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Das Leben danach

Magister Magicae 12
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir in der Seele weh, wie gemein ich jetzt zum Ende hin nochmal zu meinem armen Waleri sein muss. TT_TT
Aber irgendwie muss Olhas Wut ja einen adäquaten Grund haben.

Danke an alle, die mitgelesen haben. (Ich hab euch in der Statistik ganz genau gesehen. O_~) Komplett anzeigen

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Das neue Leben

Waleri trat in die Stripper-Bar ein, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, und blieb im Eingang stehen. Er ließ lange den Blick schweifen. Er war sich noch nicht so sicher, ob das hier wirklich der Ort war, an dem er gerade sein wollte. Aber ihm fiel auch nichts Besseres ein, um den Kopf abzuschalten.

"Darf ich dir Gesellschaft leisten?", wurde er unvermittelt von der Seite angequatscht.

Waleri schaute fragend herum. Neben ihm war ein Mädchen aufgetaucht, natürlich kleiner als er selber, und ziemlich süß. Sie gehörte offenkundig zum Personal dieser Titten-Bar, aber sie wirkte im Moment eher besorgt als verführerisch. Ihr Blick erweckte den Eindruck, als wisse sie mehr über Waleris momentanes Innenleben als ihm lieb war. Sah man ihm seine Laune so deutlich an?

"Danke, ich hab heute kein Interesse an Mädchen. Ich will mich eigentlich nur in aller Ruhe betrinken", wiegelte er sie gutmütig ab.

Sie nickte. "Das ist in Ordnung", gab sie ruhig zurück. "Aber trotzdem siehst du aus, als könntest du jemanden zum Reden brauchen."

Mit einem innerlichen Seufzen warf Waleri nochmal einen Blick in die Runde. Es war niemand hier, den er kannte. Alles nur anonyme, namenlose Gesichter. Genau darum hatte er sich ja für diese Lokalität entschieden. Und Herrgott nochmal, sein Schützling war gestern gestorben. Hatte er nicht gerade andere Probleme? "Na, meinetwegen", gab er sich geschlagen. Eigentlich hatte die Dame ja Recht. Allein sein wollte er wirklich nicht.
 

Waleri hob das Glas, um sich den vierten Vodka hinterzuhauen. Da sie hier nicht stogram ausschenkten, sondern nur Fingerhüte, würde er sicher noch einige brauchen. Er hatte sich gleich mehrere bestellt. Drei weitere standen noch vor ihm. Diese Stripperin, die sich als Chantal vorgestellt hatte, saß ihm gegenüber, hatte das Kinn in die Hand gestützt, und beobachtete ihn besorgt. Sicher war 'Chantal' nur ihr Arbeits-Pseudonym. In diesem Gewerbe verriet man den Kunden nie seinen bürgerlichen Namen. Waleri war inzwischen der Meinung, dass sie auch kein Mensch war, sondern irgendein Genius. War ihm aber auch egal.

"Kommst du hier aus Moskau? Oder bist du nur zu Besuch?", wollte Chantal wissen. Zuvor hatte sie sich als niederschwelligen Einstieg mit völligen Belanglosigkeiten begnügt, aber langsam hatte sie den Eindruck, dass er auftaute. Jedenfalls antwortete er nicht mehr so einsilbig wie zu Anfang.

"Nein, ich wohne in Moskau. Mal sehen, wie lange noch. Bei mir orientiert sich gerade alles um, sowohl beruflich als auch privat."

"Was ist das eigentlich für ein bekloppter Fluch, mit dem du da rumläufst?", wollte sie wissen, nachdem Waleri den vierten Vodka in Gänze intus hatte.

"Was für ein Fluch?"

Sie deutete mit dem Zeigefinger völlig ungeniert zwischen seine Beine. "Wenn du dich kastrieren willst, gibt es doch weiß Gott geeignetere Methoden."

Waleri verengte skeptisch die Augen, weil er immer noch nicht glauben wollte, dass sie wirklich das gleiche meinte wie er. "Was willst du damit sagen?" In Zeitlupe, geradezu vorsichtig, stellte er das Schnapsglas ab.

"Du bist doch auf magische Weise unfruchtbar gemacht, oder nicht?"

"Das ist nur ein Fluch!!!???", erwiderte Waleri fassungslos. Er schnappte erneut nach dem leeren Glas und begann fahrig damit zu spielen, einfach nur weil er sonst nicht wusste wohin mit seinen Händen. "Ich dachte immer, in meinem Körper wäre organisch irgendwas kaputt gemacht worden. Also irreparabel."

"Ist dir das etwa gegen deinen Willen angetan worden?", hakte sie, nicht minder perplex, nach und wirkte plötzlich selbst sehr betroffen.

Waleri ließ das Glas klirrend auf die Tischplatte zurückfallen, faltete die Hände auf der Nasenspitze, konnte sein breites Grinsen aber dennoch nicht dahinter verbergen. Ihm schossen unvermittelt Tränen in die Augen, bei denen er sich gar keine Mühe gab, sie zu verbergen. Freudentränen. "Wenn das wirklich nur ein Fluch ist ... hast du mich gerade komplett wiederhergestellt und mir mein Leben zurückgegeben! Danke!", hauchte er und spülte das Bedürfnis, noch mehr zu weinen, mit einem weiteren Schnaps herunter. "Ich wollte immer Kinder. Schon immer! Immer, immer, immer. Aber zuerst haben meine Lebensumstände es nicht hergegeben, und dann war ich nicht mehr in der Lage dazu", erzählte er mit vielsagendem Deut auf seinen Unterleib. "Aber wenn das nur ein Fluch ist, kann man den ja brechen und das Problem damit beheben."

Das Mädchen lächelte ihn begeistert an. Sie freute sich sichtlich, dass sie ihm hatte helfen können. "Ich glaube, du hast viel zu erzählen. Wollen wir nicht doch lieber in eins der Hinterzimmer gehen, wo es ruhiger ist?"
 

"Oh, Ralf!", grüßte sie begeistert, als ihnen im Gang ein Security entgegen kam. Genau der, den sie gerade brauchte. "Du kennst dich doch mit Flüchen aus. Kannst du dir das hier mal kurz ansehen? Bekommst du das gelöst?"

Der Angesprochene war schlank aber sportlich, hatte schwarze, wuschelig nach oben gegeelte Haare, und ein hautenges, ebenso schwarzes T-Shirt mit dem sehr fragwürdigen Aufdruck:
 

[x] fuck me

[ ] fuck you

[ ] fuck off
 

Er trat mit einem einverstandenen Schmunzeln näher und fuhr suchend mit der Handfläche über Waleris Bauchmuskulatur, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen. Aber Waleri war gerade zu glücklich, um zu protestieren. "Hm. Das ist ein ganz schön alter Fluch. Den trägst du schon länger mit dir rum, oder?"

Waleri wollte gerade bestätigen, als eine Schmerzexplosion zwischen den Beinen ihn mit dem gesamten Oberkörper nach vorn knicken ließ. Als hätte ihm jemand in die Eier getreten. Schockiert schnappte er nach Luft.

"Ach ja, ich hätte dazusagen sollen, dass es ein bisschen wehtun kann, so alte Flüche zu brechen", meinte Ralf schief grinsend. "Aber es geht gleich wieder."

"Danke", strahlte die Stripperin ihn fröhlich an.

"Ja ... danke ...", presste auch Waleri hervor. Er versuchte mühsam, sich wieder aufzurichten und seine Schnappatmung unter Kontrolle zu bekommen.

Der Sicherheitsmann klopfte ihm bekräftigend auf die Schulter. "Nimm von jetzt an Gummis, Kumpel. Nicht, dass du mir meine Mädchen schwängerst", scherzte er und ging dann einfach weiter, wohl wissend, dass sich die Freudenmädchen so oder so nicht auf ungeschützten Verkehr eingelassen hätten. Er hatte offensichtlich zu tun und hatte sich wohl nur aus Kulanz kurz aufhalten lassen.

Waleri atmete nochmal tief durch, dann war der Schmerzreiz tatsächlich auch schon wieder gänzlich verflogen. Der Mann hatte nicht zuviel versprochen. Trotzdem stemmte er die Hände in die Seiten und legte kurz den Kopf in den Nacken, um sich wieder in den Griff zu kriegen. "Was zur Hölle!?", konnte er sich nicht verkneifen. "Der Typ wusste sofort, worum es geht, oder? Ohne, dass ihm jemand ein Sterbenswörtchen sagen musste?"

"Japp. Für Fluch-Magier sind Flüche so leicht zu erkennen und zu lesen, als hätte es dir jemand groß in Leuchtschrift auf die Brust geschrieben. Ob sie dir helfen können, ist eine andere Frage. Aber auslesen können sie Flüche problemlos."

Waleri war einen Moment lang sauer auf Victor, der jahrelang mit ihm zu schaffen gehabt und nie einen Kommentar zu diesem Fluch verloren hatte. Der war auch Fluch-Magier. Und noch dazu ein dermaßen begnadeter, dass er heutzutage angeblich sogar irgendwo unterrichten sollte. ... Aber dann entschied Waleri, dass er jetzt wahrlich anderes zu tun hatte, als sich über Victor zu ärgern. Das Leben war zu schön und gerade so voller Freude, dass alle negativen Gedanken schnell wieder verblassten. "Bist du auch ein Fluch-Magier, wenn du das so schnell erkennen konntest?"

"Nein, ich bin Wahrsager. Ich sehe Tatsachen, die andere nicht wissen."
 

Sie hatte ihren Kopf auf seiner Schulter geparkt und kuschelte sich gemütlich an ihn an. Ihre Hand lag lose auf seiner Brust.

Waleri starrte die Decke an. Er genoss einfach nur die zärtliche Nähe und die ruhige Zeit. Er glaubte nicht - und hatte es eigentlich auch nicht vor - dass hier noch was Ernstes zwischen ihnen beiden passierte. Sie lagen wirklich nur zum Reden und mangels anderer Sitzplatzalternativen im Bett.

"Also!", hob sie irgendwann an. "Ich gebe mal einen Tipp ab."

"Ich höre."

"Bei deiner Statur hast du es höchstwahrscheinlich erstmal mit einer Sportler-Karriere versucht. Ich schätze Wrestling, oder Boxen, oder irgendein anderer, körperbetonter Zweikampfsport. Wahrscheinlich war das zu diesem Zeitpunkt auch das Einzige, was du konntest."

"Hm", machte Waleri nur. Noch war er amüsiert darüber, wie richtig sie lag.

"Die Sport-Karriere hast du vermutlich in den Sand gesetzt."

"Wem sagst du das ..."

"Wie ging es weiter? Hattest du einen Plan? Oder hast du dich mit Gelegenheits-Jobs über Wasser gehalten, bis dir eine zündende Idee kam?"

Waleri starrte weiter nachdenklich zur Decke hoch und sagte nichts mehr. In den Bordellen, in denen er früher verkehrt hatte, hatte er den Mädchen alles erzählen können. Sie hatten sowieso gewusst, wer er war, und waren trotzdem verschwiegen gewesen. Aber in diesem Club hier war er noch nie zuvor gewesen. Er kannte die Mädchen hier nicht. Den Besitzer ebenso wenig. Er würde sich hüten, auch nur ein Wort über seine kriminelle Vergangenheit zu verlieren. Oder überhaupt über seine Vergangenheit. Auch dass er einen Schützling gehabt hatte, der jetzt tot war, musste sie nicht wissen, ganz gleich wie vehement sie ihm Redebedarf unterstellte. Hätte er reden wollen, hätte er sich andere Gesprächspartner gesucht.

Chantal bohrte auch nicht weiter. Eine Weile schwieg sie ebenfalls. "Hast du schon ein liebes Mädchen ins Auge gefasst, wenn du sagst, dass du Kinder willst?", versuchte sie irgendwann ein neues Thema. "Klingt ja stark nach Familiengründung."

Waleri seufzte leise. "Würde ich schon gern. Aber Elasmotherium sibiricum sind selbst hier in Russland nicht sehr verbreitet. Und wenn, dann hausieren sie nicht damit, was sie sind. Ich wüsste nichtmal, wo ich suchen soll. Ich kenne jedenfalls keine."

"Elasmos ...", überlegte die Stripperin laut. Sie nahm ihren Kopf von seiner Schulter, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Man sah förmlich die Zahnräder hinter ihrer Stirn rattern, während sie überlegte. "Ja, ich glaube, am Roten Platz gibt es eine kleine Mucki-Bude, die von drei oder vier Elasmos betrieben wird, in die aber sonst keiner reingelassen wird. Wie so´n Privatclub. Aber vielleicht kann man zumindest mal mit ihnen reden. Die könntest du ja als Ausgangspunkt für deine Suche nehmen."

Waleri zog die Stirn in Falten. "Echt? Dann werde ich das mal tun. Danke für den Tipp!"

Der private Club

Es wurde langsam spät. Die Straßenbeleuchtung ging gerade flackernd an, als Waleri vor der unscheinbaren Milchglas-Tür auftauchte und sich suchend umsah. Keine Werbung und kein Klingelschild verrieten, was sich hinter dieser Tür verbarg, aber trotzdem war er sich halbwegs sicher, hier richtig zu sein. Andere Gebäude, die in Frage kamen, gab es jedenfalls weit und breit nicht. Bei genauerem Hinschauen entdeckte Waleri auch endlich die Hausnummer etwas abseits und gut versteckt an der Wand. Ja, hier war es. Und drinnen brannte Licht. Ohne groß zu Überlegen streckte er die Hand nach dem Metallgriff aus und drückte die Tür auf.

Drinnen eröffnete sich ihm eine ganz eigene Welt, die er schon viel zu lange hatte missen müssen. Kaltes Neonlicht fiel funkelnd auf sauber geputztes Metall. Überall standen Trainingsgeräte herum. Hantelbänke, Gewichte, schwere Maschinen. Im hinteren Teil tänzelten zwei Sportler in einem Boxring umeinander herum. Irgendwo wurde lautstark ein Sandsack verdroschen. Waleri wurde sofort nostalgisch. Ihm gefiel es hier, auch wenn die weitläufige Lokalität auffallend verlassen wirkte. Es war keiner weiter da. Beim ersten Rundblick zählte Waleri vier Personen zwischen den gefühlt sechzig Geräten.

Eine Frau kam von der Seite anspaziert und blieb verwundert stehen, als sie Waleri erblickte. Sie hatte breite Schultern, ein kantiges Gesicht und jede Menge Muskeln, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan als Bodybuilding zu trainieren. Sie hatte ihre schwarz gefärbten Haare zu einem Zopf gebunden und schleppte ein Paar Boxhandschuhe in der Hand mit sich herum. Der Blick ihrer stahlgrauen Augen scannte Waleri eingehend von oben bis unten und wieder hinauf.

"Hallo ...", grüßte Waleri sie etwas verunsichert, weil er diesen Blick nicht recht einordnen konnte.

Sie deutete kurz mit dem Zeigefinger auf ihn. "Du bist ein Elasmotherium", stellte sie in einem Tonfall fest, als wäre sie verwundert, warum sie ihn nicht kannte.

"Ja ... äh ... du kannst Waleri zu mir sagen."

