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Again and again and again

von

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Prolog: Du verstehst es einfach nicht


 

Flordelis hasste Galas. Statt Zeit bei der Arbeit zu verbringen, musste er sich mit Personen umgeben, die sich von der Gesellschaft abheben wollten, sich als etwas Besseres fühlten, obwohl sie genau dieselben Bedürfnisse, Wünsche und Instinkte hatten wie jeder andere – nur mit mehr Geld. Und sie gaben nichts davon zurück.

Perfekte Zähne strahlten einem wie Perle entgegen, wenn sie einander begrüßten, Hände wurden geschüttelt, während in der anderen bereits Dolche verborgen wurden, nur darauf wartend von dem metaphorischen Blut des Opfers zu kosten.

Natürlich wurde niemand wirklich ermordet. Aber nach den süßen Worten, die sie einem ins Gesicht sagten, wandten sie sich ab, um mit vor Gift triefenden Aussagen jene Person bei anderen zu diskreditieren. Nur um gespielt empört abzuwehren, sobald die Intrige ans Licht kam. Dann gab es reuevolle Tränen und Küsse, man schwor sich, nie wieder auch nur ein böses Wort über den jeweils anderen zu verlieren.

Und dann begann das Spiel von vorne.

Aber Flordelis weigerte sich, mitzuspielen. Er grüßte betont distanziert, unterhielt sich mit – möglichen – Geschäftspartnern, funkelte Personen an, mit denen er keinesfalls reden wollt – an diesem speziellen Abend gab es nur ein – und stand ansonsten mit seinem viel zu teuren Glas Champagner an der Seite und betrachtete die Spielenden mit gerunzelter Stirn.

Zusammen mit der einzigen Person, der er zwischen all diesen Ariados vertraute – und die natürlich mal wieder Partei für alle ergriff: »Heute sind sie wirklich gut drauf.«

»Platan.« Flordelis atmete tief durch. »Das hast du auch schon bei der letzten Gala gesagt. Und am Ende gab es einen großen Skandal um Madame Enora, ausgelöst von Madame Josette.«

»Aber Madame Josette hat sich doch entschuldigt.«

Flordelis sah Platan an, der den Blick mit seinen grauen Augen unschuldig erwiderte. Sein Freund konnte sich wirklich glücklich schätzen, dass es hier offenbar niemandem möglich war, ihm zu schaden, sonst wäre Platan von diesen politischen Ränkespielen schon längst zerfetzt worden. Oder alle besaßen zu viel Respekt vor dem Pokémon-Professor der Region.

Nein, Flordelis wollte lieber glauben, dass niemand in der Lage war, diesen gutgläubigen, viel zu optimistischen Mann zu verletzen. Das bewahrte ihm seinen letzten Glauben an die Menschheit.

»Du verstehst es einfach nicht«, urteilte Flordelis schließlich.

»Offenbar«, gab Platan unbekümmert zu. »Aber weißt du, was ich auch nicht verstehe? Dass du keinen Ton mit Julie gewechselt hast. Bist du immer noch wütend auf sie?«

»Bei dir klingt es, als wäre der Zwischenfall schon ewig her.« Flordelis runzelte die Stirn, während er zwischen den Gästen nach Julie Ausschau hielt. »Dabei waren es gerade einmal ein paar Monate – und diese Gala ist das Ergebnis davon.«

Da er Julie nirgends entdeckte, fiel sein Blick auf das Podest in der Mitte des Saals auf dem eine gläserne Vitrine stand. In deren Inneren befand sich ein facettiert und in Tropfenform geschliffener lila-farbener Edelstein. Ein Pendeloque-Schliff, sehr elegant, aber auch eine unfassbare Verschwendung, wie Flordelis fand. In seiner Rohform hatte der Stein vor Energie vibriert – nun schien davon nichts mehr übrig zu sein.

»Ich weiß, dass du enttäuscht bist, weil sie ihn dir nicht verkauft hat«, sagte Platan, in einem neuerlichen Versuch der Versöhnung, »aber sie hatte bestimmt ihre Gründe, warum sie ihn lieber Monsieur Henri überlassen hat.«

Enttäuscht war wirklich untertrieben. Flordelis war immer noch wütend deswegen, besonders nachdem er ausgiebig mit Julie darüber gesprochen hatte, welche Bedeutung ein derartiger Fund für die Zukunft der Menschheit und deren Energiegewinnung haben könnte. Wenn sie den Stein wenigstens an eine andere Firma verkauft oder ihm gesagt hätte, wo sie ihn gefunden hatte – aber nein, sie verkaufte ihn an einen Sammler, der ihn auch noch ruiniert hatte, nur um jetzt damit vor der versammelten Elite Kalos' angeben zu können!

»Der Grund scheint einfach nur Schmuck zu sein«, bemerkte Flordelis säuerlich, als ihm Julie doch endlich zwischen den Gästen auffiel.

Bei der letzten Gala hatte sie genauso wenig dazu gepasst wie er, hatte in ihrem demonstrativ getragenen Laborkittel mit ihm am Rand gestanden und den Kopf geschüttelt, wann immer eine neue Lästerei an ihre Ohren gedrungen war. Heute trug sie ein goldenes Kleid, das jedes ihrer Schritte mit einem Rascheln begleitete und damit sogar die brutalen Geräusche ihrer viel zu hohen Absätze übertönte. Mehrere Perlenschnüre waren in ihr kastanien-farbenes, schulterlanges Haar geflochten, das heute noch gewellter war als sonst. Und an ihrem linken Handgelenk trug sie einen auffallenden Reif, an dem silberne Ketten befestigt waren, die einen rosa-farbenen Edelstein im Marquiseschliff auf ihrem Handrücken festhielten. Dieses Schmuckstück hatte sie gegen einen möglichen Paradigmenwechsel getauscht. Und dann hatte sie die Dreistigkeit besessen, ihm diesen Armreif auch noch triumphierend zu präsentieren, ohne jede Form von Reue oder auch nur eine Entschuldigung.

Natürlich redete er da nicht mehr mit ihr. Auch wenn das Platan zu schmerzen schien.

»Sie wird bestimmt ihre Gründe dafür gehabt haben«, sagte er auch direkt. »Du kennst sie doch.«

»Genau deswegen wunderte mich diese Entscheidung. Ich habe sie nicht als derart egoistische Person kennengelernt.« Er sah Platan an. »Oder hat sie dir gegenüber eine Erklärung abgegeben?«

Betrübt schüttelte er mit dem Kopf. »Ich habe sie gefragt, aber sie sagte nur, dass ich das ohnehin nicht verstehen würde.«

Was auch dafür sprach, dass es rein egoistische Gründe gewesen waren. Warum sonst sollte Platan es nicht verstehen können?

Plötzlich hellte sich Platans Gesicht wieder auf. »Eigentlich hatte ich gehofft, ihr würdet euch heute Abend wieder versöhnen. Das ist doch der perfekte Zeitpunkt, oder?«

Wenn Flordelis beobachtete, wie ungezwungen Julie sich mit den anderen Gästen unterhielt, wie sie lächelte und ihre Brillengläser manchmal im Licht blitzten und damit ihre seltsam gelangweilten Augen verbargen, gab es für ihn nur eine Antwort: »Ganz bestimmt nicht. Jedenfalls nicht, bevor sie sich entschuldigt.«

Und bei Julies Sturheit konnte das ewig dauern.

Platan seufzte darauf. »Ihr seid beide richtige Pampuli.«

Flordelis sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »War das eine Beleidigung?«

Er kannte dieses Pokémon nicht, da es in Kalos nicht heimisch war. Platan lächelte unschuldig und hob die Schultern. »Nein, nur die Wahrheit.«

Leicht genervt leerte Flordelis den Rest seines Glases und stellte dieses dann auf dem Tablett eines vorbeieilenden Kellners ab. »Ich denke, ich beende diesen Abend an dieser Stelle.«

»Oh, wirklich?« Platan wirkte tatsächlich geknickt; hatte er sich so sehr eine Versöhnung erhofft? »Es ist noch nicht einmal ganz Mitternacht. Um diese Zeit beginnen solche Feste doch erst wirklich, das sagen auch alle Märchen.«

Er zwinkerte Flordelis zu, aber dieser schüttelte nur mit dem Kopf.

»Ich habe mit allen gesprochen, mit denen ich reden wollte. Und ich muss morgen wieder arbeiten.«

Anders als manch anderer Teilnehmer dieser Gala.

»Dann sehen wir uns wohl ein andermal wieder.« Platan lächelte ihm zu, das einzig ehrliche Lächeln an diesem Abend. »Schlaf gut. Und melde dich, falls du Redebedarf hast.«

Flordelis versicherte ihm, dass er anrufen würde, falls er reden müsste – worüber auch immer Platan meinte, dass es notwendig sei –, dann stahl er sich möglichst unauffällig aus dem Saal. Jenseits der Tür waren Musik und Stimmen nur noch gedämpft, genau wie das Licht, das auf dem Gang hier draußen nicht derart grell war wie dort drinnen.

Flordelis atmete auf, als er das alles hinter sich lassen konnte und schritt in Richtung des Ausgangs. Je mehr er alles hinter sich ließ, umso befreiter fühlte er sich, als falle der Druck dieser Gesellschaft mit jedem Schritt mehr von ihm ab. Außerdem wuchs die Erleichterung, da niemand ihm nachkam. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, wenn jemand doch noch ganz kurz mit ihm hätte sprechen wollen, abseits aller anderen. Das war auf solchen Galas nie ein Zeichen für etwas Gutes.

Ohne einen Zwischenfall konnte er den Magnum-Opus-Palast verlassen und direkt seinen Wagen aufsuchen, in dem sein wartender Chauffeur ihn überrascht empfing. »Sie brechen schon auf?«

»Ja. Mir liegt nicht viel daran, die Edelstein-Sammlung anderer Menschen anzusehen.«

Was danach klang, als besäße er selbst eine, wie ihm gleich danach stirnrunzelnd auffiel. Aber sein Chauffeur kommentierte das glücklicherweise nicht, stattdessen startete er einfach den Motor, aber eine Kleinigkeit konnte er sich offenbar doch nicht verkneifen: »Reiche haben wohl ihre ganz eigenen Probleme.«

Flordelis schmunzelte darauf. »Das stimmt wohl.«

Er lehnte sich zurück, als der Wagen losfuhr und den Magnum-Opus-Palast mit seinen hellen Lichtern rasch hinter sich ließ. Als sie die Palais-Allee entlangfuhren, fiel Flordelis' Blick unter seinen schwer werdenden Lidern auf die Uhr auf dem Armaturenbrett: 23:59 Uhr.

