mich trägt und mich irgendwo hinbringt. Doch dieses Gefühl kann ich nicht lange genießen, den schon stolpere ich in die Nächste. In diesem Puzzleteil blicke ich, ohne es zu begreifen, panisch von einem hohen Steinpfosten einer Brücke, hinab in das tiefe Schwarz eines Gewässers. Ich fühle diese Angst, sie zerrt an mir, während ich überfordert die Gegend abchecke, ohne auch nur zu wissen, wonach ich suche. Mein ganzer Körper fühlt sich so angespannt und hart an, als könnte ich im nächsten Augenblick zerspringen. Doch auch diese Szene währt nicht lange. Denn mein letztes Erinnerungsfragment schleudert mich geradewegs auf eine Theaterbühne. Keinen blassen Schimmer, was ich dort soll, fühle ich eine ganz andere Art von Anspannung. Viel mehr Verwirrung erfüllt meinen Verstand, genauso wie ein weiteres Gefühl, welches ich in diesem rasenden Tempo kaum beschreiben kann. Doch was ich da erlebe, verstehe ich noch weniger, als das Vorherige. Ich sehe in der Entfernung Bäume und nur einige Schritte vor mir entfernt, entdecke ich wieder ihn. Mit einem auffordernden Blick schaut er mich an, als würde er auf irgendetwas warten, was mich betrifft. Doch ich weiß nicht, was er will. Ich sehe nur diese goldgelben Augen, seine Mimik und seine Gestik, die mich auffordert etwas zu tun, aber nur was?!

Hier endet es plötzlich und ich schnappe nach Luft. Ich habe das Gefühl, in einem reißenden Strom gezogen worden zu sein, nachdem ich von Bord gefallen war. Hin und her hat es mich in diesem Strudel gezogen, ehe ich quasi wie eine Schiffbrüchige an Land gespült worden bin. Verwirrt und erschöpft hocke ich da. Immer noch auf dem Bett in meinem Zimmer sitzend, während das Buch noch weiterhin auf meinem Schoß ruht. Mein Herz scheint gar nicht daran denken zu wollen, sich endlich zu beruhigen. Als würde ich einen Marathon laufen, rast es weiter. Schweißperlen haben sich an meiner Stirn gebildet und in meinem Kopf poltert eine Dampframme. Alles in mir dröhnt und zerrt, als wäre mein gesamter Körper eine Fabrik, die auf Hochtouren werkt. Nur langsam lässt dies nach und ich spüre mehr die Erschöpfung in meinen Gliedern. Ich muss sogar noch einige Male tief durchatmen, ehe ich auch nur irgendwie die Kontrolle zurückerlangen kann. „Was … was war das?“, stammle ich, wohl wissend, dass mir diese Frage gerade keiner beantworten kann. Es war so stark und im Grunde doch so kurz. Beinahe wie ein Schrei, welcher mich scheinbar wachrütteln wollte und es am Ende dann doch nicht so geklappt hat. Verwirrt versuche ich mir diese einzelnen Szenen noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Es muss einen Zusammenhang geben, aber nur welchen und was hat es mir Raphael auf sich?

Doch es bleibt nur bei diesen Fragmenten. Ziellos in mein Hirn geschmissen, kann ich einfach nicht mehr dahinter erkennen. Ich erkenne nicht einmal eine Logik dahinter, was es zum Bespiel mit diesem Truck auf sich hatte. Warum stand ich auf dieser Bühne und warum habe ich Raphael bis auf eine Szene direkt gesehen? Das macht doch keinen Sinn! Innerlich fühle ich, wie aufgewühlt ich immer noch bin. Ich wollte noch weitere Erinnerungsstücke, die habe ich jetzt, aber ich kann nicht wirklich etwas damit anstellen. Seufzend lasse ich das Buch von meinem Schoß gleiten und lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Doch diese innere Unruhe bleibt. Sie will nicht vergehen, weswegen ich genervt einfach wieder aufspringe, mir meinen Schreibtischsessel schnappe und mich ans offene Fenster setze. Ich brauche einfach frische Luft und die hole ich mir jetzt. Kaum, dass ich mich dort positioniert habe, stütze ich meinen Kopf auf meine Hände ab und starre einfach ziellos in die Nacht. Der Himmel ist finster. Kaum Sterne sind zu erkennen, weil es heute ziemlich bewölkt ist und so wie es dort oben aussieht, so fühle ich mich auch zum Teil. Es gibt so vieles, was noch verschleiert ist und ich will diese Blockade am liebsten niederreißen! Wenn sein muss, sogar mit bloßen Händen! Doch so einfach ist das wohl nicht. Weil ich aber keinen Bock habe, noch weiter darüber nachzugrübeln, versuche ich mich irgendwie zu entspannen. Momentan frustriert mich alles, bis ich mir aber wieder Raphaels Gesicht vorstelle. Der Gedanke kam ganz von allein und auf einer seltsamen Art und Weise bin ich sogar froh darüber.