Ihre Zungenspitze stocherte deutlich sichtbar in die Innenseite ihrer Wange, was ihr Gesicht neckisch ausbeulte. Sie schien kurz irgendwas abzuwägen. Dann klatschte sie mit einem schiefen Grinsen ihre Boxhandschuhe gegen Waleris Brust, so dass er diese reflexartig auffangen musste. "Zieh die Straßenschuhe aus und komm mit", trug sie ihm auf. "Ich bin übrigens Katerina. Freut mich." Sie drehte sich um, ging voraus und rief lautstark nach einem gewissen Serhii.

"Wa-warte mal! So war das nicht gedacht!", protestierte Waleri überfordert, und beeilte sich, die Schuhe loszuwerden, um ihr nacheilen zu können. Er fühlte sich wie ein Diener, der seiner Herrin die Ausrüstung hinterhertragen musste.
 

Waleri hätte sich gern verunsichert am Kopf gekratzt, aber die dicken Sparringhandschuhe, in die er eingesperrt worden war, verhinderten es. Er wusste gar nicht mehr, wann er das letzte Mal Boxhandschuhe getragen hatte. Von dieser überflüssigen Erfindung hatte er schon in seiner Jugend sehr schnell Abstand genommen. Zumindest die Zahnschiene war ihm erspart geblieben. Er hatte keine eigene dabei, und eine fremde stand aus hygienischen Gründen nicht zur Debatte.

Ein Typ hüpfte vor ihm herum wie ein euphorischer Flummi. Serhii hieß er. Er hatte ein freundliches Gesicht, dem ein Pony fransig ins Gesicht hing. Er trug eine schnurgerade geschnittene Trainingshose, die jegliche Silhouette kaschierte, und ein ärmelloses Oberteil. Im Gegensatz zu Waleri trug er auch eine Zahnschiene. Der Mann wirkte hellauf begeistert, ein neues Gesicht hier zu sehen, und hampelte wohl deshalb so enthusiastisch herum. Dennoch schien er zu wissen, was er tat. Der Kerl hatte augenscheinlich schon öfter im Ring gestanden.

Zwei weitere Kerle und die Frau, allesamt Elasmotherium wie er selber, lehnten auf den Ringseilen und grinsten sensationslüstern. Die wollten den Gast unbedingt kämpfen sehen. Dabei hatte der nichtmal Sportsachen dabei. Waleri war völlig unvorbereitet hier aufgeschlagen. Er hatte schließlich nur quatschen wollen, nicht trainieren.

"Los, tu schon was! Greif mich an!", nuschelte Serhii durch sein Gummigebiss.

Waleri ließ lustlos die Schultern hängen. "Ernsthaft jetzt? Ich bin ja noch nichtmal aufgewärmt."

"Hast du Schiss?"

"Schon, ja. Aber nicht vor dir, sondern um dich, Kollege."

"Jetzt mach schon! Quatsch hier keine Opern!", verlangte Serhii wieder und puffte Waleri mit seinen großen Polsterglocken von Boxhandschuhen an. Er hielt das wohl für einen harten Schlag. Für Waleri, der beileibe anderes gewöhnt war, fühlte es sich an wie ein kameradschaftlicher Schulterklopfer.

Waleri kassierte abermals einen wattegepolsterten Schlag, gleich einem schlechten Rempler. Er rollte seufzend mit den Augen. Die hatten ihm noch nicht einmal gesagt, was die hier überhaupt trainierten. Boxen, Kickboxen, Wrestling, MMA, es gab da durchaus Unterschiede. Und er wollte nicht schon nach dem ersten Schlagabtausch als unfairer Kämpfer dastehen, der Regeln brach. Aber dann entschied er, dass es ihm eigentlich auch egal war. "Na schön. Wenn du denn drauf bestehst ..." Waleris Rechte schnappte nach vorn. Kerzengerade. Ohne Schwung zu holen. Ohne zu zielen. Aber sie schlug in Serhiis Gesicht ein wie ein Rammbock. Serhii fiel baumstammgleich nach hinten um. - Und blieb liegen.

In den Ringseilen war ebenfalls übergangslos Ruhe. Katerina hatte erschrocken die Hände vor den Mund geschlagen, einer der Kerle fuhr sich erschüttert und überfordert durch die Haare. Der andere kletterte nach kurzem Hadern in den Ring, um Serhii wieder auf die Beine zu helfen.

Waleri schüttelte unterschwellig den Kopf. "Hört mal, Freunde, wollen wir uns nicht lieber irgendwo hinsetzen und uns erstmal unterhalten?" Mit den Zähnen zerrte er den Klettverschluss eines seiner Boxhandschuhe auf, bevor noch jemand auf die Idee kam, ihn in Kämpfe verwickeln zu müssen.
 

Keine zwanzig Minuten später saßen sie tatsächlich in einer dunklen, verrauchten Kneipe um die Ecke und hatten Getränke vor sich auf dem Tisch stehen. Soeben gesellte sich noch eine Frau dazu, die heute nicht mit im Club trainiert hatte, aber nun mittels eines Handyanrufs noch herbeizitiert worden war. Sie war jünger, hatte etwas weichere Gesichtszüge, und ihre Statur war noch nicht so aufgepumpt wie die von Katerina. Dennoch sah man auch ihr die Elasmotherium-Abstammung deutlich an.

"Das hier ist Olha", stellte Serhii ihm die junge Frau vor. "Jetzt sind wir vollzählig. Hier siehst du meine ganze Truppe." Er gestikulierte einmal rund um den Tisch.

Waleri nickte leicht. "Und du bist der Chef?"

Der K.O. gegangene Fighter, von dem Waleri inzwischen wusste, dass er der Besitzer des Fitness-Studios war, konnte sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. "Vermutlich. Jedenfalls behaupten das immer alle."

"Du hast ne ganz schön große Mucki-Bude für fünf Leute."

"Wir waren mal mehr. Viel mehr", meinte Serhii nur sentimental und setzte seine Kaffeetasse an, um sie in einem Zug halb zu leeren.

"Was ist passiert?"

"Elasmos dürfen hier in Russland nicht mehr in der Profi-Liga kämpfen, DAS ist passiert. Wir sind anderen körperlich überlegen."

Waleri zog ein irritiertes Gesicht. Seit er all seine Aufmerksamkeit der Motus gewidmet hatte, hatte er die Szene ziemlich aus den Augen verloren. Aber er glaubte, dass er sowas Gravierendes schon trotzdem irgendwo aufgeschnappt hätte. "In welchen Sportarten?"

"In allen. ... Zumindest in den Kampfsportarten. Im Bodybuilding auch. Naja, wenigstens Golf spielen dürfen wir noch."

"Hab ich gar nicht mitbekommen. Seit wann?"

"Seit ein paar Jahren erst. Aber das hat einigen Kämpfern echt den Boden unter den Füßen weggezogen. Viele unserer Kämpfer haben ihren Lebensunterhalt damit verdient. Sie standen plötzlich ohne Existenzgrundlage da. Und wenn nicht das, dann hat es ihnen zumindest die Motivation fürs Weitertrainieren geraubt."

"Wir sind einfach zu stark und kloppen alles weg, was sich uns in den Weg stellt, wenn wir gut trainiert sind. Gerade wenn es Wettkampf-Regeln gibt, was erlaubt und was verboten ist. Die schränken das Spektrum an Angriffstechniken, mit denen man uns schlagen könnte, ziemlich ein", erklärte Katerina. "Man hat es irgendwann als unlauteren Wettbewerb eingestuft, uns gegen Menschen oder andere Genii um Titel kämpfen zu lassen."

Waleri brummte unzufrieden. Diese Entwicklung gefiel ihm gar nicht. Er hatte eigentlich gehofft, selbst wieder im professionellen Kampfsport Fuß fassen zu können. Was hätte er beruflich auch sonst anderes tun sollen? Weiter kriminell bleiben? "Auf der Straße gibt es keine Regeln ..."

"Nein, aber auch keine Titel."

"Aber Preisgelder. Und zwar nicht zu knapp."

Serhii zog eine unschlüssige Flunsch. "Die allermeisten von uns bevorzugen es, legal zu bleiben. Wir Elasmos haben eh schon keinen hohen Stand. Es liegt uns fern, unseren Ruf auch noch damit zu schädigen, dass wir in den Untergrund gehen und jede Woche irgendwo eine unserer Veranstaltungen von der Polizei aufgelöst wird."

Waleri überlegte kurz. "Okay. Warum gründen die Elasmotherium dann nicht ihre eigene Liga? Eine legale, meine ich. Wurde das auch verboten?"

Serhii gab einen belustigten Laut von sich. "Nein, das nicht. Aber würdest du dir diesen Schuh anziehen wollen? Ich nicht. Das ist ne Nummer zu groß für uns. Keiner von uns hat die nötige Kohle oder die nötigen Connections dafür. Für sowas braucht man Sponsoren und das Wohlwollen der Medien. Beides haben wir verloren, als wir aus dem Profi-Sport verbannt wurden. Und vor allem braucht man Geschäftssinn. Du weißt, dass wir Elasmos nicht als übermäßig intelligent gelten. Ein Fitti zu haben und von den Einnahmen neue Sportgeräte zu kaufen, ist das höchste der Gefühle. Einen Dachverband samt PR-Abteilung zu managen, ist eine ganz andere Hausnummer."

Waleri deutete eine sonderbare Kopfbewegung, halb Nicken, halb nachdenkliches Wiegen, an und ließ den Blick auf der Tischplatte ruhen. Er hätte sich das schon zugetraut. Verdammt, er hatte gemeinsam mit Vladislav ein internationales Verbrecher-Kartell geleitet, und zwar in einer so cleveren Weise, dass die Polizei ihnen nichts konnte. Und Vladislav hatte beileibe nicht alles selber machen müssen, weil Waleri zu dumm dazu gewesen wäre. Waleri wusste sehr gut, wie man eine Organisation aufbaute und am Laufen hielt. Das einzige, was er vielleicht an Wissen und Fertigkeiten noch gebraucht hätte, waren ein paar gesetzliche Regelungen aus dem Steuerrecht, um die Buchhaltung so zu führen, wie die Ämter sich das wünschten. Aber das sagte er natürlich nicht. Es war noch zu früh für solche Details aus seiner Vergangenheit.

"Erzähl doch mal!", wechselte Olha interessiert das Thema. "Wir dachten, wir würden alle Elasmotherium in der Gegend kennen. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Bist du erst neu nach Moskau gezogen?"

"Nein. Ich bin nur daran gehindert worden, im Kampfsport aktiv zu werden. Ich war bis vor Kurzem noch ein gebundener Schutzgeist und mein Schützling hatte einfach eine andere Lebensphilosophie."

"Schützling?" Alle sahen ihn mit riesigen Augen an. "Du warst an einen magisch begabten Menschen gebunden?"

"Er ist tot", meinte Waleri sachlich. Dann nahm er ruhig einen Schluck von seinem Wasser und stellte das Glas dann bedächtig zurück.

"War es ein Unfall?"

Der Hühne spielte mit den Fingerspitzen am Rand seines Glases herum, ohne dabei unruhig zu wirken. "Nicht direkt. Er hat sich mit den falschen Leuten angelegt. Da konnte selbst ich als sein Schutzgeist nichts mehr tun." Er musste kurz amüsiert schmunzeln, als er in die großen, fragenden Augen seiner Gesprächspartner schaute. Sie hingen an seinen Lippen als wäre er ein Märchenerzähler. "Na schön, ich will ehrlich zu euch sein", gab er dem stummen Drängen nach. "Mein Schützling ist erschossen worden. Er hat einigen, kriminellen Scheiß angestellt und sich damit Feinde gemacht."

"Und dich haben sie am Leben gelassen? Obwohl du sein Genius Intimus warst?"

Waleri nickte ruhig. Wich den Blicken nicht aus.

"Weißt du, wer es war?"

"Ja. Ich war ja dabei."

"Und bist du nicht auf Rache aus, oder sowas?", wollte Serhii vorsichtig wissen.

"Nein." Er schob sein Wasserglas mit den Fingerspitzen ein paar Zentimeter weiter. "Ich hatte die Pistolenmündung schon auf der Stirn. Aber ich bin am Leben gelassen worden. Das ist schon mehr als ich erwarten durfte. Alles was für mich noch zählt, ist, was ich jetzt aus diesem Leben mache, das mir geschenkt wurde."

"Ich bin echt beeindruckt, wie umsichtig du mit deiner ganzen Situation umgehst. Die meisten anderen wären in die eine oder andere Richtung durchgedreht."

Katerina verschränkte die Arme auf der Tischplatte und lehnte sich nach vorn. "Und was wirst du mit deinem Leben jetzt anstellen?", wollte sie wissen.

Waleri musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Wenn er jetzt erzählte, dass er sich endlich den Kinderwunsch erfüllen wollte, hätte das sicher wie die billigste Anmache auf Erden gewirkt. "Erstmal wäre es schön, überhaupt wieder Kontakt zu anderen Elasmos zu haben. Das wäre schon eine große Bereicherung. Der Rest wird sich ergeben."

"Hast du denn keine Familie?"

"Ich hätte wahnsinnig gern eine. Aber, nein, hab ich nicht", gab Waleri ruhig zurück, ohne Katerina oder Olha dabei zu direkt anzusehen. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, gleich hier und jetzt mit der Brautschau zu beginnen. "Mein menschlicher Schützling und seine menschliche Familie waren die einzige Familie, die ich je kannte und hatte. ... Er ... Er hatte einen wirklich ganz bezaubernden Sohn." Besonnen hob Waleri sein Wasserglas wieder an die Lippen und trank. Trotzdem zeigte seine Körpersprache deutlich genug, dass er die Vergangenheitsform ganz bewusst gewählt hatte und auch genau das damit sagen wollte.

Der nächste Tag

Olha ließ sich mit ihrer leeren Kaffeetasse auf einen Stuhl fallen und grüßte in die Runde. Sie wirkte hellwach, obwohl sie die letzte war. Nicht wie jemand, der verschlafen hatte, weil er den Schlaf nötig hatte. "Schläft der Neue noch?"

"Ja. Ist auch besser so. Wir müssen reden."

Ein einstimmiges Nicken machte die Runde um den Tisch, gleich einer abgespeckten Laola Welle. Einer der Männer griff nach der Kaffeekanne und goß Olha ein.

"Also. Was haltet ihr von dem Kerl?", fragte Serhii in die Runde. Sie alle waren Elasmotherium Sibiricum, drei Männer und zwei Frauen, darunter keine Pärchen. Sie lebten als loser "Herdenverband" in dieser großen Wohnung zusammen. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass hier plötzlich noch ein weiteres Elasmotherium auftauchen und Anschluss suchen könnte. Waleri war gestern völlig unangekündigt in ihr Fitness-Studio hereingeplatzt. Sie hatten ihn aus Sympathie mittrainieren lassen und waren danach noch in eine Kneipe eingerückt. Es war ein verdammt langer Abend geworden und sie hatten viel geredet. Letztlich war es zu spät - und zu alkoholhaltig - gewesen, um Waleri noch nach Hause gehen zu lassen. Immerhin hatte er angegeben, am anderen Ende von Moskau zu wohnen, sein Heimweg wäre also weit gewesen. So hatte er einfach in ihrer Wohnung übernachtet. Platz gab es hier ja genug.

Olha pustete in ihren kochend heißen Kaffee. "Er ist sehr selbstbeherrscht, ruhig und gutmütig. Ich mag ihn total. Und, hey, er scheint ein Familienmensch zu sein", ergriff sie als erste das Wort. "Oder ... Familien-Genius in unserem Fall."

