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Vorwort zu diesem Kapitel:
Frohe Weihnachten Komplett anzeigen

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Tag 1

Shuichi, ich liebe dich!

Es war Jahre her, seit er diese vier Worte aus ihrem Mund gehört hatte.

Ich liebe dich!

Er erinnerte sich noch ganz genau an den Klang ihrer Stimme, wenn sie jene Worte aussprach. Je nachdem in welcher Situation er sich befand, konnte er sie auch jetzt noch hören. Selbst wenn er in Gefahr war, hörte er sie. Immer und immer wieder. Manchmal retteten sie ihn. Manchmal lag er deswegen nachts wach. Manchmal verfluchte er sich auch dafür, was er ihr alles antat.

Sie war nicht seine erste Freundin und auch nicht seine Letzte. Aber sie war die Frau, die sich in sein Herz gebrannt hatte und von der er nicht loskam, egal wie sehr er es auch versuchte. Jodie war ein ganz besonderer Mensch. Ein Mensch, der mehr verdient hatte als ihn.

Shuichi Akai war ein Mann, der mit beiden Beinen fest im Leben stand. Er hatte alle Probleme und Herausforderungen – im Privat- als auch Berufsleben – mit Bravour gemeistert. Nach außen wirkte er wie ein Agent ohne Emotionen. Kalt und unberechenbar. Aber wenn es um Jodie ging, musste er sich zusammenreißen, um nicht überstürzt zu handeln. Er hatte es zwar immer hinter einer Fassade versteckt, aber in seinem Inneren brodelte es andauernd.

Eigentlich hätten sie nur noch Kollegen sein müssen, vielleicht sogar Freunde, aber nicht mehr. Trotzdem knisterte es immer noch zwischen ihnen. Wann immer sie alleine waren, hoffte er, dass sie ihm nicht näherkam, dass sie nicht merkte, wie sein Herz schlug, wenn er ihren betörenden Geruch einsog. Sie brauchte manchmal nur neben ihm zu stehen und schon fühlte er sich überfordert.

Normalerweise konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Normalerweise. Aber Jodie war anders. Sie wusste, welche Knöpfe sie bei ihm drücken musste. Und alles passierte ganz unbewusst. Vielleicht war es auch seine Bestimmung und sie der Mensch, der ihn am besten ergänzte. Shuichi hatte schon viel von der großen Liebe, dem roten Faden und dem Schicksal gehört. Bislang hatte er allerdings nicht daran geglaubt, da ihm der Gedanke, dass von Anfang an eine Person für ihn bestimmt gewesen war, fremd war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich so etwas gab und auch nicht, dass eine Person auf ihn wartete. Bis er Jodie kennenlernte. Bei ihr verspürte er diese besondere Verbindung.

Im Laufe seines Lebens hatte er viel gesehen. Schmerz. Wut. Trauer. Liebe. Menschen, die zusammenfanden und ohne den anderen nicht mehr leben konnten. Und insgeheim wünschte er sich das auch. Er wollte nach Hause kommen in eine Wohnung die voller Liebe war. Warm und willkommen. Es musste kein Essen auf dem Tisch stehen, es reichte schon, wenn sie einfach nur da war. Sie mussten nicht einmal miteinander intim werden, der Austausch von Zärtlichkeiten reichte vollkommen aus. Eine Berührung hier, eine Berührung da. Mehr brauchte er nicht. Aber würde er dieses Leben irgendwann wirklich bekommen oder würde er vorher sterben? Oder würde sie einen Mann treffen, den sie mehr liebte?

Shuichi ging die Straße entlang, die Zigarette im Mund und die Hände in den Hosentasche. Die kalte Jahreszeit brachte ihn immer wieder zum Nachdenken. Es war dunkel und trist. Ein weiteres Jahr voller Einsamkeit.

Als sich der Agent umblickte, stand er vor dem Häuschen eines Wahrsagers. Er schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht an so etwas. Aber dann sah er Jodie vor sich. Sie hätte sich sicher die Zukunft voraussagen lassen und dann darauf gewartet, dass alles eintrat. Er schmunzelte und ging näher an das Häuschen heran.

„Möchten Sie etwas über Ihre Zukunft erfahren?“

Shuichi warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. „Wie viel?“

„3.000 Yen“, entgegnete die Dame.

Akai bezahlte sie. „Und jetzt?“

Sie hielt ihm ein Set mit Tarotkarten hin. „Ziehen Sie drei Karten.“

„Mhm…“, murmelte der Agent.

„Nur keine Scheu. Wählen Sie drei Karten aus dem Deck aus. Aber decken Sie sie nicht auf.“

Er entschied sich für drei Karten und legte sie auf den Tisch.

„Gut. Die Entscheidung ist endgültig.“ Sie platzierte die übrigen Karten links neben sich, ehe sie die erste Karte aufdeckte. „Bevor wir zu Ihrer Zukunft kommen, müssen wir uns Ihre Vergangenheit ansehen. Die Liebenden. Diese Karte steht für Bindungen und taucht meistens dann auf, wenn es um eine Herzens-Entscheidung geht. Sie müssen eine Entscheidung treffen, die eine alte Beziehung betrifft.“

Shuichi schluckte. Es war nah an der Realität.

„Kommen wir jetzt zur zweiten Karte. Sie steht für Ihre Gegenwart.“ Die Frau deckte die Karte auf. „Das Rad des Schicksals. Ihre Vergangenheit und Ihre Zukunft werden schon sehr bald in Einklang gebracht werden.“ Sie lächelte. „Glückliche Fügungen bahnen sich an.“

„Aha“, murmelte Shuichi.

Nun deckte sie auch die letzte Karte auf. „Ihre Zukunft. Die Welt. Es kommt zusammen, was zusammengehört. Die Karte besiegelt das Ende einer Lebensphase und den Anfang eines neuen Abschnittes.“

„Mhm…“, murmelte Akai.

„Das sind gute Karten. Sie werden Glück haben. Aber für Ihr Glück müssen Sie auch einiges tun. Abwarten bringt Sie nicht weiter.“

Shuichi blickte sie irritiert an.

„Wenn Sie eine Frau finden, lassen Sie sie nicht los. Es kann immer zu spät sein.“

„Was meinen Sie damit?“

„Nur weil die Karten eine Bestimmung vorhersagen, muss es nicht eintreten. Wenn Sie zu lange warten, kommen Sie zu spät und die Frau lernt einen anderen Mann kennen. Irgendwann führt jeder sein Leben weiter. Aber dann wird es für Sie zu spät sein. Halten Sie die Liebe fest.“

Akai musterte sie. „Verstehe…“ Er klang nicht überzeugt.

„Jeder wird irgendwann sein Schicksal akzeptieren.“

„Danke für die Vorhersage“, gab er monoton von sich und entfernte sich vom Stand. Er dachte nach und sah sich um. Überall waren Menschen – Pärchen - und erfreuten sich über den Weihnachtsmarkt. Schnell entschied der Agent, dass es am besten war, nach Hause zu gehen. Doch so weit kam er nicht.

„Shu?“

Er drehte sich zur Seite.

„Du bist wirklich gekommen.“

Akai sah Jodie irritiert an. „Was machst du hier?“

Sie schmunzelte. „Sag bloß nicht, du hast es schon vergessen. Ich habe dich doch gestern gefragt, ob du heute Abend mit mir über den Weihnachtsmarkt schlendern willst. Du hast nur mit einem Mhm…mal sehn geantwortet. Ehrlich gesagt, hab ich nicht mit dir gerechnet, weil ich dachte, dass du mir gar nicht richtig zugehört hast.“

Er hatte das Gespräch tatsächlich nicht mehr in Erinnerung, aber sein Unterbewusstsein hatte ihn hergeführt. Zu ihr.

Tag 2

Seit die Verbindung zu seinen beiden Agenten abgerissen war, war James im Zimmer nervös umhergelaufen. Es gab zwar einen Plan B, aber auch das war nicht immer die Rettung. Und er konnte nicht einfach nur warten, sitzen und nichts tun. Normalerweise hätte er damit kein Problem, aber da Jodie involviert war, fiel es ihm schwer. Als Tochter seines ehemaligen Partners war er für ihre Sicherheit mitverantwortlich.

Kein Anruf, keine Nachricht, nichts… Als es zwei Stunden später an der Tür klingelte, hastete der Agent dorthin. Er schaute durch den Türspion und öffnete anschließend die Tür. „Jodie! Agent Akai!“, begann er und musterte die Beiden. Akai sah aus wie immer, nur etwas angeschlagen und dreckig. Jodie hingegen war erschöpft und ein Teil ihrer blonden Haare war gräulich sowie rotgetränkt, genauso wie ihre Wange und das Kinn. Blut. James erkannte sofort, dass etwas mächtig schiefgelaufen war. Vielleicht hatte sogar Plan B versagt.

Die beiden Agenten traten ein und schlossen die Tür hinter sich. Shuichi blickte zu Jodie und half ihr aus der Jacke. Erst jetzt erkannte James, dass ihre Kleidung ebenfalls verfärbt gewesen war. Er schluckte. „Jodie“, wisperte er leise.

„Lassen Sie ihr einen Moment“, kam es von Shuichi. „Nur einen Augenblick.“ Shuichi legte seine Hand an Jodies Rücken.

Agent Black nickte und beobachtete die junge Frau. Sie war schon lange nicht mehr das Mädchen von damals. Sie wurde erwachsen, aber dennoch machte er sich immer noch Sorgen um sie.

„Das ist…nicht meines…“, murmelte Jodie leise. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie wollte sich verstecken, im Bett bleiben und für einige Tage nicht herauskommen. Auf der Rückfahrt war sie aufgrund des Adrenalinpegels noch aufgekratzt, aber je mehr Zeit verging, desto mehr kamen die Erinnerungen wieder an die Oberfläche. Sie hatte eine einfache Aufgabe. Sie sollte die Familie eines niederen Organisationsmitglieds in ein Safe House geleiten und dann wieder zurückkommen. Leider hatte die Organisation davon Wind bekommen und sich auf ihrem Weg positioniert. Zuerst forcierten sie einen Autounfall, den Jodie zwar weitestgehend umgehen konnte, aber die Scharfschützen sorgten dafür, dass der Wagen unbrauchbar wurde. Sie wollten mit ihnen spielen, denn Jodie konnte mit den Insassen fliehen. Und obwohl sie stets auf ihre Umgebung geachtet hatte, konnte sie ihnen doch nicht entkommen. Sie hatten sie im Safe House aufgespürt und die Familie eiskalt ermordet. Jodie kam gerade so mit dem Leben davon, allerdings hatten sie das Haus in Flammen gesteckt und Jodie musste flüchten. Ohne die Hilfe von Shuichi wäre sie nicht entkommen. Glücklicherweise hatte er sie nicht aus den Augen gelassen. Eigentlich sollte Jodie froh sein, dass es ihr gut ging, allerdings nagte der Verlust der Familie sehr an ihr. Und die Schuld würde sie nicht so schnell abschütteln. Die letzten Minuten ging sie das Geschehene in Gedanken durch und überlegte, was sie hätte, besser machen können. Ihr fiel so viel ein, aber es war zu spät. Die Vergangenheit ließ sich nicht nach hinten drehen.

James fühlte sich hilflos. So wie damals, als sie viel weinte und er sie nicht trösten konnte. Es gab nichts, womit er ihr hätte helfen können. Akai schob Jodie in Richtung des Badezimmers und öffnete die Tür. „Du solltest erst einmal ein Bad nehmen“, sprach er. „Wir besorgen dir Wechselkleider.“

„Ich kümmere mich drum“, gab James von sich. Nur eine Aufgabe. Er brauchte nur eine Aufgabe, mit der er Jodie helfen können würde.

Jodie sah zu ihrem Kollegen. Sie nickte und ging zur Badewanne. Sie setzte sich auf den Rand und tat…nichts.

Shuichi ließ Wasser in die Wanne und fügte einen Badezusatz hinzu. Er blickte wieder zu ihr. „Brauchst du Hilfe?“

Sie schüttelte den Kopf und begann, sich langsam zu entkleiden. Er hatte sie schon mehrfach nackt gesehen. Sonst hätte es ihr etwas ausgemacht, wenn sie in dieser Situation wären, dieses Mal war alles anders. Sie empfand nichts dabei. Und ihm behagte es gar nicht.

Shuichi half ihr in die Wanne und drehte den Hahn wieder zu. Es schmerzte ihn, sie so zu sehen. „Soll ich dich allein lassen?“

„Ja“, murmelte die Agentin. „Ich…ich komm gleich wieder ins Zimmer.“

„Okay.“ Shuichi verließ das Badezimmer und seufzte.

Im Wasser bemerkte Jodie, wie sich ihre Muskeln langsam entspannten. Sie schloss die Augen und tauchte dann unter. Das Wasser färbte sich rot. Jodie tauchte wieder auf. Sie ließ das verfärbte Wasser abfließen und öffnete den Wasserhahn. Das Fließen des Wassers hatte einen leicht hypnotischen Einfluss. Nahezu automatisch drehte sie den Hahn wieder zu und schloss danach die Augen. Für einen Augenblick fühlte sie sich etwas besser.

Als das Wasser kalt wurde, stieg Jodie aus der Wanne und trocknete sich ab. Im Badezimmer hing ein Mantel, den sie sich überstreifte. Sie sah kurz zu ihren Kleidern auf dem Boden. Sie wollte sie auf keinen Fall wieder anziehen. „Vielleicht ist James wieder da“, murmelte sie leise. Langsam öffnete Jodie die Tür und kam in den Wohnbereich.

Sofort blickte Shuichi zu ihr. „James ist noch nicht zurück“, sprach er und ging zu ihr. Er kannte sie gut. Immer wenn es Jodie schlecht ging, brauchte sie körperliche Nähe, jemanden der sie im Arm hielt und ihr Halt gab. „Willst du dich etwas hinlegen?“

Sie nickte und Shuichi schob sie in Richtung des Schlafzimmers. Sie setzte sich auf das Bett und dachte nach. „Soll ich lieber rausgehen?“ Er selbst hatte sich nur schnell frisch gemacht in dem er sich das Gesicht wusch und die Jacke auszog.

„Nein“, wisperte Jodie und griff nach seinem Hemd. „Bitte…bitte bleib…“

„In Ordnung“, sagte er ruhig. Er hatte die ganze Zeit überlegt, was er ihr sagen sollte, wenn er überhaupt etwas dazu sagen konnten. Floskeln wie Du konntest nichts dafür wollte er vermeiden, weil sie nichts brachten. Er beobachtete sie und strich ihr durch das feuchte Haar. Dann setzte er sich auf das Bett.

„Danke“, murmelte Jodie und legte sich langsam hin. Ehe er sich versah, lag sie mit ihrem Kopf auf seinem Schoss.

Erneut strich ihr der Agent übers Haar. „Ruh dich aus. Morgen…sieht die Welt schon anders aus…“ Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Nun hatte er doch eine Floskel verwendet.

„Bestimmt“, gab Jodie von sich. Sie schloss die Augen und entspannte sich langsam. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem regelmäßigen Rhythmus. Ihr Atem war flach, aber gleichmäßig. Shuichi erlaubte sich ein Lächeln.

Einen Augenblick später öffnete sich die Zimmertür. James war zurück. Er starrte die Beiden an, so als hätte er sie gerade in flagranti erwischt. James stellte die Tasche auf den Boden und drehte sich um. So leise wie möglich verzog er sich aus dem Zimmer und ließ den Beiden ihre Ruhe.

Tag 3

Shuichi agierte immer strukturiert und vorausschauend. Hatte er ein Ziel verfolgte er es kontinuierlich und ließ sich nicht ablenken. Das gleiche galt auch für sein Privatleben, auch wenn er Ablenkung in Form von Jodie hatte. Sie tat ihm gut. Durch sie hatte er sich verändert und war nicht mehr nur auf ein Ziel fokussiert. Er hatte gelernt, dass sich Prioritäten und Wichtigkeiten verschieben konnten – auch wenn seine Arbeit immer an oberste Stelle stehen würde.

Als Agent hatte er sich mittlerweile einen Namen gemacht. Er war gut in seinem Job und liebte die Herausforderung. So war nicht verwunderlich, dass er nach und nach aufgestiegen war und sogar als Berater zu diversen Fällen hinzugezogen wurde – vor allem dann, wenn es um seine Fähigkeiten als Schütze ging. Sehr schnell hatte sich Shuichi in diesem Feld weitergebildet, verschiedene Trainings absolviert und eine Ausbildung als Scharfschütze absolviert.

Doch es gab auch Tage, an denen ihm die Arbeit schwerfiel. Nach außen zeigte er nichts, aber wenn er zu Hause war, ließ er sich gehen. Es war auch lange her, dass er einen solchen Tag hatte. Aber jetzt war es so weit. Er war erst seit einigen Wochen in Japan und für seinen verdeckten Einsatz in eine andere Rolle geschlüpft. Täglich belog er die Menschen in seiner Umgebung. Aber am schlimmsten war die Frau, die er zurücklassen musste.

Während seiner Arbeit sowie in seiner Freizeit – wenn er sie hatte – verbot er sich an New York und ihre gemeinsame Zeit zu denken. Denn sobald er es tat, suchte er nach möglichen Alternativen, um die räumliche Trennung aufzuheben. Da dies aber mit seiner Arbeit in Widerspruch stand, lenkte er sich ab. Er ging oft nach draußen, joggte, macht Kampfsportübungen oder las sich wieder und wieder alle Unterlagen zu seinem Einsatz durch. Am schlimmsten waren allerdings jene Tage an denen er mit ihr – beruflich – telefonieren musste. Sie waren dabei nie allein und mussten darauf achten, was sie sagten. Immer wenn er ihre Stimme hörte, wünschte sich ein Teil von ihm wieder nach New York zu gehen. Ein anderer Teil wusste aber, dass er in Japan gebraucht wurde und mit seinem Einsatz gegen die Organisation mehr beitragen konnte.

Leider war es nicht so einfach wie anfangs vermutet. Er musste sie erst einmal auf sich aufmerksam machen und dann langsam in ihrem inneren Kreis aufsteigen. Dafür hatte er sein gesamtes Leben in New York auf Eis gelegt und seine Liebste verlassen. Das Letzte, was ihm noch in Erinnerung blieb, waren ihre Tränen als sie ihn am Flughafen verabschiedete. Nie hatte er sie verletzen wollen, aber er tat es dennoch. Nicht nur einmal, sondern an jedem Tag an dem er in Japan war. Allein seine Anwesenheit in dem Land hatte dafür gesorgt.

Er wollte sich nicht ausmalen, wie schmerzhaft es für sie sein musste, jeden Morgen aufzustehen und nicht zu wissen, was mit ihm war. Es gab Abende, da schrieb er ihr keine Nachricht, sondern fiel einfach nur müde ins Bett. Wahrscheinlich saß sie zu Hause und wartete auf seinen Anruf oder seine Nachricht, während sich in ihrem Kopf verschiedene Horrorszenarien abspielten. Er konnte verstehen, wenn sie Tag für Tag deswegen kämpfte. Und die Zeitverschiebung half auch dazu bei.

Shuichi ging die Straße entlang und beobachtete das hektische Treiben der Menschen. Er ging in der Menschenmasse unter und zog keine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Hände glitten in seine Jackentaschen und er ging einfach weiter, ohne wirklich auf seinen Weg zu achten. Er kannte seine Umgebung bereits gut genug, um zu wissen, wie er am schnellsten nach Hause kam. Der FBI Agent atmete tief durch und sog die kühle Luft ein. Als er an seinem Wohnkomplex ankam, blickte er sich um. Die Organisation war überall und beobachtete ihn. Er war nirgends sicher. Das Fadenkreuz prangte über ihn. Aber das gehörte zu seiner Arbeit dazu.

Shuichi stieß die Tür auf, ging zu seinem Briefkasten und überprüfte seinen Inhalt. Er war zwiegespalten. Keine Post hieß auch, dass er einen freien Abend hätte und sich um keinen Auftrag kümmern musste. Allerdings hatte er damit genug Zeit, um sich ganz seiner Sehnsucht nach Jodie hinzugeben. Dennoch musste er aufpassen, dass er Akemi nicht vor den Kopf stieß. Dass sie Interesse an ihm hatte, hatte er bereits erkannt. Aber er hielt sie auf Abstand. Dafür war ihm Jodie viel zu wichtig.

Shuichi ging die Treppen nach oben und öffnete seine Haustür. Er trat ein, zog die Jacke und Schuhe aus und überprüfte die Wohnung auf Eindringlinge. Eigentlich freute er sich immer auf seine ruhige Wohnung. Dazu ein Glas Bourbon und eine kühle Dusche.

Er begab sich zunächst ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Für einen Moment schloss er die Augen und erlaubte sich abzuschalten. Nur ein einziges Mal wollte er sich gehen lassen. Doch es kam anders. Sofort sah er Jodies Gesicht vor sich. Wut. Trauer. Tränen. Ein Lächeln.

Unbeabsichtigt ließ er die Hand in seine Hosentasche gleiten und zog sein Handy hervor. Er öffnete die Augen, las ihre letzte Nachricht und sah sich ein Foto von ihr an. Dann suchte er in den Einstellungen und unterdrückte seine Nummer. Beinahe wie in Trance wählte er die Nummer seiner Freundin.

Es dauerte nicht lange, bis Jodie den Anruf entgegennahm. „Starling. Hallo?“

Erst jetzt realisierte der Agent, was er getan hatte. Er war schwach, aber als er Jodies Stimme hörte, lächelte er. Er atmete tief durch, schwieg aber.

„Hallo?“

Er konnte einfach nichts sagen.

„Hallo? Wer ist denn da?“, fragte Jodie erneut.

Shuichi wusste, dass es gefährlich war, jetzt mit ihr zu telefonieren, gefährlich, den Kontakt aufrecht zu halten. Aber er wollte ihr so viel sagen und noch viel mehr versprechen. Aber ein Versprechen war ein Problem, denn er hätte alles getan, um es auch zu halten. Akai atmete ein weiteres Mal tief durch.

„Shu? Bist du das?“, wollte die Agentin wissen.

Mit einem Mal hatte er einen Kloß im Hals. Er versuchte ihn runterzuschlucken, aber es gelang ihm nicht. Beim Versuch etwas zu sagen, zitterten seine Lippen. Er vermisste sich, wollte sie sehen, sie im Arm halten, sie küssen, sie…

Tief in seinem Inneren wusste er aber, dass seine Arbeit die höchste Priorität hatte und er sich nicht seinen Gefühlen hingeben konnte. „Es tut mir leid…“, wisperte er und beendete den Anruf. Sogleich warf er das Handy auf das Sofa und lehnte sich nach hinten. Er seufzte. Warum musste es nur so schwer sein?

Tag 4

Er fühlte sich schuldig. Nicht erst seit heute. Es ging schon einige Jahre so. Natürlich hatte er bemerkt, dass Jodie immer noch Gefühle für ihn hatte, ihn immer noch liebte und immer noch auf ihn wartete. Und er wollte, dass sie glücklich wurde – ohne ihn. Denn er würde sie unglücklich machen. Nicht sofort, aber irgendwann in der Zukunft. Sei es eine Verabredung, an die er nicht dachte oder einen Jahrestag, den er vergaß. Die Kleinigkeiten hätten sich hochgeschaukelt und irgendwann wäre Jodies Nervenkostüm gerissen. Früher oder später. Dabei hatte sie es verdient, endlich glücklich zu werden. Auch wenn sie immer noch ihren Fokus auf den Kampf gegen die Organisation richtete, Jodie wünschte sich eine Familie. Mutter, Vater, Kind oder eher Kinder. Nur war es nicht das, was er ihr geben konnte. Nicht jetzt und vielleicht nicht später.

Er wusste, dass es besser war, die Sache mit Jodie – wenn es eine gab – zu beenden und ihr die Chance auf Glück zu lassen…mit einem anderen Mann. Das Problem war nur, dass er sich dagegen sträubte. Er empfand immer noch viel für sie. Sie hatten sich nicht getrennt, weil die Liebe fehlte. Natürlich loderten diese verborgenen Gefühle auf, nachdem er wieder mehr Zeit mit ihr verbrachte. Aber er verbot sich diese Gefühle. Während sie weiterhin im Krieg mit der Organisation waren, durfte er sie nicht lieben, ihr nicht sagen oder zeigen, was er für sie fühlte. Und trotzdem nagte das schlechte Gewissen an ihm. Jedes Mal, wenn er sie sah…

Wenigstens gestand sie ihm nicht ihre Gefühle. Es war ihm schon früher ein Graus, wenn er sie absichtlich verletzen musste. Aber mittlerweile war er selbst nicht sicher, ob er es ein weiteres Mal schaffen würde. Vielleicht hätte er ihr sogar vorgeschlagen, es noch einmal zu versuchen. Vielleicht hätte er geschwiegen. Vielleicht…

Shuichi seufzte und betrat eine kleine Bäckerei in Beika. Der Inhaber führte sie in der dritten Generation und sein Sohn sowie deren Freundin halfen in den Semesterferien oft aus. Die Mitarbeiter waren immer freundlich und gut gelaunt. Wenn die Zeit es zu ließ, redeten sie sogar mit der Kundschaft. Außerdem waren auch die verschiedenen Sorten von Kuchen und Torten nicht von schlechten Eltern. Nicht, dass er schon öfters etwas gegessen hätte, aber die wenigen Male hatte es ihm geschmeckt. Und der Kaffee war auch nicht schlecht. Akai stellte sich in die Schlange und bestellte einen Coffee to go, als er dran war. Während er wartete, hörte eine bekannte Stimme. Gelächter. Er blickte nach rechts.

Jodie saß zusammen mit einem Mann – den er nicht kannte – an einem der Plätze in der Bäckerei. Er erzählte etwas, sie lachte. Sie erzählte ihm etwas, er lachte. So ging es die ganze Zeit. Shuichi gefiel die Situation ganz und gar nicht. Am liebsten hätte er sich eingemischt, ließ es aber sein, da er die Auswirkungen nicht kannte. Falls Jodie gerade arbeitete – und ihm warum auch immer nichts sagte – wollte er ihre Tarnung nicht gefährden.

Nachdem der Agent seinen Kaffeebecher bekam, verließ er die Bäckerei. Durch de Fensterscheibe warf er noch einen Blick zu Jodie. Er seufzte und setzte sich in Bewegung. Instinktiv lief er eine große Runde um den Block, nur um wieder an der Bäckerei anzukommen. Den mittlerweile leeren Kaffeebecher hatte er in einem Mülleimer entsorgt. Gerade als er sich umdrehen wollte, kamen Jodie und der Mann nach draußen. Und es störte ihn gewaltig, was er sah. In seinem Kopf hatte er sofort ein Bild von Jodies Zukunft vor Augen. Sie war glücklich, verliebt, heiratete und bekam Kinder. Aber er tauchte in diesem Szenario nicht auf. Seinen Platz nahm ein Fremder ein. Und er hasste es.

Der Fremde beugte sich zu Jodie runter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sofort begann die Agenten zu kichern, aber als sie ihren Kollegen sah, verstummte sie abrupt. „Oh, hi.“

„Hey“, gab Shuichi von sich.

Jodie lächelte. „Sagt mal, kennt ihr euch eigentlich schon?“ Sie sah zwischen den beiden Männern hin und her. Außerdem hatte sie ins Englische gewechselt.

„Bisher nicht“, gab Mark von sich.

„Wenn das so ist“, fing Jodie an. „Das ist Shu…ichi. Shuichi. Wir arbeiten schon seit Jahren zusammen und er ist es, von dem du bereits so viel gehört hast. Und das hier ist Mark. Er ist vorgestern aus Los Angeles hergekommen und soll uns unterstützen. Ich soll ihn ein wenig mit Japan vertraut machen und einarbeiten.“

Nun verstand Akai. Er fühlte sich furchtbar, weil er ganz andere Annahmen getroffen hatte. „Freut mich“, sprach er. „Ihr scheint euch gut zu verstehen.“ Eine kleine Stichelei war erlaubt.

„Tatsächlich kennen wir uns sogar aus Quantico“, entgegnete Jodie. „Danach sind wir zu unterschiedlichen Niederlassungen gewechselt und haben uns jetzt wiedergetroffen.“

„Sie glauben ja nicht, wie Jodie damals war“, schmunzelte Mark. „Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen…“

„Mark!“

Shuichi verengte die Augen. „Nicht nötig. Ich kenne Jodie auch schon seit einigen Jahren.“

„Das hat sie erzählt“, nickte Mark.

Shuichi mochte ihn nicht. „Wie lange bleiben Sie?“

„So lange wie ich benötigt werde“, antwortete der andere Agent. „Allerdings kann ich kein japanisch, aber ich lerne schnell. Und Jodie wird mir bestimmt dabei helfen. Nicht wahr?“ Er zwinkerte.

„Klar. Aber ich verbiete dir Ablenkungen.“

„Uh…das wird schwer.“ Er grinste.

Shuichi erkannte, dass der Mann Interesse an Jodie hatte. Vermutlich schon damals. Und entweder Jodie wollte es nicht sehen oder es gefiel ihr, umgarnt zu werden. Vielleicht hatte sie sogar selbst Interesse an ihm. Akai wusste, dass es vor ihm einen Mann in Jodies Leben gab, mit dem es nicht funktionierte. Er kannte nur dessen Identität nicht. Dass es Mark war, konnte er nicht ausschließen. Er wusste nicht, ob sie ihm möglicherweise eine zweite Chance geben würde. Shuichi haderte mit sich selbst. Sollte er vielleicht doch einen Schritt auf Jodie zu machen?

„Also dann…wir wollten uns noch etwas in der Stadt umsehen“, gab Jodie von sich.

„Zeig ihm den Tokyo Tower.“

Die Agentin nickte.

„Jodie?“

„Ja?“ Sie lächelte so, wie sie ihn immer anlächelte.

Und auf einmal überkam Shuichi eine unbekannte Nervosität. Er hatte sie bei keinem Einsatz, nicht einmal dann, wenn er als Scharfschütze tätig war. „Lass uns heute Abend Essen gehen.“ Er hatte ins japanische gewechselt, damit Mark sie nicht verstehen würde.