Dann müsste Platan wenigstens nicht mehr warten, bis das Fest wirklich begann. Bestimmt würde er ihm alles erzählen, was er verpasst hatte, also müsste er sich keine Gedanken machen.

Stattdessen könnte er einfach die Augen schließen und darauf warten, zu Hause anzukommen. Verbunden mit den sanften Vibrationen des Fahrzeugs fiel er rasch in einen tiefen Schlaf, der durchzogen war von dem mysteriösen Glitzern des heute markant ausgestellten Edelsteins, der für so viel böses Blut zwischen ihm und Julie gesorgt hatte – und der ihm in diesem seltsamen Traum einen Schauer über den Rücken jagte, ohne dass er den Grund dafür benennen könnte.
 

1st Loop: Hast du das schon einmal gesagt?


 

»Wir sind da, Monsieur Flordelis.«

Es kam ihm vor, als tauche er aus einem Fiebertraum auf. Flüchtige Farben tanzten noch in seinem Gedächtnis, verbanden sich mit Geräuschen, die einst Stimmen gewesen sein mochten, nun aber so verwischt waren, dass ihre ursprüngliche Bedeutung nicht mehr zu erkennen war. Er versuchte, die Erinnerungen zu fassen, doch sie rannen ihm wie Wasser durch die Finger, trafen auf den Boden und verdunsteten, bevor er etwas dagegen tun konnte.

Der Traum war fort. Ihm blieb nur, seine Augen zu öffnen.

Er blinzelte und stöhnte leise, als das grelle Licht von draußen auf seine Augen traf. Der hell erleuchtete Magnum-Opus-Palast hob sich wie ein Juwel von dem tintenschwarzen Nachthimmel ab; zweifellos verdrängte das Licht der Gala jegliches Leuchten von Sternen. Noch ein Grund, diese Feste nicht leiden zu können.

Er sah auf sein Handy hinab, auch wenn er sich nicht erinnerte, es aus seiner Tasche genommen zu haben. Das leuchtende Display, das ein Bild von ihm, Platan und Julie zierte, verriet ihm, dass es gerade 20 Uhr war. Mit Sicherheit war er der Gast, der als letztes ankam, genau wie geplant. Er würde dafür als erstes gehen. Also müsste er nur vier Stunden überstehen.

»Alles in Ordnung?« Sein Chauffeur musterte ihn im Rückspiegel. »Wollen Sie nicht aussteigen?«

»Ja, natürlich«, antwortete Flordelis. »Ich bin nur nicht sehr erpicht auf diesen Gala-Besuch.«

Das war vielleicht eine seltsame Beschwerde für eine vermögende Person (die auch noch der Nachfahre einer Königsfamilie war und so etwas deswegen gewöhnt sein sollte), aber sein Chauffeur schien seine Abneigung zu verstehen, denn er lachte: »Ich würde auch wirklich nicht mit Ihnen tauschen wollen. Außer vielleicht für das Essen.«

»Das ist das einzige, was es wert macht, eine Gala zu besuchen – sofern man Gelegenheit zum Essen findet«, sagte Flordelis schmunzelnd, während er sein Handy einsteckte. »Es tut mir leid, dass Sie hier draußen warten müssen.«

»Schon in Ordnung. Das gehört zum Job. Amüsieren Sie sich gut.«

Flordelis bedankte sich, dann verließ er den Wagen. Er war zwischen denen anderer Gäste geparkt, hinter den abgedunkelten Scheiben flackerten Lichter. Mehr als ein Fahrer unterhielt sich selbst womöglich mit Filmen oder Serien; hoffentlich könnte auch sein Chauffeur sich ablenken.

Während er auf die Eingangstüren des Palasts zuging, kam ihm wie bei jeder Gala der Gedanke, dass er so hell erleuchtet wirklich schön war. Für einen Moment konnte er sogar die Lichtverschmutzung ignorieren, die für in der Nähe lebende Pokémon unerträglich sein musste.

Als er an der Tür ankam, fiel sein Blick unwillkürlich auf die rechte Wand. Niemand war hier.

Aus einem ihm unerfindlichen Grund ließ diese Erkenntnis sein Herz schwer werden. Für einen Moment grübelte er darüber nach, ob er möglicherweise jemanden hier erwartet hatte. Aber warum sollte er das, ohne sich daran zu erinnern?

Vielleicht suchte er nur nach Gründen, weiterhin nicht nach drinnen zu gehen. Deswegen schob er dieses seltsame Gefühl wieder weit von sich und trat ein.

Ein Diener hieß ihn in der Eingangshalle willkommen. »Wir haben nur auf Sie gewartet, Monsieur Flordelis. Darf ich sie zum Ballsaal begleiten?«

Im Grunde war das unnötig, Flordelis kannte den Weg dank all der Galas sehr gut. Ganz zu schweigen von den Ausflügen hierher, zu denen vor allem Platan ihn während ihrer gemeinsamen Forschungszeit überredet hatte, um den Palast wie eine Touristen-Attraktion zu bewundern. Aber es kam ihm unhöflich vor, diese Hilfe abzulehnen, deswegen bat er darum und folgte dem Diener anschließend zum Ballsaal.

Im Moment war niemand außer ihnen und einigen anderen Bediensteten, die sofort eilig davonhuschten, tiefer in die Dunkelheit jenseits der Kerzenleuchter, in den Gängen. Die Musik und die Gespräche aus dem Ballsaal vibrierten regelrecht durch das Gebäude und hätten jeden, der auch nur ein wenig aufmerksam war, angelockt. In Flordelis erzeugte jeder Schritt, der ihn näher hinführte, nur mehr Abweisung. Warum konnten die vier Stunden nicht schon vorbei sein? Er sah sich regelrecht selbst wieder zurück in Richtung des Ausgangs laufen, so sehr sehnte er sich danach.

Aber natürlich ließ er sich nichts davon anmerken. Sein Gesichtsausdruck blieb undurchdringlich, sein Rücken gerade, seine Schritte fest. Wie es von jemandem wie ihm erwartet wurde.

An der Tür angekommen, wo die Atmosphäre bereits unangenehm bedrückend war, bedankte er sich bei dem Diener, atmete noch einmal tief durch und betrat dann den Ballsaal.

Ein seltsames Déjà-vu überkam ihn, nicht nur bei der aktuellen Musik, sondern auch bei dem Anblick, der sich ihm bot. In der Mitte des Saals befand sich etwas unter einem Tuch, vor seinem inneren Auge sah er einen lila Edelstein mit Pendeloque-Schliff, der mit einer gehörigen Portion Enttäuschung verbunden war. Dazu passend entdeckte er daneben eine Frau in einem goldenen Kleid, mit Perlenschnüren im kastanien-farbenen Haar; sie sah so anders aus, dass er einen Moment benötigte, um sie als Julie zu erkennen – und das geschah letztendlich auch nur, weil er glaubte, sich an sie in dieser Kleidung zu erinnern. Aber das war unmöglich.

Bevor er das erörtern konnte, klang eine Stimme an sein Ohr: »Ah, Monsieur Flordelis! Sie haben es wirklich geschafft.«

Mit einem ehrlichen Lächeln – wahrscheinlich sein einziges an diesem Abend – wandte Flordelis sich dem Gastgeber zu, der mit freudiger Erwartung auf ihn zukam. »Monsieur Henri, danke für die Einladung. Ich bitte darum, meine Verspätung zu entschuldigen, es gab noch sehr viel bei der Arbeit zu tun.«

Henri nahm seine Hand, um sie ausgiebig zu schütteln, und zwinkerte ihm zu. »Sie sind auf jeden Fall entschuldigt. Wir wissen ja inzwischen, dass Sie immer sehr beschäftigt sind.«

Bei Henri glaubte er diesen Satz sogar, bei anderen Gastgebern klang er meist sehr gepresst, manchmal sogar ein wenig passiv-aggressiv, aber man legte sich nur ungern mit Flordelis an. Als Nachfahre der Königsfamilie genoss er das Privileg, dass die feine Gesellschaft es sich nur ungern mit ihm verscherzte. Nur deswegen konnte er es sich auch erlauben, immer so wenig Zeit wie möglich auf Galas zu verbringen.

Henri war aber zumindest immer gut gelaunt, wenn Flordelis ihn traf. Deswegen mochte er diesen untersetzten Mann mit dem grau-blauen Haar und den stets funkelnden blauen Augen, die sich selbst in seinem fortgeschrittenen Alter noch über jedes neue Wunder zu freuen schienen. Für ihn nahm Flordelis sich auch bei Geschäftsessen gern besonders viel Zeit.

Dennoch verspürte er heute eine kurze, aber stechende Woge des Zorns, weil Julie ihm den Edelstein verkauft hatte. Einem Sammler, der mit der geballten Macht in diesem Stein gar nichts anzufangen wüsste, im Gegensatz zu Flordelis.

Doch er kämpfte den Impuls nieder, um Henri nicht vor den Kopf zu stoßen und bedankte sich für das Verständnis.

Henri winkte sofort ab. »Ich freue mich einfach, dass Sie heute hier bei uns sind, Monsieur Flordelis. Wenn ich mein größtes Schmuckstück präsentiere, muss einfach jeder dabei sein.«

Henri bat ihn mit sich und ging dann direkt auf die anderen Anwesenden und vor allem das verhüllte Kunstwerk zu. Flordelis folgte ihm langsamer und blieb schließlich in angemessener Entfernung wieder stehen.

»Meine lieben Gäste«, verkündete Henri voller Begeisterung, »ich freue mich, dass wir nun vollzählig sind~.«

Sofort verstummten alle Gespräche, die Blicke aller wandten sich ihm zu. Außer von Flordelis, denn er betrachtete die anderen, bis er einen gewohnt gut gelaunten Platan zwischen ihnen entdeckte. Sofort wurde seine Brust ein wenig leichter. Solange Platan da war, würde der Abend bestimmt nicht so schlimm werden. Er würde später einfach nur mit ihm reden. Alles war gut.

»Es ist mir eine große Ehre«, fuhr Henri fort, »Ihnen allen endlich mitzuteilen, wofür wir uns versammelt haben. Es gibt eine großartige Nachricht, die ich zu verkünden habe!«

Darauf breitete sich ein leises Flüstern aus, als die Anwesenden zu ergründen versuchten, was genau er wohl zeigen wollte.