Ihre Tischnachbarin gab ein zustimmendes Brummen von sich. "Für ein Elasmotherium ist er ziemlich clever. Er hat was im Köpfchen. Seine Ansichten sind vernünftig."

"Ich schätze, das ist seinem Riesenhaufen Lebenserfahrung geschuldet", fand Serhii etwas unglücklich. "Zumal er offensichtlich auch noch kämpfen kann. Und zwar nicht nur in Trainingssituationen. Der Mann hat Praxiserfahrung, der kennt ernste Kämpfe auf der Straße bestens. Und wenn man einmal in den Lauf einer Waffe geschaut hat, sieht man bestimmt viele Dinge anders. Wir mögen uns zwar im Ring unter Trainingsbedingungen und den klaren Vorgaben von Regelwerken prügeln. Aber keiner von uns hat die Erfahrung, die er hat."

Kurz setzte Schweigen ein, als jeder für sich das Resumee zog, das niemand laut aussprechen wollte: Wenn sie Waleri erlaubten, hier zu bleiben, gab es zu ihm als neuem Herdenführer keine Alternative mehr. Wollten sie das wirklich? Wollte er das?
 

Die Tür ging geruhsam auf. Waleri wischte sich noch mit dem Handrücken den Schlafsand aus den Augen als er, wesentlich später als gedacht, in die Küche eintrat.

Die anderen fünf saßen schon gemeinsam am Frühstückstisch und unterhielten sich. Der Kopf der Truppe sah lächelnd auf, als er Waleri bemerkte.

"Morgen, Jungs und Mädels", warf Waleri etwas verschlafen in die Runde.

"Morgen, Kumpel. ... Kaffee?"

"Oh ja, das wäre super."

"Dann setz dich mit her", schlug einer der Männer vor und sprang selbst von seinem Stuhl auf, um ihm eine Tasse aus dem Hängeschrank zu holen.

Waleri warf einen schnellen Blick in die Runde. Alle Gesichter sahen ihn freundlich an oder lächelten sogar. Keinerlei Feindseligkeiten. Nachdem man gestern von Wasser auf Bier umgestiegen war, hatten sie aus Waleri wesentlich mehr herausgeholt, als er ursprünglich hatte erzählen wollen. Sie schienen ihn aber trotzdem nicht perse als Gefahr für ihre alteingesessene "Herde" eingestuft zu haben. Das war gut. Dennoch setzte ein auffälliges Schweigen ein. Was auch immer gerade besprochen worden war, wurde in seiner Anwesenheit nicht weiter ausdiskutiert. In seinen langen Jahren bei der Motus hatte Waleri ein feines Gespür für Geheimniskrämerei entwickelt. Aber er sagte nichts.

"Hier, bedien dich einfach", bot Serhii ihm irgendwann an, um die verdächtige Stille zu unterbrechen, und schob ihm Brot und in Scheiben geschnittene Wurst hin.
 

Olha kam mit Jacke und Tasche in die Küche marschiert, ihren Wohnungsschlüssel bereits in der Hand. Inzwischen war es Nachmittag und sie war sichtbar in Aufbruchstimmung. Sie hatte einen Kellner-Job in einer Kneipe, die erst abends öffnete. "So. Ich muss los. Und? Hast du dich schon entschieden, ob du bleiben wirst?", wollte sie hoffnungsvoll wissen.

Waleri schaute aus dem Laptop hoch, den einer der Männer ihm geliehen hatte. "Ich habe es euch doch erklärt", meinte er zwischen geduldig und bedauernd. "Ich habe gerade kein laufendes Einkommen. Seit mein Schützling tot ist, muss ich erstmal sehen, wie es bei mir weitergeht. Ich könnte euch nichtmal meinen Anteil an der Miete zahlen."

"Dann zahl eben erstmal keinen. Das ist doch egal. Wir alle sind einverstanden damit. Wenn du finanziell wieder besser aufgestellt bist, kannst du ja später immer noch anfangen, was zur Haushaltskasse beizusteuern."

"Ach, Olha ..." Etwas ermattet fuhr sich Waleri mit den Fingerspitzen über die Stirn. Er mochte die fünf Sportler sehr und würde auch weiter engen Kontakt zu ihnen halten. Aber er hatte sich WIRKLICH vorgenommen, hier nicht als mittelloser Bettler in deren Wohnung einzuziehen, ohne etwas beitragen zu können. Doch sein Willen bröckelte langsam ernsthaft, wenn er von allen Seiten immer wieder das Gegenteil bekundet bekam. Die wollten ihn hier. Das gab ihm zwar ein tolles Gefühl, machte ihm aber auch ein schlechtes Gewissen. Sein Entschluss, hier NICHT direkt einzuziehen, geriet immer mehr ins Wanken. "Das ist nicht der Anspruch, den ich an mich selber habe, euch als Schmarotzer auf der Tasche zu liegen."

"Also, ich geh jetzt! Und ich werde nicht 'tschüss' sagen. Wehe, wenn ich wiederkomme und du bist nicht mehr da!", scherzte sie. Dann deutete sie breit grinsend ein Winken an und verschwand zur Küchentür hinaus. Damit war sie schon die vierte. Die beiden Kerle und Katerina hatten die Wohnung bereits mit ähnlich klaren Worten verlassen.

"Schon gut, schon gut!", rief Waleri ihr hinterher.

Olhas Kopf erschien fragend wieder im Türrahmen.

"Wenn ihr allesamt es denn unbedingt wollt, wäre es wohl unhöflich, das abzulehnen. Ich bleibe. Okay?"

Die junge, blonde Frau lächelte wieder breit. "Ich freu mich!" Dann sah sie auf die Uhr und hechtete mit einem "Also lauf nicht weg!" eilig davon.

"Euch ist aber schon klar, dass ich wenigstens noch meine Sachen aus der alten Wohnung holen muss, oder?", grummelte Waleri in sich hinein, auch wenn nur noch Serhii als letzter Übriggebliebener ihn hörte.
 

"Hör mal ...", begann Serhii, als er mit Waleri endlich unter vier Augen war. Er klang sehr selbstbewusst und gewichtig, aber nicht bedrohlich. "Du sagtest, du willst eine Familie gründen und Kinder haben."

"Vielleicht. Irgendwann mal. Warum? Ist das in eurer Herde nicht gern gesehen?"

"Im Gegenteil. Die beiden Mädels fahren alle beide total auf dich ab und prügeln sich fast darum, welche dich zuerst drauf ansprechen soll. Welche würde dir denn besser gefallen? Oder könntest du es dir überhaupt mit einer der beiden vorstellen?"

"Jetzt mal langsam!" Waleri kniff überfordert die Augen zu und fuhr sich diesmal mit der ganzen Hand über den kahlrasierten Schädel. "Ich bin neu hier und freu mich, überhaupt von euch angenommen zu werden. Es wird definitiv nicht meine erste Amtshandlung seine, eure Mädchen für mich zu beanspruchen. Gib der Sache mal noch etwas Zeit. Wir kennen uns ja gegenseitig noch gar nicht."

Serhii lächelte erleichtert. "Das ist anständig", pflichtete er ihm bei. "Aber ich sag´s dir trotzdem. Die Mädels mögen dich. Also nur keine falsche Scheu. Und von Beanspruchung kann wohl auch keine Rede sein. Die beiden haben schon ein Mitspracherecht, wen sie wollen und wen nicht."

"Ich nehm das so zur Kenntnis", schmunzelte Waleri amüsiert zurück. Er stand vom Tisch auf, zog die Tür des Geschirrspülers auf und machte Anstalten, diesen ausräumen zu wollen. Er hatte gerade das Bedürfnis, sich nützlich zu machen.

"Aber noch was anderes ..."

"Hm?"

"ICH mag dich ja auch. Aber machen wir uns nichts vor: Ich bin dir nicht gewachsen. Du wärst der bessere Herdenführer von uns beiden."

"Jetzt reicht´s aber", schnappte Waleri, schon nicht mehr so amüsiert. Er richtete sich wieder zu voller Größe auf. Der Geschirrspüler war schlagartig vergessen.

"Das meine ich ernst", stellte Serhii klar, lehnte sich mit dem Hintern gegen eine Arbeitsflächenkante, verschränkte die Arme und ließ der sehr ernsten Stimme einen nicht minder ernsten Blick beikommen. "Du hast mehr Stärke, sowohl körperlich als auch geistig. Und wesentlich mehr Erfahrung."

"Das schmeichelt mir, wenn du das so siehst. Und frag mich meinetwegen auch um Rat, wenn du es für nötig hältst. Aber behalte deinen blöden Herdenführer-Posten für dich. Ich WILL den gar nicht."

Serhii verengte ein wenig die Augen, als er versuchte, den emotionalen Abstand zwischen sich und Waleri neu auszuloten. "Bist du beleidigt?"

"Nein!?", blaffte Waleri entrüstet und strafte diese Negierung damit Lügen. "Ich frag mich nur, wofür ihr mich haltet! Wenn ihr mir gleich am ersten Tag die Mädchen und den Alpha-Status antragen wollt, ohne dass ich selber die geringsten Andeutungen in diese Richtung gemacht habe, gibt mir das arg zu denken."

"Ah", machte Serhii verstehend. "Du hattest in deinem Leben offensichtlich noch nicht sehr oft mit anderen Elasmotherium zu tun", stellte er fest. "Du bist den Umgangston innerhalb unserer Art nicht gewohnt. Wir neigen dazu, sehr direkt zu sein und Grenzen sofort zu klären, BEVOR jemand sie überschreitet. Ich will dir meine Frauen und meine Herde nicht aufdrängen. Ich will nur wissen, welche Ambitionen du hast, und worauf ich gefasst sein muss. Wenn du keinen Wert auf irgendwas davon legst, soll mir das Recht sein. Ich will nur nicht, dass irgendwann plötzlich Konkurrenz-Gerangel zwischen uns beiden aufkommt, ohne dass ich weiß, wie mir geschieht. Gerade WEIL du im Ernstfall eine Gefahr für mich wärst." Ein spontanes Schmunzeln lockerte die Stimmung plötzlich spürbar auf. "An diese Art Umgangston wirst du dich übrigens auch bei den Mädchen gewöhnen müssen. Nicht, dass du sie am Ende noch für unhöflich hältst, nur weil du es nicht besser weißt."

Waleri winkte genervt ab. "Mal´n anderes Thema. Ich hab über diese Dachverband-Sache nachgedacht. Eine eigene Kampfsport-Liga für Elasmotheriums, du weißt schon", begann er zu erzählen und drehte ihm den Laptop hin, um ihm zu zeigen, was er gerade recherchierte. "Ich denke, wir sollten das durchziehen. Ich kann das. Und ihr seid nicht so blöd, wie ihr denkt. Wenn ich euch ordentlich instruiere, könnt ihr das auch. Ihr müsst nur wissen, was zu tun ist, das ist alles."

Serhii wollte betont skeptisch erscheinen, konnte sein Interesse aber dennoch nicht ganz verbergen. Mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen überflogen er zunächst den Text auf dem Bildschirm, bevor er sich dazu durchrang, etwas zu sagen. "Du meinst das ernst, oder?"

"Eure 5´er-Truppe hier ... dieses eingeschworene Team ... ist zu mehr bestimmt als in einem insolventen Gym zu verrotten und ohne Murren zu akzeptieren, dass der Weg in den Profi-Sport futsch ist. Lass uns das ändern! Wir sind Elasmotherium, Serhii", meinte er eindringlich. "Der Profi-Sport ist unser Leben. Ich weiß das. Ich bin selber eins."

Der einsame See

Waleri saß am Küchentisch und knetete beim Lesen unbewusst seine Armmuskeln durch. Er hatte sich auf die Schnelle einen Job in einem Baumarkt gesucht, wo er große Säcke mit Zement oder Blumenerde hin und her schleppte. Oder schwere Hartholzplatten. Der Job machte ihm derzeit körperlich noch etwas zu schaffen, weil er so eine Art von Arbeit nicht mehr gewöhnt war. Entsprechend hatte er ein wenig Muskelkater. Aber er würde sich sicher schnell daran gewöhnen, zumal er ja jetzt auch jeden Tag in Serhiis Fitness-Center herumlungerte. Er würde umgehend wieder fit sein. Und es half ja nichts: er musste ein bisschen Kohle ranschaffen. Er hatte aus Motus-Zeiten zwar noch etliches an Rücklagen. Vladislav hatte ihn durchaus an dem ganzen Gewinn teilhaben lassen, den der Waffen- und Sklavenhandel abgeworfen hatte. Aber er wollte seine neue "Herde" nicht auf dieses riesige, dubiose Bargeld-Vermögen aufmerksam machen, um keine blöden Fragen zu riskieren. Er musste wenigstens so tun, als würde er seine laufenden Kosten aus einer ehrlichen Arbeit bestreiten. Genau genommen war das ja auch sein eigenes Ziel.

"Waleri?"

"Anwesend", erwiderte der neckisch und schaute aus seiner Zeitung hoch. Vor ihm war Olha aufgetaucht. Im Gegensatz zu der kriegerischen, rauflustigen Katerina war sie eher ein sittsamer, süßer und liebevoller Typ. Und obwohl Waleri beide mochte, hätte er Olha im Zweifelsfall doch insgeheim den Vorzug gegeben.

"Waleri, fährst du mit mir zum Bergsee rauf?"

"Hier gibt es einen Bergsee?"

"Ja, gar nicht weit von hier. Mit einem Auto kommt man die Geröllstraße nicht hoch. Darum ist er unbekannt und kaum besucht. Aber mit einem leistungsstarken Motorrad erreicht man ihn ganz gut. Du kannst doch Motorrad fahren, oder?"

"Ja, schon. Hast du denn eins?"

"Serhii hat eins. Wir brauchen ihn nur zu fragen."

"Na schön!?", stimmte Waleri mit einem Schmunzeln zu. "Bin dabei."

"Super! Dann los, solange es noch nicht so warm ist. Nachmittags liegt das Gebiet in der prallen Sonne."

"Äh ... jetzt sofort?"

"Du hast mir versprochen, mir deine wahre Gestalt zu zeigen. Da oben ist genug Platz für ein vier Meter langes Elasmotherium", lächelte sie ihn noch an, dann war sie schon wieder zur Tür hinaus verschwunden.

Mit irritiert gerunzelter Stirn klappte Waleri die Tageszeitung zu und ließ sie einfach auf dem Tisch liegen, als er sich erhob. Es wäre ihm neu gewesen, dass es mitten in Moskau Berge gegeben hätte, geschweige denn Bergseen. Er war gespannt, was diesem Tümpel seinen klangvollen Namen eingebracht hatte.
 

Waleri klopfte höflich an der Zimmertür, erhielt keine Antwort, und schob die Tür schließlich unaufgefordert auf. Vorsichtig lugte er um die Ecke. "Serhii?"

"Komm schon rein, Mann!"

"Du hast nichts gesagt ..."

"Nein. Was sind denn das auch für Sitten?", grinste der Gym-Besitzer schelmisch. "Als ob hier bei uns angeklopft würde. So weit kommt´s noch."

Waleri betrat Serhiis Zimmer also ganz. Obwohl er sich nicht bewusst umschaute, sprangen ihm gewisse Dinge doch ganz von selber ins Auge. Zum Beispiel die Hantelbank in der Ecke, als ob ein komplettes, eigenes Fitness-Studio dem Kerl noch nicht reichen würde. Oder der Berg unsortierter Wäsche auf dem Fußboden. Ordnung war keine seiner hervorglänzendsten Tugenden.

