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Das Auge des Phönix'

Fernandez' und Alsters erster Fall
von

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Kapitel 1

Kapitel 1
 

Am Morgen fiel das Herbstlicht golden durch die dünnen Vorhänge in der Küche. Mit der ersten Tasse Kaffee des Tages in der Hand blickte Julia auf die Straße hinunter. Zehn Stockwerke tiefer bildete sich ein kleiner Stau, als die Ampel an der Kreuzung auf Rot sprang. Winzige Menschen hasteten über den Zebrastreifen, in Richtung der nächsten Metrostation. In der Ferne blitzte ein Stück Wasser im Hafen von Bakuten zwischen den Gebäuden hervor.

Der Himmel wusste, Julia war kein Morgenmensch. Sie wollte den Sonnenaufgang zwischen den Gardinen ihres Schlafzimmers aufleuchten sehen, eingekuschelt in ihre Decken – nicht fertig angezogen und bereit für den Arbeitsweg. Am liebsten wäre es ihr, wenn sich neben den Decken auch ein warmer Körper an sie schmiegen würde. Diesen Wunsch immerhin hatte sie sich in der letzten Nacht erfüllen können. Was das Aufstehen allerdings nicht einfacher gemacht hatte.

Julia riss sich von der Aussicht, wegen der sie diese Wohnung vor allem gewählt hatte, los, griff nach einem weiteren Becher Kaffee und trug diesen auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer.

„Ming, Babe, du musst aufstehen”, sagte sie und strich sanft über die Bettdecke, unter der sich die Schulter und Hüfte ihrer Bettgefährtin abzeichnete. Der türkisblaue Haarschopf, der am oberen Ende herauslugte, bewegte sich, ein Seufzen erklang, dann setzte MingMing sich auf. Die Decke rutschte über ihre satte, braune Haut nach unten, und Julias Blick blieb einen köstlichen Moment lang an ihren Brüsten mit den dunklen Höfen hängen.

„Ich muss los. Und soweit ich weiß, musst du zur Uni”, sagte sie.

Die Worte lösten leichte Schuldgefühle bei ihr aus. MingMing war ein ganzes Stück jünger als sie. Sie hatten sich auf dem Campus kennengelernt, als Julia eine ihrer früheren Dozentinnen im Zusammenhang mit einem etwas komplizierten Fall besucht hatte. Es ging um die Anfechtbarkeit der Aussagekraft von DNA-Spuren vor Gericht, ein Thema, für das sie genauso lange gebrannt hatte, bis Mings Blicke von der anderen Seite der Cafeteria sie sprichwörtlich ausgezogen hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Julia seit einigen Monaten auf dem Trockenen gesessen. Ihr Job ließ sich leider nicht sehr gut mit einem reichen Datingleben vereinbaren.

Es wurde nun dennoch Zeit, diese Affäre zu beenden. Ja, MingMing war klug und gut im Bett, aber etwas Längeres konnte Julia ihr nicht bieten. Und sie befürchtete, dass Ming irgendwann etwas Längeres wollen würde.

„Trink aus und zieh dich an, ja?!”, sagte sie und hoffte, dabei nicht allzu drängend zu klingen. Sei es wegen Ming, sei es wegen ihrer eigenen Langsamkeit am Morgen – Julia war spät dran.
 

Als Julia eine halbe Stunde später das Polizeipräsidium betrat, waren die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen schon da. Sie grüßte links und rechts, bevor sie aufatmend die Tür zu ihrem Büro aufstieß – nur, um sofort wie erstarrt stehenzubleiben.

Ihr Büro, das sie sich schon seit Monaten mit niemandem mehr teilen musste, war nicht leer. Mitten im Raum stand eine Frau, die Arme verschränkt, die Stirn gerunzelt. Ihr Blick hob sich, als Julia hereinstürmte.

Sie betrachteten sich, und Julia wurde bewusst, wie unterschiedlich sie waren. Die Frau vor ihr war klein, hatte eine beinahe mädchenhafte Figur und kurzes, rosa gefärbtes Haar. Sie trug ein dunkles Jackett über einem weißen Shirt, dazu schwarze, enge Jeans und Boots. In ihrer Nase steckte ein kleines Piercing. Julia hingegen war hochgewachsen und sich nicht zu schade, trotzdem Heels zu tragen. Da sie am Morgen in Eile gewesen war, hatte sie ihr langes, unbändiges Haar halb zu einem Knäuel zusammengebunden und war in Jeans und einen Strickpullover geschlüpft. Für Mascara und Lippenstift war noch gerade so Zeit gewesen, auch wenn die Hälfte von letzterem am Plastikdeckel ihres Kaffeebechers klebte, den sie sich auf dem Weg geholt hatte.

„Julia Fernandez?”, fragte ihr Gegenüber, als sie sich auch nach mehreren Sekunden nicht gerührt hatte. „Ich bin Mathilda Alster.” Sie streckte ihr die Hand entgegen.

„Richtig, die neue Kollegin”, fiel Julia ein. Beinahe hätte sie „die neue Mariam” gesagt.

Sie schüttelte die dargebotene Hand. „Schön, dass Sie hier sind! Woher kommen Sie nochmal, aus Tokio?”

„Genau”, antwortete Mathilda knapp. Keine Frau großer Worte, aha.

Julia stellte ihre Umhängetasche auf ihrem Schreibtisch ab. „Was treibt Sie raus aus der großen Stadt? Sicher keine Langeweile!”, versuchte sie es noch mal.

„Nein, eher der Wunsch danach.” Mathilda lächelte müde. „Tokio ist… speziell. Ich bin in einer Kleinstadt wie Bakuten besser aufgehoben.”

Das klang recht bescheiden im Vergleich zu dem, was in den Akten stand. Julia hatte sie vor ein paar Wochen lesen können und rief sich nun das Wichtigste ins Gedächtnis. Mathilda Alster hatte ausgezeichnete Empfehlungsschreiben von den höchsten Stellen bekommen. Sie war vollkommen überqualifiziert für das, womit sie in Bakuten so zu tun hatten. Julia nahm an, dass Matildas Motivation, sich hierher versetzen zu lassen, nicht unbedingt ihrer Karriere geschuldet war. Doch es war viel zu früh, um zu viel Neugierde zu zeigen, auch, weil Mathilda nicht den Eindruck machte, sofort alles über ihr Leben preisgeben zu wollen. Wenn Julia auf eine Person wie Mariam gehofft hatte, die quasi keine Geheimnisse hatte und sie nach drei Tagen fragte, ob sie nach der Arbeit etwas mit ihr trinken gehen wollte, dann wurde sie jetzt enttäuscht.

Doch was nicht war, konnte ja noch werden.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir uns duzen. Wir werden ja sehr eng zusammenarbeiten”, bot sie an.

Mathilda nickte. „Das ist in Ordnung, denke ich. Danke, Julia.”

„Schön! Möchtest du dich erstmal einrichten, oder soll ich dir eine kleine Führung geben? Du bist wahrscheinlich noch nicht mit unserem geliebten Kaffeeautomaten vertraut, oder?”

In diesem Moment ging erneut die Bürotür auf und ein Polizeibeamter steckte den Kopf herein.

„Morgen, die Damen. Die Kollegen von der Streife haben gerade angerufen und fragen nach Verstärkung.”

„Tja, in Bakuten wird es anscheinend doch nicht langweilig”, kommentierte Julia mit Seitenblick auf Mathilda. „Worum geht es denn?”

„Gemeldet wurde wohl ein Einbruch. Ratet mal, wo.” Der junge Mann wackelte mit den Augenbrauen. „Oben im Villenviertel. Bei Hiwatari.”

„Bei den Bonzen? Da wollte ich schon immer mal Mäuschen spielen. Wir sehen uns das an.”
 

„Ist das Hiwatari wie in Hiwatari Enterprises?”, fragte Mathilda, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen gelassen hatte. Julia ließ den Motor aufheulen und lenkte den Dienstwagen aus der Tiefgarage.

„Jepp”, antwortete sie, nachdem sie die Schranke passiert hatten und sich in den Verkehr einreihten. „Die haben ihren Hauptsitz hier und betreiben die Schiffswerft unten am Hafen. Bestimmt ein Viertel der Stadt ist dort beschäftigt. Du hättest mal sehen sollen, was hier los war, als der alte Soichiro gestorben ist! Gefühlt hat ganz Bakuten getrauert.”

Mathilda brummte. „Soichiro Hiwatari war also das Oberhaupt?”

„Von der Familie und vom Unternehmen, ja. Er ist aber schon seit einigen Jahren tot. Es gab auch einen kleinen Skandal um seinen Sohn, der hat sich wohl komplett aus dem Unternehmen verabschiedet. Deswegen hat Soichiros Enkel den Laden übernommen. Kai Hiwatari. Zu dem fahren wir jetzt.”

„Was ist das für einer?”

Julia hob die Schultern. „Keine Ahnung. Im Gegensatz zu Soichiro hat er sich kaum einmal in der Öffentlichkeit gezeigt. Es ist so gut wie nichts über ihn bekannt, höchstens, dass er in seinem eigenen Haus oben am Berghang wohnt, wo die ganzen Villen stehen, während er das Familienanwesen verrotten lässt. Anscheinend haben er und sein Großvater sich nicht besonders gut verstanden.”

„Interessant”, murmelte Mathilda und drehte den Kopf, um aus dem Seitenfenster zu blicken. Anscheinend war das Gespräch für sie beendet.

Zugegeben, Julia war nicht unbedingt gut darin, zu schweigen. Wenn sie nachdachte, half es ihr, ihre Gedanken laut auszusprechen, um Zusammenhänge zu erkennen. Mariam hatte das nicht gestört. Zwar redete Mariam in einem ebenso kühlen Tonfall wie Mathilda, doch dafür redete sie ohne Unterlass. Julia hatte sich gut mit ihr verstanden. Ob es mit Mathilda genauso laufen würde, konnte sie in diesem Moment nicht sagen.

Sie lenkte das Auto den Hügel hinauf, zu dessen Füßen Bakuten lag. Die Spitze des Hügels war zu steil und felsig, um auf ihm zu bauen, doch auf halber Höhe gab es eine kleine Ansammlung von Villen, die über die Stadt hinweg zum Meer blickten. Vor einer dieser Villen stand eine Streife, neben der Julia parkte. Auf der schmalen Straße war kein Mensch zu sehen, doch die schwere Eisentür in der hohen Mauer, die sich um das Grundstück zog, stand einen Spalt offen. Sobald Mathilda sie weiter aufstieß, kam ihnen einer ihrer Kollegen entgegen, dem sie sich kurz vorstellte.

„Was ist passiert?”, fragte sie dann.

„Wir haben hier eine junge Frau”, sagte der Kollege. „Hiromi Tachibana. Sie kam heute Morgen her und hat festgestellt, dass die Türen offenstanden. Drinnen wurden ein paar Möbel umgestoßen. Ob etwas fehlt, kann sie noch nicht sagen. Miss Tachibana hat versucht, Mr. Hiwatari zu erreichen, doch bisher geht er nicht ans Telefon…”

„Wo ist Miss Tachibana jetzt?”, unterbrach Mathilda.

„Im Wohnzimmer. Kommen Sie…” Er winkte sie mit sich und führte sie in das Haus hinein.

Die Villa war modern und großflächig verglast. Der hintere Teil des Hauses schmiegte sich an die felsige Seite des Hügels. Der Garten bestand aus einer winzigen Fläche englischen Rasens, doch das erste Stockwerk des Hauses schien sich zu einer Terrasse zu öffnen, die jetzt, am Vormittag, halb im Schatten lag. Die Fenster waren einseitig verspiegelt, sodass man nicht erkennen konnte, was sich hinter ihnen befand.

Drinnen war es zunächst dunkel. Die hohe Mauer blockierte jedes Licht, und die Lampen im Eingangsbereich waren recht stumpf. Eine Treppe führte nach oben in den ersten Stock, der sich über der Mauer befand. Sonne durchflutete den Raum. Die Einrichtung war schlicht und elegant, überall Weiß und Silbergrau und helles Holz. Tatsächlich befand sich hier eine Terrasse, von der aus man einen atemberaubenden Blick hatte: fast 180° unverstelltes Panorama. Auf der linken Seite erstreckte sich ein Pool bis zur gläsernen Balustrade.