»Inzwischen ist es in Kalos allgemein bekannt, dass ich vor kurzem in den Besitz eines ganz besonderen Stücks gekommen bin, das meine hochdotierte Sammlung noch weiter veredeln wird.«

Flordelis schnaubte lautlos. Julie wirkte ziemlich zufrieden, während sie Henri zuhörte.

»Hiermit enthülle ich voller Stolz den Amethyst der 1000 Möglichkeiten

Damit entfernte er das Tuch unter dem eine gläserne Vitrine auf einem Podest zum Vorschein kam. Darin lag ein lila-farbener Edelstein mit Pendeloque-Schliff, genau wie Flordelis es in seinem Déjà-vu vor sich gesehen hatte. Aber seine Ernüchterung über die Natur des Steins verdrängte die Verwirrung darüber schnell wieder. Als Julie ihm ihren Fund präsentiert hatte, war er von derart viel Energie erfüllt gewesen, dass er regelrecht vibriert hatte. Aber nun ...

Amethyst der 1000 Möglichkeiten?, fuhr es Flordelis durch den Kopf, während er ihn betrachtete. Das war er vielleicht mal.

Zumindest waren die anderen Gäste entsprechend angetan, wie er an den begeisterten Ausrufen hören konnte. Dazwischen gab es auch einige Neider, die mit gerümpften Nasen und gerunzelter Stirn auf den Stein sahen, leise vor sich hinmurmelten, dass sie so etwas ohnehin nicht benötigten und es typisch für Henri wäre, mit etwas derart Gewöhnlichem anzugeben.

Henri störte sich nicht daran, dafür war er noch zu begeistert, als er schließlich die Arme ausbreitete. »An diesem Abend werden Sie alle noch ausführlich die Gelegenheit bekommen, meinen Schatz zu betrachten. Deswegen wünsche ich Ihnen nun ein großartiges Fest. Essen und trinken Sie so viel Sie wollen! Teilen Sie meine Freude!«

Er legte beide Hände auf seine Brust, während er ergriffen den Kopf senkte. »Das ist alles, was ich mir heute von Ihnen wünsche.«

Julie hob das Glas, das sie gerade in der Hand hielt, worauf die anderen Gäste ihrem Beispiel folgten. Das alles geschah in einer eigentümlichen Stille, die Flordelis einen Schauer über den Rücken jagte. Aber da klatschte Henri schon in die Hände, womit das Schweigen aller beendet wurde und wieder in das geschäftige Summen überging, während alle sich wieder ihren eigenen Gesprächen widmeten.

Julie trat näher zu Henri, legte ihre Hand auf seine Schulter und flüsterte ihm etwas zu. Sein Gesicht strahlte darauf noch ein wenig heller. Er nickte – und dann verlor Flordelis ihn aus den Augen, weil er selbst plötzlich von mehreren Leuten umgeben war, die alle mit ihm reden wollten. Es waren alles potentielle Geschäftspartner, die er nicht einfach vertrösten konnte, deswegen konzentrierte er sich auf diese und dachte erst einmal nicht mehr an Henri oder Julies seltsames Verhalten.

 

Mehrere Stunden später, nachdem Flordelis mit allen geredet hatte, mit denen er reden wollte – und Julie über die Entfernung hin angefunkelt hatte, obwohl sie ihn nicht einmal beachtete –, fand er endlich die Zeit, mit Platan zusammenzustehen, während er seinen Champagner trank. Nicht das erste Glas an diesem Abend, vielleicht fühlte er sich deswegen ein wenig unruhig, während er die anderen beobachtete.

»Heute sind sie wirklich gut drauf.«

Etwas an diesen Worten verstärkte das Déjà-vu in Flordelis wieder. Aber er konnte die dazugehörende Erinnerung weiterhin nicht fassen.

»Platan.« Flordelis atmete tief durch. »Das hast du auch schon bei der letzten Gala gesagt. Und am Ende gab es einen großen Skandal um Madame Enora, ausgelöst von Madame Josette.«

»Aber Madame Josette hat sich doch entschuldigt.«

Flordelis sah Platan an, der den Blick mit seinen grauen Augen unschuldig erwiderte. »Du verstehst es einfach nicht.«

»Offenbar«, gab Platan unbekümmert zu. »Aber weißt du, was ich auch nicht verstehe? Dass du keinen Ton mit Julie gewechselt hast. Bist du immer noch wütend auf sie?«

»Bei dir klingt es, als wäre der Zwischenfall schon ewig her.« Flordelis runzelte die Stirn, während er zwischen den Gästen wieder nach Julie Ausschau hielt. »Dabei waren es gerade einmal ein paar Monate – und diese Gala ist das Ergebnis davon.«

Da er Julie nirgends entdeckte, fiel sein Blick wieder auf den Edelstein, worauf die Wut erneut in ihm brodelte.

»Ich weiß, dass du enttäuscht bist, weil sie ihn dir nicht verkauft hat«, sagte Platan, in einem neuerlichen Versuch der Versöhnung, »aber sie hatte bestimmt ihre Gründe, warum sie ihn lieber Monsieur Henri überlassen hat.«

»Der Grund scheint einfach nur Schmuck zu sein«, bemerkte Flordelis säuerlich, als ihm Julie endlich zwischen den Gästen auffiel – besonders als ihm wieder ihr Armreif ins Auge fiel. Jener, dem sie ihm so stolz präsentiert hatte, nachdem sie einen möglichen Paradigmenwechsel dafür eingetauscht hatte. Warum hatte sie erwartet, dass er sich mit ihr freuen würde?

»Sie wird bestimmt ihre Gründe dafür gehabt haben«, sagte Platan, absolut überzeugt von ihr. »Du kennst sie doch.«

»Genau deswegen wunderte mich diese Entscheidung. Ich habe sie nicht als derart egoistische Person kennengelernt.« Er sah Platan an. »Oder hat sie dir gegenüber eine Erklärung abgegeben?«

Betrübt schüttelte er mit dem Kopf. »Ich habe sie gefragt, aber sie sagte nur, dass ich das ohnehin nicht verstehen würde.«

Plötzlich hellte sich Platans Gesicht wieder auf. »Eigentlich hatte ich gehofft, ihr würdet euch heute Abend wieder versöhnen. Das ist doch der perfekte Zeitpunkt, oder?«

»Ganz bestimmt nicht. Jedenfalls nicht, bevor sie sich entschuldigt.«

Platan seufzte darauf. »Ihr seid beide richtige Pampuli.«

Flordelis runzelte seine Stirn. Irgendetwas an diesem Pokémon, das ihm eigentlich vollkommen unbekannt war, erinnerte ihn wieder an etwas. »Hast du das schon einmal gesagt?«

Darauf blinzelte Platan irritiert. »Eigentlich nicht. Ich hab es aber schon gedacht.« Er strahlte wieder. »Vielleicht kannst du jetzt einfach meine Gedanken lesen. Wäre das nicht wundervoll?«

»Findest du?« Flordelis schmunzelte. »Es gibt doch bestimmt Dinge, von denen du nicht willst, dass ich sie weiß, oder?«

Platan dachte einen Moment darüber nach, dann nickte er. »Stimmt. Ich glaube, ich habe meine Gedanken doch ganz gern für mich. Aber falls du sie mal wissen willst, frag mich einfach~.«

Er zwinkerte Flordelis zu, worauf dieser seinen Blick abwenden musste, um sein Herz wieder ein wenig zu beruhigen. Manchmal war Platan doch ein wenig zu viel für ihn.

Er leerte den Rest seines Glases und stellte dieses dann auf dem Tablett eines vorbeieilenden Kellners ab. »Ich denke, ich beende diesen Abend an dieser Stelle.«

»Oh, wirklich?« Platan sah ihn überrascht an. »Es ist noch nicht einmal ganz Mitternacht. Um diese Zeit beginnen solche Feste doch erst wirklich, das sagen auch alle Märchen. Willst du das nicht einmal wenigstens ausprobieren?«

»Ich habe mit allen gesprochen, mit denen ich reden wollte.« Oder mit denen er reden musste. »Und ich muss morgen wieder arbeiten.«

»Dann sehen wir uns wohl ein andermal wieder.« Platan lächelte ihm zu. »Schlaf gut. Und melde dich, falls du Redebedarf hast. Oder falls du meine Gedanken wissen willst~.«

Flordelis versicherte ihm, dass er genau das machen würde, dann strebte er zum Ausgang und verließ den Saal ohne weitere Unterbrechung. Bevor er die Tür hinter sich wieder schloss, spürte er ein unangenehmes Brennen auf seiner Haut. Für einen kurzen Moment kreuzte sich sein Blick mit dem von Julie. Sie sah ihn kühl an und so verstimmt, dass er allein dabei zu der Überzeugung kam, dass sie sich nie wieder versöhnen würden. Der Gedanke schmerzte ihn, aber es war ihre Entscheidung gewesen, nicht seine. Deswegen erwiderte er den Blick ebenso kühl und schloss die Tür endlich, um sie nicht mehr ansehen zu müssen.

Kaum war er von den Feierlichkeiten abgeschottet, atmete er tief durch. Mit schnellen Schritten lief er durch die Gänge, bevor doch noch jemandem – im schlimmsten Fall Julie selbst – einfallen würde, dass ein wichtiges Gespräch mit Flordelis angebracht war.

Ohne einen Zwischenfall konnte er den Magnum-Opus-Palast verlassen und direkt seinen Wagen aufsuchen, in dem sein wartender Chauffeur ihn überrascht empfing. »Sie brechen schon wieder auf?«

Flordelis stutzte bei dieser Wortwahl kurz, aber im Endeffekt hatte er recht und Platan hatte das ja auch schon angemerkt: Flordelis blieb einfach nie sehr lange bei diesen Galas. Aber er glaubte auch nicht, dass er irgendetwas verpasste.

»Ich ziehe es vor, morgen ausgeschlafen zu sein, statt über Gebühr mit Leuten zu sozialisieren.«

»Reiche haben wohl ihre ganz eigenen Probleme«, folgerte sein Chauffeur schulterzuckend.

Flordelis schmunzelte darauf. »Das stimmt wohl.«

Er lehnte sich zurück, als der Wagen losfuhr und den Magnum-Opus-Palast mit seinen hellen Lichtern rasch hinter sich ließ. Als sie die Palais-Allee entlangfuhren, fiel Flordelis' Blick unter seinen schwer werdenden Lidern auf die Uhr auf dem Armaturenbrett: 23:59 Uhr.