Jodie blickte ihn irritiert an. Lud er sie gerade ein? Auf ein Date? „Gerne.“

Tag 5

Jodie blickte in den Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Sie musterte sich, rümpfte die Nase und zog das nächste Oberteil an. Und dann ging das Spielchen von vorne los. Bluse, Pullover, Shirt, Top, Hose, Rock, Kleid. Farbe, Muster, kariert, gepunktet. Nichts gefiel ihr. Entweder es war übertrieben oder es sah aus, als würde sie einen Kartoffelsack tragen. Wie immer, wenn sie hübsch aussehen wollte, empfand sie in ihrem Kleiderschrank nur Leere. Am liebsten wäre sie noch einmal einkaufen gefahren, aber dafür war es zu spät. Er würde sie bald abholen. Deswegen hatte sich Jodie für ein Outfit entschieden: eine blaue Bluse und einen knielangen, weißen Rock. Es war nicht perfekt, aber sie konnte sich schließlich nicht nackt mit ihm treffen und das, was sie trug, war ein guter Kompromiss. Außerdem zeigte es, dass sie sowohl für alles offen war als auch, dass sie keine Erwartungen an ihn hatte. Es wäre natürlich etwas anderes, wenn sie sich bei ihr zu Hause getroffen hätten, denn dann hätte sie ganz andere Vorbereitungen treffen können.

Jodie sah an sich herunter. Sollte sie vielleicht zwei oder drei Knöpfe ihrer Bluse geöffnet lassen? Oder lieber nicht? Vermutlich würde sie es von der Situation abhängig machen. Noch immer war sich Jodie nicht sicher, was Shu mit der Einladung zum Essen bezweckte. Wollte er sich wirklich mit ihr treffen und essen gehen oder wollte er sie für ein Alibi benutzen? Vielleicht gab es auch eine Observation und sie musste ihn dabei unterstützen. Es wäre nicht das erste Mal.

Sofort verbannte die Agentin das Gefühl der Hoffnung. Sie wollte nicht wieder enttäuscht werden. Dass ihr Treffen überhaupt noch stattfand, grenzte schon fast an ein Wunder. Eigentlich wollten sie sich noch am gleichen Abend treffen, an dem er gefragt hatte, aber die Arbeit war ihnen dazwischengekommen. Danach hatten sie das Thema erst einmal totgeschwiegen, bis Shu vor einigen Tagen ein Datum festsetzte. In ihrem Kopf hörte Jodie eine Stimme, die ihr sagte, dass es kein Date war. Dass sie sich keine Hoffnungen machen sollte.

Als es an ihrer Haustür klingelte, warf Jodie einen weiteren Blick in den Spiegel. Sie strich sich die Haare glatt, legte Parfum auf und lief in den Flur. Sie betätigte den Summer, schlüpfte in ihre Stiefel und zog sich eine Jacke an. Dann griff sie ihre Tasche und öffnete die Tür. Sie schloss die Tür und ging zum Fahrstuhl. Die Tür sprang auf und als Jodie rein wollte, lief sie beinahe gegen Shuichi. Er hielt sie fest und sie spürte sofort die Geborgenheit in seiner Nähe. Am liebsten hätte sie ihre Augen geschlossen und sich an ihn geschmiegt. Aber sie widerstand dem Drang und blickte ihn an. Egal was er auch trug, ihm stand einfach alles.

Shuichi musterte sie ebenfalls. Auch er musste mit sich kämpfen. Innerlich ärgerte er sich, dass er nicht darauf gewappnet war. Er kannte Jodie und hätte wissen müssen, dass sie sich rausgeputzt hatte und wusste, wie sie ihre Reize einsetzen konnte. Er hatte nur Glück, dass er seine Fassade noch aufrechterhalten konnte. Aber es würde schwer werden, je weiter der Abend ging.

„Shu…“, fing sie an.

Er lächelte. „Lass uns gehen. Ich habe einen Tisch reserviert.“

Sie nickte und folgte ihm nach unten und dann nach draußen. Gemeinsam gingen sie zu seinem Wagen. Shuichi öffnete die Tür und ließ sie einsteigen. Während der gesamten Fahrt schwiegen sie einander an. Eigentlich war Jodie keine ruhige Person – außer etwas beschäftigte sie. Aber nun sagte sie kein Wort. Und Shuichi traute sich nicht zu fragen was los war. Währenddessen graute es Jodie vor dem restlichen Abend. Was, wenn sie sich nichts zu sagen hatten? Vielleicht war auch schon alles gesagt.

Shuichi parkte seinen Wagen. „Das Restaurant bietet amerikanische Küche an“, begann er. „Es ist allerdings kein Diner.“

Jodie spähte nach draußen. „Oh“, murmelte sie und stieg aus. „Ich wollte hier schon immer amerikanisch Essen. Ich habe gelesen, dass es hier auch keine Burger gibt, was gut ist, weil Burger haben wir auch in Japan an vielen Ecken.“ Da war sie wieder, die Frau, die vor sich hinplapperte

„Lass uns rein gehen.“

Jodie nickte und folgte ihm.

Im Inneren tummelten sich sowohl Amerikaner als auch Japaner. Shuichi ließ sich vom Kellner zu seinem reservierten Platz bringen und setzte sich. Das war ein weiterer Vorteil des Restaurants. Kellner und Köche stammten ebenfalls aus Amerika und konnten daher das Essen so zubereiten, wie Jodie es kannte.

Im Restaurant ging es zwischen den beiden ähnlich zu, wie während der Fahrt. Am Anfang sprachen sie lediglich über die Gerichte und schwiegen sich dann an. Jedes Gespräch, das sie versuchten, endete abrupt. Obwohl es nicht ihre erste Verabredung war, benahmen sie sich so. Allerdings war Jodie auch weiterhin für ihre Verhältnisse ungewöhnlich still.

„Wie geht es dir?“, fragte er schließlich, um die Stille zu durchbrechen.

„Ganz gut“, entgegnete Jodie ruhig. „Und dir?“

„Auch.“ Er sah sie an. „Heute Abend…“, begann er.

Jodie lächelte und nahm ein Stück von ihrem Nachtisch. „Shu, warte einen Moment. Ich möchte zuerst etwas sagen.“

„Nur zu.“

„Erst einmal…danke für die Einladung. Es hat mich gefreut, dass wir das ausgemachte Treffen von damals jetzt nachgeholt haben. Aber…ich möchte gern wissen, ob das hier ein…Date ist.“

„Was?“, gab Akai erstaunt von sich. Sie fragte sich dies tatsächlich?

„Oder eine Beschattung?“ Sie sah sich um. „Wer ist denn die Person, die du nicht aus den Augen lassen kannst?“

Shuichi war immer noch wie vorm Kopf gestoßen. Er war nicht einmal auf die Idee gekommen, dass sie das Treffen als etwas ansehen würde. Er öffnete den Mund, aber kein Laut kam über seine Lippen.

Jodie lächelte. „Ich habe es mir schon fast gedacht“, sagte sie. „Alles gut, mach dir keine Gedanken.“

Der Agent ärgerte sich über sich selbst. Warum konnte er ihr nicht die Wahrheit sagen? Was hinderte ihn daran. „Das verstehst du…falsch…“

Sie schüttelte den Kopf. „Du musst mir nichts erklären. Es ist in Ordnung. Ich weiß, dass du mich nicht benutzt. Und das mit dem…Date…war auch nur ein…Scherz. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen.“ Sie hielt ihre Fassade aufrecht, dabei war ihr eigentlich nach weinen zu Mute. Hier und jetzt.

„Jodie, dass…“

Sie schüttelte den Kopf. „Lass gut sein, Shu, lass gut sein. Lass uns…einfach nur den Rest des Abends genießen.“ Sie senkte den Kopf. „Bitte…“

Er schluckte. Er hatte ihr nicht nur in der Vergangenheit wehgetan, sondern auch jetzt. Und dass nur, weil er seine Gefühle nicht in Worte fassen konnte.

Tag 6

Für Jodie war es normal, dass sie keine festen Arbeitszeiten hatte. Weder in Amerika noch in Japan. Man arbeitete dann, wenn der Fall es verlangte. Das hieß auch, dass man manchmal 20 Stunden am Stück arbeitete und wenig schlief. Die Arbeit wurde intensiver je näher sie dem Täter oder den Hinweisen kamen. Dann machte es ihr auch nichts aus, nachts arbeiten zu müssen. Allerdings hätte sie nie zu Träumen gewagt, irgendwann in einem knappen Rock und engem Top bis in die frühen Morgenstunden feiern zu gehen. Weder privat noch beruflich. Aber für alles gab es ein erstes Mal.

Die Tochter eines Agenten bereiste derzeit die Welt. Japan stand auch auf ihrer Liste und natürlich hatte man die Agenten in Japan um Unterstützung und Hilfe gebeten. Sie teilten sich die Observierung des Mädchens auf, aber am Abend wollte sie in einem Club feiern. Und sie stellte harte Bedingungen auf. Nur eine weibliche Agentin durfte sie begleiten, ansonsten würde sie mindestens einen Fluchtversuch unternehmen. Und so hatte Jodie das Los gezogen und musste sich entsprechend kleiden.

In den frühen Morgenstunden hatten die Beiden den Club verlassen. Jodie hatte das Mädchen in ein Taxi gesetzt und zum Hotel geschickt. Sie selbst hatte sich hingegen zu Fuß auf den Weg gemacht. Zwischenzeitlich hatte sie ihre Schuhe ausgezogen und hielt diese in den Händen. Rechts die Jacke, links die Schuhe und über der Schulter eine kleine Handtasche.

Sie genoss die kühle Morgenbrise. Sie half ihr wieder einen kühlen Kopf zu bekommen. Jodie war nicht die einzige Person auf der Straße. Einige andere Feierwütige gingen ebenfalls nach Hause, andere Menschen hingegen starteten gerade in ihren Arbeitstag. Sie selbst würde sich zu Hause erst vergewissern, dass das Mädchen auch im Hotel ankam, dann ein Bad nehmen und ein paar Stunden schlafen.

Die Agentin blickte über eine grüne Wiese. Der Morgentau ließ sie frischer aussehen. Sie hatte beinahe eine hypnotische Wirkung. Jodie sah sich um, ehe sie auf die Wiese zuging. Langsam glitt sie mit ihren Fußsohlen über das kühle Gras. Sie erzitterte für einen kurzen Augenblick, aber es dauerte nicht mehr lange, ehe es ihr nichts mehr ausmachte. Als Jodie ihren Blick über die Wiese schweifen ließ, hatte sie das Gefühl, dass alles gut werden würde. Jeder Schmerz war verflogen.

Jodie legte ihre Jacke auf den Boden und ließ sich auf diese gleiten. Ihre Schuhe und die Handtasche legte sie neben sich, die Jacke zog sie an. Ganz vorsichtig berührte Jodie die grünen Halme. Die Ruhe fühlte sich gut an und Jodie erlaubte sich, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Sie zog ihre Beine an sich heran, legte ihre Arme auf diese und bettete ihren Kopf obendrauf. Jodie schloss ihre Augen. „Ach Shu…“, wisperte sie leise.

Obwohl so viel Zeit vergangen war, waren ihre Gefühle für ihn noch nicht verschwunden. Das Gegenteil war der Fall. Sie waren noch stärker geworden – auch wenn er sie der Reihe nach mit seinen Handlungen verletzte. Egal was sie auch tat, sie kam von diesem Mann nicht los. Er hatte sich in ihr Herz gebrannt. Es gab so vieles, was sie ihm sagen wollte. Tag ein. Tag aus. Aber sie schwieg trotzdem. Es hatte Jahre gedauert, bis sie wieder ein freundschaftliches Verhältnis pflegten – was vor allem daran lag, weil er in Japan und sie in Amerika war. Nur ihre neuerliche Nähe hatte nicht nur die alten Gefühle hervorgeholt, sondern auch alte Wunden aufgerissen. Irgendwie hatte Jodie die letzten Monate damit gelebt und sich selbst hintenangestellt. Das große Ganze – der Sieg gegen die Organisation – hatte die oberste Priorität und Gefühle erschwerten nur ihre Arbeit. Sie hatten es schon einmal versucht und nicht hinbekommen.

Langsam öffnete Jodie ihre Augen und blickte nach oben in die Wolken. Als sie erste Formen erkannte, lächelte sie. In diesem Moment war sie eine normale Frau, die sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte. Ihr Herz begann zu pochen. Sie verzehrte sich nach ihm. Langsam zog Jodie ihre Handtasche zu sich, öffnete sie und holte ein kleines Notizbuch heraus. Sachte strich sie über seinen schwarzen Einband und schlug die Seiten auf. Danach kramte sie in ihrer Tasche nach einem Kugelschreiber. Als sie ihn fand, schrieb sie darauf los.

Lieber Shu,

sicherlich fragst du dich, warum ich dir diesen Brief schreibe. Ich bin nicht mutig genug, um dir diese Worte persönlich zu sagen. Du sollst wissen, dass ich froh bin, dich getroffen zu haben. Die Zeit mit dir möchte ich nicht missen und ich wünschte, dass alles wieder so wird, wie früher. Aber ich weiß, dass die Vergangenheit immer Vergangenheit bleibt und trotzdem glaube ich immer noch an eine gemeinsame Zukunft mit dir. Meine Gefühle für dich sind nie erloschen, egal was auch passiert ist. Ich vertraue dir. Ich weiß, dass alles, was du tust, einem höheren Zweck dient, und ich weiß auch, dass wir unser Ziel eines Tages erreichen werden. Lass es uns noch einmal versuchen. Das würde ich wirklich so gerne. Es muss nicht heute sein, auch nicht morgen oder in einer Woche. Ich werde auf dich warten, egal wie lange es auch dauert. Denn die Wahrheit ist: Ich liebe Dich, Shu!

Tränen tropften auf die Seite. „Shu…“, wisperte sie seinen Namen. Sie wischte sich die Tränen weg. Die wenigen Worte hatten sie tief berührt. Jodie schloss ihre Augen und schüttelte den Kopf. Es war zu früh für ein Geständnis. Nachdem Jodie ihre Augen wieder öffnete, riss sie die Seite aus dem Notizbuch und zerriss die Seiten, bis nur noch kleine Schnipsel übrigblieben.

Jodie stand auf, nahm ihre Schuhe und die Handtasche und brachte die Fetzen des Papiers zu einem Mülleimer. Sie ließ diese hineingleiten und wischte sich erneut das Gesicht trocken. Dann machte sie sich auf den Weg nach Hause.

Während der gesamten Nacht hatte Shuichi Jodie nicht aus den Augen gelassen. Selbst in den Club war er gegangen und hatte sie beobachtet. Es bereitete ihm großes Unbehagen, als sie sich alleine auf den Heimweg gemacht hatte. Er vertraute ihr – sowohl als Agentin als auch als Freundin – aber das änderte nichts daran, dass er sich Sorgen machte. Interessiert beobachtete er Jodies Tun. Als sie sich auf den Weg machte, betrat er die Wiese. Ihm fiel ein Stück Papier auf, welches auf den Boden nahm und auf dem sein Name stand. Er beugte sich runter und nahm den Fetzen in die Hand. Ich liebe Dich, Shu!

Akai starrte auf die Worte auf dem Blatt Papier. Ihm wurde schwer ums Herz. In all den Jahren hatte sie sich nicht verändert. Sie hing immer noch an ihm, liebte ihn und sie war immer noch so verletzlich wie früher. Sie hatte ihren Charme nicht verloren und schaffte es immer noch ihn sprachlos zu machen. Er lächelte und steckte sich den Papierschnipsel in die Hosentasche. Anschließend folgte er ihr, um sicher zu gehen, dass sie heil zu Hause ankam.

Tag 7

Shuichi beobachtete seine Freundin. Manchmal bewunderte er sie für ihre Art und Weise. Jodie war immer fröhlich und ausgelassen. Es war erfrischend. Sie war ein Freigeist. Akai wusste allerdings nicht, ob sie auch mit dieser Haltung durchs Leben ging und nichts um sich herum mitbekam, oder ob sie sich einfach nur verstellte, weil das Leben so grausam war. Dass Jodie immer noch mit dem Verlust ihrer Eltern kämpfte, war kein Geheimnis, auch wenn sie so tat, als ginge es ihr gut. Mittlerweile hatte sich Jodie auch ihm gegenüber geöffnet. Und trotz ihrer unbeschwerten Art war sie immer auf der Hut gewesen. Selbst jetzt, als sie die einzelnen Schaufenster betrachtete und sich an seinen Arm klammerte.

Er lächelte. Seine Gefühle für Jodie waren echt und er hätte nie zu träumen gewagt, sich ausgerechnet bei der Arbeit zu verlieben. Neben den Glücksgefühlen hoffte er, dass sie sich weder auseinanderlebten noch zu oft aufeinander hockten und sich trennten. Privat als auch beruflich zusammen zu sein, konnte für viele Paare eine Zerreißprobe darstellen.

Jodie erblickte sein Gesicht im Schaufenster. „Was ist los?“

„Was meinst du?“, wollte der Agent wissen.

„Du schaust mich so komisch an“, entgegnete sie. Sie löste sich von ihm, drehte sich um und legte ihre Arme um seinen Hals.

„Mach dir keine Sorgen.“ Er fühlte sich zwar verfolgt, wusste aber nicht, ob tatsächlich jemand hinter ihnen her war oder ob alles nur Einbildung war. Seine Freundin wollte er auf keinen Fall beunruhigen. Es reichte bereits, wenn er auf der Hut war und auf sie Beide aufpasste. „Es ist alles in Ordnung. Du weißt doch, dass ich diese Zuschaustellung von Gefühlen nicht so mag.“

Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Tut mir leid, ich gelobe Besserung. Aber es wird dauern, bis ich es auch umsetze.“

Er nickte. „Dachte ich mir.“

„Shu-niiiiiiii“, hörte er die vertraute Stimme eines kleinen Mädchens. „Schau, da, da ist Shu-nii.“ Nun zeigte sie auf den Agenten.

Shuichi drehte sich in die Richtung des Störenfrieds um und musterte das Mädchen. Neben ihr stand ein Junge, der ein paar Jahre älter war. Auch wenn ihre letzte Begegnung Jahre her war, bekam er doch regelmäßig Post von seiner Familie und auch Bilder. Er hatte die Beiden sofort erkannt.

Shukichi stand neben Masumi. Er war eher unschlüssig, was er tun sollte, und hob zur Begrüßung lediglich die Hand.

Jodie beobachtete das Szenario und löste sich von ihrem Freund. „Kennst du die Beiden?“

„Meine jüngeren Geschwister“, entgegnete Akai ruhig.

„Was?“ Jodie sah zu den Beiden. Tag für Tag lernte sie neue Seiten an ihrem Partner kennen.

Masumi lief los und blieb vor ihm stehen. „Shu-nii! Du bist doch, Shu-nii?“

„Masumi!“ Shukichi lief ihr nach. „Du sollst doch nicht einfach so loslaufen.“

„Aber das ist Shu-nii. Wir haben ihn so lange nicht mehr gesehen. Und er lächelt“, platzte es aus ihr heraus. Sie starrte zwischen ihrem ältesten Bruder und Jodie hin und her. „Bist du Shu-nii’s Freundin?“, wollte sie mit einem verschmitzten Lächeln wissen.

Jodie wurde verlegen und nickte. Sie beugte sich nach unten. „Ich bin Jodie und du bist?“

„Masumi“, antwortete sie sofort. „Und das ist Shukichi.“

„Masumi!“, mahnte Shukichi seine Schwester erneut. „Du weißt doch, was Mama immer sagt.“

Das Mädchen blickte zu ihm. „Das ich nicht mit Fremden reden soll? Aber sie ist doch keine Fremde. Sie ist Shu-nii’s Freundin.“

Shukichi seufzte. Seine kleine Schwester war schon in jungen Jahr sehr begabt, alle um den kleinen Finger zu wickeln. Außerdem war sie nicht auf den Kopf gefallen. Sie konnte gut argumentieren und sogar mit Erwachsenen diskutieren. „Ich bin Shukichi.“

Freut mich“, lächelte Jodie. „Ich bin Jodie.“

„Ich wusste nicht, dass ihr in New York seid“, begann der Agent. „Ihr hättet anrufen sollen.“

„Du hättest ja doch nur versucht uns den Trip auszureden“, warf Shukichi ein. „Außerdem ist Mama auch hier. Sie ist im Hotel geblieben, während wir uns nur etwas die Gegend ansehen wollten. Sie wird Augen machen, wenn wir ihr erzählen, dass wir dich zufällig getroffen haben. Oder Masumi?“

„Jaaaaa. Mama wird sehr überrascht sein.“ Sie musterte ihren ältesten Bruder. „Mama möchte dich bestimmt sehen. Komm doch mit uns ins Hotel, dann überraschen wir sie.“

„Mhm…“

„Och bitte, Shu-nii. Wir sehen dich so selten und du hast dauernd Geheimnisse vor uns.“

„Das liegt an meiner Arbeit“, gab Shuichi von sich. „Ich darf euch nichts sagen.“

„Das mein ich nicht“, warf sie ein. „Wir wissen nichts über dich. Du erzählst nie etwas.“ Sie sah zu Jodie. „Und Jodie müssen wir auch mitnehmen. Sie muss Mama unbedingt kennenlernen.“

„Das halte ich für keine gute Idee“, sagte der Agent. Nicht, weil er nicht wollte, dass Jodie seine Familie kennenlernte, sondern weil seine Mutter dazu neigte, unangenehme Fragen zu stellen. Und davor wollte er Jodie bewahren. Sie sollte keine Fragen über Jodies Kindheit stellen oder über ihre Beziehung. Er sah zu seiner Freundin. „Wir sind noch nicht so lange zusammen und…meine Mutter kann sehr einschüchternd wirken. Sie…arbeitet für das MI6. Ein Treffen mit ihr wird nicht einfach werden“, flüsterte er ihr zu.

Masumi die die Ohren spitzte, lachte. „Mama ist doch gar nicht mehr so. Und wenn sie Fragen stellt, will sie doch nur jemanden näher kennenlernen.“

„So kann man das auch nennen…“, murmelte Akai. „Wenn du…meine Mutter kennenlernen willst, können wir sie treffen. Aber nicht im Hotel.“

Jodie lächelte. „Natürlich möchte ich deine Mutter kennenlernen.“

„Siehst du, Shu-nii? Deiner Freundin macht es nichts aus.“

Shuichi spielte mit, verdrehte aber die Augen. „Wir können heute Abend zusammen Essen. Ich kenne ein gutes Restaurant. Ich schick euch nachher die Adresse.“

„Au ja.“ Masumi sprang vor Freude nach oben. „Aber nicht wieder absagen, Shu-nii…“

Jodie kicherte. „Da kennt dich aber jemand gut.“

„Das macht er häufig“, stimmte Shukichi zu.

Shuichi schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Ich verspreche euch, dass ich nicht absagen werde.“ Er sah zu Jodie. „Wir sollten jetzt los.“

Jodie nickte.

„Was? Jetzt schon?“ Masumi sah ihn traurig an.

„Masumi, unser großer Bruder muss arbeiten“, entgegnete Shukichi. „Lassen wir ihn gehen. Wir sehen ihn ja wieder.“

Masumi nickte. „Ja, bis heute Abend, Shu-nii, Jodie…“

„Bis heute Abend“, sprach die Agentin und machte sich mit Shu auf den Weg. „Deine Schwester ist süß.“

„Mhm…“, brummte Akai. Insgeheim freute er sich aber, seine Familie wiederzusehen. Und es war ein guter Anfang, dass seine Geschwister Jodie mochten. Er hoffte, dass es mit seiner Mutter ebenfalls so lief.

„Sie nennt dich Shu-nii.“

„Tut sie…“

„Das ist niedlich.“

Akai verzog das Gesicht. Niedlich…Er war nicht niedlich.

„Ich werde dich jetzt aber nicht Shu-nii nennen. Das darf nur deine Schwester.“ Sie schmunzelte. „Aber ich könnte dich Shu nennen. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht.“

„Shu…“, murmelte der Agent. Dann nickte er. „Das ist in Ordnung.“

Jodie hackte sich wieder bei ihm ein und lächelte. „Ich freu mich schon, deine Mutter kennenzulernen, Shu.“

Tag 8

Es war kalt und dunkel. Ein typischer Tag im Dezember. Der Himmel war klar und jeder stellte sich auf Schnee ein. Laut Wettervorhersage konnte es sogar noch am heutigen Tag so weit sein. Shuichi hoffte allerdings, dass es dazu nicht kommen würde. Mit Schnee wäre das Chaos auf den Straßen vorprogrammiert und er wollte nicht mitten in der Nacht nach Hause fahren.

Aus dem Augenwinkel blickte er zu Jodie. Für eine Zeugenbefragung im Auftrag des FBIs musste sie nach Osaka reisen. Sie fuhr am frühen Morgen los, führte die Befragung durch und fuhr dann wieder zurück nach Tokyo. Da sie ununterbrochen auf den Beinen war und die Züge am späten Abend unregelmäßig fuhren, versprach er, sie vom Bahnhof abzuholen. Auch wenn er es nicht zugeben würde, er machte sich Sorgen. Sie kam in der Dunkelheit an und hätte mit den öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens 45 Minuten nach Hause gebraucht. Mit einem Taxi wäre es wesentlich kürzer, aber bei dem Gedanken an einem Fremden war ihm auch nicht wohl. Wenn er sie abholte, konnte er sicher gehen, dass ihr nichts passieren würde. Außerdem musste sie erschöpft sein, was darin gipfeln konnte, dass sie ihre Deckung fallen lassen und nicht mehr aufpassen würde. Sie zeigte bereits erste Anzeichen davon.

Obwohl sie immer gut gelaunt war – was teilweise auch zu ihrer Fassade gehörte – und selten den Mund hielt, war sie nun vergleichsweise sehr ruhig. Zu ruhig. Er hatte noch nicht gefragt, was sie bei ihrer Befragung alles erfuhr oder ob ihr irgendwas davon zusetzte. Vielleicht hatte sie irgendwas in Erfahrung gebracht, was zu schmerzhaft gewesen war. Vielleicht war es sogar etwas, das sie keiner anderen Person erzählen konnte. Vielleicht war es auch einfach nur langweilig und vergeudete Zeit.

Jodie kämpfte damit wach zu bleiben. Sie war müde und versuchte es zu kaschieren, in dem sie aus dem Fenster starrte. Allerdings hatte diese Monotonie eher das Gegenteil erreicht. Jodie unterdrückte ein Gähnen, nur damit sie es dann doch tat.

„Alles in Ordnung?“, durchbrach der Agent die Stille.

„Mhm?“, murmelte Jodie. „Geht schon.“

„Es dauert nicht mehr lange, dann sind wir bei dir zu Hause.“

„Ich weiß.“

Selbst wenn sie einschlafen würde, wäre es für den Agenten kein Problem. Selbstverständlich hätte er sie in ihre Wohnung getragen und ins Bett gebracht, auch wenn er dafür den Schlüssel in ihrer Handtasche suchen musste. Und Frauen waren, was die Handtasche anging, sehr penibel. Wer wusste schon, was er darin finden würde.

„Wie war deine Befragung?“, fragte Shuichi.

„Es ging…“, antwortete Jodie. „Ich habe wenig Informationen bekommen und musste mich im Zug in die ganzen Unterlagen einlesen. Der Zeuge war schwer aufzufinden. Eigentlich sollte er den ganzen Tag in seinem Hotelzimmer sein, aber…“ Sie seufzte. „Ich musste ihn suchen und dann wollte er nicht, dass wir alles in Ruhe besprechen. Also saßen wir in einem kleinen Café. Zuerst hat er um den heißen Brei geredet, dann hat er mir aber alles erzählt, was ich wussten musste. Hoffe ich zumindest.“

„Verstehe.“

„Im Zug zurück habe ich direkt meinen Bericht geschrieben. Solange alles noch frisch ist, vergesse ich wenigstens nichts. Und ich muss morgen nicht hetzen.“

„Gut.“ Er selbst mochte Berichte schreiben nicht. Er war jemand, der lieber zur Tat schritt oder auch recherchierte, selbst wenn es nur am Computer war. Aber alles zusammen schreiben… Er versuchte immer alles kurz und präzise zu machen, was seinen Vorgesetzten nicht gefiel. Diese wollten immer alles sehr ausführlich nachlesen können. Shuichi parkte den Wagen in der Nähe ihrer Wohnung. „Wir sind da.“ Er entfernte den Sicherheitsgurt und stieg aus.

Jodie tat es ihm gleich. „Danke. Du musst…mich nicht hochbringen. Ich schaff…das schon…“

„Mach dir darum keine Gedanken. So weit ist es nicht“, sprach er und ging los.

Jodie folgte ihm. Die Kälte führte dazu, dass sie sich wacher und wieder frischer fühlte. Jodie sah nach oben. Das Wetter hatte sich verändert. Es wurde kälter und die ersten Flocken kamen vom Himmel herunter. Jodie lächelte und hielt ihre Hand hoch. Die ersten Flocken berührten ihre Haut. „Schneeflocken“, sagte sie leise. „Ganz große Flocken.“

Shuichi beobachtete sie. Dann blickte auch er in den Himmel. Es fing an zu schneien. Er freute sich. Nicht.

Jodie zog ihre Hand wieder zu sich und sah auf diese. „Schau mal, wie groß die sind“, entgegnete sie, in der Hoffnung, dass er ein wenig lächelte.

„Mhm…“

„Ich habe schon lange keinen Schnee gesehen“, gab die Agentin von sich. „Das letzte Mal in Amerika. Wenn es so weiter geht, wird morgen alles weiß sein.“

„Möglich. Dann wird morgen früh das Verkehrschaos ausbrechen.“

„Ach Shu…“ Sie seufzte. „Sieh doch einfach mal das Positive.“

„Es ist halt Schnee.“

Jodie rollte mit den Augen. Sie hielt ihre Handflächen wieder auf und sammelte die Flocken. Es dauerte nicht lange, bis ihre Hände voller Schnee waren. Es war aber nicht so gut, dass sie einen Schneeball hätte formen können. „Kalt…“ Sie erschauderte.