"Was gibt´s?", wollte Serhii fröhlich wissen und widmete sich wieder seiner letzten Tätigkeit. Er sammelte Matchbox-Autos und verbrachte viel Zeit damit, diese zu polieren und zu entstauben.

"Olha hat mich gefragt, ob ich mit ihr zu irgendeinem See in der Nähe fahren will."

"Cool. Tu das."

"Sie meinte, ich soll dich fragen, ob wir uns dein Motorrad leihen dürfen."

"Klar", lächelte Serhii, sprang von seinem Sofa hoch und hatte mit einem Handgriff den Schlüssel in all dem Chaos hier gefunden. Den warf der Waleri in hohem Bogen zu. "Fahr tanken, dann kannst du es haben."

"Ja ... äh ... und wo finde ich das gute Stück?", wollte Waleri ahnungslos wissen. Dabei warf er einen Blick auf den Zündschlüssel, um vielleicht an dessen Aufmachung schon zu erraten, was ihn erwarten würde.

"Achso, du weißt ja noch nicht, wo unser Parkplatz ist. Komm mit, ich zeig´s dir." Serhii stellte sein Matchbox-Auto beiseite, das er noch in der Hand gehalten hatte, und trieb Waleri mit scheuchenden Handbewegungen vor sich her aus dem Zimmer.
 

Serhii schleppte ihn in den Keller, dort durch eine unscheinbare Seitentür, einige verwinkelte Gänge entlang, und landete schließlich in einer Tiefgarage. Mit ausgebreiteten Armen und einem theatralischen "Tadaaa" präsentierte er Waleri sein Gefährt, und beobachtete dann ganz genau dessen Gesichtsausdruck.

Waleri stand sekundenlang nur da und konnte sich nicht entscheiden, ob er lachen oder heulen sollte. Auch wenn das Ding offensichtlich aufgemotzt und gemodded war, wusste er nichtmal, ob er überhaupt mit Olha zusammen auf dieses Vehicle draufpassen würde, geschweige denn ob es sie beide trug. "Du fährst eine Schwalbe? Willst du mich verdammt nochmal verarschen?"

"Ey, nichts gegen mein Baby, ja?", lachte Serhii, der mit dieser Reaktion gerechnet hatte, und ging selbst näher heran. "Die Süße hat fast 150 PS, Mann. Also sei vorsichtig mit dem Gas-Pedal."

"Ja, schon, aber ..." Waleri wusste beim besten Willen nicht, was er sagen sollte, und hob hilflos die Schultern. Er stellte sich vor, wie er mit seiner Bodybuilder-Statur auf diesem lachhaften Moped aussehen würde. Er würde auf der Straße alle Blicke auf sich ziehen - und zwar nicht im positiven Sinne.

Serhii ging neben seiner Schwalbe in die Hocke und winkte ihn näher heran. "Komm mal her, ich will dir was zeigen. Siehst du die Schweißnähte hier? Ich hab das Grundgerüst mit zusätzlichen Stahlträgern verstärkt. Du kannst die Maschine mit fast einer halben Tonne überladen. Das hält sie aus."

"Das hast du selber gemacht?", hakte Waleri nach und spürte langsam doch etwas Neugier und Achtung in sich aufkeimen.

"Ja. Alles da dran ist Handarbeit. Ich schraube seit Jahren an dem guten Stück rum. Die Federung ist auch getuned. Das Moped liegt vielleicht etwas hart in den Kurven, aber andernfalls würde sie bei dem Eigengewicht auf dem Boden aufsetzen."

"Wie weit kommt man mit diesem Feuerstuhl? Wenn du die Maschine auf 150 PS hochgeschraubt hast, ist da doch sicher kein Standard-Einzylinder-Zweitaktmotor mehr drin, oder?"

"Nein. Deshalb hat sie auch keinen 6,8-Liter-Tank mehr. Da passt inzwischen schon ein bisschen mehr rein", lächelte Serhii verschwörerisch.

"Und? Höchstgeschwindigkeit?", wollte Waleri wissen. Inzwischen doch ein wenig beeindruckt umrundete er den umlackierten, verchromten Kleinroller mit den geländegängigen Reifen, um ihn sich von allen Seiten anzusehen. 150 PS in so einem Ding. Das gehörte verboten. Diese Maschine war eine Waffe!

"Finde es heraus!", schlug Serhii vor. "Aber tu mir einen Gefallen und lass dich nicht blitzen. Sonst bist du deine Lappen und ich mein Motorrad los. An dem Baby ist nicht alles Original, wenn du verstehst ..."

Waleri stopfte die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans und nickte leicht vor sich hin. Außer dem Sitz war an diesem Ding vermutlich gar nichts mehr Original, dachte er insgeheim. Aber er sagte nichts. Er hoffte einfach, damit in keine Verkehrskontrolle zu geraten.
 

Der 'Bergsee' trug seinen Namen nicht gänzlich zu Unrecht. Soweit Olha ihm das erklärt hatte, war das früher ein Tagebau gewesen, den man später wieder renaturiert und mit Wasser aufgefüllt hatte. Ein Bergwerk sozusagen. Also heute folglich ein Bergsee. Womit Olha aber wirklich nicht gelogen hatte, war die Beschreibung der Geröllstraße, die hier her führte. Diese Piste war für Autos tatsächlich unpassierbar, einerseits wegen der Schlaglöcher und herumliegenden Felsbrocken, andererseits wegen dem abnorm steilen Gefälle auf Teilen der Strecke. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er es mit einer Simson und einem zusätzlichen Beifahrer darauf bis hier her geschafft hatte. Der Vorteil war: man hatte hier in der Tat seine Ruhe. Keiner fuhr freiwillig sein Fahrzeug zu Schund, um hier her zu kommen. Es gab keine Badegäste, sie waren vollkommen allein.

Olha hatte sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und planschte fröhlich im Wasser herum. Nachdem sie ein bisschen hin und her geschwommen war, spritzte sie Waleri nass, welcher immer noch voll bekleidet auf der Wiese in der Sonne lag. "Los, jetzt komm schon mit rein!", verlangte sie. "So kalt ist das Wasser nicht."

"Darum geht es doch gar nicht. Ich hab keine Badesachen dabei. Ich dachte nicht, dass du hier wirklich baden willst."

"Ich hab auch keine dabei. Na und? Man kann super in Unterwäsche schwimmen."

"Du wirst dich in den nassen Klamotten zu Tode erkälten", prophezeite Waleri ihr. Als Antwort bekam er wieder einige geschöpfte Hände voll Wasser ab und ging erschrocken in Deckung.

"Dann zeig mir deine Elasmotherium-Gestalt", quängelte Olha weiter. "Zumindest das hast du mir versprochen."

Etwas lustlos schaute Waleri an sich selbst herab. Weder seine Jeans noch sein hautenges T-Shirt würden eine Verwandlung mitmachen. Er musste sie vorher ausziehen, sonst würden sie bei der Verwandlung zerreißen. "Na meinetwegen ...", gab er dennoch nach. Versprochen war ja versprochen.

Olha kämpfte sich aus dem Wasser heraus ans Ufer zurück und kam pitschnass näher, während er ohne Eile sein T-Shirt abstreifte. "Du bist ja gar nicht so krass tätowiert wie ich dachte", lächelte sie und fuhr - zwar ungefragt aber sanft - mit den Fingern über seine Haut. "Es sind ja doch nur die Arme. Ich dachte, die Tattoos würden unter den Klamotten weitergehen."

"Nein. Ich hab irgendwann damit aufgehört", meinte er gelassen. "So hier reicht es mir."

"Ein Glück. Ich bin ehrlich gesagt kein Fan von Leuten, die sich zu extrem zuhacken lassen. Aber das hier kann man gelten lassen."

Waleri musste kichern. "Versuchst du mir gerade zu sagen, dass ich dir gefalle?"

"Wer weiß? Mach erstmal weiter!", scherzte sie und deutete auf seine Hose.

Er drehte sich unbewusst ein wenig von ihr weg, als er seinen Hosenknopf und den Reißverschluss öffnete. Irgendwie genierte er sich schon ein wenig, musste er sich eingestehen, ohne sagen zu können warum. Er hatte schon so viele Mädchen gehabt, meist Prostituierte, selten auch mal Freiwillige. Aber irgendwie war das bisher immer etwas anderes gewesen als hier. Es hatte bisher immer nichts bedeutet. Es waren einmalige Vergnügungen gewesen, die er danach wieder vergessen hatte. Olha hingegen war das erste Mädchen, das er nicht als Wegwerfware ansah. Er WOLLTE ihr gefallen. Er WOLLTE, dass hier etwas Dauerhaftes, etwas Ernstes draus wurde. Etwas Respektvolles. Wohl darum hatte er das dringende Bedürfnis, anständiger an die Sache heranzugehen als sonst. Und sich hier vor ihr auszuziehen kam ihm gerade auf undefinierbare Weise unanständig vor. "Gut, mach mal ein bisschen Platz. Elasmotherium sind große Viecher, wie du weißt", warnte er sie vor und beugte sich bereits ein wenig nach vorn, da er bei der Verwandlung ohnehin in den Vierfüßler-Stand kippen würde.

Olha zog ihren nassen BH aus und tat es ihm gleich. Auch sie nahm ihre wahre Gestalt als Elasmotherium an. Ihrer echten Erscheinung sah man noch deutlicher an, wie jung sie tatsächlich war. Ihre Elasmotherium-Form war sicher noch nicht ganz ausgewachsen.
 

Die warme Sonne auf seinem Rücken tat gut. Waleri fror sich echt den Hintern ab. Nachdem sie irgendwann in ihre menschlichen Tarngestalten zurückgekehrt waren - und weil sie nun sowieso einmal bis auf die Unterhosen ausgezogen waren - hatte Olha ihn tatsächlich doch noch zum Schwimmen überredet. Und das Wasser im See war entgegen ihrer Behauptung wirklich arschkalt gewesen.

Nun lagen sie zusammen wieder in der Wiese und trockneten in der Sonne vor sich hin, weil er sich weigerte, sich und Olha in nasser Unterwäsche dem Fahrtwind auf dem Moped auszusetzen. Er wollte nicht, dass sie beide am Ende Blasenentzündungen hatten. Die junge Dame sah das noch um einiges verantwortungsloser als er, hatte sich aber geschlagen gegeben.

Etwas zurückhaltend stand Waleri nun auf allen Vieren über ihr. Natürlich war ihm klar, worauf sie hinaus wollte. Sie hatte ihn ja eigenhändig auf sich gezogen und lag auf dem Rücken unter ihm, fast nackt bis auf den Anstands-Schlübber. Die Initiative war durchaus nicht von ihm ausgegangen, obwohl er nach dem Baden selbst nur noch eine wassergetränkte Unterhose trug. Da er keine Anstalten machte, hemmungslos über sie herzufallen, reckte sie ihren Kopf hoch und kam ihm mit dem Kuss einfach entgegen.

"Du bist noch unberührt, oder?", wollte der Hühne ruhig wissen. Es war nicht so, dass er sie nicht attraktiv gefunden hätte, oder sie nicht hätte haben wollen. Es war nicht mal so, dass er das hier nicht geahnt hätte, schon seit dem Moment als sie ihn zu diesem Ausflug überredet hatte. Aber er wollte auch nichts überstürzen.

Olha bestätigte schnurrend und küsste ihn wieder.

"Bist du sicher, dass du deine Jungfräulichkeit ausgerechnet mir opfern willst?"

Das Mädchen lächelte vergnügt und fuhr mit den Händen zärtlich über seine Muskeln. "Ich habe bewusst gewartet, bis ich den Richtigen finde. Und du BIST der Richtige."

"Das gibt mir ein wertgeschätztes Gefühl, danke", hauchte er gegen ihren Hals und schloss den Satz seinerseits mit einem Kuss ab. "Das Erste Mal ist aber für gewöhnlich schmerzhaft. Sei nicht böse auf mich, wenn es ein bisschen wehtut, okay?"

"Mh. Bei deiner Zurückhaltung bist du sicher der letzte, dem man da Vorwürfe machen kann", kichert sie.

"Wie du möchtest." Waleri angelte nach seiner herrenlos am Rand herumliegenden Jeans und kramte ein Kondom aus der Hosentasche. "Jungfrau hin oder her, aber schwängern werde ich dich nicht." Er beugte sich wieder zu ihr herunter und fügte noch ein neckisches, gerauntes "NOCH nicht!" an, ehe er sie küsste.

Der schwierige Plan

Katerina beobachtete eine Weile mit gerunzelter Stirn, wie Serhii den Sandsack vermöbelte, und gesellte sich schließlich dazu. Sie legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Daraufhin hörte er auf, wie ein Wahnsinniger auf das Trainingsgerät einzudreschen, und atmete erstmal tief durch.

"So sauer hab ich dich lange nicht mehr erlebt. Was ist passiert?", wollte die schwarzhaarige Bodybuilderin wissen.

"Ein Malheur ist passiert", maulte Serhii. "Und zwar ein echt beschissenes."

Sie griff kommentarlos nach dem herumliegenden Handtuch und gab es ihm, damit er sich das verschwitzte Gesicht trockenwischen konnte.

"Waleri und Olha sind sich nähergekommen."

Katerina zog ein saudummes Gesicht. "Du meinst, die beiden haben ...?"

"Ja!", unterbrach Serhii sie genervt. "Genau das meine ich! Und es sieht nicht danach aus, als wäre es ein einmaliges Versehen gewesen."

"Dermo", kommentierte sie völlig perplex. "Ich hatte wirklich gehofft, dass er mich nimmt."

"WAS!?"

"Ach, nichts", wiegelte Katerina schnell ab.

"Ob DU was von ihm willst, ist mir Schnuppe. Aber an Olha darf er sich definitiv nicht halten."

"Warum nicht? Das ist doch nicht schlecht, oder? Wenn er sich eine von uns Frauen nimmt, wird ihn das stärker an unsere Gruppe binden und er wird nicht so leicht wieder abhauen. Ist doch eigentlich egal, für wen er sich entschieden hat."

"Olha ist ´ne scheiß Wahl", murrte Serhii trotzdem weiter. "Sie ist jung und viel zu beeinflussbar. Eher wird Waleri sie umkrempeln, als dass sie ihn ..." Er ließ den Satz unvollendet, als hätte er Angst, jemand könnte mithören, und rettete sich stattdessen in ein frustriertes Schnauben. Er verschränkte verdrießlich die Arme und überlegte. "Ich hätte ihm nicht einreden sollen, dass er sich eine von euch aussuchen kann. Es war naiv von mir, zu glauben, dass er sich wohl kaum so ein junges Huhn nehmen wird. Er ist dreimal so alt wie sie!"

"Alter ist bei uns relativ, das weißt du. Wir Elasmos werden locker 150 Jahre und älter. Und wir sind bis zum Schluss fortpflanzungsfähig. Er hat also noch nichtmal seinen Zenit erreicht. Olha wird noch jede Menge Zeit mit ihm haben."