Dann müsste Platan wenigstens nicht mehr warten, bis das Fest wirklich begann. Bestimmt würde er ihm alles erzählen, was er verpasst hatte, also müsste er sich keine Gedanken machen. Vielleicht sollte er ihn morgen direkt deswegen anrufen. Möglicherweise könnte er ihn dann ja wirklich nach seinen Gedanken fragen. Und ob Julie vielleicht noch mit ihm gesprochen hatte.

Erst einmal könnte er aber einfach die Augen schließen und darauf warten, zu Hause anzukommen. Verbunden mit den sanften Vibrationen des Fahrzeugs fiel er rasch in einen tiefen Schlaf, in dem ihm Julies finsterer Blick überallhin zu folgen schien.
 

2nd Loop: Wir kennen uns schon sehr lange


 

»Wir sind da, Monsieur Flordelis.«

Es kam ihm vor, als tauche er aus einem Fiebertraum auf. Flüchtige Farben tanzten noch in seinem Gedächtnis, verbanden sich mit Geräuschen, die einst Stimmen gewesen sein mochten, nun aber so verwischt waren, dass ihre ursprüngliche Bedeutung nicht mehr zu erkennen war. Er versuchte, die Erinnerungen zu fassen, erhaschte Eindrücke eines Amethysten, der ihn wütend sein ließ, Julie in einem goldenen Kleid, mit diesem Armreif, für den sie ihre Freundschaft geopfert hatte, und dieser kühle Blick, der ihn quer durch den Raum hindurch traf. Dann zerflossen die Erinnerungen zwischen seinen Fingern und sammelten sich auf dem Boden zu einer farbenfrohen Pfütze, in der keine Einzelheiten mehr zu erkennen waren.

Ihm blieb nur, seine Augen zu öffnen.

Er blinzelte und stöhnte leise, als das grelle Licht von draußen auf seine Augen traf. Der hell erleuchtete Magnum-Opus-Palast hob sich wie ein Juwel von dem tintenschwarzen Nachthimmel ab; zweifellos verdrängte das Licht der Gala jegliches Leuchten von Sternen.

Moment!

Der Magnum-Opus-Palast? Die Gala? War er nicht auf dem Heimweg gewesen?

Sofort huschte sein Blick in Richtung seines Telefons, das er noch in der Hand hielt. Auch wenn er sich nicht daran erinnerte, es aus seiner Tasche genommen zu haben. Das leuchtende Display verriet ihm, dass es gerade 20 Uhr war. Zu jener Zeit war er bei der Gala angekommen. Vor vier Stunden. Und nun war es wieder …

Wie war das möglich? Er erinnerte sich an die Gala, das falsche Lächeln der Leute, die oberflächlichen Gespräche, das höfliche Lachen, Julie in diesem furchtbaren Kleid – und der Stein, der Grund für ihren Streit, der alle Einzigartigkeit verloren hatte. Könnte es sein, dass es nur ein Traum gewesen war? Hatte er die Gala noch gar nicht besucht?

Um nicht zu lange auf das Bild seines Displays zu starren, steckte er das Handy wieder ein.

»Alles in Ordnung?« Die vertraute Stimme seines Chauffeurs, er musterte Flordelis durch den Rückspiegel. »Sie sehen plötzlich so blass aus.«

Schwäche vor seinen Angestellten zu zeigen oder einem solchen zu erklären, dass er einen merkwürdigen Traum durchlebt hatte, hätte ihm gerade noch gefehlt. Deswegen schüttelte er mit dem Kopf. »Alles ist in Ordnung. Ich bin nur … nicht sehr erpicht auf diesen Gala-Besuch.«

»Ich würde auch wirklich nicht mit Ihnen tauschen wollen. Außer vielleicht für das Essen.«

Das wäre wirklich der einzige Vorteil – wenn man bei Galas wirklich zum Essen käme. Aber statt das weiter zu erörtern, entschuldigte Flordelis sich bei seinem Fahrer schon einmal für das langweilige Warten (worauf dieser ihm versicherte, dass es schon in Ordnung sei), dann verließ er den Wagen und ging auf den Eingang des Palasts zu.

Selbst dieser Moment, diese Schritte, kamen ihm so vertraut vor, sie mussten erst vor kurzem geschehen sein. War es möglich, einen derart realistischen Traum zu erleben? Oder träumte er diese Wiederholung? War sein Unterbewusstsein derart zerrüttet von dem Erlebten, dass es ihm nicht einmal erlaubte, von hier zu fliehen?

Ein Diener, der in der Eingangshalle stand, begrüßte Flordelis mit einem unverbindlichen Lächeln und bat ihn, direkt zum Ballsaal durchzugehen. Für einen kurzen Moment überlegte er, den Mann zu fragen, ob er heute schon einmal hier gewesen war, aber er entschied sich dagegen. Falls das ein Traum war, führte es nirgendwo hin. Und falls es Realität war, würde es nur einen seltsamen Eindruck erwecken, der zu Gerüchten und Rückschlägen bei Geschäften führte.

Also bedankte er sich nur und legte dann den Weg zum Ballsaal zurück. Diesmal allein, weil er sich ohnehin auskannte und weil er nicht riskieren wollte, auf dem Weg vielleicht doch zu fragen, was hier vor sich ging.

Bedienstete zogen sich hastig in die Dunkelheit zurück, wann immer er an ihnen vorbeikam, bevor er einen von ihnen grüßen oder mustern konnte. Die Musik und die Gespräche aus dem Ballsaal vibrierten regelrecht durch das Gebäude und lockten ihn zu sich. Gleichzeitig erzeugte jeder Schritt, der ihn näher hinführte, in Flordelis nur mehr Abneigung. Waren die vier Stunden nicht genug Strafe gewesen? Warum sollte er sie noch einmal durchstehen?

Vor der Tür des Ballsaals blieb er wieder stehen. Auch wenn es unsinnig war, kniff er sich selbst in den Arm, nur um schmerzhaft das Gesicht zu verziehen. Das hier war also offenbar kein Traum. Dann musste das zuvor Erlebte ein Traum gewesen sein. Ein Albtraum wahrscheinlich. Das sollte ihn nicht weiter wundern, er hasste diese Ereignisse wirklich, nicht zuletzt, weil sie eigentlich immer gleich waren. Das einzige, was sich änderte, waren die von den Frauen getragenen Kleider. Also war es durchaus im Bereich des Möglichen, sie im Vorfeld zu träumen. Alles war gut, er müsste nur diese vier Stunden überstehen. Er konnte das.

Doch als er die Tür öffnete, sank sein Mut ins Bodenlose. Er kannte das Bild, das sich ihm bot, es war eindeutig jenes, das er heute, in seinem Traum, schon einmal gesehen hatte. Das verhüllte Podest in der Mitte des Saales, die Kleider der anwesenden Frauen – aber vor allem entdeckte er fast sofort Julie zwischen ihnen, in diesem goldenen Kleid, den viel zu hohen Schuhen, den Perlenschnüren in ihrem Haar und dem Reif an ihrer Hand, dessen Glitzern ihn zu verspotten schien.

Seine Brust zog sich zusammen, während er versuchte, das zu verarbeiten. Sein Verstand lehnte es aber vollkommen ab, es war einfach unmöglich. Prophetische Träume existierten vielleicht für bestimmte Menschen, aber er gehörte nicht zu diesen. Das hier war aber auch kein Traum, er war eindeutig wach. Das alles widersprach jeglicher Logik und doch war er mittendrin.

Ihm blieb keine Zeit, sich länger damit auseinanderzusetzen, da plötzlich eine Stimme an sein Ohr drang: »Ah, Monsieur Flordelis!«

Flordelis wandte sich Henri zu, der strahlend auf ihn zukam. Genau wie zuvor.

Henri nahm seine Hand, um sie ausgiebig zu schütteln. »Ich bin so froh, dass Sie es einrichten konnten. Wir wissen ja alle, wie beschäftigt Sie sind.«

»J-ja«, sagte Flordelis. »Die Verspätung tut mir leid.«

Er versicherte ihm sofort, dass das schon in Ordnung war, dann betrachtete er ihn besorgt. »Geht es Ihnen gut, Monsieur Flordelis? Sie sehen etwas blass aus.«

»Es ist alles in Ordnung, machen Sie sich bitte keine Sorgen.« Es wäre nicht sehr hilfreich, mit Henri über dieses Traum-Thema zu sprechen, also verzichtete er drauf. »Ich denke, ich habe nur zu viel gearbeitet.«

»Umso wichtiger, dass Sie sich auch endlich eine Auszeit gönnen.« Henri lächelte wieder. »Deswegen freue ich mich, dass Sie heute hier bei uns sind, Monsieur Flordelis. Wenn ich meine zwei größten Schmuckstücke präsentiere, muss einfach jeder dabei sein.«

»Zwei größte Schmuckstücke?«, hakte Flordelis nach.

Das war neu. Vielleicht trug das endlich dazu bei, dass er seine Verwirrung ablegen und akzeptieren konnte, dass alles zuvor nur Teil eines Traums gewesen war. Einer, der in einigen Details eigenartig mit der Realität übereinstimmte, aber nicht viel mehr. Und auch das ließ sich vielleicht damit wegerklären, dass er sich gar nicht wirklich an diesen Traum erinnerte, sein Verstand aber unbedingt Lücken schließen wollte. Ja, damit könnte er leben.

Statt einer Antwort bat Henri ihn mit sich und ging dann direkt auf die anderen Anwesenden und vor allem das verhüllte Podest zu. Flordelis folgte ihm langsamer und blieb schließlich in angemessener Entfernung wieder stehen.

»Meine lieben Gäste«, verkündete Henri voller Begeisterung, »ich freue mich, dass wir nun vollzählig sind~.«

Sofort verstummten alle Gespräche, die Blicke aller wandten sich ihm zu, abgesehen von Flordelis'; er konzentrierte sich auf Julie, die am erwartungsvollsten aussah.

»Es ist mir eine große Ehre«, fuhr Henri fort, »Ihnen allen endlich mitzuteilen, wofür wir uns versammelt haben. Es gibt gleich zwei großartige Nachrichten, die ich zu verkünden habe!«

Darauf breitete sich ein leises Flüstern aus, als jeder bereits zu ergründen versuchte, worum es hier eigentlich ging. Abgesehen von der Enthüllung dieses Edelsteins, was gab es da noch zu erzählen?

»Zu meiner ersten Nachricht: Inzwischen ist es in Kalos allgemein bekannt, dass ich vor kurzem in den Besitz eines ganz besonderen Stücks gekommen bin, das meine hochdotierte Sammlung noch weiter veredeln wird.«

Julie lächelte sanft, während sie Henri zuhörte. So sanft hatte sie früher nur für Flordelis und Platan gelächelt. Warum machte ihn das so seltsam wütend?