Shuichi beobachtete sie weiter. Er musste lächeln und war froh, dass Jodie durch solche Kleinigkeiten ihre gute Laune wieder bekam und sich auch an solchen Dingen erfreuen konnte. „Du kannst dir den Schnee nachher von deiner Wohnung anschauen. Für eine Nacht im Schnee bist du zu dünn angezogen.“

„Mhm…“ Jetzt wo er es sagte, bemerkte Jodie es auch. Sie begann zu frösteln. „Ja, lass uns gehen.“

„Sag ich doch.“ Er schmunzelte und zog sich die Jacke aus. Dann legte er sie Jodie um die Schultern. „Besser?“

Jodie wurde rot. „J…ja…Danke…“ Sie schielte auf den Boden. „Und…was ist mit dir?“

„Mir ist nicht kalt“, log er und ging neben ihr weiter.

„Aber…“

„Es ist nicht so weit zu dir“, sagte er dann.

„Du wirst noch krank“, warf sie ein.

„Ich werde nicht krank.“ Auch wenn er eine Erkältung bekäme, er würde sie durchstehen. Doch das war in diesem Moment egal, solange es ihr gut ging. „Und jetzt komm. Wir sollten hier nicht nur rumstehen.“

Sie nickte und ging mit ihm weiter. Der Schnee setzte sich nun auch auf dem Boden fest. „Du kannst…auch bei mir übernachten. Ich lass dir ein warmes Bad ein und richte das Sofa her.“

„Okay.“ Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Aber das musste er auch nicht.

Jodie war überrascht, dass er zu sagte. Aber sie freute sich. Der Schnee hatte tatsächlich etwas Positives an sich.

Tag 9

Shuichi lief durch die dunklen Straßen. Es war schon lange nach Mitternacht, aber das störte ihn nicht. Manchmal mochte er die kühle Brise, das Dunkel und die Ruhe – außer er war natürlich in einem Viertel, in dem um diese Uhrzeit noch ordentlich etwas los war. Solche gab es auch in Japan, aber der Agent mied sie in der Regel.

Er blickte nach oben in den Sternenhimmel und ließ seine Hände in die Hosentaschen sinken. Seit jeher arbeitete er nachts, besonders dann, wenn er nicht schlafen konnte. Glücklicherweise war seine Arbeitszeit sehr stark von dem Fall abhängig, an dem er saß. Manchmal bearbeitete er sogar mehrere Fälle parallel oder unterstützte die Kollegen. Alleine deswegen war er häufiger nachts unterwegs und befragte mögliche Zeugen oder Informanten – meistens zwielichtiger Art.

Natürlich gab es auch noch die Organisation. Sie agierten zu jeder Tages- und Nachtzeit und deswegen war er auch immer auf der Hut. Man konnte nie wissen, wann sie wieder auf der Bildfläche erschienen und zuschlugen. Und solange sie es nicht taten, ging er seinen eigenen Recherchen nach. Ausschlafen oder länger als sechs Stunden zu schlafen, gehörte mittlerweile zum Luxus. Einen den er sich nicht leisten konnte und auch nicht wollte. Selbst dann nicht, wenn sie nicht wussten, wo er sich derzeit aufhielt.

Auch jetzt hieß es, beobachten und aufpassen. Er hatte damals wesentlich bessere Chancen, als er noch selbst Mitglied der Organisation war. Aber diese Zeit war vorbei. Einerseits war er froh, weil er nicht noch mehr grausame Taten begehen musste, andererseits waren sie viel schwerer ausfindig zu machen. Doch wenigstens wussten seine Kollegen nicht, was er alles tun musste, um das Vertrauen der Organisationsmitglieder zu gewinnen und um in ihren Reihen aufzusteigen. Besonders Jodie wollte er nicht seine Dämonen aufhalsen.

Ein kleiner Fehler hatte ihre gesamte Arbeit zunichte gemachte. Jetzt hatten sie nur noch Kir und Bourbon, die ihnen Informationen von Innen liefern konnten. Kir war allerdings ein Problem, da sie immer noch von einigen Mitgliedern sehr kritisch beäugt wurde. Allen voran Gin. Egal was die Frau auch machte, die Organisation zweifelte an ihrer Loyalität. Bourbon hingegen hasste ihn. Akai konnte es ihm nicht verübeln. Er konnte ihm aber auch nicht die Wahrheit über Scotch sagen. Wie auch. Der junge Mann war Bourbons bester Freund. Sie kannten sich seit Kindestagen und er hatte sich das Leben genommen, weil er vor der Organisation aufflog. Akai hatte versucht ihn vom Gegenteil zu überzeugen, allerdings hatte es nichts gebracht. Und so hatte der Agent unverschuldet die Situation zu seinen Gunsten gedreht. Jeder nahm an, dass er Scotch als Verräter identifiziert und erledigt hatte. Bourbon verabscheute ihn dafür, auch wenn sie auf der gleichen Seite standen. Wenigstens hatte Bourbon seinen Hass unter Kontrolle und war bereit, mit ihnen zusammen zu arbeiten.

Shuichi seufzte leise. In Gedanken hatte er gar nicht bemerkt, dass er bereits am Friedhof war. Früher war er öfters hergekommen und hatte Akemi besucht. Dann änderte sich die Frequenz und er kam nur noch selten her, irgendwann gar nicht mehr. Scotch hingegen – Hiromitsu Morofushi – hatte er noch nie besucht. Nach dessen Tod hatte Shuichi seine Identität schnell herausgefunden, sie aber auch vor der Organisation verschleiert, genauso wie Bourbon. Selbstverständlich wusste er auch, wo sich das Grab des jungen Mannes befand.

Schon bald stand Shuichi vor dem Grabstein und blickte drauf. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Er wusste nicht einmal, warum er überhaupt da war. Das Licht einiger Kerzen schimmerte schwach. Er wünschte sich, dass er den jungen Mann hätte retten können. Vielleicht wäre dann vieles anders gelaufen. Aber die Vergangenheit konnte keiner ändern.

Ein Ast knarzte. Sofort sah sich der Agent um und umklammerte die Waffe in seiner Jackentasche.

„Ich bins…“

Shu blickte zur Silhouette.

„Jodie“, fügte sie hinzu.

Akai verengte die Augen. Es war unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich hier war, also konnte es sich nur um Vermouth handeln. „Was machst du hier?“ Er würde mitspielen, solange bis sich die Schauspielerin sicher fühlte.

Jodie seufzte. „Was ich hier mache? Was machst du hier? Es ist mitten in der Nacht. Du rufst mich an und sagst dann nichts. Und dann reagierst du nicht auf meine Rückrufe. Ich dachte, es sei etwas passiert und du brauchst Hilfe.“

Shuichi zog sein Handy raus. Tatsächlich hatte er mehrere Anrufe auf dem Handy. Er musste irgendwann versehentlich ihre Nummer gewählt haben. Sie gehörte zu den wenigen Person, die er zur Schnellwahl hinzugefügt hatte. Und weil sein Handy auf lautlos gestellt war, hatte er nichts mitbekommen. „Verstehe. Wie hast du mich gefunden?“

„Wir können uns doch über das GPS des Handys tracken. Also habe ich das gemacht und bin hergefahren. Ich bin froh, dass es dir gut geht.“

„Ich wollte dir keine Sorgen machen.“ Er ging zu ihr.

„Shu…was…hast du vor?“ Jodie war irritiert.

Dann legte er seine Hand an ihre Wange und prüfte die Echtheit ihres Gesichts. Es war keine Maske. „Gut, du bist die echte Jodie.“

Jodie schluckte. „Du hast geglaubt…“

„Ich musste es ausschließen“, entgegnete der Agent ruhig.

Jodie blickte zum Grabstein. Zu dieser späten Zeit konnte man kaum etwas erkennen. Aber sie wusste, dass nicht Akemi hier lag. „Wer ist das?“

„Scotch“, antwortete Shuichi. „Wir haben fast zeitgleich bei der Organisation angefangen und…wir hatten einige Aufträge zusammen. Außerdem war er wie ich ein Spion. Er hat für die Sicherheitspolizei gearbeitet. Als…seine Identität aufflog, hat er sich umgebracht. Ich konnte ihn nicht davon abhalten und…“

„Oh Shu…“, murmelte Jodie.

„…und ich habe mir seinen Tod zu Nutze gemacht. Sie haben gedacht, dass ich ihn entlarvt und umgebracht hätte. Ich habe es nie abgestritten und bin weiter aufgestiegen.“

„Das tut mir so leid“, wisperte Jodie. „Du hast alles in deiner Machtstehende getan, um ihm zu helfen. Das weiß ich…auch wenn ich nicht dabei war.“

Shu nickte. „Wenigstens konnten sie seine Identität nie herausfinden. So ist seine Familie in Sicherheit und…Bourbon hat einen guten Stand in der Organisation.“

„Hasst er dich…deshalb?“, wollte Jodie wissen. Natürlich hatte sie bemerkt, dass mehr dahintersteckte als eine Fehde zwischen der Sicherheitspolizei und dem FBI.

„Ja, aber das ist in Ordnung. Solange er sich auf unsere Arbeit konzentriert, soll es mir recht sein. Er ist ein fähiger Mann und mit seinem Potential können wir die Organisation zerschlagen.“

„Okay…“

„Lass uns gehen. Ich bring dich nach Hause.“

„Ich bin mit dem Wagen hier“, sprach die Agentin. „Ich denke, ich bringe dich nach Hause.“

Tag 10

Jodie wusste, dass es falsch war. Dass sie sich nicht von ihren Gefühlen und Emotionen leiten lassen sollte. Dass sie ruhig bleiben musste. Allerdings hatte sie sich entschieden und sie strebte keinen Rückzug an. Außer irgendjemand durchkreuzte ihre Pläne. Ein Teil von ihr hoffte sogar darauf. Vermutlich wäre es auch schlauer gewesen, ihre Kollegen in ihren Plan einzuweihen. Allerdings hätte sie sich dann wahrscheinlich von ihrem Plan abbringen lassen. Wobei sie in Wahrheit keinen Plan hatte. Sie hatte eine Idee und das wars auch schon. Ein Plan klang danach, als hätte sie alles unter Kontrolle. Allerdings hatte sie sich am Ende für ein Handeln entschieden und nicht für das Nachdenken.

Vermouth wusste genau, welche Knöpfe sie bei Jodie drücken musste, was sie tun oder sagen musste. Die Frau war ein Monster und scharfsinnig. Sie machte nichts ohne einen Hintergrundgedanken und sie hatte keine Skrupel. Nicht einmal dann, wenn es sich um ein kleines Kind handelte. Immer wenn sie auftauchte, hatte Jodie das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Sie hasste die Frau, sie wollte sie unbedingt zur Strecke bringen. Aber immer, wenn sie ihr näherkamen, tauchte sie wieder unter. Sie hatte ein Gespür dafür, wann der richtige Moment war, zu verschwinden. Aber jetzt hatte Jodie das Gefühl, dass sie endlich am längeren Hebel saß.

Die beiden Frauen waren einander zufällig begegnet. Und als Jodie die Schauspielerin erblickte, versteckte sie sich unverzüglich in einer Gasse. Es war der Agentin zwar komisch vorgekommen, dass Vermouth am helllichten Tage einfach so auf der Straße herumlief und sie sogar zu ihrem Hotel führte. Doch schließlich hatte Jodie die Vernunft abgeschaltet und sich vor dem Hotel positioniert. Sie beobachtete das Grundstück, die Menschen, die ein- und ausgingen, sogar das Personal. Über mehrere Tage hatte sich Jodie auf die Lauer gelegt und den Tagesablauf der Schauspielerin studiert. Unter der Woche verließ diese das Hotelzimmer zwischen sieben und acht Uhr, gönnte sich ein üppiges Frühstück und entfernte sich vom Hotel. Erst am Abend zwischen achtzehn und neunzehn Uhr kam sie wieder zurück. In der Zwischenzeit blieb ihr Zimmer unberührt. Nur das Zimmermädchen kam und kümmerte sich um ein ordentliches Zimmer. Außer es hing das „Bitte nicht stören“-Schild an der Türklinke.

Jodie saß in ihrem Wagen. Sie atmete tief durch, dann zog sie einen Handspiegel aus ihrer Tasche und überprüfte den richtigen Sitz ihrer Perücke. Sie hatte sich für schwarzes, langes Haar entschieden, um so ihre Identität zu verschleiern. Um ihre Tarnung abzuschließen, setzte sie sich eine schwarze Sonnenbrille auf und betrat das Hotel. Jodie versuchte so zu tun, als wäre sie eine bekannte Persönlichkeit und schon lange in dem Hotel hausen. Außerdem hoffte sie, dass ihr niemand von der Organisation in die Arme lief oder noch schlimmer, sie erkannte. Jodie fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben zum Zimmer und ging zu diesem. Sie öffnete ihre Handtasche und kramte darin herum. „Oh no.“ Sie seufzte. Jodie drehte sich um und erblickte überrascht ein Zimmermädchen. „Sorry?“

Die Frau sah sie an.

„Ich habe mich ausgesperrt. Könnten Sie mir bitte die Tür aufmachen?“, sprach sie mit starkem Akzent.

„Natürlich“, nickte die junge Frau. Sie holte ihre Schlüsselkarte hervor und schob diese in den Schlitz an der Tür. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Nein, Danke. Sie haben mir sehr geholfen“, entgegnete Jodie und ging in das Zimmer. Sie zog sich Handschuhe über, schloss die Tür und atmete tief durch. Die erste Hürde hatte sie bereits gemeistert. Jodie war alleine und schaute sich im Zimmer um. Sie suchte nach Indizien und Beweisen. Und auch wenn die Schauspielerin erst am Abend wiederkam, tat Jodie alles, um schnell zu sein. Aber an jenem Tag war alles anders. Chris kam früher zurück. Jodie hörte ihre Stimme an der Tür und suchte Zuflucht hinter dem Sofa. Ihr Herz raste und ihre Gedanken überschlugen sich.

Chris steckte das Handy in ihre Handtasche und öffnete die Zimmertür. Sie legte ihre Handtasche auf die Kommode und schlüpfte aus ihren Schuhen. „Was für ein Tag“, murmelte sie und setzte sich auf das Sofa. Sie zog einen Laptop aus ihrer Handtasche und startete diesen an. Anschließend gab sie ein Passwort ein, beantwortete einige Mails und gähnte. Jodie – die immer noch hinter dem Sofa kauerte - bemerkte sie nicht. Irgendwann stand Chris auf und ging ins Badezimmer.

Jodie wollte die Gunst der Stunde nutzen, und aus dem Zimmer entkommen. Die Gefahr nun entdeckt zu werden, war zu groß und sie konnte eine direkte Konfrontation nicht riskieren. Aber dann hörte sie das Wasser im Badezimmer. Die Dusche wurde angestellt. Die Agentin biss sich auf die Unterlippe und kehrte zum Sofa zurück. Sie tippte auf dem Laptop und rief sämtliche Dateien auf. Jodie hatte immer einen USB-Stick an ihrem Schlüsselbund. Sie steckte diesen in den Slot am Rechner und übertrug alle Dateien darauf.

Komm schon…, sagte sie zu sich selbst. Wie gebannt starrte sie auf den Ladebalken.

20%.

Das Wasser im Badezimmer lief weiter.

35%.

Jodie blickte zur Badezimmertür. Es hatte sich noch immer nichts verändert.

58%.

Die Agentin tippte mit dem Bein auf dem Boden. Sie wurde nervös.

74%.

Komm schon…jetzt mach…

89%.

Das Wasser wurde abgestellt.

Jodie schluckte.

95%.

Verdammt.

Sie schwitzte.

100%.

Sofort entfernte Jodie den USB-Stick und floh zur Tür. Bevor sie allerdings nach draußen trat, sah sie sich im Zimmer um. Sie musste sich vergewissern, dass sie nichts vergessen hatte, das auf ihre Anwesenheit schließen ließ. Sie hatte nichts verstellt und da sie Handschuhe trug, konnte ihr nichts nachgewiesen werden.

Die Türklinke des Badezimmers wurde heruntergedrückt und die Agentin verschwand in jenem Augenblick aus dem Zimmer. Sie hatte die Tür leise hinter sich geschlossen. Jodie atmete ein weiteres Mal tief durch. Es hatte funktioniert. Schnell lief sie den Gang entlang und stolperte beinahe die Treppe herunter. Ihr Herz schlug schneller. Aber nun hatte sie Beweise gegen die Schauspielerin in der Hand. Sie musste sie nur sichten und nutzen.

Chris kam aus dem Badezimmer. Sie ging zum Sofa und setzte sich. Anschließend öffnete sie ein Programm und ein Bild des Zimmers erschien. Sie spulte die Aufnahme zurück und beobachtete Jodie. Natürlich hatte sie gewusst, dass die Agentin immer in der Nähe war und sich ihren Tagesablauf eingeprägt hatte. Sie hatte es sogar für sich genutzt, um ihr falsche Informationen zu liefern. Und würde Jodie den USB-Stick an ihren Computer oder dem Computer eines Kollegen anschließen, würde ein Virus den FBI-Server befallen. Sie lächelte. „Dann mal viel Spaß mit meiner kleinen Überraschung.“

Tag 11

Eigentlich hatte sich Jodie über das Event gefreut. Speed-Dating. Etwas, das es auch in Amerika gab und dort oft veranstaltet wurde. Mittlerweile wurde es sogar groß aufgezogen und man konnte sich die Veranstalter nahezu selbst aussuchen. Doch trotzdem musste man aufpassen, wer seriös war und wer es eben nicht war. Sie hatte in ihrer Jugend zusammen mit Freundinnen öfters an solchen Veranstaltungen teilgenommen. Nicht, dass sie Probleme damit hatte Menschen kennen zu lernen, sondern eher, weil es Spaß machte und man auch neue Erfahrungen machte. Und dadurch wusste sie, worauf es ankam und was zu beachten war. Bislang hatte sie aber nicht allzu großes Glück gehabt. Zwar hatte sie auch einige Männer kennenlernte, allerdings hatte es für keine Beziehung gereicht. Maximal ein Kuss war drinnen, mehr aber auch nicht. Es fehlte immer das gewisse Etwas. Außerdem hatte Jodie von Anfang an geplant, zum FBI zu gehen. Da passte eine Beziehung nicht. Und es gab leider einige Männer, die ihr Vorhaben beschmunzelten. Damit hatten sie sich selbst disqualifiziert. So schnell ging es. Ein Wort, ein Satz, eine Geste. Alles konnte dazu führen, dass der Abend kippte. Aber wenigstens wusste man dadurch, was man nicht wollte.

Nun war eine Freundin von Jodie in Tokyo. Sie wollte ein Speed-Dating Event aufziehen, welches ähnlich wie in Amerika ablief. Während der gesamten Veranstaltung sollten sich die männlichen und die weiblichen Singles nacheinander kennenlernen. Zuerst dachten sie an 20 Minuten, dann an 5 Minuten und zum Schluss einigten sie sich auf 10 Minuten. In diesem Zeitrahmen würden die Singles genügend Zeit haben, gemeinsame Interessen und Hobbies auszutauschen oder sogar ihre Wünsche für die Zukunft zu kommunizieren. Vielen Menschen reichte dieses kleine Zeitfenster aus, um zu entscheiden, ob sie sich ein weiteres Mal treffen wollten. Außerdem würde keine peinliche Stille entstehen, wenn man sich nichts mehr zu sagen hatte. Nach Ablauf der Zeit würde ein Gong ertönen oder sie als Veranstalter würden den anderen das Zeichen geben, dass nun ein Partnerwechsel stattfand. Es wechselte immer nur ein Geschlecht seinen Platz, bis alle einmal miteinander gesprochen hatten. Danach gab es einen Zettel und man konnte angaben, von welcher Person man die Kontaktdaten haben wollte. Während der Auswertung konnte man bei Musik und einem Buffet den Abend ausklingen lassen. In der Zeit konnte man mit jeder Person sprechen, die teilgenommen hat. Nachdem die Auswertung vollzogen wurde, bekam jeder Teilnehmer eine Nachricht übermittelt. Manchmal konnte es frustrierend sein, wenn ein Teilnehmer leer ausging. Aber auch das gehörte dazu. Oft klappte es nicht beim ersten Mal.

Jodie freute sich schon seit Tagen auf das Event. Selbstverständlich hatte sie bei der Koordination und vielen anderen Sachen geholfen. Es war auch zu ihrem Event geworden. Doch ihre Erwartung an viele Anmeldungen und einem möglichen, zweiten Event, wurde sehr schnell geschmälert. Die Japaner sprangen nicht so gut darauf an, wie gehofft.

Sie hatten zahlreich die Werbetrommel gedreht, mehrfach darauf hingewiesen, dass es auch Sicherheitspersonal gab und dass nichts verbindlich gewesen wäre. Doch es nutzte nichts. Schließlich hatte Jodie sogar die Anmeldebögen an ihre Kollegen verteilt und das Event angepriesen. Selbst vor der Schule und ihren ehemaligen Kollegen hatte sie kein Halt gemacht. Aber auch dort wurde sie nur belächelt und man wünschte ihr Glück. Lediglich Camel hatte sich bereit erklärt, am Event teilzunehmen. Jodie war ihm furchtbar dankbar und hoffte, dass er eine nette Frau kennenlernte.

Sie hatten eine Bar gemietet und dort die Tische in zwei Reihen aufgestellt, damit der Wechsel einfacher war. Außerdem standen Gläser sowie Wasserflaschen zur freien Verfügung auf den Tischen. Sie waren mittlerweile 15 Männer und 14 Frauen, wobei Jodie hoffte, dass im letzten Augenblick noch jemand zusagte. Sollte dies nicht der Fall sein, musste sie selbst einspringen.

Eigentlich wollte sie nicht, aber ihre Freundin schlug sie mit ihren eigenen Waffen. Wie konnte sie Teilnehmer werben, wenn sie eine Teilnahme selbst verweigerte? Und seitdem war Jodie immer nervöser, je näher das Event rückte.

„Es geht los.“ Anna stieß sie an und lächelte. „Du wirst deinen Spaß haben.“

„Es hat sich also keine Frau in letzter Minute angemeldet…“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Naja…wird schon schief gehen.“ Sie sah sich im Raum um und atmete tief durch.

„Das ist eine gute Einstellung.“ Anna ging zur Eingangstür und öffnete diese. Sie ließ die Männer und Frauen hinein, wies jedem eine Nummer zu und führte sie zu ihren Tischen. Auch Jodie setzte sich. Nur der letzte Teilnehmer verspätete sich.

Danach erklärte Anna allen Teilnehmern den Ablauf des Abends und moderierte jeden Wechsel. Es funktionierte sogar gut. Immer mal wieder lugte Jodie zu den anderen Tischen hinüber und freute sich, dass es auch bei den anderen Personen gut lief.

Die Auswahl an Kandidaten war verschieden. Es gab Frauen, die sehr gesprächig waren, dann wieder ruhigere Frauen, aber auch bei den Männern war alles dabei. Jemanden, der viel über sich redete und jemanden der kaum etwas sagte. Jodie ließ der Gedanke nicht los, dass es sich bei diesem Mann um Camel handelte. Er war schüchtern und redete wenig. Andererseits schätzte sie ihn nicht so ein, dass er am Tisch saß und gar nichts sagte. Viel eher würde er stammeln, wenn er nervös wurde oder das Gespräch in eine falsche Richtung verlief. Aber es gab auch eine Person, die einfach nur ihre Zeit absaß und gar nicht kommunizierte. Auch das war nicht verboten, hatte aber nichts mit dem Sinn und Zweck der Veranstaltung zu tun.

Anna kam zu Jodie. „Du bist gleich die, mit dem stillen Typen“, sprach sie. Einige Frauen hatten sich bereits beschwert. Sie schienen verärgert sein und Jodie konnte es ihnen nicht verübeln. Es war beinahe so, als wollte er die Veranstaltung verhöhnen. Jodie würde ihm gleich auf den Zahn fühlen und bitten, etwas höflicher zu sein, immerhin hatte auch er den Teilnehmerbeitrag bezahlt.

„Alles klar, danke“, wisperte Jodie. Dann wandte sie sich ihrem Gesprächspartner zu. „Bitte entschuldige.“

Er lächelte. „Ist schon in Ordnung.“

Anna ging in die Mitte und schlug auf den kleinen Gong. „Meine Herren, es ist wieder so weit. Bitte rücken Sie einen Platz weiter.“

Jodie nahm einen Schluck Wasser. Sie wappnete sich auf alles, aber nichts hatte sie darauf vorbereitet. Der Mann nahm ihr gegenüber Platz. „Shu?“

„Du brauchtest noch Teilnehmer“, entgegnete der Agent.

„Danke“, fing sie an. „Aber du musst die Sache schon ernst nehmen. Es gibt hier ein paar Frauen, die deine schweigsame Art nicht so toll finden.“

„Mhm…“, gab er von sich. „Würden die Frauen nicht immer nur über sich reden, hätte ich auch was von mir erzählt.“

Jodie sah ihn irritiert an. „Das sagst du doch nur so.“

„Das werden wir wohl nicht herausfinden.“ Er schmunzelte. „Sieh es positiv. Mit dir rede ich mehr als mit den anderen.“

Sie schmunzelte. „Dann erzähl mir doch mal was über dich.“

Tag 12

Jodie fühlte sich nutzlos. Manchmal mehr. Manchmal weniger. Heute war ein Tag, wo es mehr gewesen war. Sie konnte nicht mehr sagen, wann sie anfing, sich so zu fühlen. Es kam schleichend. Schritt für Schritt. Ein Fall nach dem anderen, aber es reichte, damit sie sich unnütz fühlte. Viele ihrer Kollegen hatten sich auf bestimmte Fachgebiete spezialisiert oder besaßen anderweitige Fähigkeiten. Shu war ein guter Schütze. Und was für einer. Einen fähigeren Scharfschützen gab es nicht. Keiner kam an ihn heran. Aber er hatte auch viel trainiert und sich als Scharfschütze spezialisiert. Camel war ein guter Autofahrer, der auch in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf bewahren konnte. Dann hatten sie Kollegen, die Sprachen gut konnten, Mathematik studierten und entsprechend mit Zahlen umgehen konnten, und jetzt wurde ihnen noch ein Phonetiker zur Seite gestellt. Jodie fand seine Arbeit faszinierend. Während sie sich alle auf Indizien stützten, recherchierten und beobachteten, kümmerte sich ein Phonetiker um die Sprache. Er hörte zu, aber anders als andere. Er erkannte an der Stimmlage, manchmal sogar an den Worten, die genutzt wurden, ob jemand log oder ob irgendwas anderes nicht stimmte. Durch die Lautwahrnehmung konnten sie manchmal viel mehr in Erfahrung bringen als durch reine Beobachtung.

Jodie beneidete den Kollegen nahezu, schließlich konnte er so viel zu der Ermittlung beitragen. So wie die anderen auch. Aber was war mit ihr? Was konnte sie gut? Sie war nicht schlecht im Umgang mit der Waffe – in Videospielen sogar noch besser, im Vergleich zu den anderen Kollegen, war sie aber nur Mittelmaß. Beim Fahren sah es ähnlich aus, Deduktion und Recherche konnte sie auch nicht als exzellente Fähigkeiten auslegen. Das gehörte quasi zu den Einstellungskriterien.

Mittlerweile gab es sogar Zeiten an denen sich Jodie wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Sie hatte nichts vorzuweisen, wurde aber dennoch zu den Einsätzen dazu geholt. Hin und wieder durfte sie auch nur Kleinigkeiten machen, wie Kollegen betreuen, Zeugen befragen oder der Gruppe Zusammenfassungen geben. Vermutlich wirkte sich ihre Empfindung auch auf die Arbeit aus. Ihr fehlte schon lange der Elan. Aber nicht nur das, sie hatte auch Probleme mit den kleinsten Rätseln oder den ironischen Kommentaren ihrer Kollegen. Es gab Tage, an denen sie glaubte, nichts zu verstehen. Sie war sauer. Sauer auf sich selbst. Frustriert suchte Jodie Möglichkeiten sich zu verbessern. Die Auswirkungen auf die Arbeit wären groß, denn sie wäre den anderen eine viel bessere Hilfe. Aber irgendwie funktionierte es nicht. Es wäre einfacher gewesen, sich in der Anfangszeit zu spezialisieren. Damals steckte so viel Potential in ihr, doch nun musste sie ihr Augenmerk auf die Sache mit der Organisation legen. Was konnte sie tun, was ihnen bei diesem Auftrag behilflich war?

Die Agentin biss sich auf die Unterlippe. Sie saß in einem Café, schlürfte an ihrem Kaffee und aß Kuchen. Dabei betrachtete sie die Einträge auf ihrem Computer. Sie recherchierte und recherchierte, sie wollte ihre Möglichkeiten erforschen. Weiterbildungen, Schulungen, irgendwas, nur um den anderen kein Klotz am Bein zu sein. Sie würde sogar eine weitere Sprache lernen, wenn es sein musste. Unglücklicherweise gab es nichts, was zu passen schien. Oder aber die Starttermine waren bereits verstrichen und weitere lagen zu weit in der Zukunft.

Jodie seufzte leise auf. „Oh man…“

„Was ist?“

Jodie blinzelte. Sie sah irritiert zu ihrem Kollegen. „Shu? Was machst du denn hier? Wie lange bist du schon hier?“

„Eine Weile. Du solltest aufpassen. Wenn du so in Gedanken vertieft bist, könnte dir irgendwas Wichtiges entgehen“, antwortete er. „Du hast vorhin bei der Nachbesprechung sehr bedrückt ausgesehen. Ich wusste, dass ich dich hier finde, weil du immer herkommst, wenn du frustriert bist.“

„Bin ich so durchschaubar?“, wollte Jodie wissen.

„Das wollte ich damit nicht sagen“, entgegnete er. „Du hast allerdings gewisse Marotten.“

„Mhm…verstehe…“

„Geht’s dir gut?“

„Klar“, sagte Jodie. „Was sollte sein? Wir haben den Fall mit positivem Ausgang beendet. Mehr will ich nicht.“

„Und trotzdem bist du frustriert.“ Shuichi beobachtete sie.