Auf der Sofalandschaft, die mitten im Raum stand, saß eine Frau, auf die Julia nun zuging.

„Miss Tachibana?”, fragte sie. „Mein Name ist Julia Fernandez, das hier ist meine Kollegin Mathilda Alster. Wollen Sie uns sagen, was passiert ist? Sind Sie eine Bekannte von Mr. Hiwatari?”

Hiromi Tachibana blickte aus großen, braunen Augen zu ihnen auf. Ihre Haltung war verkrampft, als müsse sie sich arg zusammenreißen, auf ihrem Platz zu bleiben. Julia setzte sich neben sie, doch Mathilda begann, sich im Raum umzusehen. Es herrschte Unordnung: Bücher waren aus einem Regal gerissen worden, die Sofakissen lagen auf dem Boden und ein Beistelltisch mit einer Blumenvase war umgerissen worden, deren Scherben nun überall verstreut lagen.

„Ich bin Kais Freundin”, sagte Hiromi nun und Julia wandte sich wieder ihr zu. „Wir waren für heute Morgen verabredet, aber er ist … nicht hier.”

„Eins nach dem anderen, bitte. Erzählen Sie uns, was Sie machen wollten.”

„Wir wollten gemeinsam frühstücken, bevor er ins Büro muss”, sagte Hiromi. „Ich habe einen freien Tag. Gestern wurde es spät – ich arbeite in der Bakuten Bank – deswegen bin ich zu mir nach Hause gefahren und erst heute Morgen hierhergekommen.”

„Das heißt, sie leben nicht zusammen?”

„Nein.” Hiromi lächelte kurz. „Es ist nicht so, als hätte er mich nicht gefragt. Hier ist ja wirklich genug Platz für zwei. Aber ich wollte meine Wohnung behalten, um unabhängiger zu sein.”

„Verstehe. Sie standen also heute Morgen vor der Tür und…?”

Hiromi nickte und schluckte hörbar. „Die Tür war offen. Das war seltsam. Ich dachte, vielleicht war Kai joggen und hat sie einfach nicht wieder richtig geschlossen. Aber dann kam ich ins Haus und…” Sie machte eine vage Geste, die den Raum umschloss. „Hier war alles durcheinander. Und Kai war nicht da. Ich habe versucht, ihn anzurufen, aber niemand hat abgenommen. Im Büro ist er auch nicht, da habe ich auch schon gefragt, und… und Boris ist nicht da, ich weiß nicht-”

Aus den Augenwinkeln heraus sah Julia, wie Mathilda zu ihnen herumfuhr.

„Wer ist Boris?”, fragte sie scharf.

„Was ist hier los?!”

Ein Rumpeln erklang, und alle Augen richteten sich auf die Tür. Dort stand ein Mann, der sich mit gehetztem Blick umsah. Er hatte kurzgeschorenes, helles Haar, sein muskulöser Körper steckte in einem dunklen Trainingsanzug. Von seinem Ohr baumelte ein silberner Anhänger. Ihr Polizeikollege, der mit etwas verdatterter Miene hinter ihm stand, wirkte winzig neben ihm.

„Boris, Gott sei Dank!”, rief Hiromi aus. „Ist Kai bei dir?”

„Nein! Ist er nicht hier? Sein Auto steht in der Garage.”

„Entschuldigung, wer bitte sind Sie?”, schaltete Mathilda sich ein.

Der riesige Typ, Boris, sah sie an, als würde er sie erst jetzt bemerken. Das nahm Julia ihm nicht ab. Sie hatte beobachtet, wie Boris’ Blick gleich, als er angekommen war, einmal durch den Raum wanderte. Er hatte jedes Detail, jeden Fetzen herumliegenden Papiers, sofort registriert.

„Boris Kuznetsov”, stellte er sich nun vor, ohne Anstalten zu machen, einer von ihnen die Hand zu schütteln. „Ich bin Kai Hiwataris Bodyguard.”

„Warum warst du nicht hier?”, rief Hiromi anklagend.

Boris hob beide Hände. „Kai hat mir frei gegeben”, erklärte er. „Ich bin gestern Abend mit ihm hierhergefahren und dann in die Kneipe gegangen. Heute Morgen ruft Ivanov mich an, weil Kai nicht ins Büro gekommen ist.”

Julia erhob sich, um die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zu lenken. Noch war sie ganz ruhig. Ja, es gab hier ein paar Ungereimtheiten, aber meistens ließen sich solche Situationen wie diese schnell und rational lösen.

Anscheinend hatte seit gestern Abend niemand von Kai Hiwatari gehört. Im Haus herrschte zwar Chaos, aber man konnte noch nicht sagen, ob Hiwatari dieses nicht selbst verursacht hatte.

„Denken Sie bitte noch einmal nach”, sagte Julia. „Könnte Mr. Hiwatari einfach einen Termin vergessen und in Eile gewesen sein? Vielleicht gab es einen Notfall in der Familie?”

„Lady”, unterbrach Boris sie. „Ich wäre nicht hier, wenn ich mir keine Sorgen machen würde. Kais Auto steht in der Garage. Das Sicherheitssystem und sein Handy sind ausgeschaltet.”

„Kai würde nicht einfach so gehen, und er vergisst auch keine Termine”, ergänzte Hiromi. „Sie kennen ihn nicht. Er würde so etwas niemals tun.”

Julia spürte, wie Mathilda sich ihr näherte. Sie wechselten einen Blick, aber sie konnte nicht sagen, was in Mathildas Kopf vorging.

Es gab viele Möglichkeiten, was hier passiert sein konnte. Und auch wenn Hiwataris Freundin das Gegenteil behauptete, es wäre nicht das erste Mal, dass jemand urplötzlich beschloss, sein bisheriges Leben hinter sich lassen zu wollen. Oder andere Geheimnisse hatte. Kleine Geheimnisse, ja, die eher peinlich oder unangenehm als illegal waren. In Julias Laufbahn war es eher vorgekommen, dass „verschwundene” Menschen einfach nur bei ihren Affären waren. Das war schmerzhaft für die ahnungslosen Partner, aber kein Verbrechen.

„Wollen Sie eine Vermisstenanzeige stellen?”, fragte sie trotzdem, denn das war das normale Procedere. „Sie müssen aber wissen, dass wir in diesem Falle Ermittlungen einleiten…”

„Natürlich! Deswegen habe ich Sie ja angerufen!”, sagte Hiromi.

„Gibt es jemanden, der Hiwatari Böses wollen würde?”, fragte Mathilda. Sie zog nun ein Tablet aus ihrer Umhängetasche und begann, Fotos von den durcheinanderliegenden Gegenständen zu machen.

Boris hob die Schultern. „Kai Hiwatari ist der CEO von Hiwatari Enterprises und einer der reichsten Männer Japans. Wenn sie mich fragen, ist das Grund genug. Deswegen hat er mich ja eingestellt.”

„Wenn Sie eine Vermisstenanzeige stellen”, sagte Mathilda unbeeindruckt. „Dann müssen wir das komplette Haus durchsuchen. Sie werden beide befragt. Und natürlich muss Hiwatari Enterprises davon unterrichtet werden. Gibt es dort jemanden, mit dem wir uns unterhalten können?”

„Ivanov, vermutlich”, murmelte Hiromi, verstummte dann aber.

Als sie keine Anstalten machte, weiter auszuholen, blickte Julia von ihr zurück zu Boris. Dieser nickte und tastete nach seinem Handy.

„Yuriy Ivanov”, erklärte er. „Kais Stellvertreter. Wenn jemand weiß, ob bei Hiwatari Enterprises gerade etwas schiefläuft, dann er”, fügte er hinzu und reichte Julia das Telefon, damit sie sich Ivanovs Nummer notieren konnte.

Mathilda bat die beiden, sie durch das Haus zu führen und zu versuchen, festzustellen, ob etwas fehlte. Julia folgte ihnen. Eine weitere Treppe führte zum zweiten Stock, in dem ein Bade- und Schlafzimmer lagen. Auf dem Flur hing das Gemälde einer Frau.

Hiromi betrat das Schlafzimmer ohne zu zögern. Das Bett war ordentlich gemacht, als hätte es in der vergangenen Nacht niemand angerührt. Hiromi zog die Schubladen der Nachtschränke auf und schüttelte den Kopf. Dann enthüllte sie einen Safe, der hinter einem Bild (Landschaft. Nichtssagend.) in die Wand eingelassen war. Sie gab den Code ein, spähte kurz hinein und schloss ihn wieder.

„Wer ist das?”, fragte Mathilda, als sie wieder in den Flur traten, und deutete auf das Gemälde.

Die Frau hatte dunkles Haar, ihr Gesichtsausdruck war ernst. Sie trug ein schlichtes Kleid, doch auf ihrer Brust ruhte ein auffälliges Schmuckstück mit einem roten Stein.

„Das ist Kais Großmutter”, sagte Hiromi. „Ich glaube, das Gemälde war ein Hochzeitsgeschenk an sie von Soichiro Hiwatari. Den Anhänger, den sie trägt, hat auch er anfertigen lassen. Von einem ziemlich bekannten Juwelier, glaube ich. Er heißt Das Auge des Phönix.”

„Und wo ist dieser Anhänger jetzt?”, fragte Julia.

„Kai hat ihn geerbt, genau wie das Bild”, antwortete Hiromi. „Er trägt ihn immer bei sich.” Sie stockte und sah Julia an. „Ist er vielleicht deswegen überfallen worden?”

„Es ist eine Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen müssen”, meinte sie. „Aber es ist noch zu früh, um Vermutungen anzustellen. Lassen Sie uns weitergehen.”

Im Bad befanden sich Zahnbürsten, Rasierapparat und Kosmetika an ihren Plätzen. Sie gingen wieder nach unten, und jetzt sah Hiromi sich aufmerksam um, während sie durch das Wohnzimmer lief.

„Ich glaube, hier fehlt etwas”, sagte sie und deutete auf eine Vitrine. „Kai hatte ein paar antike Porzellangefäße. Und hier stand auch mal ein Schmuckkästchen. Darin war der Goldschmuck seiner Mutter und, ich glaube, auch ein paar Edelsteine.”

„Das stimmt”, sagte Boris.

„Ich glaube, Kai hat irgendwo eine Liste mit all diesen Dingen. Erbstücke, Antiquitäten, Kunst und so”, ergänzte Hiromi. „Wenn Sie wollen, gleiche ich das ab. Ich habe, ehrlich gesagt, keinen guten Überblick darüber.”

„Das kann auch die Spurensicherung machen”, sagte Mathilda. „Geben Sie uns bitte einfach die Liste.”

Sie stellte noch ein paar Fragen, und Julia beobachtete sowohl Hiromi als auch Boris ganz genau, während diese antworteten. Sie versuchte, die Beziehung zwischen diesen Menschen zu verstehen. Hiromi schien ehrlich besorgt um ihren Partner zu sein. Sie wirkte aufgebracht und fahrig, aber auch müde. Boris hingegen strahlte eine Ruhe aus, die seltsam fehl am Platz wirkte und im starken Kontrast zu der Art und Weise stand, wie er vorhin in das Haus gestürmt war. Aber das konnte auch an seinem Beruf liegen. Julia nahm sich vor, ihn als erstes zu überprüfen, sollte Hiwatari nicht von alleine wieder auftauchen.

Ein verschwundener Millionär, dachte sie. Die Woche versprach, interessant zu werden.

Kapitel 2

Kapitel 2
 

Wenig später saß Julia erneut neben Mathilda im Auto. Sie hatten Kuznetsov und Tachibana ins Präsidium geschickt, um die Vermisstenanzeige aufzugeben, und das Haus versiegelt, damit die Spurensicherung ihre Runde machen konnte. Nun machten sie sich auf den Weg zu Hiwatari Enterprises.

„Was denkst du?”, fragte Julia in die ungewohnte Stille hinein (Mariam hatte immer sofort, wenn sie alleine waren, ihre Vermutungen geäußert).

Mathilda betrachtete die Fotos, die sie mit ihrem Tablet gemacht hatte.