»Hiermit enthülle ich voller Stolz den Amethyst der 1000 Möglichkeiten

Damit entfernte er das Tuch unter dem eine gläserne Vitrine auf einem Podest zum Vorschein kam. Darin lag ein lila-farbener Edelstein mit Pendeloque-Schliff – genau wie jener in seinem Traum.

Henri breitete begeistert die Arme aus. »An diesem Abend werden Sie alle noch ausführlich die Gelegenheit bekommen, meinen Schatz zu betrachten. Nun möchte ich Ihnen aber noch mein zweites Schmuckstück präsentieren!«

Er streckte Julie die Hand entgegen, die sie elegant ergriff, als sie sich an seine Seite begab. Dort legte Henri einen Arm um ihre Taille und wandte sich strahlend wieder den Gästen zu. »Die liebreizende Julie, der ich mein erstes Schmuckstück verdanke, ist auch mein zweites und wertvollstes. Ja, Sie vermuten richtig, meine lieben Gäste, wir wollen diese Gelegenheit nutzen, um unsere Verlobung bekanntzugeben!«

Von den anderen kamen überraschte und erfreute Ausrufe. Flordelis dagegen hatte kurzzeitig den Eindruck, als würde sein gesamtes Inneres durch Eiswasser ersetzt werden. Dabei war er sich nicht einmal sicher, warum ihn das so sehr traf. Julie konnte machen, was sie wollte – und Henri auch.

Die ersten mehrstimmigen Glückwünsche wurden ausgerufen, gefolgt von Applaus, dem sich alle Gäste anschlossen, auch Flordelis, um keine Gerüchte entstehen zu lassen. Julie sah zu ihm herüber, er erwiderte ihren Blick mit ausdrucksloser Miene. Darauf runzelte sie die Stirn. Was erwartete sie von ihm? Dass er sich freute, dass sie dafür ihre Freundschaft beendet hatte? Hätte sie ihm das nicht wenigstens erklären können?

Julie wandte ihren Blick wieder von ihm ab. Henri bedankte sich strahlend für die Glückwünsche. »Deswegen wünschen wir Ihnen nun ein großartiges Fest. Essen und trinken Sie so viel Sie wollen! Teilen Sie unsere Freude! Das ist alles, was wir uns heute von Ihnen wünschen.«

Einige der anderen Gäste – darunter auch Platan, wie Flordelis erkannte – versammelten sich sofort um sie beide, um ihnen noch persönlich mitzuteilen, wie sehr man sich für das Paar freute. Rasch verlor Flordelis sie damit aus den Augen. Aber das war auch egal, denn er selbst war plötzlich von einigen potentiellen Geschäftspartnern umgeben, die er nicht einfach vertrösten konnte. Somit blieb ihm keine Gelegenheit mehr, weiter über Henri und Julie nachzudenken – und im Moment war er wirklich froh darum.

 

Mehrere Stunden später, nachdem Flordelis mit allen geredet hatte, mit denen er reden musste, fand er endlich die Zeit, mit Platan zusammenzustehen, während er seinen Champagner trank. Dabei war dieses Glas eigentlich schon zu viel. Aber wann immer er darüber nachdachte, dass er vielleicht kein weiteres trinken sollte, hörte er wieder jemanden darüber reden, wie schön es für Henri war, dass er endlich eine Braut gefunden hatte, und dann nahm er sich doch wieder eines.

»Heute sind sie wirklich gut drauf.«

»Platan.« Flordelis atmete tief durch, seine Zunge fühlte sich schwer an. »Auch wenn Madame Josette sich entschuldigt hat, war es nicht in Ordnung, dass sie Madame Enora eine Affäre unterstellte. Schon gar nicht mit Madame Josettes Ehemann.«

»Das stimmt schon«, gab Platan zu und wechselte dann lieber das Thema: »Warum hast du Monsieur Henri und Julie eigentlich nicht gratuliert? Bist du immer noch wütend auf sie?«

Nachdenklich sah Flordelis ihn an. Sein Freund strahlte regelrecht, als freute er sich wahnsinnig für Julie. Wahrscheinlich tat er das sogar.

»Das klingt, als hättest du mich den ganzen Abend beobachtet.

»Das habe ich auch, mein Bester~.«

Der Stolz, der in seiner Stimme mitschwang, irritierte Flordelis, deswegen musste er einfach nachhaken: »Weswegen?«

»Ich beobachte dich einfach gern.« Platan zwinkerte ihm zu. »Du bist eine sehr eindrucksvolle Erscheinung.«

Flordelis nahm noch einen großen Schluck seines Champagners, statt darauf zu reagieren. Warum verwirrte dieser Mann ihn nur so gern?

»Jedenfalls«, wechselte Platan unvermittelt das Thema zurück, »hast du mir nicht geantwortet, ob du noch wütend auf sie bist.«

»Ich werde nicht einfach damit aufhören.«

»Aber jetzt weißt du doch, dass sie den Stein Monsieur Henri für die Liebe überlassen hat«, sagte Platan viel zu sanft. »Solltest du ihr also nicht vergeben und dich für sie freuen?«

Als guter Freund wäre das wirklich die richtige Reaktion, das war ihm selbst bewusst. Aber gleichzeitig war das auch, was ihn daran so sehr verletzte. »Warum hat sie mir das nicht einfach gesagt? Vielleicht hätte ich es dann anders gesehen.«

»Sie hat dir doch den Armreif gezeigt, den Monsieur Henri ihr dafür gegeben hat, oder? Vielleicht war das ihre Art, es dir mitzuteilen? Und du hast ihr nur nicht zugehört.«

Er hatte sie wirklich nicht ausreden lassen, als sie ihn deswegen aufgesucht hatte. Stattdessen war es zu einem Streit gekommen und sie war wütend davongerauscht. Seitdem sprachen sie nicht mehr miteinander.

»Ich verstehe es einfach nicht.« Flordelis schüttelte mit dem Kopf. »Warum Monsieur Henri?«

Das klang verdächtig danach, als wollte er fragen, warum sie nicht ihn gewählt hatte. Dabei war das gar nicht seine Intention gewesen. Zum Glück ging Platan auch nicht weiter darauf ein: »Ihr Vater war ein Sammler. Vielleicht hat sie einfach eine Schwäche für solche Leute. Aber auch wenn nicht, Monsieur Henri ist doch ein großartiger Mann. Er wird sie bestimmt gut behandeln.«

Das glaubte Flordelis auch. So stolz wie Henri sie präsentierte, während er an ihrer Seite glücklich durch den Saal wandelte, konnte Flordelis sich nicht vorstellen, dass er sie jemals verletzen würde. Selbst wenn Flordelis wütend auf sie war, wollte er immerhin nicht, dass das geschah.

»Damit bleiben wir wohl noch länger unter uns«, bemerkte Platan. »Dann können wir uns noch besser kennenlernen.«

Flordelis sah ihn schmunzelnd an. »Denkst du nicht, dass wir uns schon gut genug kennen? Ich bin sogar fast überzeugt, deine Gedanken lesen zu können.«

»Wirklich?«, fragte Platan aufgeregt. »Was denke ich dann gerade?«

Wenn er seinem Traum glauben durfte – wovon er nicht ausging, aber einen Versuch war es wert –, gab es da nur eine Sache: »Du denkst, dass heute der perfekte Abend ist, dass Julie und ich uns wieder versöhnen – und dass wir zwei Pampuli sind.«

Platans Augen weiteten sich vor Erstaunen und Ehrfurcht. »Du kannst wirklich meine Gedanken lesen!«

Das stimmte mit seinem Traum überein? Nein, es musste Zufall sein, das war unmöglich.

»Platan, wir kennen uns schon sehr lange. Ich bin einfach nur gut darin, zu erraten, woran du denken könntest. Das ist alles.«

Das klang logisch. Auch Flordelis könnte damit leben. Und Platan glücklicherweise auch, er nickte bereits. »Verständlich. Aber nicht sehr romantisch, mein Bester.«

Und schon war Flordelis wieder verwirrt, was seinen Freund anging. Mehr davon würde er an diesem Abend nicht mehr ertragen. Deswegen leerte er den Rest seines Glases und stellte dieses dann auf dem Tablett eines vorbeieilenden Kellners ab. »Ich denke, ich beende diesen Abend an dieser Stelle.«

»Oh, wirklich?« Platan sah ihn enttäuscht an. »Es ist noch nicht einmal ganz Mitternacht. Um diese Zeit beginnen solche Feste doch erst wirklich, das sagen auch alle Märchen. Willst du das nicht einmal wenigstens ausprobieren?«

»Ich muss morgen wieder arbeiten«, erwiderte Flordelis kurz angebunden. »Tut mir leid.«

»Dann sehen wir uns wohl ein andermal wieder.« Platan lächelte ihm zu. »Schlaf gut. Und melde dich, falls du Redebedarf hast. Oder falls du noch mehr meiner Gedanken erahnen kannst~.«

Flordelis versicherte ihm, dass er genau das machen würde, dann strebte er zum Ausgang und verließ den Saal ohne weitere Unterbrechung und auch ohne Julie noch einmal zu sehen. Dennoch glaubte er, ihren Blick kurz auf sich zu spüren, als er die Tür schloss, aber er sah sich nicht um.

Kaum war er von den Feierlichkeiten abgeschottet, atmete er tief durch. Warum belastete ihn diese Verlobung nur so sehr? Oder ärgerte er sich doch nur über seine eigene Starrköpfigkeit, die verhinderte, dass er sich für sie freute? Ja, das musste es sein. Er sollte Julie in den nächsten Tagen anrufen, um sich für sein Verhalten zu entschuldigen und ihr zu gratulieren. Vielleicht war es noch nicht zu spät, ihre Freundschaft zu retten. Bestimmt besserte sich dann auch seine Laune wieder.

Erst einmal durchquerte er aber die Gänge in Richtung Ausgang. Er wurde von niemandem aufgehalten, sodass er bald wieder bei seinem Wagen ankam, in dem sein wartender Chauffeur ihn überrascht empfing. »Sie brechen schon wieder auf?«

Erschöpft ließ Flordelis sich auf den Rücksitz sinken. »Ich hatte für heute genug Überraschungen.«

»Reiche haben wohl ihre ganz eigenen Probleme«, folgerte sein Chauffeur schulterzuckend.

War das eine angemessene Reaktion auf seine Antwort? Flordelis war sich nicht sicher, aber er wollte auch nicht darüber nachdenken.