Jodie seufzte abermals auf. Er kannte sie nicht nur gut, er konnte sie auch lesen als wäre sie ein offenes Buch. „Eigentlich ist es nichts…“

„Komm, Jodie, verschweig mir nichts. Ich sehe dir an, dass dir irgendwas auf dem Herzen liegt. Du solltest das nicht in dich hineinfressen, ansonsten hat es Auswirkungen auf deine Arbeit.“

„Du kennst mich zu gut…“, murmelte Jodie. „Ach weißt du, der Phonetiker, der uns geholfen hat, hat was in mir ausgelöst. Mir ist aufgefallen, dass ihr alle irgendwas besonders gut könnt. Du bist ein toller Scharfschütze und hast Fahrkünste, von denen sich andere Agenten eine Scheibe abschneiden wollen. Camels Fähigkeiten liegen ebenfalls beim Fahren. Und dann noch die ganzen anderen Agenten, manche sind Zahlenkünstler, andere haben ein fotografisches Gedächtnis und und und… Ihr alle könnt etwas so gut. Und ich…ich bin eher nur Mittelmaß. Ich kann ein paar Sachen bisschen. Nichts, worauf ich mich spezialisiert hab oder womit ich euch besser helfen kann. Ich habe es schon früher bemerkt, aber es hat mich nicht so sehr gestört. Aber jetzt…“

Akai sah sie erstaunt an. Dann lacht er.

„Shu! Das ist nicht lustig“, sagte sie. „Nicht lustig.“

„Entschuldige“, gab er von sich. „Aber das, was du gerade erzählst, ist der totale Schwachsinn. Wir können nur etwas, weil wir viel Zeit in unser Training investiert haben. Aber wir können nicht alles. Es gibt Dinge, in denen selbst ich nicht gut bin. Und du solltest nicht vergessen, dass auch du einige Dinge gut kannst. Du hast nicht nur eine Zeitlang verdeckt ermittelt, sondern dich auch sehr einfühlsam gezeigt. Du weißt, wie man mit Menschen umgeht und die Menschen mögen dich. Das darfst du nicht außer Acht lassen.“

„Du führst Dinge auf, die andere auch können. Und Empathie ist jetzt keine herausregende Fähigkeit…“

„Schießen und Fahren können auch viele Agenten“, konterte er. „Hör auf, dir zu viele Gedanken zu machen. Das bringt nichts, du kommst damit nur in einen Teufelskreis. Außerdem…“

„Außerdem?“, wollte Jodie wissen.

„Außerdem bist du als Mensch einzigartig, Jodie.“

Sie errötete. „Shu…ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll…“, murmelte die Agentin leise.

„Du musst gar nichts sagen, sondern aufhören, dir zu viele Gedanken zu machen.“

„Okay…ich gebe mir Mühe dabei.“

„Das wollte ich hören“, sprach er. „Ansonsten erinnre ich dich wieder daran.“

Tag 13

Jodie brauchte endlich eine Pause. Nicht nur zehn Minuten, auch keine 30 Minuten, sondern mehrere Stunden. Vielleicht sogar einen Tag…oder zumindest einen halben Tag. Denn ihr war klar, dass sie dieses Pensum nicht allzu lange aushalten konnte. Natürlich wusste sie, dass ihr als FBI Agentin viel abverlangt wurde und hin und wieder auch pausenlos gearbeitet werden musste. Das war auch in Ordnung, doch seit mehr als einer Woche war an eine Pause kaum zu denken. Seit Tagen sprang sie von einer Aufgabe zur nächsten, erledigte Sachen – außer alltägliche Sachen. Ihre Wohnung hatte sie schon nur zum Wechseln der Kleider oder Duschen aufgesucht. Nicht einmal eingekauft hatte sie. Doch mittlerweile fühlte sie sich gerädert und ihre Reaktionsfähigkeit war gesunken. Sie konnte zwar noch handeln, aber nicht mehr so gut wie früher. Schlafen tat sie immer nur kurz, manchmal zwei oder drei Stunden, vielleicht auch eine kurze Ruhepause von 30 Minuten.

Trotzdem hatte sich Jodie irgendwie auf den Beinen gehalten.

Mit schnellen Schritten ging sie durch die Tiefgarage. Sie versuchte sich mit dem Ort vertraut zu machen, aber mittlerweile hätte sie nicht mehr sagen können, wie viele Autos in der Garage parkten oder welche Farbe sie hatten. Jodie seufzte leise auf und öffnete die Wagentür. Sie stieg ein und stellte ihre Handtasche auf den Beifahrersitz. Dann lehnte sie sich nach hinten und schloss ihre Augen. Für einen kurzen Augenblick erlaubte sie sich Ruhe. Ein paar Sekunden, in denen sie nicht an die Arbeit dachte und sie einen Moment für sich selbst hatte. Automatisch legte Jodie den Sicherheitsgurt an und startete den Motor. Dann öffnete sie wieder ihre Augen, um loszufahren. Sie blickte in den Rückspiegel und erstarrte. Die Gestalt hinter ihr lächelte.

Es waren wenige Sekunden vergangen, doch Jodie spürte bereits die Waffe an ihrer Schläfe. Sie war zu langsam, hatte nicht reagiert und jetzt würde sie für den Fehler bezahlen. Eine Schweißperle rann ihr über die Stirn. Hätte sie bloß den Wagen kontrolliert, aber sie hatte nicht daran gedacht.

Jodie hoffte, dass Shu ihr langes Fernbleiben bemerken und sie retten würde. Aber ihr lief die Zeit davon und wenn die Organisation ernst machte, würde sie den Abend nicht überleben. „Was…“ Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Stimme versagte. „…willst du?“

Vermouth lächelte. „Du wirst mir sicher nicht glauben, wenn ich dir sage, dass ich einfach nur Hallo sagen wollte. Ich hab dich gesehen und hier bin ich.“ Sie hatte nicht einmal eine Maske auf.

„Warum sollte ich dir glauben?“, entgegnete Jodie. „Du tust nichts ohne Grund.“ Jodie wusste, dass es nie gut war, einen Täter zu provozieren. Aber bei Vermouth sah die Sache ganz anders aus. Vermouth provozierte sie bereits mit ihrer Anwesenheit und Jodie fiel es schwer, klar zu denken, wenn sie in einem Raum mit der Frau war.

„Dabei ist es dieses Mal sogar die Wahrheit. Ich hab dich gesehen und mir gedacht: Frag sie doch, wo sie ihr Halstuch herhat.“

Jodie fasste sich an das Tuch. „Wieso…wieso willst du es haben?“ Eigentlich kannte sie die Antwort bereits.

Nun grinste die Schauspielerin. „Kannst du dir das nicht denken? Ich möchte natürlich in meiner besten Rolle aufgehen und dazu fehlt mir nur noch das perfekte Outfit.“

Jodie schluckte. Vermouth wollte sie wieder imitieren.

„Sag mal, was glaubst du, wie oft durfte ich bereits darin brillieren?“

Die Agentin antwortete nicht.

„Nanu? Hat es dir etwa die Sprache verschlagen? Oder hast du Angst, dass es häufiger war, als du glaubst?“ Vermouth legte den Kopf etwas schief. „Es ist tatsächlich öfters als du denkst.“

„Warum erzählst du mir das?“, wollte Jodie wissen.

„Mir war langweilig“, gab sie von sich. Vermouth beobachtete sie. „Weißt du was? Ich hab eine lustige Idee. Denkst du, es ist möglich, dass ich auch Akai täuschen kann?“

Jodie versuchte sich keine Regung ansehen zu lassen. „Versuchs doch“, sagte sie, denn ihr war klar, dass er die beiden Frauen unterscheiden würde. Er hatte es beim letzten Mal auch geschafft.

„Mhm…wenn du dir so sicher bist, sollten wir den Einsatz erhöhen. Glaubst du, ich könnte ihn verführen, während ich so tue, als wäre ich du?“

Jodie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Sie war geschockt und angewidert. Sie konnte nicht mehr klar denken und wusste keine passende Erwiderung.

Mit einem Mal gab es einen Tumult. Automatisch drehte Jodie den Kopf dorthin und sah aus dem Fenster, fast so, als könne sie irgendwas sehen. Bei dem lauten Geräusch in ihrem Wagen zuckte sie zusammen. Sie sah wieder in den Rückspiegel und Vermouth war weg. Die Tür des Hintersitzes stand offen. Sofort zog die Agentin die Waffe aus ihrer Handtasche und stieg aus. Sie ging einmal um den Wagen und vergewisserte sich, dass niemand von der Organisation in der Nähe war. Dann stieg sie wieder ein und schloss die Tür.

Jodie starrte ein weiteres Mal in den Rückspiegel. Sie sah sich zweimal. Panik überkam sie, obwohl sie wusste, dass sich die Schauspielerin nicht so schnell verkleidet haben konnte. Trotzdem drehte sie sich sofort nach hinten um und sah nichts. Die Agentin atmete tief durch und lehnte sich gegen den Sitz. Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Atmung wieder zu kontrollieren. Die Vorstellung wie sich Vermouth an Shu ranmachte, behagte ihr nicht – vor allem, wenn sie sich als Jodie ausgab. Sie kämpfte gegen die Übelkeit.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Jodie öffnete die Augen und zog das Handy aus der Tasche. Sie nahm den Anruf entgegen. „Ja…Jodie…hier…“

„Wo bist du?“

Sie schluckte. „Tschuldige, ich bin…noch in der Tiefgarage“, wisperte sie leise. „Ich fahr gleich los.“ Bevor er weitere Fragen stellen konnte, legte sie auf und fuhr los.

Als Shuichi in den Wagen stieg, merkte er, dass irgendwas im Argen lag. Anfangs schwieg er, aber sie vermied auch ganz normalen Smalltalk. Deswegen entschloss er sich, das Schweigen zu durchbrechen. „Jodie, was ist los?“

„Nichts…“

„Ich kenn dich“, fing er an. „Wenn du so ruhig bist, beschäftigt dich etwas.“

Er kannte sie gut, aber reichte es auch aus?

„Jodie?“

Bei der erneuten Nennung ihres Namens zuckte sie zusammen. „Es ist nur…Vermouth war vorhin im Wagen. Sie meinte, sie hätte nur Langeweile, aber…“

„Hat sie dir gedroht?“ Akai verengte die Augen. „Jodie, sag mir, was passiert ist.“

„Sie hat mir gedroht. Allerdings damit, dass sie sich wieder als ich ausgibt. Und dass sie…versuchen wollen würde, dich damit reinzulegen.“

„Mhm…verstehe“, gab er von sich.

„Das ist alles? Machst du dir…nicht mehr Gedanken? Diese Frau ist gefährlich.“

Shuichi blickte zu ihr. „Machst du dir Sorgen, dass ich sie für dich halte?“

Jodie wurde warm. Sie spürte, wie sich Hitze in ihr ausbreitete. Sie nickte zaghaft. „Wer weiß…was sie dann tut…“

„Das wird nie passieren“, sprach Shuichi. „Ich würde dich immer erkennen.“

Tag 14

Nach einem langen und harten Arbeitstag schloss Jodie die Eingangstür zu ihrer Wohnung. Sie war froh, endlich wieder zu Hause zu sein, aus den Schuhen zu schlüpfen und sich zu entspannen. Ihre Füße taten weh und als sie die Schuhe auszog, spürte sie bereits eine Erleichterung. Es tat gut, endlich Feierabend zu haben. Ihre Handtasche ließ sie anschließend auf den Boden fallen, ehe sie ihren Mantel, den Schal und die Mütze ablegte. Es war Mitte Dezember und Tokyo versank im Schneechaos. Jodie liebte den Schnee. Die weiße Landschaft hatte etwas Beruhigendes an sich. Außerdem hatte sie das Glück, dass sie trotz der Kälte zahlreiche Röcke und Kleider tragen. Immerhin gab es so etwas wie Thermo-Strumpfhosen oder Thermo-Unterwäsche. Und der Vorteil war, dass man es nicht immer sah. Männer hatten es da schwerer, aber glücklicherweise war sie kein Mann.

Allerdings fanden nicht alle Menschen den Schnee so toll wie sie. Es war kalt und nass. Außerdem schien es immer so zu sein, als könnten sich die Menschen auf der Straße nicht mehr beherrschen. Viele fuhren zu schnell und verursachten Unfälle. Es war ein furchtbarer Anblick. Außerdem gab es jene, die mit andauernd herummeckerten, egal was los war.

Jodie rieb ihre Hände aneinander. In der Wohnung war es kalt, aber das würde sich sehr bald ändern. Sie ging ins Wohnzimmer und drehte die Heizung auf. Danach machte sie sich auf den Weg ins Badezimmer und tat das gleiche. Jodie ließ Wasser in die Wanne und fügte einen Badezusatz hinzu. Sie legte ihren Bademantel bereit und zog sich aus. Als das Wasser hoch genug stand, drehte sie den Hahn zu, stieg sie in die Wanne und schloss ihre Augen. Augenblicklich entspannte sie sich. Sie merkte dabei allerdings nicht, wie sie langsam wegdriftete. Ihre Gedanken waren in einer anderen Welt, aber dann tauchte sie weiter unter. Erst als sie anfing Wasser zu schlucken, kam sie wieder nach oben. Jodie hustete und sah sich im Raum um. Sie hatte Glück gehabt. Es hätte auch anders enden können, wäre sie tatsächlich eingeschlafen. Die Agentin wusch sich und ihre Haare und stieg dann aus der Wanne. Sie trocknete sich ab, frottierte ihr nasses Haar, zog sich ihre Unterwäsche und den Bademantel an. Sie ließ das Wasser ablaufen, drehte die Heizung nach unten und öffnete ein Fenster. Anschließend verließ sie das Zimmer und ging in die Küche. Aus dem Schrank holte sie eine Flasche Rotwein hervor und schenkte sich ein Glas ein. Jodie schwenkte den Inhalt im Glas und nippte daran. Sie wollte den Abend auf ihre Art und Weise ausklingen lassen, doch dann klingelte es an der Tür. Wer sie wohl störte?

Jodie ging mit ihrem Weinglas zu dieser und spähte durch den Türspion. Sie erwartete weder Besuch noch ein Paket. Als sie die Person auf der anderen Seite erblickte, lächelte sie und öffnete die Tür. „Hey Shu.“

„Hey“, entgegnete er. „Kann ich rein…kommen?“

„Klar“, sagte Jodie und ließ ihn rein. „Waren wir verabredet?“ Hatte sie eine Verabredung mit ihm vergessen? Das war eigentlich nicht ihre Art. Zumindest nicht bei ihm. Sie schloss die Tür.

„Nein“, sprach er. „Mein Wagen hatte eine Panne und der Pannendienst kann erst morgen früh kommen. Ich war in der Nähe und dachte, dass ich mein Glück versuche und mich hier etwas aufwärme, ehe ich mit der Bahn nach Hause fahre.“ Er log. In Wahrheit wusste er, dass Jodie an jenem Abend erst spät nach Hause zurückkam. Und er wollte sicher gehen, dass es ihr auch gut ging. Doch er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, sonst hätte sie etwas ganz anderes in die Situation hineininterpretiert. Und das war für sie Beide keine Option. Zumindest jetzt nicht.

„Soll ich dir einen Kaffee kochen? Oder lieber Tee? Ein warmes Getränk wärmt dich sicher auch auf. Ich habe auch Bier, wenn du lieber etwas Kaltes magst. Oder Wasser und Saft.“

Shuichi zog sich die Schuhe und seine Jacke aus. Er musterte sie. „Machst du jedem so die Tür auf?“

„Nur dir“, konterte die Agentin.

Akai schmunzelte. „Falls ich störe, kann ich auch wieder gehen. Du musst es nur sagen.“

„Ach was, du störst nicht“, sagte Jodie und nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Weinglas. „Ich habe mich gerade etwas entspannt. Der Tag war länger als geplant.“ Sie lächelte. „Also? Was möchtest du trinken?“

„Kaffee reicht“, gab Akai von sich.

„Gut, geh schon mal ins Wohnzimmer. Ich setz den Kaffee auf.“

Shuichi blickte sich in der Wohnung um. Es war nicht das erste Mal, dass er da war. Allerdings waren auch immer James oder Camel anwesend. Shuichi vermied es, mit Jodie in ihrer Wohnung alleine zu sein. Aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Akai setzte sich ins Wohnzimmer und wartete. Er schüttelte den Kopf. Alleine, dass er hergekommen war, zeigte, wie viel sie ihm bedeutete. Ob sie es überhaupt bemerkte? Vermutlich nicht.

Nach einer Weile kam Jodie mit dem Kaffee ins Wohnzimmer. Sie stellte sein Glas auf den Tisch und lächelte. „Kann ich dir noch was Gutes tun?“

Akai schluckte. Er musste sich zusammenreißen, um nicht unter ihren Bademantel zu spähen oder versuchte, anderweitig einen Blick zu erhaschen. Jodie wusste genau, wie sie ihre Reize einsetzen musste, um ihn um den Verstand zu bringen. Nicht nur ihn, jeden Mann. Aber sie war auch eine atemberaubende Frau. „Danke, ich…brauch nichts“, sprach er leise und hoffte, dass seine Stimme nicht doch noch versagte.

„Okay“, gab sie von sich. „Dann geh ich mich schnell anziehen und danach kannst du mir erzählen, warum du so spät noch unterwegs warst.“ Sie zwinkerte und verschwand schließlich.

Shuichi sah ihr nach und seufzte. Seit ihrer Trennung war so viel zwischen ihnen verloren gegangen und leider hatten sie es immer noch nicht geschafft, gänzlich unbefangen miteinander umzugehen. Immer stand irgendwas zwischen ihnen. Gewollt sowie ungewollt.

Als Jodie wiederkam, trug sie einen blauen Schlafanzug. „Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich mir schon meinen Schlafanzug angezogen habe. Ehrlich gesagt, möchte ich nicht mehr vor die Tür gehen und mich jetzt ansehnlich anzuziehen, um nachher eh zum Schlafanzug zu wechseln, war mir zu aufwändig.“ Sie schmunzelte. Es war einfach ihre natürliche Art. Und vor Shu musste sie sich nicht verstecken.

„Kein Problem“, antwortete Akai. Wenigstens trug sie etwas. Mehr wollte er nicht. Denn das machte ihm den Abend leichter.

„Du kannst auch gern hier übernachten.“ Sie blickte auf das Sofa. „Es sollte bequem sein. Dann kannst du morgen in Ruhe auf den Pannendienst warten.“

„Okay.“ Er ärgerte sich selbst. Die Antwort kam viel zu schnell. Aber nun war es zu spät.

Tag 15

Gefrustet saß Jodie auf dem Sofa in ihrer Wohnung und drückte ein Kissen an sich heran. Sie ärgerte sich und sie war frustriert. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie nichts mehr konnte. In Japan war sie eine andere Person geworden und sie hatte eine andere Arbeitsmentalität. Dabei hatte sie sich vorgenommen, sich nicht zu verändern. Doch es war trotzdem passiert. Und es gab niemanden, der darauf wartete, dass sie Zeit hatte und einen Fall übernehmen konnte. Die Fälle warteten nicht auf sie, stattdessen hatte sie nur ein Ziel. Und bis sie das Erreichen würde, dauerte es möglicherweise noch weitere Monate. Im schlimmsten Fall sogar Jahre.

In der Zwischenzeit übernahmen sie für ihre Kollegen in Amerika hin und wieder andere kleine Aufträge. Eigentlich war nichts dabei, was sie nicht hätten meistern können oder was auch nur irgendwie kritisch sein konnte. Doch sie hatten sich zu früh gefreut. Der einfache Fall hatte sich als Herausforderung herausgestellt. Sie hatte sich überschätzt und alleine um alles kümmern wollen., Außerdem war sie der Meinung, dass sie es schaffen würde, so wie sie vieles schaffte. Selbst als Shuichi ihr seine Hilfe anbot, hatte sie abgelehnt. Auch ihm wollte sie zeigen, dass sie es hinbekam. Er sollte sie nicht für schwach halten. Aber sie bekam es nicht hin. Sie hatte alles vermasselt und nun gab es mehrere Opfer. Als Shuichi dazu kam und sich von ihr alles bis ins kleinste Detail hatte beschreiben lassen, war Jodie der Kragen geplatzt. Sie hatte ihn angebrüllt und ihm sogar Vorwürfe gemacht. Sie hatte ihm vorgeworfen, dass er immer perfekt bei der Arbeit war und dass er nie Fehler machte. Sie hatte so viel gesagt, was sie hätte, nicht sagen sollen. Sie konnte sich einfach nicht mehr halten und musste ihren gesamten Schmerz rauslassen. Das passierte, wenn man alles in sich hineinfraß und kein Ventil hatte. Als ihre Wut vorbei war und sie realisierte, was sie getan hatte, hatte sie ihn stehen gelassen. Sie hatte ihm keine einzige Möglichkeit gegeben, sich zu erklären oder überhaupt etwas zu sagen.

Jodie wollte alleine sein. Langsam war ihre Aufregung verflogen und ein klein wenig Scham kam auf. Sie fragte sich, was sie sich dabei gedacht hatte, ihn so anzugehen, dabei konnte er nichts dafür. Er war nun mal, wie er war. Sie hatte nichts anderes von ihm erwartet und sie wollte auch nicht, dass er sich änderte. Aber eines musste sie ihm zugutehalten, er hatte ihr keine Vorwürfe gemacht. Aber in jenem Moment war ihr schon seine Anwesenheit zu viel. Jodie wusste nicht einmal warum. Lag es daran, dass er sich in Japan auch verändert hatte? Ja, er war härter und kühler geworden. Und es schmerzte sie, ihn so zu sehen. Er hatte sein ganzes Leben darauf ausgerichtet, die Organisation zu vernichten. Immer wieder ließ er sie alleine – absichtlich und nicht absichtlich. Aber das hieß nicht, dass er ihr nicht vertraute. Vermutlich hatte er sich nicht einmal irgendwas dabei gedacht.

Jodie zog die Beine an sich und seufzte. „Oh man“, murmelte sie leise. Es ärgerte sie, dass sie ihm nicht die Möglichkeit gab, mit ihr zu reden. Vielleicht hätte er sie dieses Mal ja nach ihrem Befinden gefragt oder versucht, ihr Trost zu spenden. Denn genau das war es, was sie brauchte. Trost. Wärme. Geborgenheit. Er hätte sie auch nur einmal in den Arm nehmen müssen. Sie erwartete keine Worte.

Als es an ihrer Tür klingelte, stand Jodie auf. Gerade als sie vor dem Türspion ankam, klingelte es erneut. Jodie verdrehte die Augen. „Ich bin ja schon da“, gab sie laut von sich und öffnete die Tür. Sie ging davon aus, dass James der nächtliche Besucher war. Jemand anderes kam nicht in Frage. Zumindest dachte sie es. Aber dann stand Shu vor ihr. „Shu…?“ Jodie blinzelte und rieb sich die Augen.

„Du träumst nicht“, sagte er und trat ein. „Ich darf doch.“

Die Agentin nickte und machte ihm Platz. „Was…machst du hier?“

„Ich wollte nach dir sehen.“ Er schlüpfte aus den Schuhen und hing seine Jacke an die Garderobe. Dann folgte er Jodie ins Wohnzimmer.

„Oh“, gab sie von sich. „Das hab…ich nicht erwartet…“

„Ich wollte dir etwas Zeit lassen, ehe ich komme.“ Shuichi setzte sich. „Du warst vorhin sehr aufgebracht. So kenn ich dich nicht, aber es war gut, dass du deine Emotionen direkt rausgelassen hast. Wenn es dir hilft, kannst du mich auch häufiger anschreien.“

Jodie schluckte. Mit diesen Worten hatte sie gar nicht gerechnet. Und es war ihr peinlich. „Kann…kann ich dir etwas zu trinken anbieten?“

„Nicht nötig“, gab Akai von sich.

Jodie setzte sich. „Tut mir leid, dass ich dich…vorhin angeschrien habe. Das…hätte ich nicht tun dürfen.“

„Nein, ist schon gut“, sprach Shuichi. „Das war gut. Du kannst nicht immer alle negativen Gefühle in dich hineinfressen. Du hast mehrere Menschen verloren, die Bestandteil deines Auftrags waren.“

Jodie seufzte. „Meinst du, ich lass das alles zu nah mich heran?“

Akai blickte sie an. „In der Ausbildung bläut man uns ein, dass wir Distanz wahren müssen, aber Empathie ist ein wesentlicher Bestandteil, damit wir menschlich bleiben. Und es gibt Agenten, die umso besser sind, je mehr sie mitfühlen. Wenn du also wissen willst, ob es falsch war, es an dich heranzulassen, muss ich verneinen. Du würdest dadurch nur einen Teil von dir selbst verlieren.“

Ihr kamen die Tränen. „Shu…“, wisperte sie. „Und…was tu ich jetzt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Tu das, was für dich am besten ist. Wenn du weinen musst, wein. Wenn du schlafen willst, schlaf. Wenn du Sport machen willst, mach Sport. Wenn du getröstet werden willst, dann tröste ich dich. Wenn du…“

Sie rückte näher zu ihm und er kam nicht dazu, noch mehr zu sagen. „Kannst du…mich in den Arm nehmen?“

Shuichi sah sie überrascht an. „In Ordnung“, gab er von sich und legte den Arm um sie. Er drückte sie an sich und sah nach vorne.

„Danke“, wisperte Jodie leise. „Du warst noch nie so gut im Trösten, aber du hast dich wirklich sehr verbessert. Du solltest mich häufiger trösten.“

„Besser nicht“, entgegnete Akai.

Jodie lächelte. „Schon gut. Es reicht mir auch, wenn du einfach nur da bist und mich hältst. Mehr brauch ich nicht.“ Sie schloss ihre Augen.

„Ach Jodie…“, murmelte der FBI Agent und drückte sie noch enger an sich. Auch er schloss seine Augen. Irgendwann waren sie nach hinten gesackt und eingeschlafen.

Tag 16

Es war mitten in der Nacht. Jodie lag eingekuschelt in ihrem Bett und hielt die Decke eng umschlungen. Sie war gefangen in einem süßen Traum, der sie mit Shuichi zeigte. Sie war glücklich wie schon lange nicht mehr. Sie gehörten einfach zusammen, egal wie man es drehte und wendete. Aber der Traum spiegelte nicht die Realität wider, auch wenn Jodie dies immer wieder hoffte. Doch jeder Traum ging irgendwann vorbei. In Jodies Fall meistens dann, wenn der Wecker ihres Handys klingelte, was besonders schlimm war, wenn sie die halbe Nacht durcharbeitete. Dann wollte sie das Handy am liebsten gegen die Wand werfen, sich umdrehen und weiterschlafen. Aber das ging nicht immer. Beim FBI konnte sie sich ihre Arbeitszeiten fast aussuchen, wobei diese auch vom eigentlichen Fall abhängig waren. Lange Nächte waren keine Ausnahme und oft nahm sie die Arbeit auch mit nach Hause. Dann war ein langer Schlaf nur sehr selten. Wenn es keinen Auftrag gab, konnte sie von 9 bis 17 Uhr arbeiten. Diese Tage waren allerdings selten. Und in Japan war eh alles anders. Zwar richteten sich ihre Arbeitszeit danach, wann sie eine Spur zur Organisation hatten, aber das hieß nicht, dass sie die restliche Zeit nichts tat. Eher im Gegenteil. Sie recherchierte viel. Und dann war da noch die Arbeit als Lehrerin an der Schule. Sie hatte einen Rhythmus, an welchen sie sich anpassen musste. Manchmal konnte sie ihre Zeiten sogar direkt nach dem Stundenplan ausrichten und musste nicht immer vor Ort sein. Aber die Zeit dort war kurz.

Jodie drehte sich auf die Seite und gab ein leises Schmatz-Geräusch von sich. Sie lächelte. Aber dann klingelte ihr Handy. Mitten in der Nacht. Jodie ignorierte es. Aber das Klingeln hörte nicht auf. Und es gehörte nicht zu ihrem Traum. Irgendwann öffnete Jodie ihre Augen. Sie vergewisserte sich, dass es auch tatsächlich läutete. Die Agentin gähnte herzhaft und nahm ihr Telefon in die Hand. Es dauerte, bis auch ihr Kopf wach war, aber als sie realisierte, dass es mitten in der Nacht klingelte, setzte sie sich abrupt auf. Mit einem Mal war sie munter. Ein Klingeln in der Nacht hieß nie etwas Gutes. Und es gab nur wenig Personen, die sie zu dieser Zeit versuchten zu kontaktieren. Bevor sie das Gespräch entgegennahm, blickte sie auf den Display. „Shu…“, wisperte Jodie. Ihr Herz begann zu pochen und sofort malte sie sich das Schlimmste auf. Sofort drückte sie auf die Annehmen-Taste. „Shu! Was ist passiert?“ Sie klang aufgebracht. „Geht es dir gut?“

„Hey“, fing er an. „Ich brauche deine Hilfe.“

Sofort stand Jodie auf und ging zu ihrem Schrank. Sie hatte für ihn schon immer alles stehen und liegen gelassen, genau wie jetzt. „Okay, ich mach mich fertig. Wo bist du? Wo soll ich dich abholen?“ Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn mitten in der Nacht irgendwo abholen musste. Und sie tat es auch gern, weil sie dann wusste, dass es ihm gut ging.

„Du musst mich nicht abholen“, entgegnete der Agent ruhig. „Ich brauche Zugriff auf ein paar Dateien auf dem FBI Server.“

„Du brauchst was?“, unterbrach sie ihn.

„Zugriff auf ein paar Dateien auf dem FBI Server“, wiederholte er.

Jodie zuckte kaum merklich zusammen. Sie ging wieder zum Bett und setzte sich. „Du HAST Zugriff auf den FBI Server.“ Sie hörte sich mittlerweile ein wenig genervt an. Was dachte er auch, sie deswegen aus dem Bett zu klingeln? So wichtig konnte es ja nicht sein.