„Schwer zu sagen”, meinte sie. „Wenn wirklich etwas gestohlen wurde, war es vielleicht ein Einbruch. Vielleicht hat Hiwatari die Einbrecher erwischt. Aber das überzeugt mich nicht.”

„Ja”, bestätigte Julia, den Blick auf die Straße gerichtet. „Man sollte meinen, dass jemand, der in Kai Hiwataris Villa einsteigen will, alles minutiös geplant hat. Und mehr zusammenrafft, als ein paar Steine und Vasen.”

„Vielleicht hat Hiwatari wirklich nur die Nase voll gehabt. Oder er taucht von allein wieder auf. Ich meine, er ist bei weitem nicht der erste, der sich etwas gönnen will, ein bisschen Acid schmeißt und nach zwölf Stunden irgendwo wieder zu sich kommt, ohne zu wissen, was er gemacht hat…”

Julia schmunzelte. In einer Stadt wie Bakuten war das eher unüblich, aber sie hatte gelernt, dass bei reichen Menschen vieles möglich war.

„Meinst du, er liegt irgendwo in der Gosse, in der Hand irgendeinen goldenen Becher und ein paar protzige Ketten um den Hals?”, fragte sie. Es gab ja nicht einmal Edelpuffs in Bakuten, die diesen Namen verdienten. Dafür musste man schon nach Tokio fahren. Bakuten war eine Stadt der Fabriken, der Werften, der günstigen Absteigen auf der einen und der gepflegten Vororte auf der anderen Seite. Und im Stadtzentrum standen die sauberen Bürotürme, in denen vermutlich einiges passierte, aber nichts, das an „Wolf of Wallstreet” herankam. Klar, Hiwatari Enterprises spielte wirtschaftlich in der oberen Liga, hatte aber einen astreinen Ruf als Familienunternehmen. Es gab nicht einmal die Andeutung irgendwelcher Eskapaden, nicht über Soichiro, und erst recht nicht über Kai, von dem die Welt so gut wie nichts zu wissen schien. Die Familie Hiwatari war wie Old Money, sie standen kaum in der Öffentlichkeit und waren peinlich darauf bedacht, nicht mit ihrem Besitz zu prahlen. Die größte Skandalnudel war wahrscheinlich Soichiros Sohn Suzumu. Aber der war nach dem Aufruhr darum, dass er das Erbe der Firma ausgeschlagen hatte, von der Bildfläche verschwunden.

„Das sieht mir alles zu gestellt aus”, fuhr Mathilda in diesem Moment fort und wedelte mit ihrem Tablet. „Ich glaube Tachibana, aber sie und Kuznetsov müssen natürlich auch überprüft werden. Irgendwas ist hier faul.”

Julia hob eine Augenbraue. Mit „Irgendwas” kamen sie nicht weiter. Aber Mathilda hatte recht. Auch ihr kam die ganze Sache seltsam vor. Vor allem, weil es keine Vorgeschichte gab. Normalerweise fand man immer Anzeichen, Umstände, Gründe für ein Verschwinden. Wenn dem nicht so war, wurde es wahrscheinlicher, dass wirklich ein Verbrechen geschehen war.

Und dieser Fall hier… Dieser Fall sah gleichzeitig zu sehr und zu wenig nach Verbrechen aus.

„Lass uns erstmal eine Bestandsaufnahme machen”, schlug Julia vor. „Wir können jemanden wie Kai Hiwatari nicht beurteilen, ohne sein Unternehmen zu kennen.”

„Ich mag es nicht, in der Corporate World zu ermitteln”, murmelte Mathilda. „So etwas kann sehr schnell sehr hässlich werden.”

Julia grinste süffisant. „Ich mag es, wenn’s hässlich wird.”
 

Die Zentrale von Hiwatari Enterprises war ein Wolkenkratzer im Zentrum Bakutens, etwa zwanzig Minuten von Hiwataris Haus entfernt. Der Tag war genauso klar, wie es der Morgen versprochen hatte, und so spiegelte sich die Sonne im oberen Drittel der gläsernen Fassade. Im Gebäude selbst war es ruhig. Ein paar Menschen saßen wartend auf Stühlen, ein junger Rezeptionist lächelte sie freundlich an, als sie an seinen Tresen traten.

„Fernandez und Alster”, sagte Julia. „Wir haben einen Termin mit Yuriy Ivanov.”

Der Rezeptionist überprüfte ihre Polizeimarken, reichte ihnen Besucherausweise und führte ein kurzes Telefonat, sicherlich, um sie anzukündigen. Kurz darauf tauchte ein etwas hektisch wirkender Assistent auf, um sie in Empfang zu nehmen.

„Wyatt Smith”, stellte er sich vor, „Ich bringe Sie zu Mr. Ivanov. Es geht um Mr. Hiwatari, nehme ich an?”

„Wir sind nicht befugt, über Details zu sprechen”, erwiderte Mathilda schroff, woraufhin Smith den Kopf zwischen die Schultern zog. Er tat Julia beinahe leid.

Sie stellte sich innerlich darauf ein, in Zukunft öfter die Rolle des Good Cop zu übernehmen. Mathilda jedenfalls schien keinerlei Interesse daran zu haben, über ihre Wortwahl oder ihren Ton nachzudenken. Mit Mariam hatte Julia die Rollen öfter gewechselt, sie konnte auch den Bad Cop spielen, wenn es nötig war. Hatte sogar einen gewissen Spaß daran. Allerdings bevorzugte sie es, sich vorher abzustimmen.

Nun ja, sie waren beide in diesen Fall gestoßen worden, bevor sie auch nur einen Kaffee gemeinsam hatten trinken können. Das würde sich schon alles einpegeln.

Hoffentlich.

Sie fuhren in den fünfunddreißigsten Stock, dann führte Smith sie einen langen Gang hinunter. Der Teppichboden schluckte das Geräusch von Julias Hackenschuhen. Am Ende des Ganges befand sich eine unbeschriftete Tür, an die Smith leise klopfte, bevor er sie für Mathilda und Julia öffnete.

Sie traten in ein Büro, dessen Außenwände genauso verglast waren wie die Villa am Morgen. Julia fragte sich, wie um alles in der Welt reiche Leute so leben konnten. Sie mussten sich doch ständig beobachtet fühlen. Oder erfreuten sich an dem Gedanken, dass, wäre nicht die Verspiegelung, alle ungeniert ihren Reichtum betrachten könnten.

Ihre Gedankenspiele kamen zu einem abrupten Ende, als ihr Blick von der grandiosen Aussicht zum Schreibtisch wanderte, der einen nicht unbeachtlichen Teil des Raumes einnahm. An diesem Schreibtisch lehnte ein Mann: groß, schlank, teurer Anzug, silberne Uhr, rotes Haar. Stechende, blaue Augen, die ihren Blick hielten.

Die Aussicht war soeben noch grandioser geworden.

Mathilda trat einen Schritt vor, um ihm die Hand zu schütteln. „Mr. Ivanov, richtig? Ist das hier Ihr Büro?”

„Nein, es ist Kais.” Ivanovs Hand wanderte von Mathilda zu Julia, sie war groß, sehnig und kräftig. Ohne es zu wollen starrte sie einen Moment zu lang auf das Stückchen Haut, das aus dem offenstehenden Kragen von Ivanovs Hemd hervorlugte. Sie erhaschte den Blick auf eine silberne Kette, doch bevor sie zu sehr über den Hauch Parfum, der ihr entgegenwehte, nachdenken konnte, brachte sie wieder etwas Abstand zwischen sich und ihr Gegenüber.

„Sie wissen, warum wir hier sind?”, fragte sie.

„Teilweise.” Ivanov wies einladend auf die Besucherstühle und ließ sich selbst in den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch fallen. „Ich habe gehört, Kai sei … nicht zu Hause? Kuznetsov hat behauptet, er wäre verschwunden, aber Kuznetsov behauptet viel, wenn er verkatert ist…” Er lehnte sich zurück. „Als ich Kai heute Morgen versucht habe zu erreichen, ist er jedenfalls nicht ans Telefon gegangen.”

„Und da haben Sie sich keine Sorgen gemacht?”, fragte Julia. „Passiert so etwas öfter?”

„Nein, ich habe mir keine Sorgen gemacht”, sagte Ivanov. „Ich habe gedacht, vielleicht hat er sich etwas länger mit seiner Freundin vergnügt. Bei seinem Arbeitspensum in letzter Zeit gönne ich es ihm von Herzen. Ich war mir sicher, dass ich früher oder später von ihm hören würde.”

„Hiromi Tachibana hat ihn als vermisst gemeldet”, sagte Mathilda.

„Oh. Shit.” Zum ersten Mal fiel Ivanovs joviale Art von ihm ab. Für einen Augenblick wirkte es, als würde er sich ernsthaft Sorgen machen. Dann lehnte er sich räuspernd zurück. „Das ändert die Sache natürlich. Was brauchen Sie von mir?”

„Fangen wir erstmal mit Ihnen an”, sagte Mathilda, die schon wieder ihr Tablet in der Hand hielt. „Sie sind…?”

„Ich bin der COO von Hiwatari Enterprises. Chief Operating Officer. Kai ist das Gesicht des Unternehmens, er gibt die Richtung vor und agiert mit den Shareholdern. Ich kümmere mich um, naja, das operative Geschäft. Und ich bin Kais Stellvertreter.”

„Das heißt, Sie schmeißen den Laden, wenn er nicht da ist”, vergewisserte Julia sich.

„Jepp.” Ivanovs Lippen machten ein ploppendes Geräusch, als er das Wort aussprach. „Sie können von Glück reden, dass ich unseren Termin heute in den Plan quetschen konnte. Hier steht einiges Kopf, wie Sie sicher verstehen werden.”

„Natürlich. Wir ziehen momentan mehrere Möglichkeiten…”

„Wie lange kennen Sie und Hiwatari sich schon?”, ging Mathilda dazwischen.

Julia warf ihr einen Seitenblick zu. Sie war es nicht gewöhnt, unterbrochen zu werden, und schon gar nicht von einer Kollegin. Doch Mathilda reagierte nicht auf ihre Verwirrung.

Ivanovs Augenbrauen zuckten nach oben.

„Wir haben uns kurz nach dem Studium kennengelernt”, sagte er. „Damals haben wir bei derselben Consultingagentur gearbeitet. Als Kai dann bei Hiwatari Enterprises eingestiegen ist, hat er mich abgeworben.”

„Das heißt, Ihr Verhältnis ist nicht rein geschäftlich?”

Dieses Mal ließ Ivanov sich Zeit mit seiner Antwort. Julia meinte, einen Hauch von Traurigkeit in seinen Mundwinkeln auszumachen, aber vielleicht sah sie auch einfach zu genau hin.

„Ich würde gerne behaupten, wir wären befreundet”, sagte Ivanov schließlich. „Die Wahrheit ist, dass Kai recht zurückgezogen lebt und nur wenige Menschen an seinem Privatleben teilhaben lässt. Mehr als hier und da ein Drink nach der Arbeit war bei ihm nicht drin. Ich bin sicher, sein Bodyguard kennt ihn besser als ich.”

Mathilda öffnete den Mund, doch dieses Mal beeilte Julia sich, ihr zuvorzukommen.

„Haben Sie in letzter Zeit irgendetwas hier bemerkt?”, fragte sie. „War Hiwatari anders als sonst? Gab es Konflikte mit jemandem?”

„Nichts Außergewöhnliches.” Ivanov hob die Schultern. „In einem Unternehmen wie diesem gibt es immer irgendwelche Konflikte. In letzter Zeit hat Kai sich ein paarmal über Wladimir Volkov beschwert. Die beiden haben wohl ein gemeinsames Investment geplant. Volkov ist ein ziemlich unangenehmer Kerl, wenn Sie mich fragen. Aber Kai scheint das im Griff zu haben.”

„Wissen Sie, worum es bei dem Geschäft geht?”, sagte Julia.

„Nein, da bin ich überfragt. Ich denke, Kai will das erst in trockenen Tüchern haben, bevor er bekannt macht, worum es sich handelt. Wäre nicht das erste Mal. Er hat die Angewohnheit, Dinge im Alleingang zu machen und mich vor vollendete Tatsachen zu stellen.” Wieder einmal sah er Julia direkt in die Augen und lächelte sie an. „Sollte ich etwas in Erfahrung bringen, kann ich mich gerne bei Ihnen melden. Für heute muss ich Sie leider schon verabschieden, der nächste Termin wartet.”