Trotz seiner eher grobwirkenden Art, hat er doch gleichzeitig wieder etwas Sanftes an sich und dann ist da auch noch diese eigenartige und doch angenehme Vertrautheit zu ihm. Das Gefühl von letzter Nacht, in der ich mich am Ende einfach so fallen lassen konnte, ist wieder da und am liebsten wäre es mir, er wäre wieder da. Ich möchte ihn spüren, ihn bei mir haben und je mehr ich darüber nachdenke, desto größer wird diese Sehnsucht, die ich mir absolut nicht erklären kann. Wieso fühle ich das und dann auch noch diese Erinnerungsfetzen, die für mich überhaupt keinen Sinn ergeben! Ich werde noch wahnsinnig! Bestürzt vergrabe ich mein Gesicht in meine Hände, doch dieses seltsame und zugleich schöne Gefühl bleibt. Als wäre es richtig und ich müsste einfach nur zulassen. Seufzend schaue ich wieder zum Himmel empor. Wohin ich aber schaue, mir sind diese lästigen Wolken im Weg, bis ich aber für eine Sekunde glaube, irgendwo einen schnellen Schatten vorbeihuschen gesehen zu haben. Blinzelnd, als hätte ich mich vielleicht getäuscht, schaue ich noch einmal dorthin und nehme sogar andere Richtungen genauer unter die Lupe, aber da ist nichts. Beinahe hätte ich schon geglaubt, dass ich mir das tatsächlich nur eingebildet haben könnte, bis ich aber Raphael am gegenüberliegenden Haus entdecke. Er steht mitten auf dem Dach. Er winkt mir sogar zu und als wäre das etwas völlig Normales für ihn, schreitet er seelenruhig dort herum, bis er an einer geeigneten Stelle Anlauf nimmt und direkt zu mir rüber springt. Gekonnt landet er sicher auf dem Dach und klettert schließlich runter, wo er auch zu mir ins Zimmer steigt.

Mit einem einfachen, aber doch zärtlichen „Hey“ begrüßt er mich, was ich, wenn auch ohne groß nachzudenken, sofort erwidere. Das Gefühl von vorhin wird in mir immer stärker, wodurch ich sogar auf ihn zugehe und er mich schließlich zärtlich umarmt. „Wie ich sehe, scheint es dir etwas besser zu gehen.“, meint er, als er mich wieder loslässt, aber ich gehe darauf nicht näher ein. Viel mehr frage ich mich, woher er gewusst hat, dass ich hier bin. Als ich ihn darauf anspreche, erklärt er mir leicht amüsiert: „Als wenn ich nicht wüsste, dass du hier wohnst. ... Nachdem ich dich nicht im Krankenhaus gefunden habe, habe ich gehofft, dich hier zu finden. Und wie ich sehe, kannst du dich jetzt schon besser auf den Beinen halten, aber du hattest ja schon immer ziemlich viel Durchhaltevermögen.“ „Wenn ich mich daran erinnern könnte, wäre mir das lieber.“, gestehe ich ihm und am liebsten hätte ich sofort jegliche Erinnerung zurück, egal wie schlimm diese auch gewesen sein mag. Raphael scheint sich das sogar vorstellen zu können, denn er meint daraufhin: „Ich weiß … sag, hast du Lust ein bisschen frische Luft zu schnappen? Außer du willst noch eine Weile länger in irgendwelchen Räumen verbringen.“ Eigentlich habe ich nicht damit gerechnet, dass er sogleich das Thema wechselt, allerdings freue ich mich sogar darüber, da er mich nicht in Watte packt. Allerdings schaue unsicher in Richtung Tür und blicke schließlich auf meine verwundete Stelle, die ich sogar vorsichtig berühre. Ich weiß immerhin nicht, ob das so klug ist und ich weiß auch nicht, wohin er mich bringen würde. Dass ich keine Angst zu haben brauche, steht für mich fest, aber bei alles Anderem bin ich mir einfach unsicher.