Serhii gab nur ein schlecht gelauntes 'hmpf' von sich. Es war bei Elasmotherium-Frauen gar nicht so unüblich, sich ältere Männer zu suchen, das wusste er selber. Sie wurden mit zunehmendem Alter immer stärker. Er hatte ja im Ring am eigenen Leib erfahren, wie knallhart Waleri ihn plattgemacht hatte. Ältere Männer hatten außerdem mehr Lebenserfahrung. Hatten sich bereits bewiesen. Hatten mehr Status. Sie konnten eine Familie besser versorgen und beschützen als ein Jungspund. Es war normal, dass sie erst mit zunehmendem Alter für die Frauen immer begehrenswerter wurden. Serhii hatte sich nie gewundert, warum die beiden Frauen keinen aus ihrer Gruppe hatten haben wollen. Die Kerle aus seiner Herde waren alle zu jung. Selbst er mit 39 war den Mädels immer noch zu jung, das war kein Geheimnis. Andersrum war es bei den Elasmotherium-Männern auch durchaus gewollt und gängig, sich wesentlich jüngere Frauen zu suchen, die noch gesunde Gene hatten und noch viele Kinder austragen und aufziehen konnten. Aber so ein krasser Unterschied wie bei Olha mit ihren 20 Jahren, und Waleri mit 65, das war selbst bei Elasmotherium Sibiricum nicht die Norm. "Sieh zu, dass Waleri die Finger von ihr lässt!", trug er der Bodybuilderin in vollem Ernst auf und drehte sich wieder dem Sandsack zu, um weiter seinen Frust daran zu entladen.

"Das brauchst du mir nicht zweimal sagen", schmunzelte Katerina.
 

Es war fast 4 Wochen später, als das erste Mal wieder Action in den Alltagstrott kam, der inzwischen Einzug gehalten hatte. Waleri hatte zwar sein eigenes Zimmer in der WG bekommen, wohnte aber de facto mehr in Olhas Zimmer als in seinem. Zwischen ihnen hatte sich tatsächlich eine Beziehung angebahnt, die vom Rest der Truppe auch akzeptiert wurde. Jedenfalls hatte keiner ihm etwas Gegenteiliges ins Gesicht gesagt. Abgesehen davon gingen sie alle ihren mehr oder weniger langweiligen Jobs nach, verbrachten ihre Freizeit in Serhiis Fitness-Studio, oder frönten ihren anderen, kleinen Hobbies. Es war ein geruhsames und harmonisches Leben, in dem wenig Unvorhergesehenes geschah.

Waleri schaute fragend auf, als an diesem Nachmittag, der so entspannt wie jeder andere zu werden schien, jemand wie eine Furie in die Küche gestürmt kam. Noch ehe er ganz begriff, dass es Olha war, hieb diese ihm bereits stinksauer eine Tageszeitung um die Ohren. Reflexartig riss er die Arme hoch, um sich zu decken.

"Du elender Hund!", brüllte sie ihn an. "Du Penner!"

"Was zur Hölle ...!?", quietsche Waleri empört, kam aber aus seiner Deckung nicht heraus weil schon wieder die Zeitung auf seinen Schädel herunterdonnerte.

"Ich dachte, das zwischen uns wäre was Ernstes!"

"Olha!"

"Du untreuer Schuft!"

"Wie bitte!?" Waleri griff mit einer schnellen Bewegung nach der Zeitung und riss ihr diese aus der Hand, um sie endlich zu entwaffnen. "Du unterstellst mir Untreue?"

"Tu nicht so scheinheilig!", zeterte die junge Frau ungehalten weiter. "Du weißt ganz genau, was ich meine!

"Nicht wirklich, nein!"

Sie spulte weiter einige nicht sonderlich kreative Beschimpfungen ab, die Waleri, halb ratlos, halb bestürzt, einfach über sich ergehen ließ, in der Hoffnung, dass sie sich irgendwann abregte und wieder auf eine normale Gesprächsebene zurückfand. Aber statt sich zu beruhigen, machte sie ziemlich bald auf dem Absatz Kehrt und stürmte davon. Die ins Schloss fliegende Vorsaaltür kündete davon, dass sie nicht nur in ihr Zimmer verschwunden war, sondern die Wohnung ganz verlassen hatte.

Waleri blieb verständnislos zurück und atmetet tief durch. "Zicken-Terror, ey. Das kann ich brauchen", murmelte er leise in sich hinein und schüttelte unterschwellig den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was in Olha gefahren war. Aber irgendwann würde sie ja wieder auftauchen müssen. Dann konnte er sie immer noch danach fragen. Er beschloss, das Thema bis dahin abzuhaken.
 

Katerina kam Augenblicke später angeschlichen und schaute vorsichtig durch die Küchentür. "Was war denn gerade los? Was hast du angestellt?"

"Das wüsste ich auch gern", seufzte Waleri und pappte die einkassierte Zeitung neben sich auf die Tischplatte.

Die Bodybuilderin setzte sich zu ihm an den Tisch, als ob sie ihn trösten müsse, fand dann aber doch keine rechten Worte dafür. Also hoffte sie einfach, ihre bloße Anwesenheit würde reichen. Sie nickte in Richtung des Laptops. Inzwischen hatte Waleri seinen eigenen hier und musste sich nicht mehr ständig einen ausleihen. "Du verbringst schon wieder mehr Zeit an dem Ding als im Fitness-Studio. Was machst du gerade?"

Waleri schmunzelte müde. "Kennst du Kabanov?"

"Wer kennt den nicht? Der Kerl war eine Legende, bevor wir Elasmos aus dem Profi-Sport ausgeschlossen wurden. Er hat im Oktagon jeden zu Brei gehauen. Er war bis zum Schluss unbesiegt."

"Das ist er immer noch. Er kämpft inzwischen in Kanada, weil er hier in Russland nicht mehr darf, und mischt dort fröhlich die kanadische Liga auf. Ich hab Kontakt zu ihm. Ich versuche ihn zu überreden, dass er nach Russland zurückkommt."

Katerina zog ein unschlüssiges Gesicht. "Warum sollte er? Er dürfte hier maximal noch als Trainer arbeiten, aber nicht mehr selber ins Oktagon steigen."

"Nicht, wenn ich ihm eine Perspektive bieten könnte. Ich will wieder eine Profi-Liga auf die Beine stellen. Einen eigenen Dachverband, nur für Elasmotherium. Überall in Russland sind ein Haufen Elasmotherium in Lauerstellung, die nur darauf warten, wieder kämpfen zu dürfen. Kabanov als Zugpferd würde uns genug Publicity einbringen. Er ist medienwirksam. Er würde Sponsoren anziehen. Mit ihm als Gesicht unserer Kampagne könnte das wirklich was werden."

"So große Pläne haben aber für gewöhnlich einen Haken", vermutete Katerina.

Waleri nickte unglücklich in sich hinein. "Das ganze Ding ist Kabanov zu klein und zu unbedeutend. Er will nicht in einer reinen Elasmotherium-Liga kämpfen. Er will Meister ALLER Klassen sein. Er will beweisen, dass er JEDEN schlagen kann, egal welche Art von Mensch oder Genius."

"Und? Hast du schon eine Idee, wie du es ihm trotzdem schmackhaft machst? ... Ich schätze, du wirst den Dachverband öffnen müssen. Du kannst halt nicht nur Elasmos als Mitglieder aufnehmen. Du musst jeden Wahnsinnigen reinlassen, der sich traut, sich mit einem Elasmo anzulegen."

"Genau das geht halt nicht. Das ist ja eben das, was die Sport-Branche verhindern will und warum sie uns überhaupt erst aus allen anderen Ligen rausgeschmissen haben. Nein, mein Plan ist momentan der hier!" Er drehte Katerina den Laptop hin, um ihr ein Video auf dem Bildschirm zu zeigen. Auf dem Standbild war deutlich ein Kämpfer in einem MMA-Ring zu sehen, dem typischen, als Oktagon bezeichneten, 8-eckigen Käfig.

"Der 'Hammerhai'? Wirklich?", meinte sie zweifelnd, als sie den Fighter erkannte. Auch der war eine ziemliche Hausnummer und in der Kampfsport-Szene berühmt. "Er war früher nicht gerade dafür bekannt, fair zu kämpfen. Er hat einen ganz miesen Ruf. Mit so einem würde ich nicht unbedingt Werbung machen."

"Ich weiß. Aber er war Kabanovs Nummer-1-Kontrahent. Die beiden waren gerade dabei, den WM-Titel im Mixed Martial Arts unter sich zu klären, als alle Elasmotherium plötzlich aus dem Kampfsport ausgeschlossen wurden. Sie haben ihren Finalkampf nie austragen dürfen. Ich hoffe, dass ich Kabanov damit ködere, dass er das noch nachholen kann und seinen Kampf gegen den 'Hammerhai' doch noch bekommt."

"Hm", machte Katerina nur und sah immer noch nicht ganz überzeugt aus.

"Aber die zwei sind alle beide voll die Pussies", erzählte Waleri weiter. Man hörte einen unterschwelligen Frust aus seiner Stimme heraus. "Kabanov sagt, er kommt nur zurück, wenn der 'Hai' auch zusagt, zurückzukommen. Und der 'Hai' sagt, er kommt nur zurück, wenn Kabanov zuerst zusagt. Sie schieben sich den Ball hin und her. Keiner will den Anfang machen. Kann ich ihnen nichtmal verübeln. Mein Name hat für sie zu wenig Gewicht, um als Bürgschaft herzuhalten. Mich kennt keine Sau. Ich hab noch nie im Oktagon gekämpft, geschweige denn mal irgendwas Belangloses gewonnen."

"Was treibt der 'Hammerhai' denn heutzutage überhaupt, seit er nicht mehr kämpfen darf? Wäre der überhaupt noch fit für so ein Event?"

"Im Wesentlich handelt er mit Sportnahrung. Sein offizielles Geld macht er mit dem Versand von Aufbaupräparaten. Mit Protein-Pulver, Kreatin-Kapseln, Kollagen, und solchem Zeug. Aber er sagt, er stünde immer noch im Training. Ich tippe mal ganz stark auf illegale Straßenkämpfe, schon aus preisgeldtechnischen Gründen. Aber da hab ich natürlich nicht blöd nachgefragt."

Katerina rutschte mit ihrem Stuhl so nah an Waleri heran, dass sie ihm aufmunternd über den Rücken reiben und sich danach an seiner Schulter anlehnen konnte. "Ich finde, du machst hier was echt Großes. Bleib an der Sache dran, ja? Gib nicht auf."

Die harte Wahrheit

Die nächsten Tage verliefen reichlich sonderbar. Olha war immer noch stinksauer auf ihn. Wann immer er versuchte, in ihr Zimmer zu kommen, um endlich mit ihr zu reden, schleuderte sie so lange hysterisch Gegenstände nach ihm, bis er die Flucht antrat. Danach hörte er sie für gewöhnlich drinnen weinen, wusste aber, dass es aussichtslos war, einen erneuten Versuch zu unternehmen, das Zimmer zu betreten. Nach dem fünften Durchgang dieser Art hatte er es ganz aufgegeben. Er schlief in seinem eigenen Zimmer, statt bei ihr, und ging auch der gemeinsamen Frühstücksrunde sorgsam aus dem Weg. Er war immer regelrecht froh, wenn er auf Arbeit gehen konnte, oder wenn sie auf Arbeit ging, weil er ihr dann endlich aus den Augen kam.
 

"Wouw. Dir geht´s heute besonders schlecht, oder?", konnte Katerina sich nicht verkneifen, als sie eines Abends in Waleris Zimmer hereinplatzte, um ihm einen Brief zu bringen, den sie beim Heimkommen aus dem Briefkasten gezogen hatte. Er war an Waleri direkt adressiert, daher war es selbstverständlich, dass sie ihn an den rechtmäßigen Empfänger weitergab. Aber was sie hier vorfand, machte ihr Sorgen.

Waleri saß apathisch auf dem Bett, starrte Löcher in die Luft und nur eine Leselampe über seinem Kopf sorgte für ein wenig depressives Licht.

Sie setzte sich zu ihm, nahm ihm die Vodka-Flasche aus der Hand und schüttelte den letzten Rest darin vielsagend. "Ich hoffe, die war nicht voll, als du damit losgelegt hast", meinte sie mitfühlend. Katerina war die Situation spürbar nicht egal. Sie verbrachte seit Olhas Ausraster sehr viel mehr Zeit mit Waleri, um ihn abzulenken, und ging dabei mitunter auffallend sanft mit ihm um. Sie machte sich wirklich Sorgen um ihn und ließ ihn deutlich spüren, dass sie in diesem skurrilen Streit auf seiner Seite stand.

Waleri zog nur schniefend die Nase hoch. Er wirkte wie kurz vor´m Heulen.

"Was ist los?", wollte Katerina sachte wissen.

"Das Übliche."

"Olha? Denkt sie immer noch, du hast sie betrogen?"

"Vorhin ging es wieder richtig hoch her ...", erzählte der Hühne und klang dabei wesentlich nüchterner als der Füllstand der Vodka-Flasche es vermuten ließ.

"Und? Hast du sie betrogen?"

"Nein ...", gab Waleri jammernd zurück und sprang fluchtartig aus dem Bett hoch. "Das hab ich dir schon fünfmal gesagt. Warum fragst du mich das immer wieder!?"

"Weil man dich offensichtlich immer wieder daran erinnern muss, dass du gar nichts getan hast", hielt Katerina betont warmherzig dagegen. "Es schmerzt mich, mit anzusehen, wie du hier mit eingezogenem Kopf rumschleichst und ein Gesicht machst, als wärst du schuldig. Und das völlig zu Unrecht. Du bist ja psychisch schon ein halbes Wrack." Sie seufzte leise und erhob sich ebenfalls wieder aus dem Bett, langsamer und beherrschter als er. Sie ergriff ihn kraftvoll an den Schultern. Deutete an, ihn schütteln zu wollen, damit sie seine Aufmerksamkeit hatte. "Waleri, du bist ein guter Mann. Sieh dich nur mal an. Deine mächtige Statur. Dein wacher Verstand. Wir alle hier lieben dich. Du bist wundervoll!" Sie sah ihm ernst in die Augen. "Und du solltest aufhören, deine Zeit und deine Nerven an Leute zu verschwenden, die dir was Gegenteiliges einreden wollen."

Sein Gesicht wurde kurz noch leidender. Und in einem regelrechten Verzweiflungsakt schlang Waleri plötzlich die Arme um sie und gab ihr einen langen, dankenden Kuss. Direkt auf die Lippen.

Katerina erwiderte die Umarmung nur sachte, gab dem Kuss aber ungeniert nach.

Erschrocken über sich selbst rückte Waleri sofort wieder von ihr ab. Schaute sie verdutzt an. Er versuchte sichtlich zu begreifen, was gerade in ihn gefahren war. Schockiert realisierte er, dass er wirklich langsam dazu überging, die störrische Olha einfach in den Wind zu schlagen und sich stattdessen Katerina zuzuwenden. Noch riet ihm sein Verstand zwar davon ab. Eigentlich war er ja immer noch der Meinung, mit Olha eine feste Beziehung zu führen und ihre sonderbare Wahnvorstellung noch irgendwie aufklären zu können. Aber auch wenn er bestimmt nicht das sein wollte, was Olha ihm nachsagte, wurde Katerina in seiner Vorstellung mehr und mehr zur ernsthaften Option. Er atmete erschüttert durch und wandte sich halb ab. "Entschuldige. Hier war gerade entschieden zuviel Alkohol im Spiel. Du solltest lieber gehen."

Katerina nickte einverstanden. "Ist okay", gab sie sanft zurück und drückte ihm noch einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, um ihm zu beweisen, dass sie nicht böse auf ihn war, wenn er sie jetzt rausschmiss.