„Die meisten Agenten glauben, dass ich tot bin. Und das soll auch so bleiben. Wenn ich mich mit meinen Daten einlogge, fällt es auf und ist nachverfolgbar. Ich will nicht, dass die Organisation dahinterkommt. Dafür ist es noch zu früh. Deswegen musst du mir die Sachen besorgen.“

„Ist das dein verdammter Ernst, Shu?“, wollte sie wissen. „Es ist mitten in der Nacht und du weckst mich und willst, dass ich dir jetzt ein paar Dateien runterlade und schicke? Ich habe auch so etwas wie ein Privatleben.“

Shuichi war irritiert über ihren Wutausbruch. Er sah auf die Uhr. Sie hatte recht, er hätte auch noch einige Stunden warten können. Leider steckte er mitten in der Recherche und eine Pause kam eigentlich nicht in Frage. „Ich würde dich nicht anrufen, wenn ich die Dateien nicht dringend benötigen würde. Wenn du allerdings anderweitig beschäftigt bist, ruf ich in paar Stunden noch einmal an.“ Wenn es nicht anders ging, würde er sich gedulden. Doch insgeheim störte es ihn.

Jodie seufzte. „Ich bin jetzt eh schon wach…“, murmelte sie und ging ins Wohnzimmer. Sie setzte sich und holte den Laptop hervor. Dann klappte sie ihn auf und startete ihn.

„Du hast also nur geschlafen?“

„Was heißt hier nur?“ Jodie tippte das Passwort ein und verband sich mit dem FBI Server.

„Du hast vorhin von Privatleben gesprochen. Daher nahm ich an, du wärst gerade…anderweitig beschäftigt gewesen.“

Jodie war überrascht. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Daher war sie froh, als sie nach den Dateien suchen konnte. „Welche Dateien brauchst du?“

„P-257, SK-874 und Fa-17“, entgegnete er. „Bist du alleine?“

Die Frage wirkte skurril. „Ja.“ Jodie schrieb sich die Nummern auf. „Warum?“

Er lächelte am anderen Ende des Hörers. „Nur so. Wie schnell kannst du die Dateien schicken?“

„Ich bin dabei“, gab sie von sich und suchte nach den Nummern. „Ich lade gerade die erste Datei runter. Mit Anlagen nehme ich an.“

„Ja. Danke.“

Shuichi wartete. Er wollte sie in Ruhe arbeiten lassen. Fehler waren verharrend.

„Ich schicke dir die Dateien.“

„Danke.“

„Gern geschehen“, sagte Jodie. „Ach, Shu?“

Er wartete einen Moment. „Die Dateien sind da. Was ist denn?“

„Weck mich nachts nur noch, wenn es wirklich dringend ist. Dateien raussuchen ist nicht dringend. Dich verletzt abholen, schon. Oder du weckst mich trotzdem und lernst mich dann von anderen Seite kennen. Ich glaube nicht, dass du willst, dass ich zur Furie werde.“

„Das wirst du schon nicht“, gab er von sich. Er schmunzelte. „Danke, Jodie.“ Dann legte er auf.

„Gern geschehen.“ Sie schüttelte den Kopf. Das war typisch Shuichi. Jodie fuhr den Laptop runter und ging ins Schlafzimmer. Sie legte sich wieder in das Bett und starte nach oben an die Decke. Ob sie jetzt noch einschlafen konnte?

Tag 17

Jodie wollte schreien. Laut. Aus voller Leibeskraft. Besonders schlimm war, dass es ihr sogar egal war, wer ihren Wutanfall mitbekommen würde. Von ihr aus, konnte die ganze Welt die Wahrheit erfahren. Sie war nicht immer nur die glückliche Amerikanerin. Ihre fröhliche Art war oft nur eine Fassade. Sie litt und sie fraß viel in sich hinein. Aber jetzt nicht. Nicht mehr. Jetzt war das Fass übergelaufen. Sie konnte nicht mehr, einfach nur nichts tun und zu sehen. Dabei wäre ihr nun alles lieber als diese Situation.

Es war ein Wunder, dass Shuichi noch am Leben war, und Jodie freute sich. Sehr sogar. Sie glaubte sogar, dass alles wieder gut werden würde, dass sie jetzt die Chance hatten, sich gegen die Organisation zu beweisen und dass sie nun am längeren Hebel saßen. Auch hatte sie sich die Monate danach ganz anders vorgestellt. Sie wollte ihm Fragen stellen und mit ihm Zeit verbringen. Sie wollte so viel, zu viel. Aber es kam anders. Shuichi wurde sofort in diverse Aktivitäten eingebunden und wenn das nicht passierte, suchte er sich selbst die Arbeit. Er wollte keine Auszeit oder Ruhe. Er wollte sich nicht mehr verstecken. Und das führte schließlich dazu, dass sie ihn nur noch selten sah und wenn doch, ging sie ihm sogar aus dem Weg. Es war eine Art Teufelskreis. Ihre Gefühle standen ihr im Weg und sie musste versuchen, irgendwie mit der Situation klarzukommen. Nicht, dass sie es nicht schon seit Jahren tat, aber irgendetwas war nun anders. Jodie konnte allerdings nicht sagen, was es war.

Und heute Abend wurde es nicht besser. Es gab eine kleine Weihnachtsfeier in der Villa der Kudo-Familie, zu der auch einige FBI Agenten eingeladen waren. Jodie hatte sehr lange mit sich gehadert und war schließlich doch gekommen. Eigentlich wollte sie nur kurz vorbeischauen, jedem frohe Weihnachten wünschen und dann gehen. Und sie wollte nicht, dass man auf die Idee kam, dass sie Shuichi aus dem Weg ging. Wobei es sehr unwahrscheinlich war, dass die anderen Agenten diesen Schluss gezogen hätten. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass sie sich trotzdem fünfmal umgezogen hatte, ehe sie sich für einen Kleidungsstil entschieden hatte. Selbst bevor sie in die Villa ging, frischte sie ihr Make-up auf. Sie wollte weder müde aussehen noch so, als hätte sie einen langen Arbeitstag gehabt. Es war traurig, dass sie ihr Leben kaschieren wollte.

Als Jodie schließlich die Villa betrat, sah sie sich um. Sofort kam Yukiko zur Begrüßung und drückte ihr ein Glas Sekt in die Hand. „Jodie, wie schön, dass Sie gekommen sind. Wir haben auch Wasser, Orangensaft und Wein.“

„Danke für die Einladung“, begann Jodie. „Ein Glas Sekt ist in Ordnung. Ich kann mir später noch was anderes holen.“ Das Yukiko immer in ein leichtes Schwärmen verfiel, wenn es um Shuichi ging, hatte Jodie schon längst bemerkt. Und auch wenn sie verheiratet war, ließ sie immer mal wieder fallen, wie attraktiv der Agent war. Sie brachte ihm sogar das Kochen bei und wie man sich am besten verkleidete. Irgendwie störte es Jodie im Nachhinein, weil die Frau so viel Zeit mit Shuichi hatte. Aber dann wollte Yukiko den Agenten verkuppeln. Für Jodie war es ein Schlag ins Gesicht, wenn sie heute die Beiden zusammen sehen musste.

„Das klingt gut“, begann die Schauspielerin. „Einige Ihrer Kollegen sind auch schon da. Soll ich Sie zu ihnen bringen?“

„Nicht nötig. Ich misch mich einfach unters…Volk. Wir reden später weiter, ja?“ Jodie wollte verhindern, dass Yukiko von Shuichi und der anderen Frau schwärmte. Denn das Gespräch hätte nicht gut geendet. Doch kaum ging Jodie durch die Villa, erblickte sie schon Shuichi – und sein Date.

Die Eifersucht keimte in ihr auf. Sie versuchte so ruhig wie möglich zu sein, konnte aber den Blick von den beiden nicht abwenden. Die Frau war hübsch, eine Schönheit. Jodie schluckte. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, denn keiner sollte auf die Idee kommen, dass sie eine durchgeknallte, eifersüchtige Ex-Freundin war. Am liebsten wäre sie allerdings mit ihrem Glas zu beiden gegangen um ihr den Inhalt über das Kleid zu kippen. Die Vorstellung war sehr verlockend.

Die Agentin nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas. Dann wandte sie sich ab und ging zur Seite. Sie versuchte tatsächlich das, was sie zu Yukiko sagte: sich unter die Menschen mischen. Sie sprach mit einigen Kollegen, aber auch Fremden, doch sie konnte nicht aufhören, an Shuichi und die Fremde zu denken.

So kam es schließlich dazu, dass Jodie nicht nur ein Glas Sekt trank, sondern vier. Doch sie fühlte sich nicht besser, auch wenn es die Situation einfacher machte. Allerdings hatte der Alkohol seine Wirkung nicht verfehlt. Jodie hatte kaum was gegessen und torkelte in Richtung des Hausflurs. Dort stützte sie sich an der Wand ab.

„Jodie?“

Die Angesprochene drehte sich um. Sie erblickte Shuichi und musterte ihn. Er sah so gut aus und am liebsten hätte sie sich ihm an den Hals geworfen. Vielleicht konnte sie es sogar tun, und am Ende auf Unzurechnungsfähigkeit aufgrund des Alkohols plädieren. „Shuuu…hey…ich hab dich gar nicht…gesehen…“ Sie begann zu kichern.

„Ich dachte schon, du würdest mich ignorieren“, sagte er. „Bist du betrunken?“

„Ach was, ich doch nicht.“ Sie kicherte erneut. „Hast du nicht heute das Date mit dieser Maskenbildnerin?“

Akai verzog das Gesicht. „Du meinst den Verkupplungsversuch? Die Dame ist zwar nett, aber das wars auch schon. Ein wirkliches Interesse besteht nicht…beidseitig.“

„Wirklich?“

„Hab ich dich je belogen?“

Jodie versuchte, ihn so seriös wie nur möglich, anzusehen. Natürlich hatte er das. Mehrfach.

„Was diese Dinge angehen.“

Die Agentin schüttelte den Kopf. Er war ehrlich, auch als das mit Akemi anfing. „Weiß Yukikoooooo schon davon?“, lallte sie.

„Früher oder später wird sie davon erfahren.“

„Gut…sehr gut“, gab Jodie von sich. „Dann kann ich jetzt beruhigt nach Hause fahren.“

Shuichi musterte sie. „In diesem Zustand kannst du nicht fahren. Soll ich dir ein Taxi rufen? Und am besten, du gibst mir deine Autoschlüssel.“

„Taxi“, murmelte Jodie nachdenklich. „Nein…will nicht…“

Er seufzte. „Gut, dann fahr ich dich nach Hause.“

„Jaaaa“ Und dann umarmte sie ihn. „Fahr mich bitte nach Hause“, murmelte sie leise.

Shuichi sah zu ihr runter und nickte.

„Aber…lass uns noch so stehen. Die Welt dreht sich gerade…“

„In Ordnung“, sagte er. Denn das Ergebnis wollte er nicht mitbekommen.

Tag 18

Ausländische Restaurants waren in Tokyo kein Einzelfall. KFC, Burger King, McDonalds und und und. Es gab so viel und für jeden war irgendwas dabei. Allerdings gab es ein großes Manko dabei. Die meisten Köche waren Japaner. Nicht, dass sie schlecht kochten, allerdings war der Geschmack anders. Nur Amerikaner konnten richtig amerikanische Gerichte nachkochen. Und genau das war es, was Jodie schon seit längerem in Tokyo vermisste. Egal wann ein amerikanisches Restaurant oder Diner eröffnete, war Jodie dabei und probierte die Gerichte. Sie wünschte sich sogar ein Lokal, in welches sie sich hinsetzen und Stunden darin verbringen konnte. Vielleicht sogar arbeiten – zumindest so weit wie es ging. Leider hatte Jodie bisher Pech gehabt, aber es gab eine neue Chance.

Ein neues Lokal eröffnete und die Agentin fieberte dem Tag entgegen, an dem sie dorthin gehen konnte. Die ersten Tage nach der Eröffnung funktionierten leider nicht, allerdings waren die Kritiken bisher allesamt positiv. Sie hatte Hoffnung, dass ihre Anforderungen dieses Mal erfüllt werden würde. Camel hatte sich sofort dazu bereit erklärt, sie zu begleiten. Komischerweise hatte Shuichi auch kein Problem damit, mitzukommen. Es hatte Jodie irritiert, aber sie hinterfragte es nicht. Sie wollte nicht wieder daran erinnert werden, dass sie möglicherweise nur als Alibi herhielt.

Schon das Ambiente des Restaurants erinnerte Jodie an zu Hause. Die Tische standen nicht zu nah beieinander, sodass man seine Privatsphäre hatte und die Gerichte hatten alle amerikanische Namen. Jodie bestellte sich einen klassischen Burger, Chicken Wings, die sie mit den Kollegen teilen wollte und zum Abschluss einen American Pie. Und das Essen schmeckte tatsächlich. Sie hatte schon fast Lust auf mehr, aber sie war voll. Den Pie ließ sie sich für zu Hause einpacken, denn alles bekam sie einfach nicht runter. Hätte sie noch eine Sache zu sich genommen, hätte es böse geendet, denn sie fühlte sich bereits jetzt nicht mehr so gut. Da Jodie es darauf schob, dass sie zu viel gegessen hatte, trank ein Glas Wasser.

Ihr Unwohlsein besserte sich nicht. „Entschuldigt mich bitte…“, murmelte sie und stand auf. Langsam ging die Agentin zu den Toiletten. Auch diese waren dem amerikanischen Stil nachempfunden und nicht mehr nach Geschlechtern getrennt. Jodie blickte sich im Spiegel an. Sie war blass geworden, weswegen sie sich erst einmal etwas kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. „Uhm…“, stöhnte Jodie auf und lief in eine der Kabinen. Sofort übergab sich die Agentin und blieb auf dem Boden sitzen. Als es langsam besser wurde, lehnte sie sich gegen die Wand und schloss die Augen. Sie fühlte sich eindeutig nicht mehr gut. Sie vermutete eine individuelle Reaktion, welche durch das Essen ausgelöst wurde. Etwas anderes konnte sie sich nicht vorstellen. Allen anderen Gästen ging es scheinbar nicht wie ihr, denn ihr Magen rebellierte immer noch.

Die kleine Pause tat ihr gut, allerdings hatte Jodie jedes Zeitgefühl verloren. Saß sie fünf Minuten in der Kabine, zehn Minuten oder doch länger? Sie konnte es nicht sagen, aber sie hatte auch keine Kraft, um aufzustehen und zu ihrem Platz zurückzugehen. Einmal hatte sie es versucht und war wieder an der Wand heruntergeglitten. Wenigstens waren die Toiletten sehr sauber, sodass sie sich nicht noch was anderes einfangen würde.

Jodie atmete tief durch. Sie versuchte die Situation zu meistern, aber es wurde nicht besser. Tränen liefen ihr über die Wange. Und es war ihr peinlich, dass sie ausgerechnet in einer Toilette eines Restaurants saß und nicht mehr hochkam. Nach einer Weile wischte sich Jodie das Gesicht trocken und unternahm einen weiteren Versuch aufzustehen.

Sie stand. Gerüche oder zu schnelle Bewegungen würden früher oder später dazu führen, dass sie mindestens einen Eimer brauchte. Trotzdem kam Jodie aus der Kabine raus und ging zum Spülbecken. Sie wusch sich abermals das Gesicht und erstarrte beim Blick in den Spiegel. „Shu…“

Der Agent ging zu ihr.

„Wie lange…bist du schon hier?“ Jodie hielt sich am Becken fest.

„Kurz nachdem du vom Tisch aufgestanden bist, bin ich dir gefolgt. Es sah aus, als würde es dir nicht gut gehen.“ Und so sah sie immer noch aus.

Jodie war verwundert. Er hatte es bemerkt. Aber das zeigte nur, wie viel er von seiner Umgebung wahrnahm. „Ach so“, murmelte sie und drehte sich zu ihm.

Auf einmal stand Shu direkt vor ihr. Er legte seine Hand auf Jodies Stirn. „Du hast kein Fieber, aber Schweißausbrüche…und du bist blass…“

„Mir geht’s nicht so gut“, wisperte sie.

„Das sehe ich dir an“, stimmte er ihr zu.

„Vermutlich der Kreislauf…“ Sie hatten nahezu das identische Essen, aber bei ihm war alles in Ordnung. „Oder…das Essen…aber…allen anderen geht es gut.“

„Soll ich dich nach Hause bringen?“

Jodie nickte. „Ich kann…mich kaum bewegen.“ Sie ließ das Becken los und versuchte ein paar Schritte zu machen. Doch er war schon da und sie landete in seinen Armen. „Shu…“

Er strich ihr üben den Rücken. Aber eher zur Beruhigung und nicht aus einem anderen Grund. „Bald geht’s dir besser.“

„Ja…“ Jodie schloss die Augen. Sie fühlte es bereits.

„Kannst du zu meinem Wagen gehen?“ Er wollte davon absehen, sie nach draußen zu tragen. Es hätte viel zu viel Aufmerksamkeit verursacht.

„Wird schon gehen. Was ist mit Camel?“

„Ich sag ihm Bescheid, wenn ich dich in meinen Wagen verfrachtet habe.“ Shuichi löste sich von ihr und führte sie langsam nach draußen. Er schloss die Wagentür auf und setzte Jodie auf den Beifahrersitz. „Glück gehabt.“

„Mhm?“

„Wenn ich noch weiter gegangen wäre, hätte es…böse geendet…“

„Oh“, murmelte er. „Kann ich dich kurz allein lassen?“

„Klar…“ Jodie schloss die Augen und versuchte sich zu sammeln.

Shuichi beobachtete sie, ging dann zurück ins Restaurant. Er kam zu seinem Platz und nahm Jodies Sachen. Camel beobachtete ihn irritiert. „Jodie geht es nicht gut. Ich bring sie nach Hause.“ Dann holte er Geld heraus und legte es auf den Tisch. „Kannst du für uns zahlen?“

„Ja…ja klar“, murmelte Camel. „Kann ich irgendwas tun?“

„Nein, das wird schon. Sie braucht nur etwas Ruhe“, entgegnete der Agent. „Also dann, Camel…“

„Ja…Wünsch ihr gute Besserung von mir.“

Shuichi nickte und ging wieder nach draußen. Er öffnete die Tür zu den Rücksitzen und legte Jodies Sachen hinein. Anschließend nahm er vorne Platz. „Kanns los gehen?“

Jodie atmete ruhig und gleichmäßig. Sie öffnete langsam ihre Augen und blickte ihn an. „Ja, du kannst fahren“, murmelte sie.

Tag 19

Jodie saß in einer Bar in in einem eher abgelegenen Stadtteil von Tokyo. Einerseits wollte sie unter Menschen sein, andererseits aber auch nicht. Was aber gar nicht ging waren Menschen, die sie kannte. Sie würde sie nur verurteilen, Mitleid mit ihr haben oder sie nicht aus den Augen lassen. Deswegen entschied sie sich, etwas weiter weg zu fahren. Direkt als sie reingekommen war, musterte sie die Gäste und die Mitarbeiter. Zum Glück war keiner ihrer Kollegen, Freunde oder Bekannte auf die Idee gekommen, ebenfalls in eine entfernte Bar zu fahren.

Die Agentin blickte in ihr Glas Bourbon. Eigentlich präferierte sie Sherry und sie hatte stets welchen zu Hause. Aber um ihm nahe zu sein, entschied sie sich um. Bourbon mit Eis war sein Lieblingsgetränk. Allerdings schien der Barkeeper zu wissen, dass das Getränk ihr nicht entsprach. Dennoch servierte er es ihr souverän und stellte ihr auch eine kleine Schale mit Snacks hin. Alkohol auf nüchternen Magen war nie eine gute Idee und sie hatte tatsächlich seit Stunden nichts mehr gegessen.

Jodie schwenkte die Flüssigkeit im Glas gegen den runden Eiswürfel und nahm immer wieder einen kleinen Schluck. Der Bourbon brannte in ihrer Kehle. Tränen stiegen auf. Unweigerlich dachte sie an Shuichi. Er war wie immer er selbst gewesen. Sie kannte es gar nicht anders. Was er tat, tat er immer zur Zufriedenheit des FBIs, allerdings nicht zu ihrer. Früher hatten sie sich darauf geeinigt, dass die Arbeit immer vor ging und danach handelte er. Er stieß sie weg oder involvierte sie nicht. Es tat weh.

Auch wenn Jodie es nie laut aussprechen würde, manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie das fünfte Rad am Wagen war. Keiner brauchte sie, aber sie war trotzdem da. Ihre Unsicherheit überspielte sie oftmals durch ihre fröhliche Art. Sie war immer die Amerikanerin, die kein Wässerchen trüben konnte. Aber die Fassade konnte sie nicht immer aufrechthalten. Gerade zu Hause – wenn sie alleine war – ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Manchmal kam sie am nächsten Morgen nur schwer aus dem Bett und manchmal weinte sie auch einfach ohne Grund.

Jodie nahm einen weiteren Schluck aus dem Glas. Sie war alleine und das würde sich auch im Laufe des Abends wohl nicht ändern. Selbst die Männer, die an die Bar kamen und das Gespräch mit ihr suchten, ignorierte sie. Nicht, weil sie gemein sein wollte oder kein Interesse hatte, sondern eher, weil sie sie gar nicht wahrnahm. Ihre Gedanken hatten sich selbstständig gemacht. Sie dachte an die gemeinsame Zeit mit Shuichi zurück, wie zärtlich er war, sie im Arm hielt, sie liebte und dann wie kühl und abweisend er sich ihr gegenüber verhielt. Sie seufzte. Warum konnte sie sich nicht einfach in einen anderen Mann verlieben? Es gab eine beträchtliche Anzahl an Männern in Japan und wenn Jodie wollte, könnte sie vermutlich schnell einen Freund finden – oder eine lockere Bindung eingehen. Theoretisch gab es da sogar jemanden: Camel.

Sie hatten sich während der Arbeit kennengelernt und das in einer schlimmen Phase von Jodies Leben. Er war für sie da und kümmerte sich um sie. Er tröstete sie und versuchte sie auf andere Gedanken zu bringen. Auch als sie den toten Shu gesehen hatte, unterstützte Camel sie in ihrer Suche. Er war derjenige, der sie in ihrer Trauer auffing. Er und James. Aber mit James konnte sie nicht so unbefangen umgehen, wie sie wollte. Daher war es gut, dass Camel da war. Sie wurden Freunde und sie war ihm dankbar, dass er an ihrer Seite war. Manchmal glaubte sie allerdings, dass es einfacher gewesen wäre, wenn sie mit Camel etwas angefangen hätte. Aber ohne Gefühle für ihn, kam sowas nicht für sie in Frage. Vor allem dann nicht, wenn es eine Freundschaft zerstören konnte oder derjenige, etwas für sie empfand. Es war auch nicht gerade einfach, wenn man miteinander arbeitete – sie hatte es am eigenen Leib mit Shu erlebt. Leider war sie bei Camel nicht sicher, ob er Gefühle für sie hatte. Er errötete regelmäßig in ihrer Nähe und wirkte sehr unbeholfen. Aber er hatte ihr nie ein Geständnis gemacht. Manchmal war sie sich auch nicht sicher, ob sie sich das nicht nur einbildete oder sich wünschte, dass ein anderer Mann sie begehrte.

Jodie seufzte ein weiteres Mal. Warum konnte das Leben nicht einfach sein? Es war immer kompliziert und egal was sie tat, es änderte sich kaum etwas. Die Agentin blickte in ihr Glas und trank den restlichen Bourbon in einem Rutsch aus. In dieser Menge brannte er noch stärker und das warme Gefühl breitete sich in ihr aus. „Noch einen“, sagte Jodie zum Barkeeper. Ob sie ihn trinken würde, war eine andere Sache. Vielleicht würde sie dieses Mal einfach nur ins Glas blicken.

„Das solltest du lieber sein lassen.“

Jodie sah zur Seite. „Shu?“, murmelte sie. „Was…was machst du denn hier?“

Der Agent musterte sie. „Camel sagte mir, wo ich dich finde.“

„Ach so…“

Shuichi schaute zum Barkeeper. „Sie verzichtet auf ein weiteres Glas.“

Der Mann war unschlüssig und starrte zwischen den Beiden hin und her.

„Ich bin kein kleines Kind, Shu…“, gab Jodie von sich. Sie seufzte abermals. „Gut, lassen Sie das Glas“, sprach sie dann zum Barkeeper. Jodie zog ihre Handtasche zu sich und kramte darin herum. Sie holte ihre Geldbörse heraus und legte einen Geldschein auf den Tresen. Dann stand sie auf und zog sich ihre Jacke über.

Shuichi beobachtete ihr Treiben – genau so wie der Barkeeper.

„Kommst du?“, wollte Jodie wissen, als sie Anstalten machte, zu gehen.

Er sah sie irritiert an. „Du willst gehen?“

„Ja.“

Akai hatte nicht gedacht, dass es so einfach werden würde, Jodie zu überzeugen. Meistens war sie gerade bei solchen Dingen sehr stur. „Ehrlich gesagt, habe ich gedacht, dass es schwerer werden würde, dich hier rauszubekommen.“ Vielleicht hätte er sie sogar tragen müssen.

Jodie zuckte mit den Schultern. „Du bist doch hier, um mich nach Hause zu bringen. Natürlich könnte ich dagegen argumentieren und dir hier eine kleine Szene machen, aber du wirst trotzdem darauf bestehen. Dann werden wir streiten, etwas trinken, wieder darüber streiten und noch mehr trinken. Und am Ende sind wir beide angetrunken, ich vermutlich mehr als du und dann bringst du mich ja doch nach Hause. Allerdings wird es mir morgen deutlich schlechter gehen, deswegen kürze ich das alles einfach ab.“ Sie ging zum Ausgang und drehte sich um. „Also? Kommst du und bringst mich nach Hause?“

Shuichi schmunzelte. Jodie konnte ihn immer noch überraschen.

Tag 20

Shukichi saß in seiner vollen Shogi-Montur im Wagen seines älteren Bruders. Während einer Partie oder eines Wettkampfes legte er viel Wert auf sein Äußeres. Er rasierte sich, kämmte die Haare und verzichtete auf seine Brille. Stattdessen trug er Kontaktlinsen und einen Yukata. Das war ihm wichtig – egal ob es sich um ein offizielles Spiel handelte, ein Turnier oder ein Freundschaftsspiel. Manchmal kleidete er sich auch so, wenn es ein Trainingsspiel war. Das gehörte einfach dazu. In allen anderen Sachen fühlte er sich unwohl, wenn es um Shogi ging.

In seiner Freizeit hingegen ließ er sich gerne mal gehen. Wie sehr freute er sich schon auf seine Wohnung und sein Bett. Und natürlich die Ruhe sowie den geringen Bekanntheitsgrad, wenn er wie ein mittelloser Student aussah. Aber nicht nur das, er würde auch wieder Yumi sehen können.

Seine letzten Spiele fanden allesamt in Osaka statt. Selbstverständlich hätte er sich gefreut, wenn Yumi dabei gewesen wäre oder ihn abgeholt und nach Hause gefahren hätte. Mehrere Stunden im Auto mit ihr hätten ihre Beziehung festigen können. Sie hätten geredet, hätten irgendwo angehalten, was gegessen und hätten die restliche Fahrt geredet. Oder er wäre währenddessen eingeschlafen. Vermutlich wäre er das. Und je nachdem welche Laune Yumi hatte, würde er mit bemalten Gesicht aufwachen. Allein bei der Vorstellung lächelte er.

Aber Yumi war nicht hier. Stattdessen hatte ihn sein großer Bruder aus Osaka abgeholt und fuhr ihn nach Hause. Shukichi hatte gescherzt, dass alles nur ein großer Zufall sei, weil sein Bruder sowieso etwas in Osaka zu erledigen hatte. Letzen Endes stellte sich dies sogar als Wahrheit heraus. Aber er war ihm nicht böse, denn so konnten sie Zeit miteinander verbringen. Und das war schon lange überfällig. Schon seit ihrer Kindheit sahen sie sich kaum und sprachen dementsprechend auch wenig miteinander. Nur zu Geburtstagen und meistens war es Shuichi, der anrief, da er ihnen nie seine aktuelle Nummer gab. Aber jetzt waren sie alle in Japan und doch nicht vereint. Seine Schwester und Mutter hielten Shuichi immer noch für tot und sein Bruder wollte sich ihnen immer noch nicht offenbaren.

„Es ist lange her“, entgegnete Shukichi, in der Hoffnung die Stille zu durchbrechen.

Shuichi nickte. Er sah weiterhin auf die Straße und hielt das Tempo gleichbleibend.

„Diese Art von dir ist mir so fremd“, sagte Shukichi anschließend. Er dachte an damals. Früher war sein Bruder anders, aufgeschlossener, fröhlicher und mehr am Reden. Mit der Zeit wurde er schweigsamer und zog sich zurück. Shukichi hatte keine Ahnung, was dazu führte. Vielleicht hatte er in seinem Beruf zu viel schlimme Dinge gesehen.

„Mhm? Was meinst du?“ Aber eigentlich wusste es Shuichi bereits.

„Du warst früher anders und jetzt bist du…so ruhig. Wir haben uns alle verändert, aber bei dir fällt es mir am meisten auf. Wahrscheinlich, weil wir uns so viele Jahre nicht mehr gesehen haben. Du solltest dich häufiger bei uns melden.“

„Ich tu, was ich kann.“ Er würde ihm nicht sagen, dass er in seiner aktuellen Identität bei Weitem gesprächiger war. Ansonsten würde sein Bruder ein ähnliches Verhalten erwarten. Und darauf konnte er verzichten.

Wieder war das Gespräch beendet. „Ach ja, danke, dass du mich mitgenommen hast.