Doch Raphael streckt mir seine Hand entgegen und will mir zeigen, dass meine Sorgen unbegründet sind: „Keine Sorge, deine Leute werden sicherlich noch pennen, wenn wir zurück sind. Das hat bis jetzt noch nie jemand mitgekriegt und ich bin auch vorsichtig, versprochen.“ Ich sehe in seine goldgelben Augen. Sie strahlen so viel Sicherheit und Ehrlichkeit aus, wodurch ich mich einfach darauf einlasse. Wie er es bereits gesagt hat, hebt er mich vorsichtig hoch und klettert mit mir hinaus aufs Dach, von wo aus er mit mir wegsprintet. Wie der Wind saust und springt er über alles hinweg, was uns entgegenkommt und wie er es vorhin versprochen hat, gibt er auf mich acht. Nicht einmal für einen kurzen Moment geht er ein Risiko ein, wodurch sich meine Narbe am Bauch hätte melden können und dennoch lässt er es sich nicht nehmen, dass er mit einem Affenzahn durch die Gegend sprintet. Der Wind fährt durch mein Haar und die kühle Brise tut sogar gut, während ich mich in seinen Armen kuschle. Es ist seltsam, denn mir kommt es vor, als wenn ich dies nicht zum ersten Mal gemacht hätte und auch er scheint es auf seine Weise zu genießen. Als er mich schließlich wieder hinunterlässt, finde ich mich auf einem Steinpfosten einer Brücke wieder und dieser kommt mir erschreckend bekannt vor. Denn er gleicht der aus meiner Erinnerung. Wie gebannt stehe ich da und fühle mich wie gelähmt. Ich schnappe sogar nach Luft, was Raphael in Panik versetzt: „Bernadette, was hast du?!“ Doch ich reagiere nicht, denn dieser Erinnerungsfetzen erwacht in mir aufs Neue zum Leben und diesmal ist dieser sogar deutlicher, intensiver und länger.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge Raphael vor mir, wie er sich mit den Rücken voraus in die Tiefe stürzt und ich daraufhin verängstigt hinterherrenne. Doch dann kommt die Szene mit dem schwarzen Wasser. In meinem Kopf schreie ich nach ihm, bis er im nächsten Augenblick grinsend hinter mir steht und wir nach einem kurzen „Sarkasmus-Gefecht“ am Ende sogar lachen. Diese Erinnerung schallt so schnell durch mein Hirn, sodass ich kaum dazu komme, irgendetwas davon zu verstehen. Viel mehr noch wirkt das Ganze auf mich, als hätte man versucht, mir mit viel Nachdruck die wichtigsten Ausschnitte einer Geschichte zu präsentieren. Kaum, dass das letzte Bild in meinem Kopf verschwunden ist, lässt die Anspannung in mir nach und ich kippe sogar nach vorn. Raphael fängt mich zum Glück noch rechtseitig auf und fragt mich ein weiteres Mal, was mit mir los ist. „Ich weiß nicht. … Ich glaube, ich habe mich an etwas erinnert.“, murmle ich erschöpft. Ich fühle mich, als hätte man mir eine ordentliche Portion Energie entzogen. Das Ganze war so intensiv, als hätte es schon zu lange darauf gewartet, wieder in mir zu erwachen. Nachdem ich mich wieder etwas gefangen habe, erzähle ich ihm, woran ich mich erinnert habe und je mehr ich ihm erzähle, desto mehr scheint er sich darüber zu freuen. Am Ende nimmt er mich sogar in den Arm und drückt mich vorsichtig an sich. Ich höre sogar, wie er erleichtert aufatmet, bis er mich schließlich wieder ansieht. „Ich habe zwar gehofft, du würdest dich erinnern, wenn ich dich an einem unserer Plätze bringen würde, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass es vielleicht schon beim ersten Mal klappen könnte.“

„Um ehrlich zu sein, hatte ich heute bereits einige Erinnerungsfragmente. Das mit der Brücke war sogar eines davon.“, erkläre ich ihm, nachdem ich ihm angesehen habe, dass er es immer noch nicht glauben kann. Dabei ist er nicht einmal der Einzige. „Wirklich? Wie?!“, fragt er noch genauer nach, aber so ganz verstehe ich es auch nicht, weswegen ich den Rest der „Story“ noch für mich behalte und daher nur kurz mit den Schultern zucke. Ich kann ihm ja schließlich nicht einfach so sagen, dass mehrere Erinnerungsstücke ins Hirn geschossen bekommen habe, nachdem ich das Bild einer Schildkröte gesehen und das Wort „Beschützer“ gelesen habe. Das scheint ihm zu meinem Glück sogar zu reichen und anstatt mich weiter auszufragen, erzählt er mir seine Version von jener Nacht, als wir das letzte Mal hier oben waren und diese ist weit ausführlicher als mein „Gedankenmarathon“. Allerdings werde ich dabei etwas stutzig, denn als er zum Ende ankommt, hält er kurz inne und bricht sogar ab. „Ist was?“, frage ich ihn, aber er verneint dies und meint sogar: „Nein, nein, alles gut.“ Raphael gibt mir nicht einmal die Möglichkeit, noch näher darauf einzugehen und ich selbst habe ohnehin keine Kraft mehr für weitere „Zeitsprünge in die Vergangenheit“. Darum hebt er mich vorsichtig wieder hoch und bringt mich zurück, wo er mich direkt in mein Bett ablegt. Ich fühle mich einfach nur k.o. und kuschle mich daher unter die Decke. Raphael hat sich dicht zu mir auf dem Boden gesetzt. Er scheint nicht enttäuscht bezüglich unseres viel zu kurzen Ausflugs zu sein, während er sanft meine Hand hält. Vielmehr scheint er auf seine Art froh zu sein, dass es, wenn auch eher langsam, mit meinem Gedächtnis bergaufgeht. Doch ich lasse es mir nicht nehmen, dass da noch mehr ist. Was verschweigt er mir?



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