Julia erwiderte sein Lächeln. Sie zog eine Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tisch.

„Falls Ihnen noch etwas einfällt“, sagte sie, „rufen Sie mich an.“

Ivanov beugte sich vor, um nach der Karte zu greifen. Dabei warf er ihr einen verschmitzten Blick zu.

„Sehr gern.“ Er zwinkerte ihr zu, bevor er sich schwungvoll von seinem Stuhl erhob und Anstalten machte, sie zur Tür zu geleiten. „Also dann. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber die Pflicht ruft.“

„Das verstehen wir.“ Julia spürte, wie seine Hand sehr leicht ihren Rücken streifte, als sie bei der Tür angekommen waren. Sie warf ihm ein weiteres Lächeln zu. „Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben, Mr. Ivanov.“

Als ihre Blicke sich ein letztes Mal trafen, hielt sie den seinen für einen Herzschlag länger, als es nötig wäre. Nicht nur, weil dieser Mann wirklich die blauesten Augen besaß, die sie jemals gesehen hatte. Sondern auch, weil, wenn er die Spannung zwischen ihnen in ähnlicher Intensität spürte wie Julia, er ihr in kürzester Zeit aus der Hand fressen würde. Julia war sich nicht zu schade, so etwas auszunutzen, um an Antworten zu kommen.

Auf der anderen Seite der Tür wartete Wyatt Smith auf sie. Vermutlich traute man ihnen hier nicht zu, selbst den Weg nach draußen zu finden. Oder, was wahrscheinlicher war: sie sollten nirgends herumschnüffeln.

„Wir sollten mehr über diesen Volkov in Erfahrung bringen”, sagte Mathilda. Sie klang etwas gereizt.

Smith, der vor ihnen herlief, zuckte sichtlich zusammen und wandte sich zu ihnen um.

„Wladimir Volkov? Der hatte Streit mit Mr. Hiwatari.”

Julia und Mathilda blieben gleichzeitig stehen. „Tatsächlich?”

„Ja.” Smith schien sich bewusst zu werden, dass er gerade zu viel sagte, hatte anscheinend aber auch das Bedürfnis, zu erzählen, was er erlebt hatte. „Ich musste gestern noch mal zurück ins Büro, weil ich ein paar Unterlagen vergessen hatte. Mein Büro liegt hinter Mr. Hiwataris, ich muss also an seiner Tür vorbei… und da habe ich gehört, wie sie gestritten haben. Mr. Hiwatari und Mr. Volkov, meine ich. Es war ziemlich laut.”

„Und das hat niemand sonst bemerkt?”

„Es war schon recht spät”, meinte Smith. „Die meisten anderen waren schon nach Hause gegangen.”

Interessant, dachte Julia. Vielleicht steckte ja doch mehr hinter der Sache, als es den Anschein hatte. Sie wollte ihre Gedanken mit Mathilda teilen, doch diese hüllte sich in eisiges Schweigen, bis sie wieder einmal im Auto saßen.

„Ist das deine Masche?”, fragte sie dann. „Du flirtest mit potentiellen Zeugen – mit potentiellen Verdächtigen! – um an Informationen zu kommen?”

„Ach, deswegen bist du wütend?!“

„Beantworte bitte meine Frage.“

„Wenn jemand geflirtet hat, dann war das Ivanov“, meine Julia. „Was ist so falsch daran, das Spiel ein wenig mitzuspielen, wenn es seine Zunge löst? Keine Sorge, ich werde schon nicht gleich mit ihm ins Bett gehen. Meine Interessen liegen eher auf der anderen Uferseite.”

Das war zu neunzig Prozent die Wahrheit. Ab und an gab es auch Männer, die Julia den Atem verschlungen – und ja, Ivanov gehörte definitiv dazu – aber das musste sie ihrer neuen Partnerin ja nicht sofort unter die Nase reiben.

„Oh“, machte Mathilda und schien zum ersten Mal um eine Erwiderung verlegen. „Verstehe.”

„Abgesehen davon“, fing Julia wieder an, erpicht darauf, das Gespräch wieder auf die professionelle Ebene zu heben. „Was hältst du von Ivanov? Zu glatt, oder?“

Mathilda schüttelte leicht den Kopf. Sie wischte auf dem Tablet herum, vielleicht googelte sie Ivanov gerade.

„Der Kerl hat nichts Besseres zu tun, als sich sofort das Büro des CEOs unter den Nagel zu reißen, sobald der nicht da ist“, sagte sie. „Schien auch nicht sonderlich besorgt um Hiwatari zu sein.“ Sie schien einen Moment nachzudenken. „In solchen Firmen wird der CEO vom Verwaltungsrat bestimmt. Die Chancen stehen gar nicht mal so schlecht, dass Ivanov den Posten bekommt, wenn Hiwatari nicht wieder auftaucht.“

Julia nickte und biss sich auf die Unterlippe. Ivanov hatte ein astreines Motiv.

„Lass uns abwarten, was die Spurensicherung findet“, meinte sie. „Verdächtige gibt es genug. Wenn es sich hier tatsächlich um ein Verbrechen handelt.“

Kapitel 3

Kapitel 3

1 Tag vermisst
 

Zu behaupten, Kai Hiwatari sei ein attraktiver Mann, wäre eine Untertreibung. Hiromi Tachibana hatte ein Foto für die Vermisstenanzeige geschickt, und selbst Mathilda ließ sich zu einem Kommentar hinreißen.

„Schöner Kerl”, murmelte sie mit Blick über Julias Schulter auf den Monitor. „Kein Wunder, dass er keinen Bock darauf hat, sich öffentlich zu zeigen.”

Vermutlich war das Foto auf einer der vielen Aussichtspunkte in der Nähe von Bakuten gemacht worden, zu denen die Menschen hier gern Tagesausflüge unternahmen, um aus der Stadt herauszukommen. Es zeigte Hiwatari an einer steinernen Balustrade lehnend, die Hände nach hinten abgestützt. Sein Haar war eines seiner auffälligeren Merkmale, denn ein großer Teil der vorderen Partie war bereits ergraut. Ungewöhnlich für einen Mann Anfang dreißig. Seine dunklen Augen lagen hinter einer Brille mit silbernem Rahmen und blickten direkt in die Kamera. Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen und leicht geöffnet, als wolle er etwas sagen. Es reichte, um eine Reihe gerader, weißer Zähne zu erahnen. Unter dem enganliegenden, schwarzen T-Shirt zeichnete sich sein muskulöser Oberkörper ab.

Julia kam nicht umhin, sich zu fragen, wie jemand wie Kai Hiwatari noch die Zeit dazu fand, ins Fitnessstudio zu gehen. Noch einmal ließ sie den Blick über das Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den vollen Lippen gleiten, über die lässige Haltung und die starken Arme - dann stockte sie.

„Sieh mal”, sagte sie an Mathilda gewandt. „Ist das nicht dieses Erbstück? Das Auge des Phönix?”

Mathilda beugte sich vor, und Julia erhaschte einen Hauch ihres Parfums. Sie roch erdig und warm. Irgendwie beruhigend.

Das Schmuckstück war in ein Armband eingearbeitet, das Hiwatari neben seiner Uhr trug. Jetzt, wo es ihr aufgefallen war, schien eine Verwechslung ausgeschlossen. Dafür war die Machart zu einzigartig. Es handelte sich um denselben Anhänger, der auch auf dem Porträt von Großmutter Hiwatari dargestellt war.

„Ich habe mich darüber informiert”, sagte Mathilda. „Der Stein ist ein Rubin aus dem Besitz einer russischen Adelsfamilie, den die Großmutter mit in die Ehe mit Soichiro Hiwatari brachte. Die Fassung ist Weißgold. Das Design macht das Stück zu einem Unikat. Der Wert allerdings ist, gemessen an dem, was die Hiwatari sonst so besitzen, relativ gering. Ich könnte mir vorstellen, dass Hiwatari eher aus sentimentalen Gründen daran hängt.”

„Das heißt, es ist unwahrscheinlich, dass er deswegen verschwunden ist.”

„So würde ich es sehen, ja.” Mathilda ging zu ihrem Platz zurück und setzte sich auf ihren Stuhl.

Julia hatte sich noch immer nicht an ihre Anwesenheit gewöhnt. Mariam war schon vor über einem Jahr versetzt worden. Danach hatte Julia gut im Alleingang gearbeitet, es hatte richtiggehend an ihrem Ego gekratzt, als man sie davon in Kenntnis setzte, dass sie eine neue Partnerin bekommen würde. Und auch nach einem Tag gemeinsamer Arbeit wusste sie nicht, was sie von dieser Situation halten sollte. Mathilda war schwer zu lesen. Professionell, ja, das musste man ihr lassen, aber Julia konnte nicht sagen, ob sie jemals so vertraut miteinander werden würden wie sie und Mariam es gewesen waren.

Noch einmal musterte sie verhalten das Gesicht der Frau, die ihr nun gegenübersaß. Mathilda hatte die hellen Augenbrauen gerunzelt und blickte konzentriert auf ihren Monitor. Selbst ihre Wimpern waren blond, stellte Julia fest, was ihre grünen Augen umso intensiver hervorhob. Sie mussten ein ungleiches Paar abgeben. Julia war nicht nur größer als Mathilda, sondern sah auch immer so aus, als käme sie gerade aus dem Sommerurlaub. Ihr Körper besaß Rundungen, die sie in ihrer Jugend, als Cocaine-Chic im Trend gewesen war, verflucht und erst in den letzten Jahren zu akzeptieren gelernt hatte. Denn warum sollte sie etwas an sich selbst verurteilen, das sie an anderen Frauen begehrenswert fand?

Julia fand viele Menschen attraktiv. MingMing, weil sie sexy und zielstrebig war. Ivanov, smart und souverän. Hiwatari war offensichtlich gutaussehend, und um ein Unternehmen wie Hiwatari Enterprises zu führen, brauchte es auch andere Qualitäten. Und Mathilda… ja, auch Mathilda war anziehend. Julia hatte eine Schwäche für Frauen in maßgeschneiderten Anzügen. Doch Mathilda war spröde, gelinde gesagt. Obwohl sie behauptet hatte, sich in Bakuten wohler zu fühlen als in Tokio, machte es keinen Anschein, als würde sie sich auf Julia, das Team oder irgendetwas sonst hier einlassen wollen. Es war, als wäre sie nur hier, um einen Job zu machen und dann wieder zu verschwinden. Julia war gewillt, zu glauben, dass dies einfach ihr Charakter war - aber sie dachte auch bei sich, wie anstrengend es sein musste, Menschen ständig auf Abstand zu halten.

„Eines verstehe ich nicht”, sagte Mathilda in diesem Moment.

Julia zuckte zusammen. Hatte sie gestarrt? Wenn dem so war, so schien Mathilda es nicht bemerkt zu haben, denn sie sprach weiter, als wäre nichts gewesen: „Warum ist jemand wie Hiwatari mit einem grauen Mäuschen wie Hiromi Tachibana zusammen?”

„Vielleicht ist er einfach verliebt?”, entgegnete sie. „Tachibana ist eine hübsche Frau, und sie ist beruflich extrem erfolgreich. Sie hat eine exzellente Bildung genossen und kennt sich anscheinend mit Literatur aus. Angeblich sind sich die beiden bei einer Lesung begegnet und ins Gespräch gekommen.”

Mathilda brummte zweifelnd. „Kommt mir trotzdem alles ein wenig zu gut vor. Wir sollten den Bodyguard fragen, was Hiwatari so macht, wenn Tachibana nicht bei ihm ist.”

„Denkst du, er hat eine Affäre?”

„Warum nicht? Er ist reich und schön. In dieser Welt kann er also tun und lassen, was er will.”

Julia schnaubte ungläubig und ergänzte „zynisch” auf ihrer Liste der Begriffe, mit der sie ihre neue Kollegin beschreiben konnte.

Eine E-Mail ging in ihrem Postfach ein. Gleichzeitig hörte sie den Nachrichtenton auch auf Mathildas Seite.