„Schon gut“, gab Akai von sich. „Ich habe gelesen, dass du ein Spiel in Osaka hattest. Da ich eh dorthin musste, hat es sich angeboten, dich mitzunehmen. Wenn ich dir helfen kann, tu ich das immer gern.“

Shukichi lächelte. „Der perfekte große Bruder.“

„Mhm…“

Shukichi seufzte gespielt. „Und schon wieder ist das Gespräch abgeflacht.“ Er musste lachen. „Ich treffe mich am Wochenende mit Yumi.“ Sofort strahlte er. „Ich wünschte, du würdest sie kennenlernen.“

„Ich kenn sie doch schon.“

„Aber da wusste sie nicht, wer du bist. Und beim anderen Mal hat sie geschlafen“, warf er ein. „Das zählt also nicht. Und ich möchte nicht, dass du dich wieder verkleiden musst.“

„Dann musst du noch warten“, entgegnete Shuichi. „Es wird noch dauern, ehe ich wieder als ich selbst agieren kann. Sie jetzt kennenzulernen, wäre zu gefährlich. Für dich ist es bereits gefährlich genug, aber ich möchte keine weiteren Menschen involvieren.“

„Irgendwie habe ich geahnt, dass du das sagst.“ Shukichi blickte zu ihm. „Und was ist mit dir?“

„Was meinst du?“

„Gibt es in deinem Leben eine Frau? Jemanden, den du liebst oder mit dem du derzeit ausgehst?“

„Nein.“

Shukichi dachte nach. „Mhm…ich hatte beim letzten Mal das Gefühl, dass es doch jemanden in deinem Leben gibt.“ Er spielte auf Jodie an, die er seinerzeit nur am Telefon hörte. Selbst über das Telefon hatte man gespürt, dass mehr zwischen ihnen war.

„Diese Person gibt es nicht mehr.“

Shukichi schluckte. „Das tut mir leid…mein Beileid. Ich wollte…keine Wunden aufreißen.“

„Schon gut“, murmelte Shuichi. „Sie ist…nicht tot, aber…“

„Aber was?“

„Aber sie hat einiges durchgemacht. Wegen mir“, erzählte er. „Sie ist nicht mehr die Person, die sie war, als wir uns damals kennenlernten. Ich habe mich verändert, sie hat sich verändert. Ich habe ihr…wehgetan, obwohl ich das nie vorgehabt hatte. Dadurch habe ich sie gebrochen und in Verzweiflung gestürzt.“ Er blickte weiter auf die Straße. „Trotzdem ist sie immer noch stark, stärker als früher, aber das weiß sie nicht. Sie glaubt, sie bräuchte mich, aber in Wahrheit braucht sie das nicht. Sie schafft es auch allein, denn sie weiß, wie man sich durchbeißt und wie man kämpft.“ Er lächelte bei dem Gedanken an Jodie.

„Das klingt doch gar nicht so schlecht“, entgegnete der Jüngere. „Egal was du damals auch getan hast, sie wird dir verzeihen. Früher oder später wird alles wieder gut werden. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Du verdienst diese zweite Chance. Sieh mich an, Yumi hat mir auch eine zweite Chance gegeben.“

„Es gibt keine Hoffnung und keine zweite Chance für uns. Selbst wenn…in meinem Beruf ist es gefährlich. Ich würde ihr immer wieder wehtun und damit würde ich es vermasseln. Auf Dauer hält sie diesen Druck nicht aus.“

„Das ist doch Unsinn“, warf Shukichi ein. „Das sind alles nur Hirngespinste, weil du Angst hast. Wenn wir in Tokyo sind, sprichst du mit ihr. Entweder direkt oder per Telefon. Du musst ja nichts überstürzen, redet miteinander und legt die Karten offen auf den Tisch. Und vielleicht kommt ihr zu dem Schluss, dass ihr es noch einmal versucht.“

„Mhm…“

„Shuichi!“ Es hieß schon was, wenn er seinen Bruder bei vollem Vornamen ansprach. „Ich will nicht, dass du einsam endest. Du bist jung und verdienst das Glück. Ich steh dir auch bei und halte Händchen.“

„Bloß nicht.“ Akai verzog das Gesicht. Einen Zuhörer konnte er nicht gebrauchen. Aber vielleicht würde er Jodie tatsächlich anrufen.

Tag 21

Jodie liebte ihren Job. Auch wenn sie ihn anfänglich nur machen wollte, um den Mord ihrer Eltern aufzuklären und den Täter hinter Gittern zu bringen. Sie wollte sie wegsperren – für immer. Aber es fühlte sich gut an, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Und schon wenige Wochen nach Dienstantritt verspürte sie eine Passion; so wie ihr Vater früher. Es tat gut, Menschen zu helfen, aufzuklären, was passiert war und die Familien der Opfer zu unterstützen. Sie erledigte jeden Auftrag, egal wie lange er auch dauert oder wie hart er war. Die Ermittlungen liefen nicht wie im Fernsehen ab, man fand nicht innerhalb von ein oder zwei Tagen seinen Täter, bekam vollständige Laboranalysen und hatte die entsprechenden Kapazitäten für die Untersuchung. Nicht einmal dann, wenn der Fall heikel war. Das Gegenteil stand an der Tagesordnung. Man wartete, war von Dritten abhängig, musste Verhöre durchführen, Berichte auswerten und und und. Es gehörte eben dazu und sie wusste es. Jeder der es sich einfacher vorstellte, hatte sich nie mit der Wahrheit beschäftigt oder wollte es nicht.

Mittlerweile arbeitete sie an dem Fall ihrer Eltern nur noch nebenbei und auch nur dann, wenn sie die entsprechende Zeit hatte. Das hieß aber auch, dass es Tage oder sogar Wochen gab, an denen Jodie nichts daran tat. Und dann gab es Zeiten, wo sie fieberhaft nach der Wahrheit suchte.

Jodie war Stress gewöhnt, spätestens nachdem sie einige Wochen für das FBI tätig war. Aber dann hatte sie mit einem Mal eine Spur zur Organisation und den Mördern ihrer Eltern gefunden. Das lange Warten hatte sich gelohnt. Es dauerte nicht lange, da kamen sie nach Japan. Zuerst war es Shuichi mit einem Team von Agenten. Als er aufflog, war ihre Mission erst einmal beendet, doch wenige Jahre später kam auch sie nach Japan. Endlich durfte sie selbst an vorderster Front agieren, auch wenn es zunächst hieß, verdeckt zu leben. Aber auch das hatte schon bald ein Ende gefunden und seitdem ging Jodie nur noch ihrer eigentlichen Arbeit nach. Dadurch hatte sich allerdings ihr Arbeitspensum verändert. Sie konnte sich ihre Arbeit zwar frei einteilen, aber das hinderte sie nicht daran, auch mal die Nacht durchzumachen. Immerhin gab es nun nur noch einen Fall, der ihre gesamte Aufmerksamkeit forderte. Und er war wichtig.

Wenn sie nicht gerade außerhalb ihrer Wohnung nach verdächtigen Aktivitäten Ausschau hielt, recherchierte sie. Das hieß, dass sie nicht nur täglich eine aktuelle Tageszeitung auf potentielle Aktivitäten der Organisation untersuchte, sondern mehrere. Dazu kamen noch die Meldungen im Internet. Sie hatte sich mehrere Newsfeeds eingerichtet und verfolgte auch die Spuren von Chris Vineyard. Da sich die Schauspieler für zwei Kinder und die Detektei Mori interessierte, hatte sie ihre Suche entsprechend ausgeweitet. Dadurch reduzierten sich ihre Ausflüge nach draußen und die Agentin blieb oftmals in ihren eigenen vier Wänden.

Beim Lesen der neusten Nachrichten kniff Jodie die Augen zusammen. Als sich ihre Sicht nicht besserte, setzte sie ihre Brille ab und rieb sich die Augen. Für einen kurzen Moment besserte sich ihr Blickfeld. Jodie seufzte leise auf. Sie speicherte ihre Suche und entschied, für einen Augenblick nach draußen zu gehen. Und nicht nur auf den Balkon, sondern wirklich raus an die frische Luft.

Jodie dachte, sie sei einfach nur überarbeitet und bräuchte nur eine Pause. Sie ging in den Flur, schlüpfte in ihre Schuhe und zog sich die Jacke über. Sie nahm ihre Handtasche und ging nach draußen. Bereits beim Gehen verspürte sie ein komisches Gefühl. Sie konnte es nur nicht zuordnen.

Draußen sog sie die frische Luft ein. In ihrem Kopf drehte sich alles und sie schaffte es gerade noch so das Gleichgewicht zu halten. Jodie torkelte zu einer Bank und setzte sich. Ihren Kopf bewegte sie nach unten und hielt diesen mit ihren Händen fest. Ihr rechtes Ohr begann sich Taub anzufühlen, so als wäre es in Watte gepackt. Außerdem verschlechterte sich augenblicklich ihr Gehör. Jodie schloss die Augen und hoffte, dass es sich gleich besserte. Aber das war nicht der Fall. Sie hörte eine dumpfe Stimme und blickte auf. „Shu?“

„Du warst nicht zu Hause“, begann er.

Sie kniff die Augen zusammen. „Kannst du das bitte wiederholen? Ich hör dich so schlecht…“

Er sah sie skeptisch an. „Was ist passiert? Bist du verletzt?“

„Mein Ohr…ich hör kaum was…es ist…wie in Watte. Als wäre…ich in einer Blase“, sagte sie ruhig. „Es ist auf einmal gekommen, ich habe gar nichts gemacht.“

Er stellte sich auf die andere Seite. „Seit wann hast du das?“

Nun hörte sie ihn besser. „Seit eben…“

Shuichi dachte nach. „Komm mit. Ich kenn einen Arzt der dich untersucht.“

Jodie stand langsam auf. „Es ist…bestimmt nichts…und bald besser. Bestimmt ist morgen alles wieder gut…“

Akai schüttelte den Kopf. „Du solltest trotzdem zu einem Arzt…Und ich bestehe darauf. Also komm, ich fahr dich.“

„Okay“, murmelte sie und stand auf. Sie ging mit ihm zu seinem Wagen und gemeinsam fuhren sie zu dem Arzt, den Shuichi kannte. Während der Agent im Wartezimmer Platz nahm, wurde Jodie untersucht. Die Untersuchung dauerte rund eine Stunde und wäre er kein Bekannter von Akai, hätte sie sicherlich einen Termin gebraucht.

Mit einem Rezept in der Hand kam sie raus. Schweigend verließ sie mit ihm die Praxis. „Und? Du warst fast eine Stunde drin…“, wollte Akai wissen.

„Der Arzt hat mir mehrere Fragen gestellt und mehrere Hörtests gemacht. Ich habe vermutlich einen Hörsturz, ausgelöst durch Stress…“

„Mhm…“, gab Akai von sich. „Stress…“

„Die nächsten Tage darf ich erst einmal Medikamente nehmen und dann sollte es sich bessern. In zehn Tagen habe ich den nächsten Termin. Wenn es nicht besser wird…naja…schauen wir mal.“

Der Agent nickte verstehend. „Hat er auch gesagt, was du machen sollst, um deinen Stress zu reduzieren? Bist du krankgeschrieben?“

„Mich ausruhen und Stress reduzieren…wie auch immer das aussehen soll“ Sie seufzte. „Ich habe ihm natürlich nicht gesagt, was ich beruflich mache, aber es wird schwer sein, für einige Tage abzuschalten. Eine Krankschreibung habe ich abgelehnt.“

„Verstehe…,wenn du von dir aus nicht kürzer trittst, werde ich dafür sorgen. Du könntest auch in ein Wellness-Hotel fahren.“

Jodie seufzte. „Als ob ich einfach so eine Pause machen könnte. Du weißt, woran wir arbeiten und es ist wichtig. Ich kann nicht einfach so für ein paar Tage wegfahren oder nichts tun. Das geht nicht.“

„Jodie!“

Obwohl sie seine Stimme nur dumpf wahrnahm, zuckte sie zusammen. „Ja?“

„Deine Gesundheit geht vor. Mach dich nicht kaputt. Ich werde aufpassen, dass du dich an seine Anweisungen hältst. Hast du verstanden?“

„Ja“, wisperte sie leise.

Tag 22

Jodie seufzte leise auf. „Muss ich wirklich mit?“ Sie blickte zu ihrer Mitbewohnerin. Rebecca studierte Kunstwissenschaften und war jeden Freitag in einer Bar und feierte das Wochenende. Jodie wusste gar nicht, wo sie die ganze Energie dafür hernahm, aber es war in Ordnung, solange sie nicht auch dorthin musste.

Jodie ging lieber zu Vorlesungen, danach in die Bibliothek und wenn sie noch Zeit hatte, arbeitete sie in einem Coffee Shop auf dem Campusgelände. Wenn sie keine Schicht hatte, kam sie in ihr Zimmer im Wohnheim, lernte oder schrieb eine Hausarbeit. Abends oder nachts blieb sie nur weg, wenn es eine bestimmte Veranstaltung gab, die sie unbedingt besuchen musste.

„Ja, du musst“, antwortete Rebecca. „Versprochen ist versprochen. Und du willst dein Versprechen doch nicht brechen, oder Streberin?“ Letzteres war eher scherzhaft gemeint.

„Aber nicht lange, okay?“

Rebecca hackte sich bei ihr ein. „Mach dir mal nicht ins Hemd. Wir gehen in die Bar in der Nähe des Campuses…du kannst sie als Studentenbar bezeichnen. Ich bin oft dort und die Leute sind nett. Es wird lustig werden und vielleicht lernst du auch jemanden kennen.“

Jodie verzog das Gesicht. Es war die alte Leier. „Du weißt, dass ich keinen Freund brauche. Ich habe den ganzen Tag genug zu tun. Ich langweile mich nicht.“

Rebecca kicherte. „Jaja, weiß ich doch. Du wartest auf die große Liebe. Das ist ja so romantisch.“

Jodie schüttelte nur den Kopf. „Lass uns einfach gehen, ja?“

„Na klar.“ Rebecca zog sie mich sich. Der Weg zur Bar war nicht lang, maximal 20 Minuten. Es war voll, aber Rebecca steuerte zielstrebig einen Tisch an. „Hi, Leute. Das ist meine Mitbewohnerin Jodie. Sagt: Hallo.“

„Hallo“, kam es kollektiv von den Anwesenden, so als wären sie eine Selbsthilfegruppe.

„Was willst du trinken?“

„Ich nehme eine Cola.“

Rebecca rollte mit den Augen und ging zur Bar. Sie holte ein Bier und eine Cola und brachte sie an den Tisch. Dann schob sie ihr eine Schüssel mit Nüssen rüber. „Gegen den leeren Magen.“

„Danke“, murmelte Jodie und sah sich in der Bar um. Mittlerweile hatten sich mehrere Gruppen gebildet und es herrschte reges Treiben.

„Und? Ist es hier so schlimm?“

„Ich habe nie behauptet, dass es schlimm sein würde. Ich muss nur nicht abends noch unterwegs sein und feiern.“

Rebecca seufzte theatralisch. „Du bist ein hoffnungsloser Fall. Aber ich habe einen kleinen Teilsieg errungen. Du bist hier und du wirst Spaß haben.“

„Du bist leicht zufriedenzustellen“, entgegnete Jodie.

Rebecca zuckte mit den Schultern. „Ich nehme, was ich kriegen kann.“ Sie sah sich um. „Bist du offen für neue Bekanntschaften? Und damit mein ich maximal einen kleinen Flirt, mehr aber auch nicht.“

Jodie überlegte, wie sie am besten darauf reagieren konnte. „Ich brauch keinen Flirt. Ich bin nicht einsam.“

„Das habe ich auch nicht behauptet“, entgegnete Rebecca. „Ich dachte nur, dass du mal mit ein paar anderen Menschen redest. Du musst ja nicht gleich mit einem Kerl ins Bett oder so.“

„Ich weiß doch, dass du es nicht böse meinst. Aber ich bin für das alles hier einfach nicht geschaffen. Wärst du mir sehr böse, wenn ich nicht so lange bleibe?“

„Nein, natürlich nicht“, fing sie an. „Wenn du wieder zurückwillst, werde ich dich nicht aufhalten.“

„Danke“, murmelte Jodie und nippte an ihrer Cola. „Und was machst du sonst immer hier?“

„Naja…“ Sie druckste ein wenig herum. „Ich schau mich um, ob etwas Süßes dabei ist und dann gesell ich mich dazu.“

„Oh…und hast du…schon was gefunden?“, kam es von Jodie.

„Ja.“ Rebecca schmunzelte. „Schau mal da drüben. Ich geh dorthin.“ Sie nahm ihr Bier und ging zu der Gruppe Japaner. Sie redeten allesamt in ihrer Muttersprache. „Hi“, begann Rebecca und zog sofort die Aufmerksamkeit auf sich. „Ich bin Re-be-cca“, dabei gestikulierte sie mit den Händen.

Jodie beobachtete die Gruppe und gesellte sich irgendwann zu ihnen. „Hi.“

„Hast du es dir anders überlegt?“

Sie nickte.

„Das…“ Rebecca zeigte auf Jodie. „…ist Jo-die. Sagt: Hi.“

„Hi“, kam es kollektiv.

Der restliche Abend verlief ähnlich. Rebecca redete viel und ihr war es egal, ob die Gruppe sie verstand oder nicht. Dabei tranken sie ordentlich.

Als Jodie am nächsten Morgen wach wurde, tat ihr der Kopf weh. Ihre Haare waren zerzaust, ihre Kleidung zerknitterte, teilweise auch verrutscht. Aber sie war angezogen. „Mhm…“, stöhnte sie leise und setzte sich auf.

„Morgen.“

Jodie riss die Augen und sah sich um. Ein wenig panisch zog sie die Decke an sich, realisierte aber schnell, dass sie ihre Kleidung noch anhatte. Sie spürte seinen Blick auf ihr und schluckte. „Mo…morgen…“, murmelte Jodie. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was am Abend zuvor passiert war. Sie zeigte auf sich. „Ich…gehe…nach Hause.“ Mit den Fingern simulierte sie Schritte.

Shuichi musterte sie schmunzelnd. „Ich kann dich auch nach Hause fahren.“

Jodie sah ihn irritiert an. „Du sprichst unsere Sprache? Aber gestern…ihr habt…nicht…“

„Ihr habt angenommen, dass ich kein Wort verstehe, weil ich bei der Gruppe war. Sie waren die Touristen und haben mich nur etwas gefragt.“

Sie schluckte und ihre Wangen begannen zu glühen. In dem Glauben, dass keiner sie verstand, hatten sie auch ein paar pikante und private Details geteilt. „Wie…wieso hast du nichts gesagt? Wir hatten…du hättest was sagen müssen.“

Akai lächelte. „Ich wollte euch nicht unterbrechen.“

„Und…wieso bin ich hier? Haben wir…also hatten wir…“

„Nein“, antwortete er. „Du hast dir aber scheinbar in den Kopf gesetzt, mich abzuschleppen. Du hast am Ende so viel getrunken, dass du nicht mehr laufen konntest. Ich hatte deine Adresse nicht, also habe ich dich zu mir gebracht.“

„Verstehe…D…danke…“, murmelte sie.

„Möchtest du Kaffee? Oder Tee? Ich habe auch Wasser da.“

„Wasser reicht mir.“

Er nickte und ging in die Küche. Sofort sprang Jodie aus dem Bett, schlüpfte in ihre Schuhe, griff nach ihrer Jacke und der Handtasche auf dem Boden und lief zur Tür. Sie öffnete sie und war froh, dass es die Haustür war. Sofort hastete sie raus. Es war schon peinlich genug und da musste sie nicht noch mit ihm frühstücken oder sonst was tun. Und wahrscheinlich würde sie ihn eh nie wieder sehen.
 

Seit Jahren hatte Jodie an den Vorfall gedacht und den Studenten von damals nicht wieder gesehen. Sie lebte ihr Leben und hatte ihren Traum verwirklicht. Sie arbeitete nun für das FBI und freute sich auf den ersten Tag. James führte sie durch das Gebäude, zeigte ihr die Abteilungen und stellte sie den Kollegen vor. Jodie fühlte sich großartig – bis sie in die kleine Kaffeeküche kamen. Denn dort sah sie ihn: Den Japaner von damals.

Jodie schluckte. Sie hoffte, dass er sie nicht erkannte, aber dann zwinkerte er ihr zu und ihre Wangen begannen zu glühen. Das würde doch interessant werden.

Tag 23

Jodie saß im Großraumbüro in New York und blickte auf den Computer. Mit dem Kugelschreiber tippte sie auf dem Tisch herum und dachte nach. Ihre E-Mails hatte sie bereits gelesen und ansonsten gab es nichts mehr, was sie tun konnte. Sie war seit einem halben Jahr beim FBI und arbeitete den meisten Kollegen einfach nur zu. Der erste große eigene Fall ließ auf sich warten. Und trotzdem würde Jodie alle Aufgaben zur Zufriedenheit ihrer Kollegen erledigen.

Sie warf einen Blick nach hinten und schmunzelte. Shuichi schaute zu ihr. Sie waren seit einigen Wochen in einer Beziehung, hielten es aber vor dem FBI geheim. Ihnen Beiden war klar, dass früher oder später die Wahrheit ans Licht käme, aber erst einmal mussten sie selbst schauen, wohin des führte. Und irgendwann würden sie ihre Beziehung öffentlich machen.

„Jodie?“

Die Angesprochene sah auf. „Guten Morgen, James.“

Er lächelte. „Ich habe gute Nachrichten für dich.“

„Ja? Worum geht’s?“

„Wir haben einen Auftrag für dich“, begann er.

Jodie freute sich. Sie bekam nun endlich die Chance, um sich zu beweisen. Der erste eigene Fall, er würde ihr immer in Erinnerung bleiben. „Das ist großartig. Was soll ich tun?“

„Eine Schauspielerin bekommt seit einigen Wochen Morddrohungen und komische Pakete geschickt. Ihr Manager hat sich an uns gewandt, weil die Polizei keine Ergebnisse erzielt. Wir haben sofort an dich gedacht. Du sollst ihr in den nächsten Tagen und Wochen Personenschutz bieten.“

Die Agentin nickte verstehend. Personenschutz war zwar nicht das, was sie sich für den Anfang vorgestellt hatte, aber es immer noch ihr Fall.

„Sieh es als Chance. Beim FBI geht es nicht immer nur um Mord oder andere pikante Delikte.“

„Ich habe doch nichts gesagt“, warf sie ein. „Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde dich nicht enttäuschen.“

„Das habe ich auch nicht angenommen“, entgegnete Black. „Du kannst dir ein kleines Team aus maximal zwei Agenten zusammenstellen. Sie können dir zuarbeiten, Recherchen übernehmen und dich unterstützen.“

„Ich habe freie Wahl?“

„Ja“, antwortete James. „Du musst uns wöchentlich ein Update geben. Außerdem ist die Dauer deines Auftrags nicht begrenzt. Es könnte sein, dass du nur ein paar Tage dort bist oder mehrere Wochen. Der Manager hat zu jedem Zeitpunkt das Recht dich zurückzuschicken. Wenn das passiert, werden wir über deine bisherigen Ergebnisse reden und vielleicht ist es notwendig, dass wir nochmal mit ihm ins Gespräch gehen. Die Arbeit wird sehr unvorhersehbar sein. Du kannst dich kaum vorbereiten und wirst auf das reagieren müssen, was gerade passiert. Traust du dir das zu?“

Sofort nickte sie. „Natürlich. Ich werde mein Bestes geben. Wer ist die Schauspielerin, auf die ich aufpassen muss?“

„Ihr Name ist Chris Vineyard. Hast du schon mal von ihr gehört?“

Jodie dachte nach. „Chris Vineyard…Chris Vineyard…ah, ja, ich weiß, wer sie ist. Sie ist die Tochter der bekannten Schauspielerin Sharon Vineyard und hatte erst vor Kurzem ihr Debüt. Ihr erster Film hat eingeschlagen wie eine Bombe.“

„Genau um die geht es“, sprach James. „Die neue Aufmerksamkeit hat für sie auch ihre Schattenseiten und jetzt lernt sie sich kennen.“

„Wann solls losgehen?“

„Am besten sofort. Der Manager bat noch heute um ein Kennenlern-Gespräch. Ich schick dir die Adresse.“

„Okay, schick mir die Adresse und am besten auch die Kontaktdaten des Managers. Ich ruf ihn an.“ Sie fuhr ihren Computer runter und packte ihre Tasche.

„Wenn es Probleme gibt, ruf mich an.“ Er lächelte und verließ das Großraumbüro.

Jodie sah ihm nach. Aus dem Augenwinkel erblickte sie Shuichi. „Hey.“

„Hey“, sprach er ruhig. „Hast du einen Auftrag?“

„Ja“, nickte sie. „Ich muss auch gleich los zum ersten Gespräch. James muss mir aber zuerst noch die Adresse schicken.“

„Das freut mich für dich. Brauchst du Hilfe?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich mach eher Personenschutz und muss herausfinden, wer eine Schauspielerin bedroht. Ich darf mir ein kleines Team zusammenstellen, aber das möchte ich erst machen, wenn ich die genauen Einzelheiten kenne.“

„In Ordnung. Wenn irgendwas ist, melde dich bei mir.“

„Ich wusste, dass du das sagen würdest“, sprach Jodie. „Ich werde dich aber nicht immer an meiner Seite haben, wenn ich an Fällen arbeite, deswegen muss ich das hier auch allein hinbekommen. Sei mir bitte nicht böse.“

Akai nickte. „Wie könnte ich dir nur böse sein“, entgegnete er. Er hörte einen Ton von Jodies Handy. Sie hatte eine Nachricht bekommen. „Mein Angebot steht.“

Jodie zog ihr Handy zu sich und sah auf das Display. „Ich habe die Adresse und muss jetzt los.“

„Viel Erfolg.“

„Danke. Ich melde mich später bei dir.“
 

Eine seichte Brise wehte durch die Straßen. Das Laub der Bäume färbte sich bereits bunt und dennoch spendete die Sonne nach wie vor Wärme. Der Regen – den alle jetzt schon fürchteten – blieb bislang aus. Jodie sah aus dem Fenster. Viele Menschen nutzten das gute Wetter noch einmal aus, um ihre Freizeit in den Parks zu verbringen. Doch schon bald würden sie sich wieder winterlich kleiden müssen.

Als die Ampel von rot auf grün umschlug, fuhr Jodie weiter. Auch wenn sie sich im Büro von ihrer selbstbewussten Seite gezeigt hatte, so hatte nun die Nervosität die Oberhand gewonnen. Sie wollte alles richtig machen, denn sie wusste, dass sie austauschbar war.

Die Agentin fuhr auf den Parkplatz eines Hotels und stellte den Motor aus. Sie blickte in den Rückspiegel, frischte ihre Schminke auf und stieg aus dem Auto. Die Agentin atmete tief durch und begab sich dann ins Hotel. Wie im Telefonat abgesprochen, meldete sie sich am Empfang und wurde auf die freien Plätze in der Lobby verwiesen. Jodie sah sich um. Das Hotel wurde eindeutig nur von reichen Personen bewohnt. Jodie liebäugelte mit einer Zeitschrift, entschied sich aber dagegen. Sie musste aufmerksam bleiben.

Zehn Minuten später kamen ein Mann und eine Frau zu ihr. Die Frau trug eine schwarze Sonnenbrille und setzte sich auf den freien Platz gegenüber von Jodie. Sie sagte kein Wort, musterte die Agentin aber.

Der Mann blickte auf Jodie herab. „Agent Starling?“

Sofort stand die Agentin auf und reichte ihm die Hand. „Ja, Sir. Mein Vorgesetzter hat mich vorhin kurz über alles in Kenntnis gesetzt. Bitte erzählen Sie mir, was bisher passiert ist. Lassen Sie nichts aus, auch wenn Sie glauben, dass es nichts damit zu tun hat.“

„Gut.“ Er sah zu der Schauspielerin. „Das ist Chris Vineyard. Wenn Sie für uns arbeiten, müssen Sie eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen. Nichts, was Sie in der Zeit erfahren, darf an die Außenwelt dringen. Haben Sie das verstanden?“

„Natürlich“, entgegnete Jodie. Sie hatte damit bereits gerechnet. „Ich werde alles tun, um Miss Vineyard zu beschützen und um die Person zu finden, die hinter der ganzen Sache steckt.“

„Dann gehen wir am besten nach oben in das Hotelzimmer und besprechen die Einzelheiten. Chris? Kommst du mit?“

„Übernehmen Sie sich nicht, Agent Starling“, kam es von der Schauspielerin. „Sie sind jung und ich möchte nicht, dass Sie einen Burnout haben, wenn Sie meinem Pensum folgen.“

Jodie versuchte zu lächeln. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich kann auf mich aufpassen.“

„Gut, dann besprechen wir oben den Rest.“ Chris verzog keine Miene, aber das ausgerechnet Jodie ihren Personenschutz darstellte, würde noch interessant werden.

Tag 24

Shuichi saß zu Hause und ging die Akte über seine falsche Identität abermals durch. Es war das zehnte Mal an jenem Tag – mindestens. Und auch wenn es ihm immer leicht fiel, sich neue Sachen zu merken und zu erlernen, wollte er bestmöglich vorbereitet sein. Jeder Fehler, egal wie klein er auch war, konnte die ganze Operation zum Scheitern bringen. Das durfte er nicht zulassen. Es durfte nicht sein Fehler werden. Aber niemand kannte die Zukunft. Was heute war, konnte morgen ganz anders aussehen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn seine Vorgesetzten die Mission abbrechen würden. Sie waren sowieso in einer verbotenen Zone, denn das FBI war nicht befugt, im Ausland zu agieren. Dafür war das CIA zuständig. Doch trotz allem, hatten sie diese Mission geplant.

Akai schüttelte den Kopf. Er durfte nicht an solche Sachen denken, wenn es noch gar nicht losgegangen war. Er war noch nicht in Japan, arbeitete noch nicht für die Gegenseite und was noch viel wichtiger war, er gehörte zu den Guten. Das führte er sich immer wieder vor Augen und würde es auch tun, wenn er in den Reihen der Organisation war. Sein Hintergrund machte ihn für den perfekten Kandidaten für diesen Auftrag. Und was machte schon ein kleiner Ausflug nach Japan? Es wäre nicht das erste Mal, dass er dort wäre. Nur war es dieses Mal die Arbeit, die ihn dorthin führte, leider für einen unbekannten Zeitraum. Mit nur einigen Wochen rechnete er nicht. Viel eher ging er davon aus, dass es sich um Monate handeln würde, im schlimmsten Fall um Jahre.

Shuichi blätterte die Akten ein weiteres Mal durch. Seine neue Identität besaß einige Parallelen zu ihm selbst, aber es gab auch große Unterschiede. Eine gute Lüge beinhaltete immer einen Funken Wahrheit.