Er lehnte sich zurück, als der Wagen losfuhr und den Magnum-Opus-Palast mit seinen hellen Lichtern rasch hinter sich ließ.

Gerade als Flordelis seine Augen schließen wollte, gab sein Handy plötzlich einen Ton von sich. Mit genervter Überraschung – hatte er davon nicht schon genug? – zog er das Handy hervor. Das Display verriet, dass es 23:58 Uhr war, was ihm zumindest sagte, warum er plötzlich so müde war.

Aber als er sah, von wem die Nachricht kam, war er kurz wieder hellwach.

Julie?

Für einen flüchtigen Moment hoffte er, dass sie sich jetzt entschuldigte und ihm eine Erklärung schickte, aber stattdessen war es nur eine Frage: Warum gehst du immer?

Das ließ ihn noch verwirrter zurück. Störte es sie plötzlich, dass er Galas immer so früh verließ? Oder meinte sie etwas anderes?

Unwillkürlich dachte er erneut an diesen Traum zurück. Aber er verwarf diesen Gedanken, der ihn dabei überkam, auch sofort wieder. Es war einfach unmöglich, er konnte diese Gala nicht zweimal erlebt haben. Das widersprach jeglicher Logik, der er sich als Wissenschaftler verschrieben hatte. Er war nun einmal nicht Platan, der mehr der Romantik zugeneigt war.

Flordelis wollte Julie antworten, sie fragen, was sie meinte, doch da sprang die Zeit auf 23:59 Uhr und eine geradezu bleierne Müdigkeit kam über ihn. Entgegen all seiner Anstrengungen fielen seine Augen zu und er rutschte in einen tiefen Schlaf, in dem er immer wieder Julies Blick in seinem Rücken spürte, während Henris Stimme feierlich ihre Verlobung verkündete.
 

3rd Loop: Was weißt du über Zeitschleifen?


 

»Wir sind da, Monsieur Flordelis.«

Es kam ihm vor, als tauche er aus einem Fiebertraum auf. Flüchtige Farben tanzten noch in seinem Gedächtnis, verbanden sich mit Geräuschen, die einst Stimmen gewesen sein mochten, nun aber so verwischt waren, dass ihre ursprüngliche Bedeutung nicht mehr zu erkennen war. Er spürte Julies kühlen Blick in seinem Rücken, verbunden mit einer irrationalen Wut in seinem Inneren, die sich in einer Explosion zu entladen schien – und inmitten dieser hörte er plötzlich Julies Stimme, die sich deutlich von dem Rauschen der anderen abhob: »Warum gehst du immer?«

Dann verhallte alles, die Farben wurden auf eine Leinwand geworfen und ergaben ein Bild, dessen Bedeutung er nicht erfassen konnte, bevor ein grelles Licht es verschlang.

Flordelis blinzelte überfordert. Der hell erleuchtete Magnum-Opus-Palast hob sich wie ein Juwel von dem tintenschwarzen Nachthimmel ab. Fassungslos sog er die Luft ein.

Das ist nicht möglich!

Er sah auf sein Handy hinab. 20 Uhr. Auch das Datum stimmte noch überein. Es war der Abend der Gala. Jene, die er ganz sicher schon erlebt hatte. Mindestens einmal, vermutlich eher schon zweimal. Zuletzt hatte er an einen Traum geglaubt, diese Theorie könnte er nun offenbar verwerfen. Doch was war es dann?

»Alles in Ordnung?« Dieselbe Frage wie letztes Mal. »Sie sehen plötzlich so blass aus.«

Nicht gewillt über dieses Rätsel mit seinem Fahrer zu sprechen, winkte er nur ab und öffnete den Posteingang seines Handys. Von Julies Nachricht war nichts zu sehen, aber das wunderte ihn nicht, schließlich hatte er sie noch nicht bekommen. Sollte er ihr einfach schreiben? Nein, sie stritten aktuell noch. Was sollte sie von ihm denken, wenn er ihr mit einer möglichen Zeitschleife käme? Sie würde es wahrscheinlich für einen Annäherungsversuch halten, ohne dass er sich entschuldigen müsste. Außerdem wüsste sie bestimmt auch nicht, was hier vor sich ging, sie war realistisch (noch mehr als er). Und sie wüsste auch nicht, wie man das beendete, dafür war sie zu brachial in ihren Lösungen; aus diesem Grund hatte sie die Forschung verlassen.

Doch es zu beenden war das eigentlich Wichtige und nahm deswegen erst einmal seinen Hauptfokus ein. Er hasste Galas ohnehin, auf einer solchen festzustecken konnte also nicht sein Ziel sein.

Aber er wusste nicht so recht, wie man ein solches Problem angehen könnte. Seines Wissens nach gab es keinerlei Abhandlungen für solche Fälle, keine Experten für Zeitschleifen. Schon gar nicht auf dieser Gala. Vielleicht würde es schon helfen, sich mit jemandem auszutauschen. Er bräuchte jemanden, dem er vertraute, der auf dieser Gala war, vielleicht dieselbe Erfahrung gemacht hatte und sich nicht zu sehr auf Logik berief. Und da fiel ihm nur eine Person ein: Platan. Ich muss mit Platan sprechen.

Dieser hatte sein Handy im Moment bestimmt nicht bei sich (das gehörte sich auf Galas nicht), also müsste Flordelis wirklich hineingehen, so sehr ihm das auch widerstrebte.

Als wären mindestens acht Stunden nicht schon genug gewesen.

Ohne etwas zu sagen, verließ Flordelis den Wagen und schritt eilig auf den Palast zu. Kurz vor dem Eingang fiel sein Blick wieder auf die leere rechte Seite. Letztes Mal hatte er es ignoriert, aber diesmal spürte er wieder diesen Stich in seinem Inneren. Als hätte er hier jemanden erwartet, der einfach nicht kam. Egal, wie oft er hier vorbeilief.

Er schüttelte den Gedanken erst einmal ab und trat ein. In der Eingangshalle erwiderte er die Begrüßung des Dieners, die noch genau dieselbe war, und legte dann den Weg zum Ballsaal zurück. Auch in den Gängen war alles wie letztes Mal: Die Bediensteten zogen sich in die Dunkelheit zurück, die Musik und die Gespräche aus dem Ballsaal vibrierten durch das Gebäude.

Der einzige Unterschied war er, denn diesmal waren seine Schritte nicht unwillig, sondern entschlossen. Sobald er mit Platan sprach, kämen sie bestimmt hinter das Geheimnis dieser Wiederholung und könnten es beenden. Platan war gut in so etwas, denn er versteifte sich nicht so sehr auf die Wissenschaft und er kannte sich besser mit Pokémon aus, falls ein solches dahintersteckte – vielleicht fiel ihm sogar ein passendes Märchen ein, das ihm eine Lösung bot. Gemeinsam würden sie es schaffen.

Diesmal hielt er vor der Tür nicht zum Durchatmen inne, sondern öffnete sie direkt zu dem inzwischen vertrauten Bild der Gala. Selbst Julie in diesem goldenen Kleid fiel ihm sofort wieder ins Auge. Er erinnerte sich vor allem auch wieder an die Verlobung und ihre Nachricht am Ende.

Warum gehst du immer?

Für einen flüchtigen Augenblick hegte er die Befürchtung, dass sie hinter allem steckte. Aber das war vollkommen unmöglich. Wie sollte sie das bewerkstelligen? Und warum sollte sie etwas tun? Das entsprach ganz und gar nicht ihrem Wesen. Also schloss er sie als Urheberin vollkommen aus. Platan war weiterhin seine einzige Hoffnung. Doch bevor er seinen Freund entdeckte, drang eine Stimme an sein Ohr: »Ah, Monsieur Flordelis!«

Er wandte sich Henri zu, der auf ihn zukam. Aber diesmal strahlte er nicht. Er wirkte vielmehr besorgt. Kaum war er bei ihm angekommen, ergriff Henri seine Hand, aber nicht um sie zu schütteln, eher fühlte es sich danach an, als bräuchte ihr Gastgeber gerade jemanden, der ihn unterstützte. »Wie schön, dass Sie es einrichten konnten.«

Für einen Moment traten seine eigenen Sorgen in den Hintergrund. So hatte er den sonst so fröhlichen Henri noch nie erlebt – und das deckte sich auch nicht mit seiner Erinnerung an diesen Abend. Aber der vermeintliche Traum und das letzte Erlebnis hatten sich auch voneinander unterschieden. Gab es wieder eine Änderung?

»Ist alles in Ordnung, Monsieur Henri?«, fragte Flordelis. »Fehlt Ihnen etwas?«

»Oh, also ...« Henri warf einen kurzen Blick über seine Schulter. »Ich glaube, ich bin nur etwas nervös. Deswegen hatte ich gehofft, wir könnten vorher noch kurz miteinander reden.«

Ihn überkam eine Vorahnung, worum es gehen könnte. Sein Inneres zog sich sofort zusammen. Was sollte diese Änderung? Wie kam es dazu?

Bevor er sich zu viele Gedanken darum machte, hakte er einfach nach: »Geht es um die Ankündigung Ihrer Verlobung mit Julie?«

Henri sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie davon?«

Stimmt, er dürfte es eigentlich gar nicht wissen. Es würde aber viel zu weit gehen, Henri von der Zeitschleife zu erzählen (wahrscheinlich würde er es ohnehin nicht glauben), also zog er sich einfach auf seine Autorität zurück: »Das tut jetzt nichts zur Sache. Aber warum denken Sie, mit mir darüber reden zu müssen?«

Normalerweise würde er nicht derart brüsk mit Henri sprechen, aber im Moment konnte er darauf keine Rücksicht nehmen. Zu seinem Glück störte sein Gegenüber sich nicht daran. »Julie und Sie stehen sich normalerweise sehr nahe, deswegen wollte ich nur sichergehen, dass diese Offenbarung für Sie nicht unangenehm wird.«

Es war sogar sehr unangenehm gewesen. Flordelis konnte sich nach wie vor nicht erklären, warum genau er so wütend deswegen war. Im Endeffekt ging ihn das gar nichts an, Julie konnte heiraten, wen sie wollte und wenn sie diesen Edelstein deswegen Henri überlassen hatte, würde Flordelis irgendwann seinen Frieden damit schließen.