Als die Tür hinter Katerina leise wieder ins Schloss klickte, fuhr Waleri sich überfordert mit beiden Händen durch das Gesicht. Nach einem Moment Bedenkzeit schnappte er den Verschluss seiner Vodka-Flasche und schraubte diese entschlossen wieder zu. Er fand, dass er für heute genug intus hatte.
 

Etwas ratlos stand Waleri am nächsten Morgen in Olhas Zimmer. Sie war nicht da und auf dem Bett stand eine halb gepackte Reisetasche. Beides kam ihm sehr seltsam vor, ohne dass es für ihn gleich ein schlüssiges Bild ergeben hätte. Irritiert ging er weiter in die Küche, wo er Geschirr klappern hörte.

Serhii verteilte gerade Tassen auf dem Frühstückstisch, grüßte ihn ungewöhnlich kühl und wies ihn dann regelrecht an, sich zu setzen.

"Hör mal, weißt du ob Olha letzte Nacht nach der Arbeit überhaupt nach Hause gekommen ist?", wollte Waleri wissen. "Oder ist sie etwa heute früh schon wieder ausgeflogen? Sie ist gar nicht da."

Serhii griff ernst nach der Kaffeekanne und goss ihm zunächst einen Pott voll ein. "Ich habe mit dir zu reden, Kollege", meinte er, während er die Kanne wieder zur Kaffeemaschine zurücktrug. Ob das eine Antwort auf Waleris Frage darstellen sollte, blieb der individuellen Interpretation überlassen.

Waleri goss seinen Kaffee mit einem guten Schluck kalter Milch auf, wodurch das Zeug auf eine trinkbare Temperatur abkühlte. Dabei verfolgte er verstohlen jede von Serhiis Bewegungen, bis der sich ebenfalls mit am Tisch niederlies.

"Ich kannte Vladislav", warf Serhii ihm ohne jeden Kontext an den Kopf.

Waleri schenke ihm aus dem Augenwinkel einen verunsicherten Blick. Diesen Namen aus Serhiis Mund zu hören, verpasst ihm eine Gänsehaut. "Du kanntest Vladislav, aber ich kannte dich nicht? Das halte ich für ein Gerücht." Der Hühne nippte an seinem Kaffee, um die Ungewissheit zu überspielen.

"Na, vielleicht kannte ich ihn nicht persönlich. Aber ich stell einfach mal den Begriff 'Motus' in den Raum."

Waleri verlor kurz die Kontrolle über seine Mimik, fing sich aber wieder. Er schluckte hart an seinem Mund voll Kaffee, stellte selbstbeherrscht seinen Kaffeepot weg und drehte sich auf dem Stuhl in Serhiis Richtung. "Die Motus, ja? Bist du etwa einer von denen?", wollte er bedrohlich ruhig wissen. "Wenn ja, dann stelle ICH mal den Begriff 'Victor Akomowarov' in den Raum. Ich bin sicher, er würde sich freuen, dich kennenzulernen."

Serhiis verständnisloses Gesicht war zu glaubhaft, um gespielt zu sein. Er kannte diesen Namen offensichtlich wirklich nicht. "Keine Ahnung, wer das sein soll. Aber ich weiß sehr gut, wer DU bist! Du und dein Schützling, ihr wart die Chefs von diesem Haufen."

Da er gerade seitlich verdreht auf dem Stuhl saß, ließ Waleri sich mit der Schulter gegen die Rückenlehne fallen und verschränkte die Arme. "Und wenn schon. Mit der Motus kannst du mich nicht mehr erpressen. Ich war im Knast, wegen der ganzen Geschichte. Ich hab meine Strafe abgesessen."

"Aber nicht komplett. Ich weiß, dass ihr getürmt seid. Die Bullen suchen euch. Soweit ich höre, haben die noch gar nicht gemerkt, dass dein Schützling inzwischen tot ist. Und ich bin sicher, dass es die Bullen auch brennend interessieren würde, wie der eigentlich gestorben ist."

Waleri ließ frustriert den Kopf in den Nacken fallen. Der Kerl war echt gut informiert, verdammt. Nun, im Gegensatz zu Vladislav hatte Waleri seine offizielle Strafe tatsächlich mehr als abgesessen. Vladislav hatte lebenslänglich bekommen, Waleri nicht. Aber da er als Schutzgeist nicht von Vladislav weg gekonnt hatte, hatte er notgedrungen über sein eigenes Strafmaß hinaus mit ihm im Gefängnis bleiben müssen. Das alles würde aber weder Serhiis wie auch immer geartetes Problem lösen, noch ihn überhaupt interessieren, vermutete Waleri. Und die Tatsache, dass Vladislavs Tod nicht mit den hiesigen Gesetzen konform ging, war in der Tat nicht ganz von der Hand zu weisen. "Na schön", gab er sich geschlagen. "Ihr habt mich einstimmig überredet, in eure Wohnung mit einzuziehen und mich eurer Herde anzuschließen. Die Mädchen haben sich mir an den Hals geworden. Du hast mir sogar die Herdenführer-Position angeboten. Sprich, ihr habt euch von Anfang an ne Menge Mühe gegeben, damit ich bleibe. Wenn ihr so genau wusstet, wer ich bin, dann muss ich wohl annehmen, dass da ein Plan dahintersteckt", meinte er düster. "Also was willst du von mir?"

"Ich will, dass du gegen den 'Hammerhai' kämpfst! ... Nein, anders! Er will, dass du gegen ihn kämpfst!"

"Ich.", machte Waleri tonlos.

"Ja."

"Gegen den Hai."

"Ja."

Waleri seufzte leise. Das war doch wohl nicht zu fassen. "Und was soll das irgendwem bringen?"

"Ich rede hier nicht von einem legalen Kampf nach Regeln, du Superhirn. Er wird dich totschlagen. Und es wird kein Ringrichter da sein, der ihn davon abhält."

"Hat der Typ etwa noch eine Rechnung mit mir offen, von der ich nichts wüsste?"

"Allerdings. Deine tolle Motus hat seinen Vater auf dem Gewissen."

Waleri zog ungläubig die Augenbrauen zusammen und überdachte das. "Es wäre mir neu, dass die Motus jemals Elasmotheriums gejagt hätte."

"Nein, das nicht. Aber sein Vater war ein Augenzeuge. Er hat zuviel gesehen. Darum wurde er aus dem Weg geräumt."

"Verstehe ...", kommentierte Waleri nur verbittert und wusste nicht mehr recht, was er darauf noch sagen sollte. Er selber war da ganz sicher der falsche Ansprechpartner. Er hatte in seinem Leben noch nie jemanden umgebracht. Er war also definitiv nicht der Mörder von diesem besagten Vater. Wahrscheinlich war er aber der einzige Motus-Wichser, den der 'Hammerhai' namentlich kannte. Oder zumindest der einzige, den er jetzt noch irgendwie in die Finger kriegte.

"Was glaubst du, woher ich von deiner Motus-Vergangenheit weiß", grinste Serhii ihn siegessicher an, als Waleri selbst nichts mehr sagte. "Nachdem du in meinem Fitti aufgekreuzt bist und mich so knallhart K.O. gehauen hast, obwohl du angeblich noch nie Kampfsport gemacht hast, wollte ich natürlich wissen, wer du bist. Ich habe den Hai noch in der gleichen Nacht angerufen. Er ist ja über unsere Untergrund-Szene bestens informiert. Und er kennt dich gut. Er hat mir interessante Sachen über dich erzählt. Zum Beispiel, dass du in deiner Jugend sehr wohl mal im Kampfsport aktiv warst, aber wegen exzessiven Betrugs rausgeschmissen wurdest. Und in Japan dann auch wieder. Du kannst einfach nicht aufhören, unfair zu kämpfen."

"Mh. Was das angeht, haben der Hai und ich durchaus was gemeinsam", presste Waleri zähneknirschend hervor. "Ich werde zusehen, mich mit dem Kerl zu einigen. Ich denke nicht, dass er mich umbringen muss, um die Sache mit seinem Vater beizulegen." Er erhob sich von seinem Stuhl und schickte sich an, schlecht gelaunt aus der Küche zu spazieren. So ein Mist. Er hatte wirklich geglaubt, mit dem Anschluss an diese Elasmotherium-Herde, einem lieben Mädchen bei der Hand und seinem Dachverband-Projekt jetzt endlich einer besseren Zukunft entgegensehen zu können. Aber das war wohl blauäugig gewesen. Das alles hier wäre ja auch zu schön gewesen um wahr zu sein. Vielleicht wäre er gut beraten gewesen, sich im Vorfeld gleichfalls ein paar Erkundigungen über Serhii einzuholen.

"Waleri!?", rief Serhii ihm drohend hinterher und brachte ihn damit noch vor Erreichen der Tür wieder zum Stehen.

Waleri schaute unwillig zu ihm zurück.

Der Fitti-Besitzer deutete herrisch auf den Stuhl. Allein der Fingerzeig war schon ein in Gesten gegossener Befehl. "Setz dich wieder hin. Wir sind noch nicht fertig."

Mit hasserfülltem Blick kam Waleri also zurück und pflanzte sich wieder auf seinen Sitzplatz. Wortlos wartete er auf mehr.

"Du WIRST kämpfen", prophezeite Serhii ihm düster. Dabei fummelte er an seinem Smartphone herum und schob es ihm dann über den Tisch. Darauf war ein Video zu sehen, das Waleri übergangslos das Gesicht einschlafen ließ. Olha war darin in einem abgedunkelten Raum auf einen Stuhl gefesselt, wie in einem dieser schlechten Horrorfilme, die nachts im Free TV liefen. Ihre Augen waren verheult und die Wangen tränenverschmiert. Sie sah zwar unverletzt aus, war aber eindeutig eingeschüchtert worden. "Waleri", heulte sie flehend in die Kamera. "Egal was Serhii von dir verlangt: tu es nicht! Er wird dich umbringen! Hörst du? Komm nicht nach mir suchen, Waleri! Komm nicht her! Ich hasse dich zwar, aber, ich will nicht, dass sie dir was antun! Er-" Die Aufzeichnung endete abrupt.

Serhii verschränkte selbstgefällig die Arme. "Du bist ein kluges Köpfchen. Ich schätze, du wirst nicht lange raten müssen, wo sie ist", kommentierte er. Dann schüttelte er unterschwellig den Kopf. "Ich hätte mir das hier anders gewünscht. Es liegt mir fern, meinen eigenen Herden-Mitgliedern was anzutun. Aber wir MUSSTEN Olha aus dem Verkehr ziehen. Sie war in den Plan eingeweiht. Sie wusste, was wir mit dir vorhaben. Und obwohl sie aus irgendeinem Grund so sauer auf dich ist, war sie letzte Nacht drauf und dran, ihre Sachen zu packen, dich zu schnappen und mit dir von hier abzuhauen, um dich zu retten. Mir war fast klar, dass sowas passieren würde, nachdem du sie flachgelegt hast. Dieser dumme, kleine Kindskopf ist einfach noch zu jung und zu gutmütig, um ihre Hormone im Zaum zu halten. - Naja, was soll´s. So habe ich jetzt wenigstens ein Druckmittel in der Hand, damit du den Kampf gegen den 'Hammerhai' auch wirklich antrittst."

Waleri starrte weiter auf das inzwischen ins Standby gefallene Smartphone und brauchte mehrere Atemzüge, bis er sich für eine zielführende Reaktion entscheiden konnte. Am liebsten wäre er ausgerastet und hätte einfach die Küche kurz und klein geschlagen. Aber was hätte es ihm oder Olha gebracht? "Dass ich das richtig verstehe ... Dass der 'Hai' eine Rechnung mit mir offen hat", begann er verbissen, "kann ich noch irgendwo nachvollziehen. Aber warum lässt DU dich da mit einspannen? Was genau haben wir beide miteinander für ein Problem?"

"Wie ich schon sagte, ich kannte Vladislav. Als du durch meine Tür gefallen bist, wusste ich nur noch nicht, dass dein Gesicht zu diesem Namen gehört."

"Und?", hakte Waleri unbeeindruckt nach. "Was für´n Problem hast du mit Vladislav?"

"Der Vater vom 'Hammerhai' war mein Trainer und ein guter Freund. Sein Tod war auch mir nicht gleichgültig. Oh, VIELEN von uns war er nicht gleichgültig! Nur im Gegensatz zu mir hat der 'Hammerhai' keine Skrupel, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Also überlasse ich die Drecksarbeit natürlich gerne ihm, wenn er sich so drum reißt."

"Dir ist schon klar, dass auch Mitwisserschaft und Beihilfe strafbar sind, oder?", merkte Waleri zynisch an und raffte sich etwas schwerfällig von seinem Sitzplatz auf. "Ich werde jetzt Olha holen gehen."

Der große Hai

Aufgewühlt saß Waleri in der Tiefgarage in seinem Auto, den Laptop auf dem Schoß, und suchte im Internet herum, so gut der Empfang es hier unten eben zuließ. In ihm gingen gerade die wildesten Dinge vor. Den 'Hammerhai' und Olha zu finden, war das geringste seiner Probleme. Auf der Internetseite seines Sportnahrungshandels war sein bürgerlicher Name nebst Adresse ja groß und breit im Impressum abgebildet.

Die eigentliche Not bestand darin, welche Optionen Waleri jetzt noch hatte.

Tolja 'der Hammerhai' Alexandrov würde nicht mit sich verhandeln lassen. Durch seine Bemühungen, einen Dachverband auf die Beine zu stellen, hatte Waleri ja selbst schon Kontakt zu ihm gehabt. Der Mann war ein Psychopath, wie er im Buche stand. Der wusste nichtmal, wie das Wort 'Fairness' geschrieben wurde. Bereits zu seinen Profisport-Zeiten hatte es die einen oder anderen Ringrichter gegeben, die sich geweigert hatten, seine Kämpfe zu schiedsrichtern. Aber seit der Hai in den illegalen Sektor ausgewichen war, musste das noch viel schlimmer geworden sein. Und er hatte inzwischen die komplette Szene unter sich, wenn Waleri mit seinen Recherchen richtig lag. Im ganzen Großraum Moskau schien kein einziger Straßenkampf mehr stattzufinden, ohne dass der Hai seine Finger dabei im Spiel hatte. Wenn er jetzt sogar Geiseln nahm, um seinen Gegnern ans Bein pinkeln zu können, dann war mit ihm definitiv nicht mehr sachlich zu reden.

Die Polizei war ebenfalls keine Hilfe. Die illegalen Straßenkämpfe hatten ein bisschen Narrenfreiheit, aus verschiedensten Gründen. Viele Polizisten freuten sich, die 'schweren Jungs' in einem Auffangbecken gebündelt zu wissen, um die Szene besser im Auge behalten zu können. Einige Polizisten nahmen sogar selbst an den Kämpfen teil, denn ein besseres Training für den Ernstfall gab es nicht. Und natürlich waren auch die nennenswerten Schmiergelder ein nicht gänzlich zu vernachlässigendes Detail. Ihr Interesse an Waleri selbst, und am Verbleib seines Schützlings Vladislav, würde größer sein als ihr Interesse am 'Hammerhai'.

Für einen Moment spielte Waleri gar mit dem Gedanken, ein paar alte Freundschaften aus Motus-Zeiten wieder aufleben zu lassen. Mit Cord und Third Eye beispielsweise hatte er sogar im Gefängnis noch stehenden Kontakt gehabt. Aber in dieses Leben wollte Waleri eigentlich nicht mehr zurück.