„Die Spurensicherung ist durch”, verkündete sie überflüssigerweise.

Mathilda stand auf und griff nach ihrem Jackett.

„Wollen wir wetten?”, fragte sie.

Julia, die sich ebenfalls erhoben hatte und gerade ihren Mantel überzog, hielt verdattert inne.

„Ich halte es immer noch für sehr wahrscheinlich, dass Hiwatari sich nur eine Auszeit gegönnt hat”, meinte Mathilda. „Hältst du dagegen?”

Julia nickte. „Ja. Ich sage, sein Verschwinden war nicht freiwillig. Um was wetten wir?”

„Die Verliererin zahlt eine Woche den Kaffee.”

„Einverstanden. Mach dich auf was gefasst, ich trinke mindestens vier Tassen am Tag. Und nicht den billigen!”

Mathilda lachte nur, und dieses Geräusch war etwas, das Julia gleichzeitig überraschte und erleichterte. Vielleicht war es doch nur eine Frage der Zeit, bis Mathilda sie hinter ihre harte Schale sehen ließ.
 

Als sie erneut in Hiwataris Haus standen, verging ihnen das Lachen allerdings recht schnell. Emily York, ihre Kollegin von der Spurensicherung, führte sie durch die Räume und erklärte, was gefunden worden war - oder besser: was nicht.

„Es gibt keinerlei Einbruchsspuren”, begann sie. „Weder an den Türen, noch an den Fenstern. Also warum auch immer die Haustür offenstand, sie wurde nicht gewaltsam geöffnet. Wenn eine fremde Person hier drin war, so wurde sie hereingelassen. Womit ich zum zweiten Punkt komme: Es könnte eine fremde Person hier gewesen sein. Muss aber nicht. Wir haben Fingerabdrücke von mindestens drei verschiedenen Personen gefunden. Das wird aber noch untersucht. Im Wohnzimmer herrscht zwar ziemliches Chaos, die Dinge, die laut Miss Tachibana entwendet wurden, waren aber keineswegs versteckt.”

„Das heißt, jemand könnte absichtlich alles durcheinandergeworfen haben, um von irgendetwas abzulenken”, meinte Mathilda.

„Oder es hat ein Kampf stattgefunden”, ergänzte Julia. „Auch das würde bedeuten, dass die geraubten Gegenstände nur eine Ablenkung sind.”

Emily hob die Schultern. „Die Schlussfolgerungen überlasse ich euch. Das einzige, was mich wirklich beunruhigt, ist der Flur.”

Sie folgten ihr die Treppe hinunter. Emily ging auf den Eingangsbereich zu und deutete auf die Scheuerleisten und dann auf den Türrahmen.

„Wir haben hier überall kleine Blutspritzer gefunden”, sagte sie. „Jemand scheint sich ordentlich den Kopf am Türrahmen gestoßen zu haben, und zwar genau… hier.” Sie deutete auf eine Stelle des Rahmens, an der tatsächlich etwas Blut zu kleben schien.

Julia trat näher. Von Hiromi Tachibanas Beschreibung wusste sie, dass Hiwatari und sie etwa dieselbe Größe hatten. Der Blutfleck am Türrahmen befand sich auf der passenden Höhe. Sie verzog nachdenklich den Mund.

„Das spricht für meine Theorie mit dem Kampf”, sagte sie.

„Das Blut schicken wir zum Abgleich ins Labor. Im Wohnzimmer standen zwei Gläser, die schicken wir auch mit. Das Ergebnis habt ihr dann in ein paar Tagen”, informierte Emily.

Julia nickte ihr dankend zu, und Emily ließ sie und Mathilda allein, um die letzten Formalien zu erledigen.

Auch Mathilda setzte sich in Bewegung. Sie stieß die Haustür auf und lief, den Blick nach unten gerichtet, einmal den Weg zur Gartentür entlang. Als sie wieder zurückkam, war ihre Miene grimmig.

„Es sind auch ein paar Blutstropfen auf den Gehwegplatten”, berichtete sie. „Also, wenn es Hiwataris Blut ist…”

„...dann ist hier vielleicht ein Verbrechen passiert”, schlussfolgerte Julia.

„Wir sollen annehmen, dass hier ein Einbruch und Raub passiert ist, wenn es in Wirklichkeit nie um etwas Materielles ging”, sagte Mathilda. „Sondern immer nur im Hiwatari selbst. So langsam glaube ich auch an deine Theorie, Julia. Was denkst du? Eine Entführung?”

Julia kommentierte es nicht, aber es gefiel ihr, wie Mathilda auf sie einging. Trotzdem reichten die Spuren noch nicht aus, um zu wissen, was genau passiert war. Wenn Hiwatari entführt worden war, wo blieben die Forderungen des Entführers? Blieb also Mord. Doch ohne eine Leiche kein Mord. Und die Menge an Blut, die sie gefunden hatten, reichte bei Weitem nicht aus, um jemanden zu töten.

„Ganz ehrlich, ich werde aus dieser ganzen Wohnung nicht schlau”, meinte Mathilda in diesem Moment. „Es gibt keine Familienfotos. Keine Anzeichen für Hobbys, keine Erinnerungsstücke. Nicht mal irgendwelche verrückten Kinks. Ich habe fest damit gerechnet, dass Hiwatari ein Sexzimmer im Keller hat, aber nein. Das einzige, das wir gefunden haben, sind ein Gemälde der Großmutter, ein Schmuckstück und jede Menge Kram, der offensichtlich nur als Geldanlage dient. Also ganz ehrlich: Entweder, Kai Hiwatari ist der langweiligste Millionär der Welt - oder er hat Geheimnisse.”

Aber konnte er diese Geheimnisse wirklich für sich behalten? Anscheinend war Kuznetsov, der Bodyguard, die meiste Zeit mit ihm zusammen. Das machte es schwer für Kai, Dinge vor ihm zu verbergen. Es war natürlich auch möglich, dass Kuznetsov log, wenn er behauptete, nichts zu wissen. Hiwatari war an Kuznetsov erstem freien Tag nach einer halben Ewigkeit verschwunden. Das allein war verdächtig genug.

„Dann nehmen wir uns die Leute aus seinem Umfeld noch mal vor“, sagte Julia. „Tachibana. Kuznetsov. Diesen Volkov, mit dem Hiwatari angeblich Streit hatte. Meinetwegen auch Smith, den Assistenten.“

„Und Ivanov“, ergänzte Mathilda.

„Und Ivanov“, wiederholte Julia.

Sie wollte zurück zum Auto gehen, doch in diesem Moment schloss sich eine kleine Hand um ihren Arm. Mathildas Griff war fest, ihre Nägel, das merkte Julia jetzt, waren kurzgeschnitten.

„Es tut mir leid, was ich neulich gesagt habe, nachdem wir bei Ivanov waren”, sagte Mathilda. „Ich wollte nicht deine Professionalität in Frage stellen. Schon gar nicht von Frau zu Frau.”

Verwundert hielt Julia inne. Hatte diese Sache Mathilda etwa seit gestern beschäftigt? Instinktiv legte sie ihre Hand auf Mathildas, in deren Augen dabei zum ersten Mal so etwas wie Unsicherheit, vielleicht auch Verlegenheit, aufflackerte. Aber sie entzog sich nicht ihrem Griff. Julia nahm es als gutes Zeichen. Sie mussten sich vertrauen können, sonst wäre ihre Zusammenarbeit arg gefährdet.

„Ich nehme meine Aufgabe sehr ernst, das solltest du wissen”, sagte sie.

„Ich weiß”, bestätigte Mathilda nickend. Dann nahm sie doch die Hand von Julias Arm. „Das ist auch der Eindruck, den ich von dir habe. Vielleicht war ich deswegen so überrascht.” Sie ignorierte Julias fragenden Blick und schlug den Weg Richtung Auto ein. Julia blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Erst als sie den Motor gestartet hatte, hörte sie, wie Mathilda erneut Luft holte.

„Ehrlich, Julia”, sagte sie. „Ivanov spielt nicht in deiner Liga.”

„Huh?!”, entfuhr es Julia.

Mathilda sah sie fast aufgebracht an. „Blass, rothaarig, kein Arsch in der Hose? Im Ernst?”

Julia konnte nicht anders, sie lachte schallend auf. Ihr war, als würde sie Mathilda ebenfalls leise kichern hören.
 

3 Tage vermisst
 

„Beschreiben Sie doch mal Ihre Beziehung”, sagte Mathilda. „Wir möchten uns ein Bild von Ihrem Partner machen.”

Hiromi Tachibana seufzte und nickte dann traurig. Sie wirkte übernächtigt. Julia, die auf der Couch saß, konnte von dieser Position aus in die Küche blicken, wo sich Geschirr auf der Ablagefläche stapelte. Auch der Rest ihrer Wohnung sah unordentlich aus. Nicht verwunderlich in der Situation, in der sie sich befand. Julia wollte sie nicht noch mehr unter Druck setzen, doch bisher waren sie einfach nicht weitergekommen. Niemand hatte etwas von Hiwatari gehört. Sie hatten alle Krankenhäuser, die Flughäfen, sogar Fitnessstudios und Restaurants, die er frequentierte, abgegrast. Nichts. Der letzte, der Hiwatari gesehen hatte, war Kuznetsov. Und an dessen Alibi war nicht zu rütteln. Kuznetsov war in seiner Stammkneipe gesehen worden, und seine Nachbarn waren ihm zu Zeiten begegnet, die es unmöglich machten, dass er zwischendurch zum Anwesen von Hiwatari gefahren war.

Kurzum: Ihre Anhaltspunkte führten bislang ins Leere. Also mussten sie mehr über den Mann selbst in Erfahrung bringen. Julia hatte keine Ahnung, wie sie sich Hiwatari vorzustellen hatte. War er zuvorkommend? Egoistisch? Arrogant? Zärtlich?

„Sie wissen ja schon, wie wir uns kennengelernt haben”, sagte Hiromi. „Ich wusste zunächst nicht, wer er war. Für mich war Kai ein ganz normaler Typ, der sich für Literatur interessiert. Ein sehr attraktiver, ganz normaler Typ”, ergänzte sie mit einem kleinen Lächeln. „Kai gehört zu dieser unmöglichen Sorte Mensch, die extrem viele Privilegien in die Wiege gelegt bekommen und trotzdem nicht zu Arschlöchern werden. Er hat nicht den einfachsten Charakter, aber wir konnten uns von Anfang an vertrauen. Ich glaube, deswegen hat er sich in mich verliebt. Vertrauen ist ihm unglaublich wichtig.”

„Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, er hat nicht den einfachsten Charakter?”, hakte Mathilda nach. „Verzeihen Sie, ich habe das schon oft gehört, über Personen, die zu Jähzorn und häuslicher Gewalt neigen.”

„Das wollte ich damit nicht sagen”, entgegnete Hiromi ruhig, und instinktiv glaubte Julia ihr.

„Kai ist ehrgeizig, und wenn er etwas will, dann bekommt er es in der Regel auch”, fuhr Hiromi fort. „Aber das zeigt sich eher in der Firma. Und er löst Probleme lieber mit Finesse als mit Fäusten. Wenn wir uns streiten, läuft es immer sehr zivilisiert ab.”

„Ist er gut im Bett?”, fragte Mathilda.

Sowohl Hiromi als auch Julia starrten sie entgeistert an.

„Bisher klingt es für mich so, als wären Sie Kollegen”, fuhr Mathilda unbeirrt fort. „Sie sagen, Sie wären ineinander verliebt - ist Ihre Beziehung so? Ist er eher der kühle Typ? Sind Sie es?”

Überraschenderweise lachte Hiromi kurz auf.

„Die meisten würden sagen, er ist nicht nur kühl, sondern eiskalt”, sagte sie. „Es braucht eine Weile, bis Kai zeigt, wie er wirklich ist: Voller Pläne und Ideen. Ein bisschen exzentrisch. Und ja, er ist gut im Bett. Wir sind vielleicht nicht das verruchteste Paar, aber ich komme auf meine Kosten.”

„Also alles ganz normal und harmonisch”, murmelte Mathilda, während der Stift über ihr Tablet fuhr. Wahrscheinlich wollte sie, dass Hiromi den sarkastischen Unterton hörte, doch diese ließ sich nicht auf die Provokation ein.