Er schüttelte mit dem Kopf. »Nur keine Sorge. Wenn Sie beide glücklich sind, freue ich mich für Sie und Julie.«

Henri lächelte wieder. »Sie ahnen gar nicht, wie sehr mich Ihre Worte erleichtern, Monsieur Flordelis. Julie wird es bestimmt genauso gehen. Wissen Sie, eigentlich sollte ich Ihnen das nicht sagen, aber Julie hat wirklich befürchtet, dass Sie das schlecht aufnehmen würden.«

Damit hatte sie auch vollkommen recht. Aber darum ging es gerade nicht. Eigentlich wollte Flordelis vor allem dieses Gespräch beenden, um endlich mit Platan sprechen zu können. Er musste diese Zeitschleife beenden. Ob er damit auch diese Verlobung ungeschehen machte?

»Es gibt wirklich keinen Grund, für diese Befürchtungen«, sagte Flordelis, mit einem routiniert unverbindlichen Lächeln. »Bitte, verkünden Sie die Verlobung.«

Glücklich bat Henri ihn mit sich und ging dann direkt auf die anderen Anwesenden und vor allem das verhüllte Podest zu. Flordelis folgte ihm langsamer und blieb schließlich in angemessener Entfernung wieder stehen. Dann ließ er den Blick über die Anwesenden schweifen, bis er Platan, der regelrecht zu glänzen schien, unter ihnen entdeckte. Im Moment unterhielt er sich voller Inbrunst mit einer kleinen Gruppe; ausgehend von den höflich gelangweilten Mienen der Zuhörer erzählte er ihnen gerade wieder ein Märchen, wahrscheinlich über Feen-Pokémon. Banausen, wenn sie das nicht zu schätzen wussten. Sobald das hier alles vorbei war, würde er sich wieder viele Geschichten von ihm anhören.

»Meine lieben Gäste«, verkündete Henri voller Begeisterung, »ich freue mich, dass wir nun vollzählig sind~.«

Sofort verstummten alle Gespräche, die Blicke aller wandten sich ihm zu. Platan wirkte besonders fröhlich, bestimmt weil er sich gute Neuigkeiten erhoffte. Von denen bekam er nie genug.

»Es ist mir eine große Ehre«, fuhr Henri fort, »Ihnen allen endlich mitzuteilen, wofür wir uns versammelt haben. Es gibt gleich zwei großartige Nachrichten, die ich zu verkünden habe!«

Darauf breitete sich ein leises Flüstern aus, als jeder bereits zu ergründen versuchte, worum es hier eigentlich ging. Flordelis' Magen fühlte sich jetzt schon wieder unangenehm flau an, er musste sich um eine neutrale Miene bemühen.

»Zu meiner ersten Nachricht: Inzwischen ist es in Kalos allgemein bekannt, dass ich vor kurzem in den Besitz eines ganz besonderen Stücks gekommen bin, das meine hochdotierte Sammlung noch weiter veredeln wird.«

Platan lehnte sich zu der Person neben sich und setzte schon dazu an, etwas zu sagen, besann sich dann aber. Offensichtlich fiel es ihm schwer, sich zurückzuhalten, aber es gelang ihm, Henri weiter zuzuhören.

»Hiermit enthülle ich voller Stolz den Amethyst der 1000 Möglichkeiten

Damit entfernte er das Tuch unter dem der für Flordelis bereits bekannte Amethyst zutage kam. Deswegen betrachtete er diesen gar nicht erst weiter. Anders als Platan, dessen Augen sogar durch den halben Raum zu glänzen schienen.

Henri breitete begeistert die Arme aus. »An diesem Abend werden Sie alle noch ausführlich die Gelegenheit bekommen, meinen Schatz zu betrachten. Nun möchte ich Ihnen aber noch mein zweites Schmuckstück präsentieren!«

Er streckte Julie die Hand entgegen, die sie so elegant wie zuvor ergriff, als sie sich an seine Seite begab. Dabei fiel Flordelis auf, dass er nie angenommen hätte, dass Julie derart … elegant sein könnte. Sie war kein Tölpel, aber das hier entsprach auch nicht seinem Bild von ihr.

Henri legte einen Arm um ihre Taille und wandte sich strahlend wieder den Gästen zu. »Die liebreizende Julie, der ich mein erstes Schmuckstück verdanke, ist auch mein zweites und wertvollstes. Ja, Sie vermuten richtig, meine lieben Gäste, wir wollen diese Gelegenheit nutzen, um unsere Verlobung bekanntzugeben!«

Von den anderen kamen überraschte und erfreute Ausrufe. Platan legte ergriffen die Hände auf seine Brust, während er Julie sanft betrachtete. Bestimmt gelang ihm das, was Flordelis versagt blieb: Er freute sich einfach nur für sie. Er war eben ein guter Freund.

Die ersten mehrstimmigen Glückwünsche wurden ausgerufen, gefolgt von Applaus, dem sich alle Gäste anschlossen, auch Flordelis. Diesmal brachte er sogar ein halbes Lächeln zustande, als Julie in seine Richtung sah. Das schien sie aber noch mehr zu verärgern als zuvor. Jedenfalls ließ ihre finstere Miene einen Schauer über seinen Rücken fahren.

Julie wandte ihren Blick wieder von ihm ab. Henri bedankte sich strahlend für die Glückwünsche. »Deswegen wünschen wir Ihnen nun ein großartiges Fest. Essen und trinken Sie so viel Sie wollen! Teilen Sie unsere Freude! Das ist alles, was wir uns heute von Ihnen wünschen.«

Platan und einige andere Gäste versammelten sich sofort um sie beide, um ihnen noch persönlich mitzuteilen, wie sehr man sich für das Paar freute. Flordelis behielt Platan dabei im Auge, wofür er sogar einige potentielle Geschäftspartner, die mit ihm reden wollten – dieselben wie letztes Mal und wenn er sich richtig erinnerte auch davor –, vertrösten musste. Es würde ihm wahrscheinlich leid tun, sobald er die Zeitschleife durchbrochen hatte, aber dann könnte er sich immer noch entschuldigen.

Kaum ließ Platan von Julie und Henri ab, ging Flordelis auf ihn zu und ergriff ihn am Ellenbogen, um ihn mit sich zu ziehen. »Ich muss unbedingt mit dir reden.«

Platan blinzelte ihn überrascht an. »Bonjour, Flordelis~. Du bist heute aber sehr stürmisch.«

Statt etwas darauf zu sagen, brachte Flordelis ihn in eine ruhige Ecke. Da sich gerade alle um das Paar kümmerten, beachtete sie niemand weiter. Ein Glück, denn das Thema, das er ansprechen wollte, benötigte keine Zuhörer.

So ernst wie möglich sah er seinen Freund an. »Platan, was weißt du über Zeitschleifen?«

»Oh, es gibt wunderbare Geschichten darüber«, antwortete er enthusiastisch. »Besonders in Sinnoh, wo man immerhin Dialga als Gottheit verehrt, die den Lauf der Zeit bestimmt. Es heißt, schlägt das Herz von Dialga, läuft die Zeit normal. Wenn man davon ausgeht, könnte eine Herzstörung bei Dialga auch zu einer Zeitschleife führen.« Platan blickte plötzlich betrübt drein. »Aber das wäre ja tragisch.« Sein Gesicht klärte sich wieder auf. »Warum fragst du eigentlich? Hast du Lust auf eine Geschichte? Ich kann dir eine erzählen, aber es wäre das erste Mal, dass du dir auf einer Gala dafür Zeit nimmst, das macht mich durchaus neugierig.«

Seine Neugier war genau das, was Flordelis brauchte. Platan hätte ihm bestimmt auch so zugehört, aber es konnte nicht schaden, wenn er vollkommen involviert war.

»Ich weiß, dass es verrückt klingen mag«, begann er, »aber ich habe diese Gala schon einmal erlebt. Wahrscheinlich schon zweimal. Oder mehr.«

Zu seiner Überraschung lachte Platan. »Bist du sicher, dass das nicht einfach nur deiner Abneigung gegenüber Galas zuzuschreiben ist? Als wir letzte Woche darüber geredet haben, meintest du ja noch, dass sie alle gleich seien und du deswegen heute gar nicht herkommen willst.«

Das hatte er wirklich gesagt. Innerlich verfluchte er sich gerade selbst. Er hatte gehofft, Platan würde ihm ohne größere Überzeugungsarbeit glauben, aber anscheinend war es nicht so einfach.

»Ich bin mir absolut sicher. Ich wusste schon im Vorfeld, wie dieser Stein aussehen würde und auch, dass Monsieur Henri seine Verlobung mit Julie bekanntgeben würde.«

»Hast du vor, ihr noch zu gratulieren?«

»Das ist nicht das Thema«, erwiderte Flordelis verärgert. »Aber falls du es unbedingt wissen musst: Ich habe ihr schon letztes Mal nicht gratuliert und du hast es auch da schon bemerkt, weil du mich den ganzen Abend beobachtet hast.«

Platans Lächeln schwand für einen flüchtigen Augenblick. »Warum sollte ich dich den ganzen Abend beobachten?«

»Das habe ich dich auch gefragt. Du hast darauf geantwortet, dass du mich einfach gern beobachtest, weil ich eine sehr eindrucksvolle Erscheinung wäre.«

Die Aussage verwirrte ihn immer noch, aber diesmal hatte er keinen Champagner in der Hand, den er einfach trinken könnte. Deswegen konzentrierte er sich einfach auf Platan, dessen Augen inzwischen erstaunt geweitet waren. »Du hast diesen Abend wirklich schon einmal erlebt.«

Flordelis freute sich darüber, dass Platan ihm glaubte, aber etwas daran irritierte ihn doch noch: »Das hat dich jetzt überzeugt?«

Er hätte mit einigen anderen Dingen gerechnet, die er als Beweise anbringen müsste, wie etwa eine Vorhersage, was zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Gala geschehen würde.

»Nun«, sagte Platan, »ich habe dir bislang nie erzählt, dass ich dich gern beobachte – und schon gar nicht, warum. Wenn du also nicht meine Gedanken lesen kannst, ist das nur so möglich.«

»Interessanterweise haben wir letztes Mal darüber gesprochen, dass ich dich schon so gut kenne, dass ich deine Gedanken lesen kann

Platans Augen glitzerten regelrecht vor Begeisterung. »Oh, wirklich? Wie faszinierend. Worüber haben wir noch gesprochen?«

»Über Julie und mich.« Nachdenklich strich Flordelis sich über den Bart. »Wärst du eigentlich gewillt, mir zu erklären, was ein Pampuli ist?«

Platan lachte verlegen. »Oh je. Habe ich das erwähnt? Pampuli ist ein sehr stures und eigensinniges Pokémon. Aber es ist auch sehr stark, deswegen … ist es irgendwie auch ein Kompliment.«

Also traf Platans Aussage zu, dass es nur die Wahrheit war. Er und Julie waren beide sehr stur und das schon immer. Deswegen zog sich diese Auseinandersetzung zwischen ihnen so lange hin.