Vieles deutete also darauf hin, dass Waleri nicht drum herum kommen würde, diesen Kampf tatsächlich auszutragen. Die bloße Tatsache, zu kämpfen, machte Waleri auch kein sonderliches Kopfzerbrechen. Er war fit und trainiert, er KONNTE kämpfen. Zur Not auch ohne vorherige technische oder mentale Vorbereitung. Er hätte nichtmal ein Problem damit gehabt, sich verdreschen zu lassen, wenn der 'Hammerhai' sich dann gut gefühlt hätte und seinem Gerechtigkeitsempfinden damit Genüge getan wäre. Was ihm Sorgen machte, war ein völlig übergeschnappter Gegner, der gar keine Regeln kannte und es offenbar auch nicht bloß bei 'krankenhausreif' belassen wollte.

Trotz dieses unguten Gefühls von Unberechenbarkeit klappte Waleri den Laptop zu, drehte den Zündschlüssel seines Autos und rammte den Gang ins Getriebe.
 

Am Ziel seiner Reise, kaum zwanzig Minuten später, blieb Waleri noch eine Weile im Auto sitzen. Er hielt sich am Lenkrad fest wie an einem Trainingsgerät und schaute durch die Frontscheibe auf das Gebäude vor sich. Er hatte die Adresse ins Navi eingegeben, ohne zu wissen, wohin es ihn führen würde. Mit einer Sporthalle hatte er jedenfalls nicht gerechnet. Der Gebäudekomplex vor seiner Nase umfasste eine typisch genormte Ballsporthalle, einen größeren Zuschauerparkplatz davor, sowie einen seitlichen Anbau mit Rolltoren, von dem Waleri nicht recht wusste, ob es eine große Garage oder eine kleine Lagerhalle darstellen sollte. Die winzigen Fenster unter dem Dachsims waren vergittert, damit man beim Ballspielen nicht die Scheiben zerschoss.

Waleri spielte noch einen Moment unschlüssig mit der Zungenspitze an seinen Schneidezähnen herum, dann zog er irgendwann den Zündschlüssel ab und stieg aus seinem Auto aus. Es half ja nichts. Mit den Händen in den Hosentaschen steuerte er zunächst direkt auf das Hauptportal der Halle zu, denn andere Türen sah er auf die Schnelle nicht. Der Eingang war zwar versperrt, aber da er direkt daneben eine Klingel sah, betätigte er diese einfach mal. Als er nach einer ganzen Weile der Meinung war, lange genug gewartet zu haben, und schon weitergehen wollte, wurde die Tür doch noch von innen aufgerissen.

Ein schlanker, aber durchtrainierter Typ mit Piercings im Gesicht steckte halb fragend, halb abfällig die Nase heraus. Dem Körperbau nach war er kein Elasmotherium. "Was willst du?"

"Ich möchte zu Tolja Alexandrov", meinte Waleri ruhig. "Ist er da?"

"Und wer bist du, Mann?"

"Waleri Konjonkow. ... Ich glaube, Tolja wollte mich sehen."

Der gepiercte Kerl verengte verstehend die Augen. "Ah ja. Du bist also dieser besagte Kerl." Er musterte Waleri nochmal etwas interessierter von oben bis unten. Dann trat er zur Seite und hielt dem Gast überbetont höflich die Tür auf. "Na, dann rein mit dir. Der 'Hammerhai' erwartet dich schon."
 

Waleri wurde drinnen durch die Gänge geführt, vorbei an den Umkleidekabinen und Zuschauertoiletten. Ihm kam ein junger Mann mit kurzen Boxer-Hosen und bandagierten Händen entgegen, den er freundlich grüßte, dann wurde er weitergelotst. Aus den Tiefen der Halle hörte man schon Kampfschreie, die befehlenden Zwischenrufe eines Trainers und die Gewichte an bewegten Trainingsgeräten, die rhythmisch angehoben und wieder fallen gelassen wurden.

Hinter einer offenstehenden Tür auf der rechte Seite sah Waleri kistenweise Protein-Pulver und andere Präparate in Kartons. Schien ein Lager zu sein. Der Hai führte seinen Versandhandel augenscheinlich wirklich von dieser Sporthalle aus. Gut möglich, dass er sogar wirklich hier wohnte. Solche Hallen hatten immer Hausmeister-Wohnungen.

Die nächste Tür, zur Linken, war geschlossen. Es stand groß "Wettkampfbüro" daran. Das war für gewöhnlich der Technikraum, von wo aus man die Sound-Anlage und die große, elektronische Anzeigetafel in der Halle steuerte. Meist gab es da drin auch Schreibtische, damit man während einer Meisterschaft in Ruhe Punkte auswerten und Urkunden schreiben konnte.

Hinter dem Fenster in der Tür regte sich etwas. "Waleri!!!!", drang es gedämpft aus dem verschlossenen Raum heraus.

Waleri hielt inne als er Olhas Gesicht hinter dem vergitterten Sichtfenster entdeckte. Er drehte sich erleichtert der Tür zu, wollte gar die Richtung ändern, wurde von dem Sportler, der ihn begleitete, aber erbarmungslos weitergeschubbst. "Da geht´s lang, Kumpel", stellte der gepiercte Typ drohend klar und schob ihn vor sich her.

Schweren Herzens gab Waleri nach und ging weiter. Aber zumindest war er froh, dass Olha hier und scheinbar auch wohlauf war, selbst wenn man sie offenbar in dem Wettkampfbüro eingeschlossen und weggesperrt hatte.
 

Dann wurde er durch eine doppelflügliche Tür geschoben und fand sich auf dem Spielfeld in der eigentlichen Sporthalle wieder. Die große Halle war mit etlichen Kraftsportgeräten, Boxsäcken und zwei Boxringen vollgestellt. Es trainierten gerade mehrere Leute hier. Trotzdem musste Waleri nicht lange suchen, um den Baum von einem Mann zu entdecken, wegen dem er hier war.

"Sieh an. Der große Konjonkow!", rief das Muskelpaket schon durch die halbe Halle und klang dabei eher sarkastisch als grüßend. Er hatte eine dunkle, rauhe Stimme, die verdächtig nach Hormonen, Steroiden, Anabolika und anderen unerlaubten Muskelaufbau-Substanzen klang, was bei einem Elasmotherium gelinde gesagt ziemlich unnötig war. Elasmotherium hatten diese Statur von Natur aus. Aber Tolja 'der Hammerhai' Alexandrov hatte halt noch einen drauflegen wollen. Und das sah man ihm auch an. Der Hulk aus den Marvel-Filmen wäre blass vor Neid geworden. Zudem hatte sich Tolja die Zähne spitz anfeilen lassen, hatte furchteinflößende Tätowierungen im Gesicht und trug eine sonderbare Irokesen-Frisur, die an eine Haifischflosse erinnerte. Ob die ihm seinen Kampfnamen "Hammerhai" eingebracht hatte, oder ob er sich erst aufgrund des Namens für die Frisur entschieden hatte, interessierte heute niemanden mehr. "Hast mich ganz schön warten lassen!", brüllte Tolja durch die Halle. "Serhii hat schon vor über ´ner Stunde angekündigt, dass du kommst."

Waleri erwiderte nichts darauf.

Inzwischen hatte der Kerl die Distanz quer durch die Halle komplett zurückgelegt und baute sich vor ihm auf. Mit seinen 2 Metern Größe überragte er sogar Waleri noch um eine Handbreit.

Waleri maß Toljas Statur mit einem schnellen Blick, bevor er ihm wieder fest in die Augen sah. In Gedanken ging er Kampftechniken durch, die ihm gegen so einen körperlich überlegenen Gegner helfen könnten. So überlegene Gegner bekam man nur mit Technik klein, mit purer Kraft nicht. Hebel, Clinsche, Klammern, Würfe, Fixierungen, alles was ihm einfiel. Er war noch nie ein besonders guter Techniker gewesen. Er hatte ja bisher auch nie Gegner gehabt, bei denen er das nötig gehabt hätte. Eine harte Rechte hatte ihm bisher auch immer ganz ohne jede Technik weitergeholfen.

"Cool, dich mal persönlich zu sehen. Bisher hatten wir ja nur e-mail-Kontakt", fuhr der Hai fort und boxte Waleri hart ins Schultergelenk.

Waleri wurde von dem Schlag halb herumgerissen und keuchte schmerzhaft auf. "Ich glaube, 'cool' ist nicht das richtige Wort dafür ...", presste er etwas dünnhäutig hervor und hielt sich die Schulter. Er verwarf den Plan, eine auf Toljas Körperstatik zurechtgeschnittene Technik zu konstruieren. Techniken waren ohnehin nicht dazu gedacht und auch nicht dazu geeignet, jemanden zu töten. In sportlichen Wettkämpfen sollte man seine Gegner ja möglichst nicht ernsthaft verletzen.

Tolja ließ ihn einfach an Ort und Stelle stehen und ging brüllend durch die Halle, dass das Training beendet sei und sich alle verkrümeln sollten. Wer nicht schnell genug die Beine in die Hand nahm, bekam von Tolja nachgeholten. Und da war auch keiner, der murrte oder Fragen stellte. Die Fighter sahen durchweg zu, dass sie Land gewannen. Förmlich binnen weniger Augenblicke hatte der Hai die Location auf diese Weise komplett geräumt.

Ehe Waleri sich´s versah, stand er mit dem Typen völlig allein in der großen Halle. Ihm wurde mulmig, als Tolja seine Aufmerksamkeit endlich wieder ihm widmete. "Hör mal ... was hältst du davon, wenn wir ... erstmal reden!?", versuchte Waleri noch den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, obwohl der Gesichtsausdruck des 'Hammerhais' ihm diese Hoffnung schon von vorn herein austrieb.

Der ungleiche Kampf

"Reden ...", grollte der 'Hammerhai' finster und ließ ein rauhes, humorloses Lachen folgen. In seinen Augen blitzte Hohn. "Serhii wird dir doch wohl gesagt haben, warum er dich hergeschickt hat. ... Und wenn nicht, ist´s mir auch egal." Der Kerl gab Waleri einen groben Schubs, damit der sich in Bewegung setzte. "Ich rede mit den Fäusten. Schwing deinen Hintern in den Ring da."

"Du willst dich also unbedingt mit mir prügeln, ja?", seufzte Waleri und griff gehorsam nach einem Ringseil, um sich auf die Kampfplattform hinaufzuziehen. "Wär´s mit Zuschauern nicht irgendwie schöner gewesen?"

"Glaub mir, was ich gleich mit dir anstellen werde, will niemand sehen."

"Und nach welchen Regeln kämpfen wir?"

"Es gibt keine Regeln", zischte Tolja ihn aggressiv durch die Zähne an und brachte sein Gesicht bedrohlich nah an das von Waleri.

Eindeutig zu viele Steroide, dachte dieser und wich dem mordlustigen Blick seines Gegners aus. "Es gibt IMMER irgendwelche Regeln."

"Du willst Regeln? Gut. Siehst du den kleinen Wichser da oben?" Der Fighter deutete in die Zuschauer-Loge hinüber, wo sich gerade ein einzelner Mann mit Scharfschützengewehr in Position brachte. Nicht, dass er auf die Entfernung so eine überdimensionierte Zielvorrichtung gebraucht hätte. Er nahm ganz klar die Kampffläche ins Visir, was gerademal gute zwölf Meter Distanz ausmachte. "Ich weiß, dass dein Zeitpuffer eine Reichweite von sechs, sieben Metern hat. Den Kerl da oben erwischst du also definitiv nicht. Er wird sich unser kleines Match sehr interessiert anschauen. Und solltest du deinen Zeitpuffer einsetzen, wird er das von dort oben aus sehen. Und dann hast du sofort eine Kugel in deinem verfluchten Schädel."

Waleri nickte verbittert in sich hinein. "Sieh an. Also gibt es doch Regeln." Für so besessen, sich sogar bewaffnete Rückendeckung zu besorgen, hatte er selbst den durchgeknallten 'Hammerhai' nicht gehalten. Er war bisher noch keinem Fighter begegnet, dessen Ego es erlaubt hätte, seine Kämpfe nicht selber zu gewinnen. Und noch ein anderer Fakt wurde Waleri beim Schlagwort 'Zeitpuffer' bewusst: Tolja war ebenfalls ein Elasmotherium, war also wie alle Fabelwesen magisch begabt. Es war durchaus zu befürchten, dass er nicht nur mit Fäusten, sondern auch mit Magie kämpfte - und Waleri wusste nichts über die magischen Fähigkeiten dieses Typen!

"Das ist aber auch die einzige. Abgesehen davon kämpfen wir bis zum Tod. Und es ist alles erlaubt."

"Ich hab aber keine Lust, dich zu töten", maulte Waleri unwillig und zeigte dabei bewusst keinerlei Anzeichen von Angst. Als würde ein Kampf mit solchen Regeln ihm keine ernsthaften Sorgen machen. "Ich hab noch nie jemanden umgebracht. Und ich werde wegen dir jetzt auch nicht mehr damit anfangen."

"Keine Sorge, das wird auch schwerlich passieren."

"Tolja, seien wir doch ehrlich", redete Waleri in ruhigem Tonfall weiter. Er war nach wie vor entschlossen, den 'Hammerhai' doch noch zur Vernunft zu bringen. Vielleicht versuchte er auch ein wenig Zeit zu schinden, denn er zermarterte sich insgeheim immer noch auf Hochtouren den Kopf, wie er gegen diesen Kerl ankommen sollte. Es war zum Verzweifeln. Egal wie er´s anging, er hatte keinen Plan. "Ich bin so oder so tot. Ihr werdet es gar nicht so weit kommen lassen, dass ich dich besiege. Wenn du auch nur den leisesten Anschein erweckst, in die Defensive zu geraten, wird dein Kumpel da oben mich sofort abknipsen, noch bevor ich zum Schlag ausholen kann. Es ist doch nicht so, als ob ihr mir erlauben werdet, zu gewinnen und dann einfach zu gehen. Also warum ersparen wir uns das ganze Theater nicht?"

"Wo bliebe denn da der Spaß?"

"Spaß ...", gab Waleri verächtlich zurück. Und keuchte erschrocken auf, als er ein Blitzen sah. Aus einem puren Reflex heraus blockte er den vorschnellenden Arm seines Gegners mit der Handfläche und wurde erst dann der Messerklinge so richtig gewahr, die er mit seinem Block nur Zentimeter vor seinem Bauch gestoppt hatte. Ohne selbst so richtig zu wissen, was er tat, griff er hart in die Waffenhand des 'Hammerhais' und legte in seinem Kopf einen imaginären Schalter um. Die Welt um ihn herum gefror zu einem Standbild. Sogar die kleine Obstfliege vor seiner Nase blieb reglos mitten in der Luft hängen ...

Der explodierende Schmerz in all seinen Muskeln und Gelenken, in einer Intensität auf die er nicht vorbereitet gewesen war, ließ ihn halb in die Knie brechen und raubte ihm den Atem. Es hatte ihn schon immer körperliche Anstrengung gekostet, die Zeit um sich herum anzuhalten. Aber er hatte seine Fähigkeit noch nie in einer dermaßen brachialen und überstürzten Weise einsetzen müssen. Was er hier gerade mit der Zeit gemacht hatte, war wie ein davonfahrendes Auto mit bloßen Händen zurückhalten zu wollen. Es riss ihm fast die Sehnen von den Knochen. Trotzdem zwang er sich, den Schmerz auszuhalten und die Zeit weiter zu puffern. Mühsam wandte er den Kopf und sah sich um. Viel Zeit blieb ihm nicht. Er konnte die Zeit nur für Sekunden anhalten, bevor die Zugkraft zu stark wurde und sie sich seinem Griff wieder entriss.
 