„Warum wurde Kuznetsov eingestellt?”, übernahm Julia jetzt. „Einen Bodyguard zu engagieren, legt nahe, dass es Ärger gibt.”

„Es gibt ständig Ärger bei Hiwatari Enterprises”, behauptete Hiromi. „Aber das fragen Sie besser Ivanov. Kai trennt Privates und Berufliches lieber, er erzählt mir nicht immer alles. Kann er auch gar nicht. Hiwatari Enterprises ist ein riesiges Unternehmen. Die Familie Hiwatari ist sehr einflussreich. Soichiro hatte noch als Präsident der Firma drei Bodyguards. Ich finde es nicht ungewöhnlich, dass Kai es ihm gleichtut.”

„Ist es auch Tradition in der Familie, dass Russen für diesen Job eingestellt werden? Gibt es da eine Verbindung?”

„Ja, allerdings. Kais Großmutter war Russin, und es bestehen einige Geschäftsbeziehungen nach Russland. Ich bin erstaunt, dass Sie das nicht wissen.”

Julia kommentierte das nicht, sondern machte sich Notizen. Das erklärte wahrscheinlich auch, warum Hiwatari ausgerechnet jemanden wie Ivanov zu seiner rechten Hand machte. Sie wollte nicht in die Stereotypenfalle tappen, wollte nicht sofort an die Mafia und zwielichtige Machenschaften denken. Aber sie konnte auch nicht verhindern, dass ihre Gedanken kurz in diese Richtung drifteten.

„Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen Soichiro und Kai?”, fragte sie.

Dieses Mal verdüsterte sich Hiromis Miene.

„Ich will nicht lügen”, sagte sie. „Ich habe Soichiro nie gemocht. Und Kai mochte ihn auch nicht. Ihr Verhältnis war bestenfalls geschäftlich und schlimmstenfalls ein offener Krieg. Ich weiß nicht, was genau damals mit Kais Vater passiert ist, aber das war eines der Dinge, über die sie ständig gestritten haben. Soichiro hat Kai extrem unter Druck gesetzt, weil er sein einziger Nachfolger war. Kai musste die Last, die früher sein Vater geschultert hat, zusätzlich tragen. Er konnte sich keinen einzigen Fehler erlauben.”

So war das also. Ein klassischer Generationenkonflikt zwischen einem ehrgeizigen Enkel und einem Großvater, der wahrscheinlich auf seinem Reichtum saß wie ein Drache auf einem Berg Gold. Das Ganze garniert mit einer Prise Familientrauma, dank Suzumus. Und doch schien Kai Hiwatari von allen respektiert zu werden.

Wer würde ihm etwas antun wollen, und warum?

Das Geld war, nach Julias Ansicht, das größte Motiv. Vielleicht zwang jemand Hiwatari dazu, sich selbst freizukaufen. Deswegen kein Erpresserschreiben. Aber auf seinen Konten hatte es seit Tagen keine Bewegung gegeben. Sie hatten gleich zwei Kollegen darangesetzt, seine vielen Besitzungen zu beobachten und nach Auffälligkeiten zu suchen. Dass keiner von ihnen etwas gemerkt hatte, war ein denkbar schlechtes Zeichen.

Ihre Gedanken kehrten immer und immer wieder zur gleichen Frage zurück: Warum sollte Kai Hiwatari einfach so verschwinden? Ja, der Mann war reich. Aber er führte ein Leben wie in einem goldenen Käfig. Behütet und langweilig. Es ergab einfach keinen Sinn.

Was zur Hölle war hier los?
 

Am Nachmittag kam Boris Kuznetsov ins Präsidium. Wenn er ihnen schon nichts über die Nacht, in der Hiwatari verschwunden war, erzählen konnte, so doch vielleicht etwas über seinen Arbeitgeber selbst.

„Wie kommt es, dass er sie eingestellt hat?”, fragte Julia.

Boris hatte auf dem Besucherstuhl Platz genommen. Da dies nur eine routinemäßige Befragung war, war ein Vernehmungszimmer nicht nötig. Sie hatten ihm sogar einen Kaffee und Kekse angeboten. Zugegeben, es war nur der Automatenkaffee des Präsidiums. Julia hingegen schlürfte Coldbrew aus einem Becher, den Mathilda ihr von der Mittagspause mitgebracht hatte. Immerhin hatte sie ihre Wette verloren. Doch Mathilda, so stellte sich heraus, war eine Ehrenfrau, die Wettschulden ohne zu murren beglich. Auch dadurch stieg sie in Julias Ansehen.

Der Stuhl war definitiv zu klein für Boris. Er war wirklich eine imposante Erscheinung: an die zwei Meter groß, gebaut wie ein Panzer, den Kurzhaarschnitt aschblond gefärbt, sodass er schon grau wirkte, Nasenpiercing, Augenbrauenpiercing und - wenn sie die Erhebungen unter dem Shirt richtig deutete - Nippelpiercings. Aus den Ärmeln und dem Kragen lugten Tattoos.

„Ich habe eine Weile für einen seiner Geschäftspartner in Russland gearbeitet”, erzählte Boris. „Er hat mich abgeworben.”

„Warum haben Sie sich darauf eingelassen?”

Boris hob die Schultern. „Ich wollte schon immer andere Länder sehen. Die Bezahlung ist außerordentlich gut. Und ich verstehe mich mit Kai. Ich würde behaupten, wir sind befreundet.”

„Wie genau muss ich mir Ihren Alltag vorstellen?”

„Ich bin quasi in achtzig Prozent der Zeit in seiner Nähe”, erklärte Boris. „In der Regel arbeite ich tagsüber, es sei denn, er ist auf Veranstaltungen. Wir treffen uns morgens bei ihm. Ich begleite ihn, wo immer er hinmuss. Fitnessstudio. Ein Essen. Meist einfach ins Büro. Wenn er den ganzen Tag bei Hiwatari Enterprises ist, habe ich weniger zu tun. Die Sicherheitsstandards dort sind extrem hoch. Aber er hat oft externe Meetings. Abends bringe ich ihn nach Hause, checke das Sicherheitssystem dort und fahre dann zu mir. Rinse and repeat”, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

„Und dabei ist Ihnen nie etwas aufgefallen?”, fragte Julia. „Nichts, was Aufschluss darüber geben könnte, dass etwas passieren würde?”

Jetzt lehnte Boris sich zurück. Er schlug ein Bein über das andere und biss sich nachdenklich auf den Daumennagel.

„Genau diese Frage stelle ich mir seit Tagen”, sagte er. „Es macht mich wahnsinnig. Habe ich etwas übersehen? Gab es Warnzeichen? Was ist eigentlich mit den Kameraaufzeichnungen, die Sie mitgenommen haben?”

„Sind noch in der Auswertung”, antwortete Mathilda ungerührt.

Boris verdrehte die Augen. „Hätten Sie mich das machen lassen, wüssten wir jetzt vielleicht schon mehr.”

Im Stillen stimmte Julia ihm zu. Das Forensikteam ließ sie wirklich lange zappeln, dabei hatte sie extra eine schnelle Bearbeitung angefordert. Sie hoffte einfach, das Ergebnis zusammen mit Emilys Auswertungen zu bekommen. Und, dass sie das ein Stück weiterbrachte. Es war ermüdend, so im Dunkeln zu stochern.

„Sie wissen sicherlich, was ihr Arbeitgeber in seiner Freizeit macht”, sagte sie.

„In seiner was, bitte?” Boris’ Lachen klang heiser. „Der Mann arbeitet zehn Stunden am Tag. Er geht viermal die Woche ins Gym und trifft sich fast jeden Abend mit seiner Freundin, wenn er nicht noch irgendwelche Geschäftsessen hat. Er nimmt sich vielleicht zwei Wochen Urlaub im Jahr, dann fahren Hiromi und er ans Meer oder nach St. Petersburg zu ein paar Verwandten, die Kai nicht hasst. An seinen freien Wochenenden bleibt er auf dem Sofa und liest.”

Verdammt noch mal, Hiwataris Leben war wirklich dröge.

„Welchen Eindruck haben Sie von Hiromi Tachibana? Also, vor allem von ihrer Beziehung zu Hiwatari?”, fragte sie weiter.

„Ach Gott.” Boris machte es sich wieder bequem, rutschte ein Stück nach unten und spreizte die muskulösen Beine. „Die beiden sind schon niedlich, oder? Ich war quasi dabei, als sie sich kennengelernt haben. Ich wusste ja, dass in Kai ein kleiner Nerd steckt, aber dass er dann ausgerechnet bei einer Lesung seine Zukünftige entdeckt? Das ist schon sehr lustig. Es gibt eine Menge Frauen aus gutem Hause, die liebend gern Hiromi Tachibana wären. Aber Kai ist da eigen. Und scheißt auf Konventionen, wenn ich das so sagen darf.”

„Also alles normal?”

„Die beiden sind ein Powercouple”, antwortete Boris. „Bisschen unheimlich, wenn Sie mich fragen. Beide extrem karrierefokussiert, ehrgeizig, schlau. Interessieren sich für ähnliche Themen - Kunst, Kultur, Geschichte, Reisen. Hiromi ist eine klasse Frau, und eine klasse Frau für Kai.”

Julia nickte und notierte sich die Worte, die Boris gebraucht hatte. Powercouple. Klasse Frau. Irgendwie passten diese Ausdrücke nicht zu ihm.

„Haben Sie eigentlich eine Partnerin?”, fragte Mathilda. „Ich kann mir vorstellen, dass das ziemlich schwer ist, wenn Sie die ganze Zeit mit Hiwatari zusammen sind.”

„Das stimmt”, antwortete Boris ungerührt. „Viel Zeit bleibt nicht. Ich beschränke mich eher auf Flirts und kürzere Abenteuer.”

„Ist das okay für Sie?”

„Hören Sie”, sagte Boris. „Ich bin kein Kind von Traurigkeit. Und Kai bezahlt mich verdammt gut. Ich werde diesen Job nicht ewig machen können, also nehme ich jetzt, was ich kriegen kann, und der Rest kommt später. Prioritäten, hm?!”

Dagegen ließ sich nur schwer argumentieren. Das schien auch Mathilda zu denken, denn sie hörte auf, zu fragen. Stattdessen erkundigte Julia sich nach Soichiro. Boris bestätigte das, was Hiromi ihnen bereits erzählt hatte. An dem Familienkonflikt schien also etwas dranzusein. Ob sie das weiterbringen würde, war dahingestellt, immerhin war Soichiro tot und hatte die Fehde mit ins Grab genommen.

Nach einer Stunde ließen sie Boris ziehen. Julia hatte das Gefühl, keinen Schritt weitergekommen zu sein. Auch wenn Sie sich Hiwatari etwas besser vorstellen konnte, blieb er weiterhin ein Rätsel.

Sie seufzte.

„Ich habe das Gefühl, schon vom Zuhören Staub anzusetzen”, murmelte sie. „Hiwatari führt das Leben eines alten Mannes.”

Wenn er ein Geheimnis hatte, dann musste Kuznetsov davon wissen. Und der sollte doch ein Interesse daran haben, dass seinem Geldgeber nichts passierte. Warum also sollte er dichthalten?

Wahrscheinlich gab es kein Geheimnis, abgesehen vom Grund, weshalb Hiwatari verschwunden war.

Julia begann, Schlimmes zu ahnen. Wenn es keine vernünftige Erklärung für das Verschwinden eines Menschen gab, so blieb nur eines: Jemand wollte ihn loswerden. Oder er war zum Opfer eines spontanen Verbrechens geworden.

„Wir müssen Hiwatari Enterprises durchkämmen”, drang Mathildas Stimme zu ihr durch.

Julia nickte müde. Sie hatte gehofft, dies nicht tun zu müssen. Ermittlungen innerhalb eines Unternehmens verursachten eine Menge unnötige Publicity. Aber auch hier galt: Wenn sie Hiwataris Privatleben durchkämmt hatten, ohne etwas zu finden, mussten sie mit seinem beruflichen Leben weitermachen.

„Nun, ich habe gesagt, ich mag es, wenn es hässlich wird, nicht wahr”, stellte sie fest.