»Aber davon ab«, fuhr Platan fort, bevor Flordelis mit mehr als einem Nicken reagieren konnte, »würde ich gern mehr über diese Zeitschleife wissen. Erzähl mir alles.«

Gut, sie kamen zum Thema zurück und näherten sich damit hoffentlich bald einer Lösung. »Ich weiß nicht, wie oft ich diese Gala bereits erlebt habe. Letztes Mal dachte ich, es wäre nur ein Traum gewesen, als ich im Wagen zu mir kam, nachdem ich bei der Abreise eingeschlafen war. Aber als ich diesmal aufgewacht bin, war es vollkommen klar.«

Warum auch immer. Vielleicht hing das mit dem seltsam verwirrenden Traum zusammen, den er kurz vor dem Aufwachen durchlebt hatte. Das brachte ihn jedoch nicht weiter, denn dieser bestand nur aus Farben und Rauschen.

Platan legte eine Hand an sein Kinn und nickte verstehend. »Also bist du schon mindestens zum dritten Mal hier.«

»So ist es. Wenn ich aufwache, ist es 20 Uhr, und wenn ich wieder einschlafe, ist es kurz vor Mitternacht.«

»Ah, du gehst also jedes Mal vor Mitternacht. Das ist typisch für dich.«

»Ich habe anderes zu tun, als auf einer Gala mit all diesen falschen Leuten zu reden.« Oder Julie zu beobachten. »Aber eigenartigerweise scheint sich bei jeder Wiederholung etwas zu ändern. Beim ersten Mal hat Monsieur Henri nur den Stein enthüllt. Beim letzten Mal hat er ihre Verlobung bekannt gegeben. Und dieses Mal hat er vorher noch mit mir darüber gesprochen, ob es für mich überhaupt in Ordnung wäre, es zu verkünden.«

Soweit er sich erinnerte, waren dies die einzigen Änderungen. Aber er verstand immer noch nicht, was es damit auf sich haben mochte.

Lachend zwinkerte Platan ihm zu. »Vielleicht kannst du diese Schleife ja durchbrechen, wenn du dich endlich mit Julie versöhnst.«

»Das würde dir gefallen, hm?« Abwehrend verschränkte er die Arme vor der Brust. »Ich verzichte weiterhin darauf. Hast du noch andere Ideen?«

»Wir könnten etwas ausprobieren, während ich dir Geschichten über Pokémon erzähle, die dazu in der Lage sind, die Zeit zu beeinflussen.« Wieder war er voller Enthusiasmus, als freute er sich am meisten, Geschichten erzählen zu dürfen. »Vielleicht fällt dir bei diesen Erzählungen schon etwas ein, was dir ohne den richtigen Kontext bislang nur nicht aufgefallen ist. Ansonsten musst du etwas tun, das du auch nur ungern tust.«

Flordelis runzelte seine Stirn. »Worum handelt es sich?«

»Bleib bis Mitternacht.« Platan lächelte sanft. »Manchmal ist die simpelste Antwort auch die richtige. Falls die Zeitschleife dann noch einmal anfängt, kannst du immer noch etwas anderes tun.«

Wieder musste Flordelis an Julies Nachricht denken. Warum gehst du immer?

Steckte am Ende wirklich Julie oder ihr gemeinsamer Konflikt hinter der Zeitschleife? Wollte sie um Mitternacht mit ihm reden? Selbst falls es nur wieder zu einem Streit führte, könnte es nicht schaden, wenn er es ausprobierte. Besonders wenn es beinhaltete, dass Platan ihm Geschichten erzählte. Ja, in diesem Fall wäre es nur ein kleines Opfer.

Deswegen vollführte er eine einladende Handbewegung. »Du wirst deinen Willen bekommen, ich bleibe bis Mitternacht. Erzähl mir dafür alle Geschichten, die dir, passend zu unserer Situation, einfallen.«

Platans Augen glänzten regelrecht. »Oh, mein Lieber, diese Worte wirst du noch bereuen~. Ich fange am besten mit Geschichten über Dialga selbst an. Weißt du, in Legenden erzählt man sich, mit Dialgas Geburt begann der Lauf der Zeit. Deswegen wird es als Gottheit verehrt, und es kann den Fluss der Zeit so manipulieren, dass es frei zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wandelt. Deswegen war es bislang unmöglich, dieses Legendäre Pokémon zu erfassen und zu untersuchen. Aber es gibt eine Geschichte über Dialgas letzte Sichtung. Und die beginnt vor Hunderten von Jahren in der Hisui-Region ...«

 

Flordelis unterbrach Platan kein einziges Mal, während er erzählte. Fast vier Stunden lang, alle Geschichten, die er von Dialga kannte. Sein Freund erzählte ausführlich und lebhaft, so wie eh und je. Manchmal machte er eine kurze Pause, um einen Schluck zu trinken – die Kellner kamen auffallend oft bei ihnen vorbei, um ihnen Getränke oder Snacks anzubieten und Platan kurz zuzuhören –, aber ansonsten blieb er vollkommen bei der Sache. Es war so bewundernswert, dass Flordelis' Herz schneller schlug, während er ihm lauschte. Glücklicherweise gab es genug Champagner, um das zu verdrängen und es nicht hinterfragen zu müssen.

»... und dann erlaubte Dialga es den Helden, die Zahnräder der Zeit im Turmsockel einzusetzen, was die Lähmung des Planeten unterbrach. Damit war die Welt gerettet, was mit einer großen Feier zelebriert wurde, ähnlich großartig wie diese Gala zweifellos.«

Der letzte Satz holte Flordelis unsanft wieder in die Realität zurück. Er bedankte sich dennoch lächelnd bei seinem Freund. »Waren das jetzt alle Geschichten, die mit Dialga zu tun haben?«

Platan nickte. »Jedenfalls alle, die ich kenne. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal dazu komme, sie alle auf einmal zu erzählen. Vielleicht sollte ich den Zeitschleifen dafür dankbar sein.« Er lachte. »Am Ende bin ich derjenige, der für alles verantwortlich ist, weil ich einfach nur Geschichten erzählen wollte.«

Das bezweifelte Flordelis sehr stark, deswegen schmunzelte er, ging aber dennoch darauf ein: »Falls ja, dann dürfte diese Schleife ja erfolgreich durchbrochen worden sein.«

Platan zwinkerte ihm zu, dann warf er einen Blick auf seine Uhr. »Sieh an, es ist kurz vor Mitternacht und du bist noch da. Eine richtige Premiere~.«

»Dann werden wir ja gleich erleben, ob das alles ist, was es braucht.« Flordelis hoffte es wirklich.

»Und?«, fragte Platan. »Ist dir an den Geschichten irgendetwas aufgefallen, was dir vorher vielleicht entgangen ist?«

Flordelis schüttelte mit dem Kopf. »Nein. Außerdem wüsste ich nicht, warum eine Gottheit diese Zeitschleife erschaffen sollte, nur um mich zu verärgern.«

»Vielleicht ist das Ziel ein anderes«, sagte Platan. »Aber ich wüsste auch nicht, was es für eines sein könnte. Und warum du und Julie darin so im Mittelpunkt steht.«

Auch ohne es bereits erlebt zu haben, wusste Flordelis, was als nächstes kommen würde, aber er war trotzdem nicht schnell genug, um Platans nächste Worte aufzuhalten: »Vielleicht seid ihr vom Schicksal füreinander bestimmt! Wäre das nicht wundervoll?«

Obwohl sein Freund begeistert klang und sogar lächelte, wirkten seine Augen seltsam trüb. Für ihn wäre das offensichtlich nicht wundervoll. Aus welchem Grund auch immer. Aber Flordelis wollte ihn nicht so sehen, deswegen wehrte er das direkt ab: »Ich bezweifle, dass dem so ist. Vielmehr denke ich, dass-«

Ein stechender Schmerz in seinem Rücken ließ ihn abrupt innehalten. Etwas bewegte sich in ihm, wühlte durch seine Brust und entfachte dabei ein geradezu lähmendes Feuer. Den Bruchteil einer Sekunde später – es fühlte sich wie eine quälende Ewigkeit an – spritzte eine rote Flüssigkeit auf Platans Gesicht, das sich in eine entsetzte Grimasse verwandelte, während er Flordelis anstarrte.

»Danke, dass du geblieben bist~«, flüsterte Julie hinter ihm geradezu lieblich in sein Ohr.

Mit einem Ruck wurde etwas aus seiner Brust entfernt. Die Schmerzen explodierten regelrecht und nahmen ihm jegliche Kraft. Platan rief seinen Namen, als Flordelis zu Boden sank. Jemand hielt ihn fest, aber jede Berührung sandte grell-weiße Flammen durch ihn hindurch, die verhinderten, dass er sich bewegte. Sein ganzer Körper brannte, er war nicht mehr Flordelis, er war nur noch Schmerz.

Geräusche, Stimmen vermengten sich zu einem seltsamen Rauschen, das sich seltsam dumpf in seinen Ohren anhörte. Durch den tiefroten Schleier vor seinen Augen konnte er nichts erkennen.

Julies Worte echote durch sein Inneres, durch den Schmerz, der ihn ausmachte: Warum gehst du immer? Danke, dass du geblieben bist~.

Zwei so unterschiedliche Sätze, die etwas in ihm zu zerbrechen drohten. Aber er konnte das nicht zulassen, er durfte es nicht. Er wusste nicht, woher diese Überzeugung kam, doch er wusste, dass es wahrhaftig war. Wenn dieses Etwas zerbrach, geschah etwas Schreckliches, etwas nie wieder Gutzumachendes.

Die Kanten des Schmerzes wurden langsam dumpf. Die Welt dunkler. Gleichgültigkeit setzte ein.

Durch den Schleier sah er plötzlich das panische Gesicht eines Mannes, der ihm etwas bedeuten müsste. Glaubte er. Der Mann bewegte seine Lippen, doch kein Laut erreichte ihn. Bedauerlich. Vielleicht. Er erinnerte sich nicht. Es kümmerte ihn auch nicht mehr.

Als seine Lider zu schwer wurden, schloss er seine Augen. Und dann erlosch der Schmerz und auch das letzte Überbleibsel des Mannes, der einst Flordelis gewesen war, schwand aus diesem von der Zeitschleife geschaffenen Konstrukt – um im nächsten wieder aufzuwachen.

 
 



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