Die darauffolgenden Sequenzen bekam Waleri selbst nur wie in Trance mit, und verfolgte seine eigenen Handlungen ohne bewusstes Zutun. Wie ein unbeteiligter Zuschauer.
 

... der 'Hammerhai' war zu einer Statue erstarrt. Waleri nahm ihm intuitiv das Messer aus der Hand, damit er es später nicht doch noch in den Wanst gestochen bekam ...
 

... der Schütze auf der Tribüne war ebenfalls reglos eingefroren. Sehr gut. Genau das hatte Waleri bezweckt, und war insgeheim ein wenig stolz auf sich, es über so eine Entfernung auch wirklich geschafft zu haben ...
 

... der Typ hatte sein Gewehr erst halb erhoben, das erschrockene Gesicht glich einem starren Foto, einer Momentaufnahme, an der sich absolut nichts mehr rührte ...
 

... Waleri wog prüfend das erbeutete Messer in der Hand. Der Griff war leichter als die Klinge ...
 

... noch ehe er es selbst so richtig realisierte, holte er aus. Erst die neuerlich explodierenden Schmerzen in seinen völlig verkrampften Gliedmaßen machten ihm bewusst, dass er das Messer gerade wirklich geworfen hatte ...
 

... der reißende Schmerzreiz zwang ihn endgültig dazu, die Zeit wieder fahren zu lassen und seine Fähigkeit aufzugeben ...
 

... die angehaltene Zeit in der von Waleri erzeugten Blase glich sich wieder an die weitergelaufene Zeit draußen an. Der typische Zeitraffer-Effekt, der deshalb immer einsetzte, wenn Waleri seine Fähigkeit wieder löste, beschleunigte den Flug des Messers ...
 

... der Kerl auf der Empore wurde um seine eigene Achse herumgerissen. Sein Aufschrei zeugte davon, dass das Messer getroffen hatte ...
 

... ein Ruckeln an seinem Arm erinnerte Waleri daran, dass er immer noch die Waffenhand des 'Hammerhais' festhielt wie ein Schraubstock. Seine Aufmerksamkeit wanderte zu seinem eigentlichen Gegner zurück. Der 'Hammerhai' war ebenfalls wieder aufgetaut und sichtlich verwirrt über das plötzliche Verschwinden seines Messers ...
 

... Waleri riss den Arm seines Gegner in eine verdrehte Position, rammte ihn dann über seinen eigenen Ellenbogen und hörte das hohle Knacken, als der Knochen brach. Wieder ein Aufschrei, der die erfolgreiche Ausführung von Waleris Aktion bestätigte ...
 

Erst dann kehrte auch Waleris Verstand endgültig aus dem Zeitpuffer-Modus in die Echtzeit-Wahrnehmung zurück. Ein akuter Schwächeanfall schlug Waleri zu Boden wie ein in sich zusammenfallendes Kartenhaus. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren. Zitternd und nach Luft ringend blieb er sitzen. In seinem Kopf machte sich ein Dröhnen breit und das Blut rauschte in seinen Ohren. Er hatte seine Zeitpuffer-Fähigkeit eindeutig überstrapaziert. Das hatte er in seinem Leben schon mehrmals getan, aber er war noch nie so massiv zu weit gegangen wie jetzt. Für einen Moment hatte er ernstlich damit zu kämpfen, überhaupt bei Bewusstsein zu bleiben, weil ein rabiates Schwindelgefühl und eine diffuse Schwärze nach ihm griffen.

Der 'Hammerhai' hielt sich noch einige Sekunden lang schreiend den gebrochenen Arm, bevor er sich langsam an den Schmerz gewöhnte.

Waleri sah mühsam auf und grinste ihn von unten herauf an. "Du hattest Recht. Das hat tatsächlich Spaß gemacht", nahm er den letzten Dialog wieder auf.

Beide schauten zur Tribüne hoch, wo ebenfalls gerade wieder Schmerzensschreie laut wurden. Der Schütze lebte noch, war aber nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich rollte der sich gerade mit einem Messer in der Schulter auf dem Boden herum.

"Wie hast du ...!?", presste der 'Hammerhai' hervor, brachte es aber nicht über sich, den Satz zu vollenden.

"Du hast mich unterschätzt, Junge. Die Reichweite meines Zeitpuffers mag mal sechs, sieben Meter betragen haben, das ist richtig. Ist aber schon länger her. Über die Jahre bin ich viel stärker geworden, und meine Fähigkeit mächtiger. ... Auch wenn ich die Nebenwirkungen deswegen trotzdem nicht besser wegstecke", stöhnte er, als er sich mühselig wieder auf die Beine kämpfte. Sein Blick verschwamm vor seinen Augen. "Also was jetzt!? Kampf bis zum Tod?", keuchte er, obwohl er vor Schwäche so schwankend auf seinen Füßen stand, dass er nicht den Eindruck erweckte, auch nur noch eine einzige Aktion ausführen zu können.

Der Fighter hielt sich weiter den gebrochenen Arm, schnaubte wütend und zog ein sehr verdrießliches Gesicht. "Ich geb mich geschlagen. Gegen SO einen Zeitpuffer kann ich nicht gewinnen. Aber die Regeln waren so. Also tu´s!"

"Kein Bedarf, Mann! Ich sag´s nochmal: ich bin kein Mörder. ... Aber wenn du jetzt nicht auf der Stelle das Mädchen wieder freilässt, ändere ich meine Meinung!"

"Scheiß auf die Tussi. Die kannst du wiederhaben", maulte Tolja unzufrieden.

Waleri nickte langsam, lehnte sich ermattet in die Ringseile, beobachtete ihn aber trotzdem weiter aufmerksam, um am Ende nicht doch noch irgendeine linke Attacke zu kassieren. "Ich weiß, dass es hier nicht um das Mädchen geht, sondern um deinen Vater. Und es tut mir wirklich leid um den Mann. Ich hab mich im Internet ein bisschen belesen. Er muss ein guter und hoch geachteter Trainer gewesen sein, und ein anständiger Typ. ... Ich bin nicht der, der ihn auf dem Gewissen hat. Aber wenn ich irgendwas für dich tun kann, bin ich für Vorschläge offen, hm?"

Der billige Beweis

Als sie wieder nach Hause in ihre WG-Wohnung kamen, war Serhii weg. Das wunderte Waleri nicht. Wie er inzwischen wusste, war Serhii ein Echtzeit-Hellseher. Er konnte nicht die Zukunft sehen, aber die Gegenwart von weit entfernten Orten und Personen. Wie eine Überwachungskamera verfolgte er, was andere Leute in eben diesem Augenblick gerade trieben. Sicher hatte er den Kampf aus der Ferne mitverfolgt und war getürmt, als er gesehen hatte, dass Waleri mit Olha auf dem Heimweg war.

Waleri duldete, dass Olha sich kommentarlos in ihrem Zimmer verschanzte, und kümmerte sich erstmal um sich selbst. Er fühlte sich immer noch, als wäre er von einer Abrissbirne getroffen worden. Aber er hatte im Laufe seines Lebens ein paar Möglichkeiten erlernt, seinen Körper schneller wieder auf die Beine zu kriegen, wenn er seine schmerzhafte Zeitpuffer-Fähigkeit überstrapaziert hatte. Eine kochend heiße Dusche und Stützbandagen an allen erdenklichen Gelenken wirkten da schon viel. Hatte er das nicht zur Hand, mussten es im Notfall erstmal Schmerztabletten tun. Auch Koffein hatte sich als erstaunlich hilfreich herauskristallisiert.
 

Nach einer Weile steckte er vorsichtig den Kopf wieder durch Olhas Tür herein. Als Olha diesmal nur mit bösen Blicken statt mit handfesten Gegenständen warf, traute er sich, ganz in ihr Zimmer einzutreten. "Bist du okay?", wollte er wissen. Sie hatte auf der ganzen Heimfahrt an seinem Arm geklammert, so dass er kaum die Gangschaltung hatte bedienen können. Aber gesagt hatte sie kein Wort.

Schnaubend sah sie weg.

"Hör mal, können wir jetzt vielleicht wieder normal miteinander reden? Über deinen komischen Wahn zum Beispiel?"

"Ich hasse dich!"

Waleri rollte mit den Augen. Er war dieser Anfeindungen langsam echt überdrüssig. "Jetzt sei doch mal vernünftig, Mann. Wie kommst du drauf, dass ich dir untreu gewesen bin? Wer redet dir sowas ein?"

"Na, willst du´s etwa abstreiten?"

Waleri hob ratlos die Schultern. "Ja!?"

"Dann bin ich echt gespannt, wie du mir das hier erklären willst!", giftete Olha ihn an, griff nach der Fernbedienung und drückte ein paar Knöpfe. Auf dem Fernseher sprang surrend ein Videoband an.

Waleri blieb mit einem würgenden Laut die Luft weg. Er musste sich den Handrücken auf den Mund pressen, weil er das Gefühl hatte, ein Schlag in den Magen würde ihm gleich das letzte Essen wieder hochkommen lassen. Er sah sich selbst auf einem fremden Mädchen liegen und hatte gut erkennbar hemmungslosen Verkehr mit ihr. Das Ambiente war eindeutig das eines Bordells. "Was ... !?", wollte er erschüttert wissen. "Ist das ne Überwachungskamera in einem Puff?"

"Nutten zählen bei dir wohl nicht unter Fremdgehen, was?", gab Olha nur beißend zynisch zurück und ließ das Video gnadenlos weiterlaufen.

"Olha ...", machte Waleri kurzatmig, geradezu hilflos, aber in einem um Vernunft bittenden Tonfall. Er versuchte, das Video irgendwie in seinem Gedächtnis einzuordnen. "Das da ist mindestens 5 Jahre her. Da kannte ich dich noch nichtmal!"

Mit vorsichtiger Verwunderung und arger Skepsis wandte sich die junge Frau wieder dem Fernseher zu und sah sich das Tape unter diesem Gesichtspunkt nochmal genauer an.

"Komm schon, schalt das aus", flehte Waleri und drehte sich pikiert weg, als er auf dem Bildschirm genau in diesem Moment zum Höhepunkt kamen. Das verfluchte Teil hatte sogar Ton, so dass man es nicht nur sah, sondern auch sehr gut hörte.

Kopfschüttelnd - und erst Sekunden später - hob sie die Fernbedienung und stellte das peinliche Video endlich ab.

Waleri hatte sich abgewandt, hatte sich die linke Hand verkrampft unter den rechten Ellenbogen geklemmt und die Knöchel der rechten Hand an den Lippen, um seine Beherrschung zu behalten. Er war erstmal hellauf damit beschäftigt, einfach nur weiterzuatmen. Ihm war schlecht. Er fühlte sich furchtbar vorgeführt und ungerecht behandelt, sowas auf Kassette gebannt und in Olhas Besitz zu sehen. Er brauchte noch einige Augenblicke, bevor er Olha wieder in die Augen sehen konnte.

"Wo ist das gewesen?", wollte Olha wissen. Sie klang jetzt sehr viel ruhiger als zuvor, nicht mehr so hysterisch und wütend.

Waleri ließ die Hand aus seinem Gesicht kraftlos fallen und seufzte. "Im 'Love Devil'. Das ist ein Bordell, drüben im Stadtteil Twerskoi", gab er geschlagen aber ehrlich zu. "Das Mädchen da ...", er deutete auf den Fernseher, "hieß Yelizaweta. Und ja, ich war häufiger bei ihr", gestand er unverwunden. Was hätte er es auch abstreiten sollen? "Aber wie gesagt, das ist Jahre her. Wäre mein Schützling auf dem Band mit drauf gewesen, hättest du das selber gemerkt. Aber der war mit seinen Mädels immer im Nachbarzimmer, um ungestört zu sein. Er wollte nicht, dass ich ihm dabei zusehe."

Mit einem leisen Durchatmen kam Olha näher, schlang ihre Arme um Waleris Mitte und schmiegte sich fest an seine breite Brust. "Tut mir leid", meinte sie leise, da sie seine Ausführungen glaubhaft fand. "Wenn ich dir Unrecht getan habe, entschuldige ich mich dafür."

Waleri fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase, dann erwiderte er die Umarmung doch noch. Eine ziemliche Spannung fiel von ihm ab. So peinlich das ganze Ding auch sein mochte, war er froh, dass sich endlich alles aufgeklärt hatte. "Wo hast du dieses Tape überhaupt her, sag mal?"

"Von Katerina."

Waleri stöhnte unwillig auf, als ihm hundert Lichter aufgingen.

"Wo sie es her hatte, weiß ich allerdings nicht."

"Ich schon", meinte er trocken. Sie musste es vom 'Hammerhai' zugespielt bekommen haben. Der kriminelle, kleine Gauner hatte zu vielen Puff-Besitzern in ganz Moskau Kontakte. Und übrigens nicht nur zu denen. "Hör zu, Olha ..."

Das Mädchen löste ihr Gesicht von seiner Brust und schaute ihm niedergeschlagen von unten herauf in die Augen. Wartete, dass er weitersprach.

"Ich liebe dich, Kleine", fuhr er ernst fort. "Sei ehrlich. Liebst du mich auch?"

Sie nickte. "Ja."

"Wirklich?"

"Dieses Video da hat mir das Herz zerrissen. Du machst dir keine Vorstellung, wie sehr ich gelitten habe, weil ich dich so liebe und das da nicht ertragen konnte. Ich liebe dich wirklich, glaub mir das."

"Dann geh mit mir von hier weg. Diese 'Herde' hier hat eine giftige Atmosphäre. Serhii und Katerina sind durchtrieben. Auch wenn das Kapitel mit dem 'Hammerhai' jetzt erstmal abgeschlossen ist, und selbst wenn ich den beiden jetzt noch trauen würde, werden die hier nie Ruhe reinkommen lassen. Lassen wir das hinter uns und bauen uns irgendwo anders ein gemeinsames Leben auf."

Olha kratzte sich verlegen am Kopf. "Planst du immer noch eine Familie?"

"Wenn du das auch möchtest!?"

"Ich muss dir was sagen ... Ich bin schwanger gewesen."

"Was!?", machte Waleri perplex und schob sie auf Armlänge von sich, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.

"Von dir!"

"Ja, das ... Also ..." Er war kurz völlig überfordert. "Das hätte ich jetzt auch vermutet, dass es von mir ist. Aber ... wieso sagst du 'gewesen'?"

"Ich habe es leider verloren. Es kann sich zwar gerademal um die dritte, vierte Schwangerschaftswoche gehandelt haben, aber dieser ganze Psycho-Terror um das Videoband war wohl zuviel körperlicher und seelischer Stress."

Seufzend schloss Waleri das Mädchen wieder in die Arme und legte seine Wange oben auf ihrem Kopf ab.

"Machst du mir ein neues?", wollte Olha neckisch wissen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich fasse es immer noch nicht, dass ich das hier wirklich geschrieben habe. XDD

Okay, ihr Lieben. Von jetzt an kann ich leider keinen täglichen Upload mehr versprechen. Im Rest der Story muss ich erst noch einige Lücken füllen, da herrscht noch ein wenig work in process. :) Komplett anzeigen

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