Kapitel 4

Kapitel 4
 

5 Tage vermisst
 

Natürlich bekam die Presse Wind von Hiwataris Verschwinden. Auf einmal war er auf den Titelseiten der Zeitungen. Und so langsam war er lange genug verschwunden, dass ein Verbrechen immer wahrscheinlicher wurde.

Die Befragungen von Kuznetsov und Tachibana hatten nicht viel gebracht. In Julias Augen hatten die beiden keinen Grund, Hiwatari etwas anzutun. Die Beziehung zwischen ihm und Tachibana verlief augenscheinlich harmonisch. Und Kuznetsov bekam ein nicht zu verachtendes Gehalt und schien darüber hinaus zufrieden mit seinem Job. Außerdem schienen die beiden ehrlich besorgt um den Vermissten zu sein.

Ivanov hingegen war schwer zu fassen. Die Nummer, die Kuznetsov ihnen gegeben hatte, gehörte zu seinem Diensttelefon; dort nahm aber entweder niemand ab, oder es war ausgeschaltet. Ein Rückruf kam natürlich auch nie.

Der Tag, an dem Hiwataris Verschwinden durch die Presse ging, war der, an dem Julias Geduldsfaden riss.

„Ich fahre hin”, verkündete sie, während sie schon von ihrem Schreibtisch aufstand.

Mathilda sah ihr stumm dabei zu, wie sie sich ihren dünnen Mantel überzog.

„Vielleicht kriegst du ja raus, ob Hiwatari Enterprises die Journalisten selbst angerufen haben”, schlug sie vor.

Julia nickte. „Kriegst du das mit der Pressekonferenz alleine hin? Könnte länger dauern”, sagte sie.

Natürlich hatte die Polizei auf die Artikel reagieren müssen. Sie würden ein paar Eckdaten zu ihren Ermittlungen verkünden, aber nicht zu viel. Vielleicht passierte ja doch das Unwahrscheinliche und Hiwatari meldete sich, wenn er erkannte, welche Aufregung er ausgelöst hatte.

„Ich weiß, wie ich mit der Presse umgehen muss”, versicherte Mathilda. „Sorg du lieber dafür, dass wir hier weiterkommen.”

„Ich gebe mir Mühe.” Sie warf Mathilda ein verschmitztes Lächeln zu und war beinahe überrascht, als ihre Kollegin dieses erwiderte.

Julia wollte glauben, dass sie sich langsam aneinander gewöhnten. Mit Mathilda zusammenzuarbeiten fühlte sich immer noch neu an, was auch daran lag, dass sie wenig über Privates sprachen. Anders als Mariam hatte Mathilda scheinbar nicht das geringste Bedürfnis, viel über sich preiszugeben. Immerhin wusste Julia inzwischen ungefähr, in welchem Stadtteil sie wohnte und wie sie ihren Kaffee mochte. Sie kleidete sich immer noch so sorgfältig wie am ersten Tag, also war auch das nicht nur Show gewesen. Sie war akribisch, hatte eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und sagte nie ein Wort zu viel. Im Grunde ergänzten Julia und Mathilda sich gut. Und es passierte immer öfter, dass sie ein Lächeln tauschten oder Witze machten. Mathildas trockene Bemerkungen trafen Julia meist unvorbereitet, waren dadurch aber nicht weniger willkommen.

Beim Rest des Kollegiums galt Mathilda allerdings als unterkühlt, manche sagten „kratzbürstig”. Einige Männer schienen sich von der Gleichgültigkeit, die sie ihnen entgegenbrachte, persönlich angegriffen zu fühlen. Wenn es sich dabei nicht um ein institutionalisiertes Problem handeln würde, hätte Julia darüber gelacht. Das Arbeitsklima im Präsidium war nie sonderlich angenehm gewesen, auch mit Mariam nicht, und erst recht nicht allein. Über die Zeit hatte sie sich behaupten können, sodass niemand sie mehr in Frage stellte, aber Gott, sie hatte zu viele unnötige Kämpfe dafür führen müssen.

Julia konnte also nicht verleugnen, froh über ihren Außeneinsatz zu sein. Es war schon später Nachmittag. Sie hatten den Tag mit der Organisation ihrer spontanen Pressekonferenz verbracht. Und mit Papierkram. Es tat ihr ein wenig leid für Mathilda, aber diese hatte in Tokio sicher Schlimmeres erlebt. Das war eine gute Chance für sie, dem Kollegium ihre „no bullshit”-Attitüde noch einmal zu verdeutlichen.
 

Hiwatari Enterprises ließ sie anstandslos ein. Leider war es dieses Mal nicht Smith, der sie in die oberen Stockwerke geleitete. Julia führte etwas Smalltalk mit ihrer Begleitung, stellte aber schnell fest, dass diese absolut ahnungslos war.

Ob Smith doch die Konsequenzen für seine Gesprächigkeit hatte tragen müssen?

Sie wurde zu einem Konferenzsaal gebracht, in den man, ganz nach den Wunschvorstellungen unternehmerischer Transparenz, durch eine verglaste Wand hineinsehen konnte. Das Meeting darin befand sich wohl in den letzten Zügen. Ein Haufen alter Männer stand herum. Dem Schweiß auf den Stirnen und den gestressten Mienen nach zu urteilen, war es kein angenehmer Termin gewesen. Dann fiel Julias Blick auf Ivanov, der inmitten der grauen Eminenzen ein wenig fehl am Platz wirkte. Allerdings schien er auch der einzige zu sein, dem es gelang, Ruhe zu bewahren. Julia beobachtete, wie ihre Begleitung in den Raum hineinging und ihm etwas zuraunte. Daraufhin wanderten die blauen Augen zu ihr. Ivanov sagte etwas in die Runde und verließ dann den Konferenzraum mit langen Schritten. Julia machte sich darauf gefasst, abgewimmelt zu werden, und war entsprechend erstaunt, als Ivanov sie mit einem Wink aufforderte, ihm zu folgen, und sagte: „Sie schickt der Himmel, Fernandez. Ich hätte es keinen Augenblick länger in diesem Altenheim ausgehalten. Kommen Sie.”

Sie liefen einige Flure entlang, und Julia erhaschte flüchtige Blicke in weitere fast komplett verglaste Zimmer, in denen Menschen geschäftig auf Computerbildschirme starrten, dann landeten sie erneut in Hiwataris Büro. Ivanov griff nach dem Telefon, das auf dem Schreibtisch stand, und wies die Person am anderen Ende an, seine nächsten Termine abzusagen, bevor er sich in den Stuhl fallen ließ. Julia hob die Augenbrauen. Räumte Ivanov etwa seinen Kalender für sie frei?

„Setzen Sie sich”, sagte er, als er feststellte, dass sie immer noch mitten im Zimmer stand. „Wollen Sie einen Drink? Ich brauche einen Drink.” Er erhob sich von dem Stuhl, als wäre eine Sprungfeder in die Sitzfläche eingelassen, und ging vor einem Sideboard in die Hocke. „Immerhin ist nur Kai verschwunden, nicht sein Whisky.” Er sah sie fragend an.

„Nein danke”, sagte Julia. „Ich würde ein Wasser nehmen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.”

Ivanov nickte beinahe resigniert und goss Wasser in ein Whiskyglas, bevor er sich selbst zwei Finger Alkohol einschenkte.

„Cheers”, sagte er mit einem bitteren Unterton. „Auf Kai, der sich keinen besseren Moment hätte aussuchen können, um vom Erdboden verschluckt zu werden. Sie sind nicht zufällig hier, weil Sie ihn gefunden haben, oder?”

„Leider nein”, antwortete Julia mit einem mitfühlenden Lächeln, das nur halb gespielt war. „Aber ich brauche Ihre Hilfe. Ich hätte mich gern angekündigt, aber Sie sind wirklich extrem schlecht erreichbar.”

„Das, ähm…” Ivanov rieb sich die Stirn. „Das tut mir leid.”

Julia musste ihren ersten Eindruck korrigieren. Ivanov war komplett durch den Wind. Bei genauerem Hinsehen wurde deutlich, wie übernächtigt er war. Daran änderte auch der perfekt sitzende Anzug (der sie in Frage stellen ließ, warum um Himmels Willen Mathilda Ivanovs Arsch für flach hielt) nichts. Als er sich das nächste Mal setzte, tat er es mit einem müden Seufzen.

„Das Altenheim ist wohl nicht Ihr favorisierter Arbeitsplatz, hm?”, fragte sie.

Ivanov schnaubte belustigt. „Keine Ahnung, wie Kai das gemacht hat”, sagte er. „Das sind die letzten Überbleibsel aus Soichiros Generation. Wir warten eigentlich nur noch darauf, dass sie in Rente gehen oder den Löffel abgeben.” Er hielt inne. „Bitte sagen Sie mir nicht, dass alles, was ich hier zum Besten gebe, gegen mich verwendet wird.”

„Nun, erstmal sind Sie nur eine Informationsquelle für uns”, meinte Julia betont sorglos. Sollte er sich ruhig in Sicherheit wiegen.

„Also gut. Wie kann ich dienen?”, fragte er.

Erneut zog Julia ihren Notizblock hervor und klickte ihren Stift. „Waren das eigentlich Sie mit der Presse?“, fragte sie wie nebenbei. „Die Schlagzeilen haben uns ganz schön kalt erwischt.“

„Warum, denken Sie, haben die grauen Eminenzen mir heute die Tür eingerannt?“, entgegnete Ivanov und schwenkte mit leiser Ungeduld sein Glas. „Ich hätte das Ganze auch gerne noch eine Weile unter Verschluss gehalten. Aber manchmal habe ich das Gefühl, die Wände hier haben Ohren. Also nein, ich habe nichts damit zu tun, aber es würde mich nicht wundern, wenn jemand, der hier arbeitet, zur Presse gerannt ist.“

Julia brummte. Womöglich hatte Hiwataris Assistent irgendetwas ausgeplaudert.

„Nur für’s Protokoll”, fuhr sie fort. „Was haben Sie eigentlich in der Nacht gemacht, in der Hiwatari verschwand? Vor knapp einer Woche?”

Ivanov beugte sich vor und schlug in dem Kalender, der auf dem Schreibtisch lag, ein Blatt zurück. „Kai und ich hatten am Nachmittag ein Gespräch mit einigen Investoren”, las er vor. „Ach ja, ich erinnere mich. Kai hat sich am Abend mit Volkov getroffen, ich habe ihn also zuletzt gegen 16 Uhr gesehen. Bin dann so gegen 20 Uhr nach Hause gefahren. Ich lebe allein”, fügte er hinzu, wahrscheinlich, weil er bemerkt hatte, wie Julia den Mund zu einer Frage öffnete. „Ich gehe für gewöhnlich etwa um elf ins Bett und schlafe bis vier.”

„Bis vier?”, wiederholte Julia ungläubig.

Ivanov warf ihr einen Blick unter schweren Lidern zu. „Ich würde gerne sagen, dass ich nicht viel Schlaf brauche, aber die Wahrheit ist: Insomnia.”

„Und was machen Sie dann mit Ihrer Zeit?”

„Ich gehe meistens ins Fitnessstudio. Die haben rund um die Uhr geöffnet, aber so früh ist niemand sonst da. Also keine Zeugen. Vielleicht gibt es Kameras, ich bin nicht sicher. - So gegen halb sieben fahre ich meist von dort ins Büro, das heißt, ich war um sieben hier.”

Julia machte sich Notizen. Sie würde das nachprüfen müssen, natürlich, aber für’s erste blieb ihr nichts weiter übrig, als anzunehmen, Ivanov würde die Wahrheit sagen.

„Habe ich Sie richtig verstanden”, sagte sie. „Volkov war, abgesehen von Kuznetsov, der letzte Mensch, der Hiwatari gesehen hat?”

Ivanov sah sie einen Moment lang stumm aus seinen kalten Augen an.

„Wenn Sie das sagen…”, antwortete er langgezogen.

„Gibt es irgendeine Möglichkeit, herauszufinden, worum es bei den Gesprächen ging, die Hiwatari und Volkov führten?”