Als es an seiner Haustür klingelte, schob er die Akte in die Ablage unter dem Tisch und machte sich auf den Weg in den Flur. Er spähte durch das Guckloch und lächelte sofort. Dann öffnete er die Tür. „Hey.“

„Hi“, gab Jodie von sich. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Ich wollte mal sehen, wie weit du bist.“

Er ließ sie eintreten und sah ihr zu, wie sie Jacke und Schuhe auszog. Ihre Handtasche ließ sie ebenfalls zu Boden gleiten. „Du kennst mich doch.“

„Mhm…“, murmelte Jodie. „Dann hast du dir also schon alle Informationen eingeprägt?“

Shuichi schmunzelte.

„Wie schade. Dann bin ich ja umsonst hergekommen. Dabei wollte ich dir doch beim Lernen helfen.“ Sie machte Anstalten zu gehen, aber Shuichi hielt sie fest und zog sie zu sich heran.

„Und wenn ich nicht will, dass du gehst?“, hauchte er gegen ihre Lippen und warf die Tür zu.

Jodie lächelte. „Dann bleibe ich natürlich. Aber wenn du doch noch arbeiten musst, gibst du Bescheid. Ich werde dich in Ruhe arbeiten lassen.“

„Das hältst du doch nicht durch“, warf der Agent ein.

„Das werden wir ja noch sehen“, entgegnete sie und schob Shuichi in sein Schlafzimmer. „Erst das Vergnügen, dann die Arbeit ohne Ablenkungen und dann…wieder das Vergnügen.“

Akai lachte und ließ sich auf das Bett fallen. Sofort nahm Jodie über ihm Platz. Das war typisch Jodie. Von einem Moment auf den nächsten änderte sie ihre Meinung und tat das Gegenteil von dem, was sie eigentlich tun wollte.

„Wenn du so bist, dann…“

„Ja?“, fragte er erwartungsvoll.

„…dann verbinden wir nun das Vergnügen mit der Arbeit und ich frag dich ab.“

„Was?“ Akai sah verdattert zu ihr.

„Zu deinem Auftrag. Ich kenne auch die Einzelheiten, schließlich bin ich deine Kontaktfrau. Und jetzt…stelle ich die Fragen und für jede richtige Antwort bekommst du eine Belohnung.“

Shuichi zog sie zu sich und küsste sie. „Und wie sieht meine Belohnung aus? Gib mir doch einen Vorgeschmack darauf.“

Jodie löste den Kuss. „Das siehst du, wenn es soweit ist“, antwortete sie. „Erste Frage: Wie lautet dein Name?“

„Moroboshi Dai.“

„Richtig.“ Sie knöpfte sich einen Knopf ihrer Bluse auf.

Der Agent schmunzelte. „So gefällt mir das Lernen. Ich wünschte, ich hätte dich schon während der Schulzeit gekannt.“

„Vermutlich hättest du mich damals keines Blickes gewürdigt. Ich war das, was man als einen Streber bezeichnet. Ich hatte kaum Freunde und hatte auch kein Interesse am anderen Geschlecht.“ Sie musterte ihn. „Aber vielleicht wäre es bei dir anders geworden.“

„Das will ich doch hoffen.“ Er legte seine Hände an ihre Seiten. „Die nächste Frage, bitte.“

„Mhm…“ Jodie überlegte gespielt. „Wie alt bist du?“

„26 Jahre alt.“

Sie entfernte den nächsten Knopf von der Bluse.

„Ich finde, ich sollte für jede richtige Antwort zwei Knöpfe bekommen. Und wenn ich mich besonders gut mache, dann auch mehr.“

„Findest du?“ Jodie beugte sich zu ihm. „Mal sehen, was sich machen lässt“, hauchte sie ihm gegen die Lippen. „Erzähl mir doch was zu deinem beruflichen Werdegang.“

„Das sind definitiv mehr Knöpfe“, gab er von sich. „Seit ich 16 Jahre alt bin, habe ich verschiedene Nebenjobs ausgeübt. Ich war Tellerwäscher, Musiker, Maler, Koch…alles querbeet. Als ich alt genug war, bin ich den Selbstverteidigungsstreitkräften von Japan beigetreten. Aber mir hat ihre defensive Haltung nicht gefallen, weswegen ich freiwillig ausgeschieden bin. Seitdem reise ich durch das Land und gehe der Arbeit nach, die gerade anliegt. Wird mir langweilig, wechsle ich die Stadt. Wenn ich mal frei habe, bin ich auf dem Schießübungsplatz und arbeite an meinen Fähigkeiten“, erzählte er. „Und damit habe ich dir auch schon die nächste Frage beantwortet. Sofort knöpfte er ihr die Bluse vollständig auf und streifte sie ab. „Ich sag doch, ich habe viel mehr verdient.“

„Oh ja, das hast du“, entgegnete Jodie und beugte sich zu ihm. Sie küsste ihn und sie ließen ihrer Leidenschaft freien Lauf.
 

Shuichi schreckte aus seinem Traum hoch. Draußen tobte ein Sturm, ansonsten war es friedlich. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und blickte sich dann im Raum um. Er wusste, warum er ausgerechnet jetzt von der Vergangenheit träumte. Es war wegen Jodie. Sie lag neben ihm, die Decke eng umschlungen und sie schlief friedlich. Sie hatten nicht nur den Abend gemeinsam verbracht, sondern auch die Nacht. Jodie stand einfach so mit einer Flasche Bourbon vor seiner Haustür. Es war der Todestag ihrer Eltern und sie wollte nicht allein sein. Sie hatten angefangen zu trinken, allerdings nicht so viel, dass sie nicht mehr klar denken konnten. Irgendwann hatten sie damit angefangen, sich zu küssen, zu berühren und schließlich hatten sie, nach vielen Jahren, ihrer Leidenschaft wieder freien Lauf gelassen.

Tag 25

Es ging ihr bereits seit einigen Tagen nicht mehr so gut. Hundeelend würde ihren Zustand am besten beschreiben. Sie konnte kaum etwas Essen und wenn doch, blieb es nicht lange in ihrem Magen.

Gerade grassierte in Japan eine Magen-Darm-Grippe mit unterschiedlichem Ausmaß. Die Ansteckungszeit konnte zwischen einigen Stunden bis hin zu einigen Tagen liegen. Die Symptome waren unterschiedlich: Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall, Blähungen und Schwindel. Bei Jodie hingegen hatte sich die Übelkeit und das Erbrechen manifestiert. Eigentlich sollten die Symptome binnen weniger Tage abklingen, doch sie hatte nicht so viel Glück. Ihr Zustand war gleichbleibend. Immer wenn sie dachte, es wäre besser geworden, musste sie wieder zur Toilette laufen.

Camel und James hatten bei Weitem mehr Glück gehabt als sie. Beide waren zwar ebenfalls durch die Magen-Darm-Grippe ausgeknockt worden, fühlten sich aber nach einer Woche wieder fit. Sie hingegen hatte immer noch diesen Durchhänger. Wenigstens musste sie nicht arbeiten und konnte sich ausruhen. Trotzdem wurde ihr Zustand nicht besser. Die letzten Tage verbrachte sie entweder im Bett oder auf dem Sofa, wenn sie nicht mit ihrem Badezimmer liebäugelte. Ihr war auch meistens in den Morgenstunden schlecht.

Nach über einer Woche stattete sie ihrem Hausarzt einen Besuch ab. Ihr Ziel war es, Medikamente zu bekommen, durch die ihr Infekt endlich abklang. Außerdem wollte sie wieder arbeiten und dabei niemanden anstecken. Beim Arzt beantwortete Jodie jede Frage wahrheitsgemäß. Immer wenn er die Stirn runzelte, überkam sie sofort die Sorge. Steckte hinter ihrer Magen-Darm-Grippe doch mehr? War sie vielleicht krank?

Aber seine Verdachtsdiagnosen hatten es in sich und Jodie musste eine Blutprobe abgeben. Innerhalb von zwei Tagen würde sie das Ergebnis bekommen, doch das zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Wie sollte sie damit klarkommen? Was hieß es für ihre Zukunft beim FBI? Und wie sollte sie es den anderen erzählen? Ihre erste Untersuchung hatte sie auch schon hinter sich gebracht.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Bauchgegend, stand sie vor Shuichis Wohnungstür. Sie hatte ein Déjà-vu. Das letzte Mal hatte sie eine Flasche Bourbon dabei und wollte nur in seiner Nähe sein. Und jetzt musste sie ihm diese Hiobsbotschaft mitteilen. Sie haderte mit sich selbst. Nach zehn Minuten traute sie sich, endlich zu klingeln. Jodie blickte auf den Boden. Sie atmete tief ein, war unruhig und hoffte, dass der Agent nicht zu Hause war.

Doch dann ging die Tür auf. Shuichi sah sie an. „Jodie!“

„Hey…“, murmelte sie leise. „Darf ich…reinkommen?“

Er nickte. „Geht’s dir besser?“

„Ja…alles gut…“, sagte sie und trat ein. Sie sah immer noch mitgenommen aus. Aber jetzt wusste sie, dass es nicht an der Magen-Darm-Grippe lag. „Keine Sorge, ich bin nicht ansteckend.“

„Habe ich nicht behauptet“, entgegnete er und ließ sie eintreten. Jodie zog sich die Jacke und die Schuhe aus. „Soll ich dir einen Tee machen?“

Sie überlegte einen Moment. „Ja, bitte…ich geh in der Zwischenzeit ins Wohnzimmer, in Ordnung?“

„Klar. Du kennst ja den Weg.“ Shuichi verschwand in der Küche. Er setzte Teewasser auf und bereitete die Tasse vor.

Jodie nahm im Wohnzimmer Platz und dachte nach. Sie war nervös und obwohl sie sich genau überlegt hatte, was sie ihm sagen wollte, war es so, als wäre ihr Kopf leer.

Shuichi kam mit einer Tasse Tee zurück. Er stellte sie auf den Tisch und setzte sich. „Also? Was ist los?“

Jodie hatte noch nicht den Mut gefunden, ihm die Wahrheit zu sagen. Sie griff nach der Teetasse und nahm einen Schluck.

„Jodie?“ Er war irritiert von ihrem Verhalten. „Hey…was hast du? Du kannst mit mir über alles reden.“

Sie stellte die Tasse zurück auf den Tisch. „Shu…ich…ich muss dir was sagen.“

Er hörte ihr weiter zu, aber es kam nichts mehr. „Jodie?“

„Tut mir leid, ich brauch…noch einen Moment. Ich habe mir zwar überlegt, was ich sagen wollte, aber es ist doch schwerer als gedacht. Ich…ich war beim Arzt.“

Shuichi sah sie an. „Wegen der Magen-Darm-Grippe?“

Jodie nickte. „Mir ging es immer noch nicht besser und ich dachte, ich könnte etwas verschrieben bekommen. Der Arzt hat mir…ein paar Fragen gestellt und dann…wurde mir Blut abgenommen und…ich habe jetzt das Ergebnis bekommen. Ich hatte…dann auch schon eine erste Untersuchung. Ich…“

Nun war er um die Agentin besorgt. Sie druckste herum, sagte nicht frei heraus, was los war und er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte. „Jodie? Was ist los? Bist du krank? Ist es was Schlimmes?“, wollte er wissen.

„Naja…“, sagte Jodie leise.

„Jodie, hör zu, egal was es ist, du kannst auf mich zählen. Ich bin für dich da, wir haben so viel zusammen durchgestanden. Ich werde dir helfen.“ Er griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Erzähl mir, was der Arzt gesagt hat.“

Sie schluckte. „Ich bin schwanger.“

„Was?“ Er blickte sie geschockt an. „Wie konnte das passieren? Ich weiß, wie das passieren konnte. Aber…wir haben doch verhütet…“

Sie blickte nach unten. „Man kann trotzdem schwanger werden. Für mich war es auch ein großer Schock…aber jetzt bin ich dabei, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Ich…ich dachte die ganze Zeit, dass ich mir auch den Magen-Darm-Infekt eingefangen habe…aber das Ergebnis ist eindeutig.“

Akai nickte verstehend. „Du willst…es also bekommen?“

„Ja.“ Noch immer blickte Jodie nach unten.

„Verstehe.“

„Ich…ich erwarte nichts von dir, Shu“, fing sie an. „Aber du solltest wissen, dass du Vater wirst…in einigen Monaten. Ich weiß, es wird nicht einfach werden.“

„Ich bin für dich da“, sprach er. „Ich lass dich in dieser Situation nicht allein.“

„Shu…“

„Nein, Jodie“, entgegnete er. „Das ist mein Ernst. Ich lass dich nicht allein. Wenn du dich für das Kind entscheidest, werde ich da sein. Ich werde mich um dich kümmern und um das Kind. Ich werde…versuchen ein guter Vater zu werden.“

Ihr kamen die Tränen. „Shu…“, nun blickte sie zu ihm hoch. „Das bedeutet mir viel.“

„Ich möchte dich nicht vor den Kopf stoßen, aber es wird gefährlich werden. Die Organisation ist nach wie vor aktiv und wenn sie von dem Kind erfahren, könnte es in ihr Visier geraten. Sie werden herausfinden, dass ich der Vater bin, und dann werden sie versuchen an mich heranzukommen.“

„Ich weiß…es wird gefährlich werden“, murmelte Jodie.

„Deswegen müssen wir Maßnahmen ergreifen. Egal was es ist, wir müssen alles tun, um das Kind zu schützen.

Sie nickte abermals. „Danke, Shu.“

Tag 26

Die letzten Monate hatte Jodie auf sich geachtet - mehr als sonst. Sie hatte ihre Arbeitspensum reduziert und alle anderen Aktivitäten nach hinten geschraubt. Sie hatte ihr Leben nahezu auf die Schwangerschaft ausgerichtet. Es war alles zum Wohl des Kindes, denn es war nun das wichtigste und wertvollste in ihrem Leben. Sie brauchte nicht lange, um sich an den Gedanken der Schwangerschaft zu gewöhnen, aber erst als sie sich um die ganzen Untersuchungstermine, die Einrichtung, die Kurse und die Gespräche mit der Hebamme kümmerte, realisierte sie das gesamte Ausmaß. Bis auf Shuichi konnte sie mit keiner anderen Person darüber reden und weil sie ihn irgendwie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, hielt sie sich weitestgehend zurück. Camel, James und dem FBI verschwiegen sie zu Beginn alles, denn es war zu gefährlich. Je mehr Mitwisser es gab, desto schneller konnte auch die Organisation davon erfahren. Und das durften sie auf keinen Fall zu lassen. Das erste Trimester war das schlimmste. Als sie dieses überschritten hatten, konnte Jodie langsam aufatmen.

Als ihr Bauch anfing zu wachsen, trug sie weite Kleider. Aber irgendwann konnte sie diesen Zustand nicht mehr verbergen und musste ihre engsten Kollegen und Freunde einweihen. Ihre Reaktion ähnelte dem, was sie selbst fühlte. Zuerst war da die Überraschung, dann ein Funken Glück, danach kam das besorgte Gefühl und danach wieder die Freude. Allerdings ging es ihr so auch die letzten Monate. Gerade mit der Organisation im Nacken war die Schwangerschaft nicht einfach. Sie machte alles durch, was jede andere Schwangere auch erlebte, nur mit mehr Sorge.

Jodie freute sich bereits auf den Geburtstermin, auch wenn sie die Vorstellung einer natürlichen Geburt ängstigte. Sie hatte alles genaustens geplant. Doch dann kam alles anders. Das Kind wollte zwei Wochen vor dem geplanten Termin auf die Welt kommen. Jodie glaubte, dass nun alles sehr schnell gehen würde, denn die Wehen waren nicht von schlechten Eltern. Sie hatte Schmerzen, doch dann dauerte es doch nochmal 18 Stunden. Erschöpft wurde Jodie das Baby in den Arm gelegt. Sie sah das kleine Bündel an und lächelte. Ein Schwall aus Hormonen durchströmte sie und die letzten Stunden fühlten sich nur noch wie ein Traum an. Sie sah den kleinen Mann an und erkannte die Ähnlichkeit zu seinem Vater.

Die Zeit mit ihrem Baby kam ihr sehr kurz vor, allerdings war sie noch schwach und von der Geburt ausgemerzt. Die Untersuchung ihres Babys bekam Jodie kaum mit, danach wurde er gebadet und angezogen. Schließlich wurden sie nach all den Strapazen in ein Zimmer gebracht und ruhten sich aus.

James war der erste Besucher, er freute sich über den Nachwuchs und versprach ihr, dass Akai auch sehr bald kommen würde. Der Agent befand sich gemeinsam mit Camel bei einer Observation und hatte den Ton am Handy ausgestellt. Viel zu spät bekam er die Nachricht über die Geburt mit, machte sich dann aber sogleich auf den Weg ins Krankenhaus. Trotzdem hatte er das Ereignis verpasst. James legte das Baby in das Bettchen und ging zur Zimmertür als es klopfte. Er blickte Akai an. „Ich lass euch mal allein“, entgegnete er und verließ den Raum.

Shuichi trat ein. Er sah zu Jodie, dann zum Babybettchen, dann wieder zu Jodie. Er war unschlüssig, was er tun sollte.

„Hey“, murmelte Jodie leise.

„Hey“, gab Akai zurück. Er war während der Schwangerschaft bei ihr, ging aber auch seinen beruflichen Verpflichtungen nach. Wegen der Gefahr, die von der Organisation ausging, besuchte er Jodie auch häufig unter seiner falschen Identität Subaru Okiya. Auch er hatte sich in den letzten Monaten mit dem Gedanken angefreundet, Vater zu werden. Trotzdem fühlte es sich immer noch komisch an. Er und Vater. Ob das gut ging?

Shuichi schloss die Tür und ging zu Jodie. „Wie geht’s dir?“

„Ich fühl mich komplett ausgelaugt und könnte einige Tage schlafen“, antwortete Jodie. „Ich bin so froh, dass die Geburt überstanden ist. Ich hatte gehofft, dass es nicht so schlimm werden würde, wie in den ganzen Kursen und im Internet beschrieben wurde. Aber…sei froh, dass du nicht dabei warst. Aber jetzt geht es mir gut.“

Shuichi schluckte. War das ein Vorwurf? „Ich war bei einer Observation“, erklärte er. „Mein Handy war lautlos und ich habe deine Nachricht erst gesehen, als es vorbei war.“

Sie nickte. „Das hat mir James erzählt“, begann sie. „Er hat draußen gewartet und mir erzählt, dass er versucht dich zu erreichen.“

„Tut mir leid. Ich hätte…da sein sollen…“

„Schon gut“, murmelte Jodie. „Du hast ja nicht gewusst, dass die Wehen zwei Wochen früher einsetzen würden. Und danach hat es nochmal 18 Stunden gedauert, ehe er auf die Welt kam.“

Shuichi sah zum Babybettchen. Dass es ein Junge werden würde, hatten sie bereits bei Jodies Frauenarzt erfahren. Er musterte den Kleinen. Niedlich war er schon, besonders wenn er schlief.

Jodie lächelte. „Er ist eben erst eingeschlafen. Aber wenn er wieder wach ist, kannst du ihn auch mal halten…natürlich nur, wenn du auch möchtest.“

„Mhm…ja…in Ordnung.“ Er würde definitiv Zeit mit seinem Sohn verbringen, auch wenn er noch nicht wusste, wie sie das mit der Organisation unter einen Hut bringen konnten. „Soll ich lieber gehen, damit du dich ausruhen kannst?“

„Nein, das muss nicht sein“, gab Jodie von sich. „Außer du willst gehen. Shu, ich habe es dir damals schon gesagt, ich erwarte nichts. Du musst dich nicht zwingen hier zu sein.“

„Es ist kein Zwang“, kam es sofort von dem Agenten. „Ich will hier sein, bei dir und dem Baby.“

„Shu…“, wisperte Jodie leise.

„Deswegen hör auf, Unsinn zu reden. Du solltest mich kennen. Ich mache nichts, was ich nicht machen möchte.“

Sie nickte. Akai blickte wieder zum Babybettchen. „Hast du dich schon für einen Namen entschieden?“

Sie hatten zwar darüber diskutiert, aber keine Entscheidung getroffen. Anfänglich wollte Jodie einen amerikanischen Namen, aber je näher der Geburtstermin rückte, desto unsicher wurde sie. Schließlich setzte sie sich mit japanischen Namen auseinander. Außerdem konnte keiner sagen, wie lange sie noch im Land bleiben würden.

„Jodie?“

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. „Entschuldige“, sprach sie leise und sah zum Baby. „Ich habe mich für einen Namen entschieden. Ich möchte, dass er Reiji heißt.“

„Reiji?“ Akai blickte zu ihm. „Reiji…“, wiederholte er mit einem Lächeln auf den Lippen. „Der Name passt zu ihm.“

„Ja, find ich auch“, nickte sie. „Ich denke schon seit einigen Tagen darüber nach. Aber jetzt, wo ich ihn sah, hat sich der Name manifestiert.“

Er setzte sich zu Jodie. „Danke…für dieses Geschenk.“

Jodie kamen die Tränen. „Ach Shu…“, wisperte sie leise. „Ohne dich hätte ich das alles nicht geschafft.“

Tag 27

Seit Jodies Verschwinden waren mehr als 48 Stunden vergangen. Sie hatte sich bei niemanden gemeldet und auch keine Nachricht hinterlassen. Als sie bei Jodie zu Hause waren, fanden sie keine Anhaltspunkte auf ihren Aufenthaltsort. Das Bett war unbenutzt, die Lebensmittel nicht angerührt. Es war definitiv nicht Jodies Art. Normalerweise informierte sie ihre Kollegen, wenn sie an einem Auftrag arbeitete oder wenn sie plante länger wegzufahren. Sie hatten auch versucht ihr Handy zu orten, aber es konnte kein Signal ermittelt werden.

Shu hatte alle seine Kontakte involviert, aber niemand wusste etwas über die verschwundene Frau. James hatte auch kein Glück, nachdem er seine Bekannten in den Krankenhäusern abtelefoniert hatte. Er versuchte es immer wieder, aber so langsam schwand die Hoffnung. Akai blickte stirnrunzelnd auf die Einrichtung in Jodies Wohnung. Sie mussten alles tun, damit die Agentin wohlbehalten nach Hause kam. Komme was wolle. Er ballte die Hände zu Fäusten.

In Jodies Wohnung hatten sie eine provisorische Einsatzzentrale gebildet – er, Black und Camel. Mehr Agenten standen derzeit nicht zur Verfügung. Und das verfluchten sie alle. In den Staaten hätten sie weit bessere Möglichkeiten gehabt. Dort löste ein verschwundener Agent viel mehr Trubel aus als in Japan.

Shuichi warf einen Blick auf Camel. In regelmäßigen Abständen überprüfte er das Signal an Jodies Telefon. Solange es allerdings ausgeschaltet war, waren ihre Chancen nicht vorhanden. Trotzdem mussten sie alles in ihrer Machtstehende tun, um Jodie zu finden.

James seufzte. „Es wird dunkel…“

Shuichi nickte. Sie hatten bereits Stunden damit verbracht, Gassen und leerstehende Gebäude zu überprüfen. Dabei gab es allerdings mehrere Probleme. Die Gebäude mussten zugänglich sein. Außerdem war Tokyo groß und die Anzahl der leerstehenden Gebäude wurde nicht weniger. Selbst Orte, die sie bereits geprüft hatten, mussten sie später noch einmal überprüfen. Zudem hatte keiner gesagt, dass Jodie auch tatsächlich in Tokyo war. Sie konnte sich auch in einer anderen Stadt oder in einem Dorf befinden. Je mehr Zeit verging, desto schlechter standen ihre Karten. Noch war auch nicht bekannt, ob sie in den Fängen der Organisation war oder ob nicht doch etwas anderes passiert war. Die Organisation war nicht zimperlich. Wenn Jodie bei ihnen war, hatten sie nur wenig Spielraum. Doch sie hatten sich noch nicht gemeldet, keine Forderungen gestellt oder sich über das FBI lustig gemacht.

„Ich habe da was“, kam es von Camel. Er zeigte auf den Bildschirm.

„Was?“ Shuichi ging zu ihm und beugte sich runter.

„Ihr Handy…es wurde soeben eingeschaltet…“

„Wo ist sie?“, wollte James wissen. Er wollte nicht zu viel Emotionen zeigen, denn es wäre auch gut möglich, dass es nur ein Trick war.

„Sie ist…in Shibuya. Ich habe hier Koordinaten, aber Shibuya ist groß und wenn wir vor Ort wären, könnten wir das Signal besser eingrenzen.“

Akai biss sich auf die Unterlippe. In Shibuya war es oft laut, gerade wenn es spät wurde und häufig sah man dort die skurrilsten Gestalten. Dort würde es schwer werden, Jodie zu finden.

„Wir müssen dorthin.“ Camel klappte den Laptop zu.

„Es könnte eine Falle sein“, warf Akai ein. Er hoffte aber auf das Gegenteil. Hoffte, dass Jodie eine Möglichkeit fand, um das Handy einzuschalten und Hilfe zu holen. „Das Handy ist an, aber Jodie hat nicht angerufen. Sie müsste wissen, dass wir uns Sorgen um sie machen. Deswegen…besteht die Möglichkeit, dass jemand anderes ihr Handy angeschaltet hat.“

Camel blickte nach unten. „Aber wir können hier nicht abwarten. Wir müssen für Jodie etwas tun.“

Shuichi nickte. „Wir werden auch was tun. Auch wenn es eine Falle sein könnte...“ Er sah in die Runde. „Ihr bleibt hier. Ich geh allein. So habe ich bessere Chancen, Jodie nach Hause zu bringen.“

„Auf keinen Fall“, kam es von James und Camel synchron.

Shuichi seufzte. „Von mir aus.“ Diskussionen würden nun dazu führen, dass sie zu viel Zeit verlieren würden. „Wenn wir das Gebäude gefunden haben, geh ich zuerst rein. Ihr wartet im Wagen oder draußen.“

Camel wollte widersprechen, nickte aber. Er nahm den Laptop und ging mit den anderen beiden Agenten nach draußen. Sie fuhren getrennt. James und Camel nahmen den Wagen von James, während Shu ihnen hinterherfuhr. Shuichi blieb die ganze Zeit über aufmerksam.

Im Wagen hatte Camel den Laptop wieder aufgeklappt und das Signal von Jodies Handy weiterverfolgt. Es bewegte sich nicht von der Stelle. Je näher sie Shibuya kamen, desto besser ließ es sich eingrenzen. Schließlich parkte James den Wagen in der Nähe eines Bürokomplexes.

Shuichi parkte hinter ihnen und stieg aus. Er ging zu seinen Kollegen und öffnete die Wagentür. „Das ist es?“

Camel blickte auf. „Ihr Handy wurde hier geortet.“

Shuichi sah zu dem Gebäude. „Gut. Wie besprochen, geh ich allein rein. Wenn es eine Falle ist, werde ich euch ein Zeichen zukommen lassen.“

„Passen Sie auf sich auf“, entgegnete James. „Und wenn Jodie da drin ist, bringen Sie sie zurück.“

Shuichi nickte und ging in das Gebäude. Überall war es dunkel und verlassen. Er zog seine Dienstwaffe aus der Jackentasche und hielt sie vor sich. Langsam betrat er einen Raum nach dem nächsten und sicherte den Flur. Den letzten Raum musste er auftreten. Es verursachte Lärm, aber er hörte keine Schritte. Es kam niemand. Stattdessen hörte er ein Wimmern. Doch die Dunkelheit versperrte ihm die Sicht. Shuichi holte sein Handy aus der Hosentasche heraus und aktivierte die Taschenlampe. Er leuchtete in den Raum.

Die Gestalt saß auf dem Boden, die Haare waren zerzaust und ihre Hand an die Heizung gekettet. Akai kam näher. „Jodie?“

Sie saß einfach nur da. Ihr Hals schmerzte. Sie hatte nicht nur geschrien, sondern auch um Hilfe gerufen, aber durch den Tumult wurde sie nicht gehört. Jodie sah auf. „Shu?“, fragte sie leise.

Er blickte sich um, leuchtete in weitere Stellen des Raumes und fand ihr Handy. Für Fragen hatte er aber noch Zeit. Er ging zu ihr und kniete sich hin. „Halt still“, sprach er und legte seine Hände auf ihr Gesicht. Er überprüft das Vorhandensein einer Maske. „Du bist es.“

„Bin ich…“, murmelte sie leise. „Ich will nach Hause…“, wisperte Jodie.

„Ich weiß“, sagte der Agent. Er begann an ihren Handschellen zu rütteln.

„Sie haben…den Schlüssel irgendwo…hingeworfen…“

Er nickte verstehend und stand auf. Mit dem Handy leuchtete er abermals in den Raum. Er suchte, bis er den Schlüssel endlich fand. Die Organisation wollte sie vorführen, das hatte er mittlerweile verstanden. Er nahm den Schlüssel und entfernte die Handschellen. Dann nahm er Jodie auf die Arme und trug sie nach draußen.

Tag 28

Jodie hatte sich die ganze Zeit über an Shuichi festgehalten. Sie wollte vergessen. Einfach nur vergessen. Entgegen dem Wunsch von Camel und James wurde sie nach Hause gebracht. James und Camel räumten die provisorische Einsatzzentrale zusammen und ließen ihr Wohnzimmer wieder ein Wohnzimmer sein. In der Zwischenzeit saß Jodie auf ihrem Bett und starrte auf ihre Hände.

Shuichi beobachtete sie. Er hatte keine Ahnung was passiert war, was sie durchgestanden hatte. Er wusste nur, dass er Jodie nicht bedrängen sollte. Und er war froh, dass sie wieder zu Hause war. Sie gehörte hierher.

Der Agent ging zu ihrem Kleiderschrank und suchte ihr ein paar Sachen heraus. Falls es nicht die Organisation war, musste er die Beweisstücke sammeln und aufbewahren. „Kannst du dich umziehen? Willst du duschen?“

Jodie blickte ihn an. Sie nickte zaghaft.