„Es gibt sicher einen E-Mailwechsel. Aber Kai hat seinen Laptop immer mitgenommen. Also, wenn Sie ihn nicht haben … „

Wieder antwortete Julia nicht auf die implizierte Frage. Den Laptop hatten sie tatsächlich sichergestellt. Aber bisher hatten sie noch nicht gewusst, nach welcher Art von Information sie suchen sollten. Außerdem hatte es eine Weile gedauert, an die Daten zu kommen.

„Oh, aber da fällt mir etwas ein”, sagte Ivanov. Er stürzte den Rest seines Drinks in einem Zug herunter und stand erneut auf. Er blieb vor dem Sideboard stehen und schnalzte nachdenklich mit der Zunge, bevor er eine der Türen öffnete und den Arm weit in das Möbelstück hineinsteckte.

„Ah!” Als er den Arm wieder hob, hielt er einen kleinen Schlüssel in der Hand, mit dem er die Schreibtischschublade öffnete. Aus dieser zog er ein schmales Buch.

„Kai hat mal sein Handy auf der Terrasse liegen gelassen, und dann hat es geregnet. Hat einige Daten dadurch verloren”, erklärte Ivanov. „Seitdem ist er ein wenig altmodischer unterwegs.” Er hielt Julia das Buch hin. „Nehmen Sie. Vielleicht finden Sie ja etwas Nützliches.”

Julia behielt ihre Mimik unter Kontrolle. Nichts an ihrem Gesichtsausdruck verriet, wie sehr ihre Gedanken zu rasen begonnen hatten. Beim letzten Mal hatte Ivanov noch behauptet, dass Hiwatari und er sich nicht nahestanden – und trotzdem kannte er alle geheimen Verstecke in diesem Büro? Oder hatte das schlicht mit dem Vertrauen zu tun, das Hiwatari angeblich so schätzte?

Bevor Julia das Buch in eine Plastiktüte schob, zog sie sich ein paar Handschuhe über. Ivanov beobachtete sie etwas amüsiert dabei – natürlich dauerte das mit den Handschuhen länger als gedacht, weil ihre Hände etwas schwitzig waren.

„Sagen Sie”, fragte sie wie nebenbei, „beunruhigt es Sie gar nicht, dass Hiwatari verschwunden ist? Sie scheinen recht souverän mit der Situation umzugehen.”

Das Lächeln auf Ivanovs Gesicht verblasste, und einmal mehr wurde deutlich, wie erschöpft er war.

„Natürlich mache ich mir Sorgen”, sagte er leise. „Die alten Aasgeier sind viel zu gut gelaunt, seit Kai nicht mehr hier ist. Und Sie können sich vorstellen, wie gut ich darin bin, zwei entscheidende Rollen in diesem Unternehmen zu spielen. Die anderen haben genug Angst vor mir, aber ich habe nicht Kais … Charisma.”

Julia hob den Kopf und warf ihm einen verwirrten Blick zu. Nach allem, was sie über Hiwatari gehört hatte, war sie sich sicher, dass Ivanov mindestens fünfmal so viel Charisma hatte, wie sein Boss.

„Sie sind der erste, der Hiwatari nicht als kompletten Langweiler beschreibt”, gab sie zu.

Wieder einmal zeigte Ivanov das süffisante Lächeln, das sie inzwischen ganz automatisch mit ihm assoziierte. Es ließ ihn arrogant wirken, ja, aber Julia ahnte, dass er es sich erlauben konnte. Man bullshittete sich nicht einfach an die Spitze eines globalen Großunternehmens.

„Es ist nicht so sehr, was er tut”, sagte Ivanov. „Aber er gehört zu den Menschen, die ganz automatisch jede Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn sie einen Raum betreten. Bei Kai hat man immer das Gefühl, dass da irgendwas unter der Oberfläche brodelt. Etwas, das jeden Moment hervorbrechen kann.”

„Das klingt für mich nach Jähzorn.”

„Ah.” Ivanov wirkte erstaunt. „Nein, so meine ich das nicht. Eher … energetisch, würde ich sagen. Man darf nie davon ausgehen, dass Kai unaufmerksam ist. Oder sich belügen lässt. Sein Kopf arbeitet immer auf Hochtouren.” Er machte eine Pause. „Wissen Sie, ich habe meinen Stolz, ich arbeite nicht für jeden. Aber Kai ist faszinierend. Mir jedenfalls ist in seiner Gesellschaft noch nie langweilig geworden.”

Julia nickte. Vielleicht kam sie so dem Rätsel etwas näher. Alle Menschen in Hiwataris unmittelbarer Umgebung schienen loyal zu ihm zu halten. So etwas passierte nicht einfach so.

„Mag er seinen Job?”, fragte sie.

Ivanov ließ sich Zeit mit der Antwort. Seine Finger zuckten nervös, hielten aber sofort wieder still, als Julias Augen zu ihnen wanderten.

„Ja”, sagte er schließlich. „Ja, ich würde sagen, er mag seinen Job. Anders geht es ja gar nicht. Nicht wahr?!”
 

Als Julia zurück ins Präsidium kam, war die Pressekonferenz bereits beendet. Mathilda war allerdings noch im Büro.

„Hey”, grüßte Julia sie und stellte ihr eine Papiertüte auf den Tisch. „Ich bin an einer Konditorei vorbeigekommen und dachte mir, ich bringe dir einen Cupcake mit. Glückwunsch zum ersten öffentlichen Auftritt in Bakuten!”

Mathilda sah zu ihr auf und zum ersten Mal kam es Julia so vor, als wäre sie um Worte verlegen. Sie hatte sie anscheinend kalt erwischt. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ihr einfach Kuchen mitzubringen. Sie wusste ja nicht einmal, ob Mathilda so etwas mochte…

„Danke, Julia”, sagte Mathilda. Sie griff nach der Tüte und spähte hinein. „Oh!”, machte sie und klang tatsächlich ein kleines bisschen verzückt.

In Julia wallte Stolz auf. Sie hatte lange überlegt, ob sie Vanillecreme mit Sprinkles nehmen sollte oder doch lieber dunkle Schokolade. Dunkle Schokolade war definitiv die richtige Entscheidung gewesen. Zumal der Cupcake mit ein wenig Goldstaub garniert war.

„Sollen wir teilen?”, schlug Mathilda vor. „Ich muss sowieso nur noch ein wenig Papierkram…”

Sie wurde vom „Ping!” ihres E-Mailfaches unterbrochen. Ihr Blick wanderte zum Monitor.

„Die Laborergebnisse sind da!”, stellte sie fest.

Julia zog sich einen Stuhl heran. Keine Zeit, zu ihrem eigenen Platz zu gehen. Sie schob die Tüte mit dem Cupcake beiseite und beugte sich vor, um den Anhang der Mail mitlesen zu können.

Was dort stand, veränderte den Fall Hiwatari mit einem Schlag.

Das Blut auf dem Gehweg und am Türrahmen war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Kais. Aber das war tatsächlich das am wenigsten überraschende Ergebnis. Viel beunruhigender war, dass an den Wassergläsern aus dem Wohnzimmer Spuren von Betäubungsmittel gefunden worden war. Und, dass es tatsächlich Fingerabdrücke im Haus gab, die niemandem zugeordnet werden konnten, der dort regelmäßig ein und aus ging.

„Holy shit”, murmelte Mathilda. „Da haben wir unser Verbrechen.” Doch sie wirkte nicht im Geringsten besorgt. Ganz im Gegenteil. Sie sprang auf und lief zur Flipchart, die in einer Ecke des Büros stand. Mit dem Stift in der Hand fing sie erneut an zu sprechen. „Am wahrscheinlichsten ist das: Jemand steht vor Hiwataris Haustür. Unangemeldet oder nicht wissen wir nicht, aber Hiwatari kennt ihn. Er lässt ihn rein. Unser Verdächtiger mixt Betäubungsmittel in Hiwataris Drink, aber eventuell nicht genug. Hiwatari wehrt sich, will vielleicht fliehen. Irgendwie stößt er dabei mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Oder wird gestoßen. Vermutlich knockt ihn das komplett aus. Unser Verdächtiger hat eventuell die Nerven verloren, weil sein Plan nicht aufgegangen ist. Er bugsiert Hiwatari aus der Wohnung raus und lässt ein paar Gegenstände mitgehen. Vielleicht, um es wie einen Raubüberfall aussehen zu lassen. Dabei vergisst er aber die Gläser.”

„Das heißt, es ist doch Entführung?” Julia hob eine Augenbraue. „Eine Entführung ohne Lösegeldforderung? Ohne sonstige Bewegungen auf Hiwataris Konto?”

Mathilda schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das alles ist so chaotisch. Als wäre etwas gewaltig schief gegangen. Oder…” Sie verstummte.

„Oder”, fuhr Julia fort, die denselben Verdacht hegte. „Jemand hat mehrere Spuren gelegt, um das eigentliche Verbrechen zu verschleiern.”

Und das eigentliche Verbrechen konnte Mord sein.

Julia sah Mathilda an, sah die Notizen auf der Flipchart an, dann sprang sie auf.

„Ivanov hat mir Hiwataris Kalender gegeben”, erklärte sie, während sie schon bei ihrer Handtasche war und den Beutel mit dem Buch herauszog. Erneut zog sie sich Handschuhe über.

„Ivanov hat was?”, fragte Mathilda skeptisch, doch Julia war schon dabei, den Kalender durchzublättern.

„Shit!”, entfuhr es ihr. „Das hier ist alles auf Russisch!”

Erstaunt betrachtete sie die gleichmäßige, kursive Schrift, in der regelmäßig mehrere Buchstaben zu einer gezackten Linie zu verschmelzen schienen. Sie schlug das Datum auf, an dem Hiwatari verschwunden war. Für den Abend war ein Wort vermerkt, aber natürlich auch hier in kyrillischer Schrift.

„Ich habe einen Übersetzer.” Mathilda hielt ihr Handy hoch.

Julia legte das Buch auf den Tisch, damit Mathilda das Wort scannen konnte.

Es handelte sich um einen Namen. Einen, den sie schon kannten. Eine Person, die Hiwatari definitiv am Tag seines Verschwindens getroffen hatte. Jedoch nicht zu dieser Uhrzeit.

Volkov.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Persades
2023-08-06T11:39:38+00:00 06.08.2023 13:39
Ah, es geht weiter!
Ich freu mich schon auf die Kapitel 3 und 4!! Der Anfang hat mich auf jeden Fall schon sehr gefesselt!
Von:  Mitternachtsblick
2023-02-26T10:39:59+00:00 26.02.2023 11:39
Die Beziehung zwischen Julia und Mathilda ist irritierend, aber man merkt, dass dieses irritierende Moment durchaus beabsichtigt ist. Bin gespannt, wie sich das auflöst, ich vermute, dass Mathildas Art vielleicht was zu tun hat mit dem, was sie aus Japan getrieben hat - aber vielleicht fische ich da auch zu motiviert im Dunkeln. XD
Yuriy my love, always - wie immer schnittig und a bit of a bastard, ich freu mich drauf, dass er und Julia sich gegenseitig playen und dabei sich selbst mit horniness verletzen lol. Bei seiner Beziehung mit Kai steckt sicher auch noch mehr dahinter, generell ist dieses Einsiedlertum von Kai ein super Griff (ich mag diesen Trope vom zurückgezogenen Milliardär mit Geheimnissen einfach sehr gern und du verwendest es hier sehr gut).
Bonusliebe für Wyatt - er ist einfach der perfekte, konstant gestresste Assistent in jeder AU, wo Kai auch nur remotely ein Office besitzt. Peak perfection.
Von:  Mitternachtsblick
2023-02-26T10:25:40+00:00 26.02.2023 11:25
Fängt schon mal sehr solide mit Boobs und mehreren Spuren an, denen sie nachgehen können. Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf mehr, was ja das ist, was ein Krimi tun soll. Die Entwicklung zwischen Julia und Mathilda geht mir vielleicht ein bisschen zu schnell - im Auto weiß Julia noch nicht, was sie von ihr halten soll und wenig später verständigen sie sich schon quasi durch kleinste Körperzeichen miteinander -, aber es stört jetzt auch nicht ungemein. Und der geheimnisvolle Ivanov ist etwas, auf das ich mich schon sehr freue :D


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