Shuichi runzelte die Stirn. „Okay…“ Er ging zu ihr und half ihr hoch. Dann brachte er sie in das Badezimmer. „Kannst du…allein duschen?“

Erneut nickte Jodie. Sie begann damit, sich langsam auszuziehen. Ihm gegenüber verspürte sie nur selten Scham, aber jetzt war ihr Schamgefühl nahezu nicht vorhanden. Sie stieg in die Dusche und betätigte den Wasserhahn. Jodie blickte hoch in den Strahl.

Shuichi legte ihr neue Sachen hin und nahm die getragenen Kleider an sich. Er verließ das Badezimmer und holte eine Tüte aus der Küche. Dort verstaute er ihre getragenen Sachen und brachte sie ins Wohnzimmer. Als er die Blicke von James und Camel sah, schüttelte er den Kopf. Jodie ging es nicht gut. Ihr ging es alles andere als gut. Und das, was ihr passiert war, hatte sie gebrandmarkt.

Anschließend kochte er in der Küche Tee und machte ihr eine Kleinigkeit zu Essen. Als er zurück ins Schlafzimmer kam, saß Jodie wieder auf dem Bett. Er stellte den Tee und den Teller mit dem Sandwich auf ihren Nachttisch und sah wieder zu ihr. „Das war kurz.“

„Das Wasser…tat weh…“, murmelte Jodie leise. Sie blickte wieder auf ihre Hände auf dem Schoss.

Sie sah immer noch sehr mitgenommen aus. Nun zweifelte er an seiner Entscheidung, sie nach Hause gebracht zu haben. Vielleicht wäre ein Krankenhaus oder zumindest ein Arzt doch die richtige Entscheidung gewesen. „Dieser Araide ist doch wieder in Japan. Ich kann ihn anrufen, damit er sich dich ansieht.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein…“

Akai setzte sich neben ihr aufs Bett. Er war nicht gut im Trösten, weder damals noch heute. Aber er wusste, dass es Jodie im Normalfall reichte, wenn er einfach nur da war. „Jodie“, begann er leise.

Sie schloss ihre Augen und hielt den Kopf nach unten gesenkt.

Shuichi legte langsam den Arm um sie und drückte sie dann an sich. „Wenn du reden willst, bin ich da“, sprach er leise. „Willst du…mir erzählen, was passiert ist?“

„Folter…“

Er sah schockiert zu ihr.

„Ich war…auf dem Weg nach Hause…da stand sie vor mir. Vermouth. Sie hat…mich in ein Gespräch verwickelt und…ich habe die Männer hinter mir nicht…bemerkt. Sie schlugen mich…bewusstlos und als ich wieder aufgewacht bin, war ich…war ich in einem Raum…auf einer Liege…gefesselt. Vermouth…kam dann wieder zu mir. Sie…sie löste ein Pulver in Wasser auf und flößte es…mir ein. Ich dachte, ich…ersticke daran, aber sie zwangen mich…zum Trinken und…ich habe getrunken.“

„Du hast das getan, um zu überleben.“

Sie nickte. „Sie ließen…mich allein. Ich weiß nicht, wie…lange es war. Dann kam sie…wieder und lächelte…und…“

„Wenn es nicht geht, musst du nicht darüber reden“, entgegnete der Agent. Spätestens jetzt wollte er sich die Organisation eigenhändig schnappen.

„Sie hatte ein Blatt…Papier…und sie hat…es auf meinen Arm gelegt. Es…es tat so weh…dieses Stück Papier“, wisperte Jodie. „Sie machten immer…weiter…mit anderen Gegenständen. Ich…schrie, weinte…es tat so weh…aber sie wiederholten es nur…“

„Sie haben ein Mittel entwickelt, dass das Schmerzempfinden auf deiner Haut erhöht“, kam es von dem Agenten. „Ich habe davon gehört, als ich selbst noch zu ihnen gehörte. Es war noch in der Entwicklungsphase.“

„So etwas…in der Art haben…sie gesagt. Und…sie haben es an mir getestet. Wie…wie lange war ich weg?“

„Mehr als 48 Stunden“, antwortete er. „Allerdings haben wir diesen Zeitpunkt von dem Stand ausgemacht, wo wir das letzte Mal etwas von dir gehört haben. Es könnte auch weniger Zeit vergangen sein.“

„Verstehe“, murmelte Jodie. „Ich habe…nur eine Dosis bekommen…und ich glaube nicht, dass sie…so lange gewirkt hat. Allerdings…habe ich das Zeitgefühl verloren und dauernd gehofft, dass…das ich gerettet werde.“

Er drückte sie erneut an sich.

„Vermutlich bin ich…ohnmächtig geworden. Irgendwann bin ich…dann aufgewacht. Sie entfernten die Fesseln und brachten mich…in einen anderen Raum. Dort ketteten sie mich an die Heizung und warfen…den Schlüssel in den Raum. Sie…bedankten sich und warfen mir…das Handy hin. Ich hatte Angst es anzuschalten…also habe ich gewartet und…irgendwann habe ich es doch getan. Aber…ich wusste nicht, ob ich…euch anrufen sollte. Ich dachte, es…es wäre eine Falle. Dann…warst du auch schon da…“

„Es tut mir leid.“

„Ich möchte…es vergessen.“

„Ich weiß“, sagte er leise. „Aber…du musst das trotzdem verarbeiten, denn ansonsten macht es dich kaputt. Ich weiß, dass ein Teil von dir zerbrochen ist und…es wird das beste sein, wenn du eine Therapie machst. Ich werde James bitten, eine Liste mit guten Therapeuten zusammenzustellen. Er hat hier bestimmt wieder Kontakte.“

Jodie erlaubte sich ein Lächeln. „Er hat überall Kontakte.“ Eine Therapie war nichts Neues für Jodie. In Amerika hatte jeder Agent mindestens schon eine Therapie machen müssen. Jeder, der schon mal jemanden erschossen hatte, musste mehrere Sitzungen besuchen und erst wenn der Therapeut einem die Dienstfähigkeit attestierte, durfte man weiterarbeiten. Jeder brauchte ein Ventil, um seine Dämonen zu verarbeiten.

„Ich…will schlafen“, wisperte Jodie.

„Okay“, nickte Shuichi. „Du kannst dich hinlegen. Ich bleibe hier und pass auf dich auf. James und Camel sind auch noch hier.“

„Shu?“

„Ja?“

„Bitte…sag James und Camel noch nichts davon“, bat sie. „Sie würden…nur Mitleid mit mir haben. Und das…will ich nicht. Ich will…zur Normalität zurück und…ich möchte selbst entscheiden, wann ich…es ihnen sage. In Ordnung?“

„Okay“, entgegnete er. Allerdings war er sich nicht sicher, ob es für Jodie bald Normalität gab. Vielleicht später. Er stand auf und Jodie legte sich langsam hin. Shuichi legte die Decke über sie und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Du schaffst das…“

Tag 29

Jodie saß im Bus. Sie versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Denn sollten die Insassen in dem Bus bemerken, dass sie noch ein Neuling war, würde sie um ihren Respekt buhlen müssen. Es war das erste Mal, dass Jodie einen Gefangenentransport begleiten musste. Neben dem Fahrer und einem weiteren Polizist saßen 4 Verbrecher im Bus. Jodie wusste nicht, welche Straftaten sie verübt hatten, aber ihr war klar, dass die Männer nicht gerade harmlos waren. Nur in solchen Fällen wurde das FBI eingeschaltet.

Die Agentin ging den regulären Ablauf im Kopf durch. Sie hatte einiges in Quantico gelernt und Fallberichte ausgiebig studiert. Sie glaubte zu wissen, wie der richtige Umgang war. Auch wenn es keine alltägliche Aufgabe war, zollte Jodie ihr doch Respekt. Sie würde keine Anfängerfehler machen und nichts auf die leichte Schulter nehmen.

Jodie erlaubte sich einen kurzen Blick auf die Insassen. Sie saßen getrennt voneinander. Zwei starrten runter auf ihre Hände, einer sah aus dem Fenster und der Vierte blickte sie direkt an. Eine Gänsehaut legte sich auf ihren Körper. Sofort schaute sie wieder nach vorne.

Der Fahrer des Buses wich einem Hindernis aus und überfuhr eine Nagelsperre. Die Reifen verloren langsam Luft, der Wagen der meilenweit vor ihnen war, fuhr immer langsamer. Um eine Kollision zu vermeiden, drosselte er die Geschwindigkeit, doch der Wagen vor ihm machte keine Anstalten schneller zu fahren. Der Busfahrer riss das Lenkrad um, durchstieß die Leitplanke und überschlug sich.

Es dauerte einen Moment, bis Jodie wieder zu sich kam. Ihr Kopf schmerzte, genauso wie ihr restlicher Körper. Jodie öffnete langsam die Augen und sah sich um. Sie hatte den Unfall relativ unbeschadet überstanden, anders als der Fahrer. Er war auf der Stelle tot. Der Polizist hingegen war schwer verletzt, doch das lag daran, dass die beiden Insassen, die die während der Fahrt die Köpfe nach unten gerichtet hatten, auf ihn einschlugen. Anschließend nahmen sie ihm den Schlüsselbund ab und entfernten ihre Handschellen. Sie warfen den Bund dem dritten Mann zu, der sich ebenfalls von den Handschellen befreite und der Vierte tat es ihnen gleich.

Jodie versuchte sich hinter einem der Sitze zu verstecken, den gegen vier Männer hatte auch sie keine Chance. Nicht einmal dann, wenn sie ihre Waffe zog. Allein bei dem Gedanken an ihre Waffe tastete sie nach dieser und fand nichts. Sie war aus ihrem Halfter gefallen und lag irgendwo auf dem Boden des Buses. Wenn einer der Verbrecher sie fand, war alles vorbei.

„Gehen wir! Der Wagen wartet.“

Jodie hörte Schritte. Sie verhielt sich leise und hoffte, dass sie genug Zeit hatte, um sich in Sicherheit zu bringen. Danach musste sie einen Weg finden, um Hilfe zu rufen.

Einer der Männer blieb im Bus und sah sich um. „Hey, Schätzchen, wo bist du?“, rief er.

Jodie zuckte zusammen. Er erinnerte sich an sie. Die Agentin horchte weiter den Schritten. Sie kamen immer näher. Aber Jodie konnte nicht weglaufen. Ihr Bein schmerzte zu sehr, vielleicht war es gebrochen.

„Da bist du ja.“ Er leckte sich über die Lippen und begutachtete Jodie. „Hübsches kleines Ding.“

Jodie versuchte nach hinten zu weichen, stieß aber direkt gegen das zerbrochene Fenster. Würde sie versuchen darüber zu entkommen, würde sie sich nur noch mehr verletzen. Die Agentin schluckte.

„Was hast du denn? Du musst doch vor mir keine Angst haben.“ Er machte einen Schritt auf sie zu. „Solche jungen Dinger, wie dich, mag ich.“

Sie war starr vor Angst. Gerade als sie etwas sagen wollte, fiel er bewusstlos zu Boden. Jodie blickte auf den Mann hinter ihm. Es war der vierte Insasse. Er schaute sie mit seinen tiefgrünen Augen an. „Bitte…ich…“

Er kniete sich zu ihr runter und starrte auf ihr Bein. Mit der Hand tastete er es ab.

„Mhm..mhm…hng…“

„Vielleicht gebrochen“, entgegnete er. Er seufzte. „Was für ein Irrsinn…Hast du ein Handy?“

Jodie wusste nicht, wie sie am besten reagieren sollte.

Er verdrehte die Augen. „Großartig…“, murmelte er und öffnete Jodies Jacke. Auf der Suche nach dem Handy griff er in die Taschen. Als er es fand, drückte er eine Taste, um den Bildschirm zu aktivieren. „Du solltest das Handy mit einem Sicherheitscode sichern, ansonsten können Feinde über dein Telefon an wichtige Informationen kommen.“ Er wählte eine Nummer.

Obwohl Jodie Angst hatte, konnte sie den Blick von ihm nicht abwenden.

„Ich muss einen Unfall melden, wir sind auf der Interstate 95 in einem Gefängnistransporter. Der Bus hat sich überschlagen, der Fahrer ist tot, einer der Polizisten schwer verletzt.“ Er sah zu Jodie. „Die FBI Agentin ist ebenfalls verletzt. Zwei Verbrecher sind flüchtig, einen konnte ich niederschlagen. Es war eine Falle. Draußen hat ein Wagen auf sie gewartet. Schicken Sie Verstärkung.“

Jodie beobachtete ihn weiter.

„Ja…habe verstanden. Wir brechen ab.“ Er beendete das Gespräch und warf Jodie das Telefon zu.

„Wer bist du?“, wisperte sie leise.

„Wie du, arbeite auch ich für das FBI. Ich bin Shuichi Akai.“ Er blickte sich um. „Hilfe ist unterwegs. Es wird vermutlich eine halbe Stunde dauern.“ Er stand wieder auf und ging zum verletzten Polizisten. Er versuchte seine Position zu stabilisieren und nahm anschließend dessen Handschellen. Damit fesselte er den bewusstlosen Verbrecher.

„Shuichi…Akai…“

Er drehte sich zu Jodie um. „Ja?“

„Warum…warum bist du hier?“

Er schmunzelte. „Verdeckter Einsatz“, antwortete er und blickte aus einem der Fenster. Ohne einen Wagen oder ein anderes Transportmittel würde er die beiden flüchtigen Verbrecher nicht verfolgen können. Sie kannten sein Gesicht und wäre er nicht im Bus geblieben, um Jodie zu helfen, hätte er die Flucht mit ihnen angetreten und wäre ihren Auftraggebern nähergekommen.

„Danke für die Hilfe“, gab die Agentin von sich.

„Ist das dein erster Einsatz?“

Sie nickte.

„Verstehe…“

„Wieso…bist du nicht mit den beiden anderen geflohen?“

„Ich sollte eigentlich im Gefängnis ermitteln sollen. Die beiden Flüchtigen gehören ebenfalls zu meinen Zielpersonen. Ich wollte ihnen hinterher, allerdings hatte dich der dritte Insasse bereits ins Auge gefasst und du bist verletzt. Ich konnte dich doch nicht deinem Schicksal überlassen.“

„Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Vielleicht…kannst du dich in ein paar Tagen noch ins Gefängnis einschleichen…“

„Vielleicht.“ Er überlegte. „Das müssen wir mit dem FBI besprechen.“ Allerdings hatte er bereits einen Plan.

Tag 30

Jodie rollte vorsichtig die Leinwand auf dem Tisch aus. In einer dazugehörigen Verpackung fand sie 21 Tüten, die mit verschiedenfarbigen Steine gespickt waren. Sie waren allesamt rund und klein. Zudem fand sie einen Stift vor, der dazu diente, dass man die Steine auf die Leinwand auftragen konnte. Sie begutachtete die beigelegte Schale, die Pinzette und das Wachs. Anschließend prüfte sie die Vollständigkeit Steine. Fehlte eine Packung wäre das Bild am Ende lückenhaft.

Die Agentin blickte wieder auf die Leinwand. Diese wurde durch eine transparente Folie geschützt, zeigte aber dennoch das Bild. Sachte strich Jodie über darüber. Da gerade Winter in Japan war, entschied sie sich für ein entsprechendes Bild. In der Mitte stand ein Weihnachtsbaum – schön dekoriert – im Hintergrund eine eisige Fläche, schneeumhüllte Bäume und viele Eisblumen.

Bei der Bestellung wirkte das Bild sehr harmonisch und nun, wo Jodie es vor sich hatte, konnte sie dem nur zustimmen. „Dann wollen wir mal“, sagte sie leise und nahm sich die beiliegende Anleitung zur Brust. Es handelte sich um ein klassisches Malen nach Zahlen-Bild, allerdings gab es keine Tinte, sondern kleine Steinchen, die auf die entsprechenden Felder gesetzt werden mussten. Es würde mehr Zeit in Anspruch nehmen, als sie anfangs gedacht hatte. Aber das machte nichts. Sie brauchte die Ablenkung, die Ruhe und etwas zur Reduktion ihres Stresses.

Jodie entfernte ein Stück der transparenten Folie, nahm den Stift und drückte ihn auf das Wachs. Danach öffnete sie die Tüte mit der Zahl 1, streute die Steine in die Schale und nahm den ersten Stein auf. Diesen platzierte sie auf dem vorgesehenen Feld. So machte sie immer weiter, bis sie die erste kleine Fläche fertig hatte. Der Effekt der Steine brachte sie zum Staunen. Das Bild wirkte mit einem Mal viel realistischer. Vielleicht würde sie es sogar im Wohnzimmer aufhängen.

Nachdem Jodie den Dreh raushatte, machte sie weiter. Immer weiter und weiter. Das Bild zu machen, versetzte sie in einen Zustand der vollkommen Ruhe, aber sie war auch irgendwie aufgedreht und erlaubte sich keine Pause. Erst das Klingeln an ihrer Haustür, holte sie zurück zur Realität. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Sie stand auf und ging in den Flur. Die Agentin sah durch das Guckloch an der Tür und öffnete diese anschließend. „Hey. Mit dir habe ich ja gar nicht gerechnet.“

Shuichi Akai musterte sie. „Du hast die Einsatzbesprechung verpasst.“ Ohne abzuwarten, ging er an ihr vorbei und zog sich Jacke sowie Schuhe aus. Jodie vergas nie eine Besprechung, deswegen nahm er an, dass etwas Passiert sein musste. Und nun war es seine Aufgabe, sich zu überzeugen, dass es ihr gut ging.

„Oh nein“, gab sie von sich. „Ich habe vollkommen die Zeit vergessen.“

„Was ist passiert?“

„Eigentlich nichts.“ Sie kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich…naja…weißt du…“

„Ja?“

Sie seufzte. Er würde es nicht verstehen, aber er würde auch nicht lockerlassen, bis er wusste, was los war. „Komm mit…“ Jodie ging ins Wohnzimmer.

Akai blickte sich misstrauisch um. Sie hatte keinen Besuch – wenigstens etwas Positives.

„Ich war doch neulich beim Arzt, weil es mir nicht so gut ging. Er riet mir, dass ich meinen Stresspegel reduzieren sollte. Am besten mit Yoga oder einem anderen beruhigenden Hobby. Normalerweise bin ich gerne in der Spielhalle, aber das könnte zu aufregend sein. Ich habe Yoga versucht, aber es hat mir irgendwie nicht so viel gebracht. Aus dem Grund habe ich im Internet nach Alternativen gesucht und das Diamond Painting gefunden und für mich entdeckt.“

Diamond Painting?“

Jodie nickte. „Du kennst doch sicherlich Malen nach Zahlen. Das ist was ähnliches. Aber anstatt Tinte, werden kleine Diamonds, also Steine, verwendet. Diese werden nach und nach auf die Leinwand geklebt und am Ende hat man ein schönes Bild. Ich dachte, ich versuch es einfach mal. Hier, schau mal.“ Sie zeigte auf das Bild auf dem Tisch.

Shuichi wandte seinen Blick dorthin. „Was soll das sein?“

„Sieht man das nicht?“, kam es von der Agentin. „In der Mitte ist ein Weihnachtsbaum, umhüllt von schneeerfüllten Bäumen und vielen Eisblumen.“

„Eisblumen? Für mich sieht das nach Eiskristallen aus.“

Jodie kicherte. „Das ist doch das Gleiche. Wenn die Eiskristalle in dieser Form vorliegen, also wenn sie einer Pflanze ähneln, nennt man sie auch Eisblumen. Du hast sie sicher auch schon gesehen. Sie entstehen oft am Fenster im Winter oder an den Scheiben bei den Bushaltestellen. Dort habe ich tatsächlich vor kurzem ein Meer aus Eisblumen gesehen. Es war wunderschön, besonders in den frühen Morgenstunden, als es langsam hell wurde.“

„Du schwärmst ja richtig davon…“

„Ich habe gefallen daran gefunden. Früher habe ich sie auch nur als Eis oder Kristalle wahrgenommen. Auf der Suche nach einem geeigneten Bild habe ich mich über die Überschrift Eisblumen zur Weihnachtszeit gewundert. Deswegen habe ich mich etwas in das Thema Eisblumen eingelesen.“ Sie schmunzelte. „Wenn du willst, erzähl ich dir noch mehr darüber. Ich bin jetzt Expertin.“ Nun konnte auch sie neues Wissen auffahren. Und Eisblumen waren tatsächlich etwas Schönes. Ein Wunder der Natur.

„Nicht nötig.“

„Waaas?“ Dabei wollte sie ihm doch so viel zum Thema Eisblumen erzählen, wo das Wissen nun in ihr war. „Du kannst manchmal echt gemein sein.“

Er zuckte mit den Schultern. „Wie lange dauert so ein Bild?“

„Mhm…“ Jodie überlegte. „Ich habe heute Mittag damit angefangen und hab jetzt etwa die Hälfte geschafft. Ich vermute, man braucht um die zehn bis zwölf Stunden. Je erfahrener man ist, desto weniger Zeit braucht man für ein Bild. Allerdings ist das hier auch recht klein. Es gibt noch viel Größere.“

„Kannst du dich auf was anderes konzentrieren, oder möchtest du an deinem Eisblumen-Bild weiter machen?“, fragte er.

Jodie schielte zu ihrem Bild. Den Weihnachtsbaum und die eisige Fläche hatte sie bereits fertig gemacht, ebenso eine größere Eisblume rechts. Die kleineren Eiskristalle und die Eisblumen auf der linken Seite waren noch unfertig. „Natürlich. Die Arbeit hat höchste Priorität. Das Bild kann erstmal warten“, sagte sie und legte die transparente Folie wieder auf die Leinwand. „Setz dich doch. Möchtest du etwas zu trinken haben?“

„Nicht nötig.“ Er setzte sich.

Jodie nahm neben ihm Platz. „Was habe ich vorhin verpasst? Und war James sehr wütend?“

„Du kennst ihn doch. Statt wütend auf dich zu sein, macht er sich Sorgen. Ich habe ihm versprochen, dass ich nach dir sehe“, begann er. „Es geht leider nicht um die Organisation. Der Sohn eines Kollegen kommt für zwei Wochen nach Tokyo. Wir sollen Babysitter spielen, da sie Angst haben, dass ihm hier etwas passiert.“

„Großartig.“ Jodie rollte mit den Augen. Solche Aufgaben liebte sie…nicht.

„Black wollte dir die genauen Daten noch schicken.“

„Äh…Moment“, kam es ungläubig von ihr. „Ihr wollt, dass ich mich in der Zeit um ihn kümmere?“

„Wer nicht zur Besprechung kommt, bekommt eben solche Aufgabe. Du sollst nicht die ganze Zeit auf ihn aufpassen, aber du hast mehrere Schichten.“ Er blickte wieder zu dem Bild. „Du kannst ihn ja Eisblumen ausmalen lassen.“

„Haha!“

Shuichi schmunzelte.

Tag 31

Shuichi blickte auf den Bildschirm vor ihm. Zum zweiten Mal las er den Text, den er verfasst hatte. Er runzelte die Stirn und war unsicher, ob er die Mail in dieser Form tatsächlich verschicken sollte. Normalerweise war er kein Mensch, dem wichtig war, was andere von ihm hielten, allerdings wäre es nicht vom Vorteil, wenn der Hausherr der Kudo Villa ein Problem mit ihm haben würde oder noch viel schlimmer: ihm täglich über die Schulter schauen würde. Akai seufzte. Er korrigierte ein paar Passagen, bis er gänzlich mit seinen Anmerkungen zufrieden war. Aber reichte es auch? War er vielleicht zu hart?

Nachdem Yusaku für sein Drehbuch des scharlachroten Agenten ausgezeichnet worden war, entschied er sich, die Geschichte niederzuschreiben – ausführlicher als im Film. Dafür wurde nicht nur Shuichi mehrfach interviewt – was ihm eh schon auf die Nerven ging – sondern auch seine Kollegen. Camel, Black und Jodie. Besonders Jodie war vollkommen Feuer und Flamme, als sie von dem Buch gehört hatte. Sie stellte sich sofort als Beta-Leserin zur Verfügung, hatte das Manuskript aber noch nicht zu Gesicht bekommen. Noch nicht. Aber wenn Yusaku seine Anmerkungen lesen würde, würde er vielleicht doch Jodie einspannen.

„Ich habe die Bücher gefunden.“ Jodie kam in das Wohnzimmer. Sie hielt zwei Bücher im Arm. „Ich bring sie wieder zurück, wenn ich sie gelesen habe. Es ist wirklich nett von den Kudos, dass wir uns in ihrer Bibliothek frei bedienen dürfen.“

Er sah zu ihr hoch. „Nur zwei Bücher? Wolltest du nicht mehr?“

„Wollte ich, aber ich kann ja erst mit den Beiden anfangen und mir später die nächsten Bücher holen“, entgegnete sie. „Wenn Herr Kudo bald den scharlachroten Agenten als Buch rausbringt, muss ich einfach seine bisherigen Werke lesen. So als Einstimmung.“

Auch er hatte die Bücher des Hausherren gelesen. „Du weißt, dass es keine Fortsetzung ist?“

„Natürlich“, nickte sie. „Aber das heißt doch nicht, dass ich nicht trotzdem seine anderen Werke lesen kann. Außerdem habe ich schon von vielen gehört, dass man seine Bücher einfach gelesen haben muss. Ich bin schon gespannt.“

Shuichi schüttelte lächelnd den Kopf. „Und wenn es noch dauert, bis er das Buch veröffentlicht?“

„Dann ist das eben so. Ich habe ja ein paar Werke vor mir. Außerdem hat er mich ja auch für sein neustes Buch interviewt. Ich habe kein Problem damit, ihn nochmal zu fragen, ob ich das Manuskript lesen darf. Ich könnte ihm sicher auch ein paar nützliche Anmerkungen machen.“

„Mhm…“

„Was ist? Sag mir nicht, dass du es nicht lesen willst. Du musst doch auch neugierig sein. Das Buch basiert schließlich auf dir.“

„Nun…“, gab der Agent von sich. „Ich kenn sein Manuskript.“

Sofort bekam Jodie große Augen. „Shuuuu?“

Akai erkannte seinen Fehler. Wenn Jodie so reagierte, hatte er kaum eine Chance gegen sie. Er musste versuchen, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Ich kann es dir nicht zum Lesen geben.“

„Aber Shu“, begann sie. „Ich weiß doch von dem Buch und ich komm darin auch vor. Das hat mir Herr Kudo versprochen. Ich glaube nicht, dass er ein Problem damit hätte, wenn du es mich lesen lässt.“

„Tut mir leid, Jodie, aber das geht nicht“, sprach er. „Ich kann bei ihm ein gutes Wort für dich einlegen. Wenn er möchte, dass du es liest, wirst du es bekommen.“ Sie sah nicht glücklich aus, aber der Agent musste hart bleiben.

Jodie seufzte. „Na gut…mit dir bringt es ja nichts zu diskutieren.“

Irritiert blickte er zu ihr. Jetzt musste er umso mehr auf der Hut sein, denn irgendwas hatte sie vor. Sie ließ nie einfach so locker. „Danke.“

„Darf ich trotzdem etwas anmerken?“

„Was?“

„Du siehst nicht gerade erfreut aus“, meinte sie. „Stimmt etwas nicht? Haben wir Probleme?“

Akai schaute wieder zu seiner E-Mail. Wenn er nicht aufpasste, würde sie so ihren Willen bekommen. Aber irgendwas musste er ihr sagen. „Viel kann ich dir nicht sagen.“ Er zögerte.

„Dann erzähl mir das, was du sagen kannst“, gab Jodie von sich. „Vielleicht kann ich dir helfen.“ Sie setzte sich auf das Sofa. „Ich behalte es auch für mich.“

Er seufzte abermals. Und schon hatte sie ihn um den kleinen Finger gewickelt. „Wie gesagt, ich durfte das Manuskript lesen und soll dazu Anmerkungen machen“, fing er an. „Das habe ich und…im Vergleich zu seinen anderen Büchern ist es schlecht. Versteh mich nicht falsch. Es gibt viele interessante Stellen, aber bei vielen fehlt das gewisse Etwas. Er holt mich damit nicht ab. Irgendwie wirkt es sehr gestellt. Man merkt, dass er viel Fokus auf die Geschichte als solches gelegt hat und der Cliffhanger am Ende lässt darauf schließen, dass es noch einen zweiten Teil gibt. Er hat viele Charaktere eingebaut und manchmal fragt man sich, welche Rolle ihnen im Buch zuteilwird, allerdings tauchen sie dann nie wieder auf. Vielleicht kommen sie im zweiten Teil vor.“ Akai zuckte mit den Schultern. „Wie du hörst, habe ich einige Kritiken an seinem Buch. Vielleicht liegt es aber auch daran, weil ich einiges erlebt habe und daher seine Geschichte nicht so harmonisch wirkt.“

Jodie dachte nach. „Mhm…verstehe. Aber…,wenn er dich darum gebeten hat, dass du ihm eine Rückmeldung gibst, dann ist es doch in Ordnung Kritik zu haben. Du musst nur versuchen, dass sie eher konstruktiv klingt. Also, schreib ihm zuerst, was du gut gefunden hast und warum. Und dann schreibst du ihm, was du nicht so toll gefunden hast, warum und wie er es besser machen könnte. Mach ihm einfach paar Verbesserungsvorschläge. Dann wird es auch nicht so schlimm werden.“

„Ihm meine Anmerkungen und Kritiken zukommen zu lassen, ist auch nicht das Problem“, entgegnete Akai. „Er lässt mich hier wohnen und unterstützt uns bei der Arbeit, wenn ich jetzt sein Manuskript kritisiere…“

Jodie lachte. „Du hast vor ihm Angst?“

„Nein, das ist es nicht. Seine Bücher werden allesamt gelobt, ich glaube nicht, dass er Kritik gewöhnt ist. So wie ich ihn einschätze, wird ihn die Kritik am Anfang deprimieren, aber dann wird er feststellen, dass es etwas Gutes ist und ein Weg, um sich zu verbessern. Allerdings…kann ich mir gut vorstellen, dass er dann jeden Tag in der Villa ist und mir seine Korrekturen zu Lesen gibt. Immer und immer wieder.“

Jodie lachte noch mehr. Sie konnte es sich nur zu gut vorstellen.



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