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Von Wölfen und Menschen

von

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Prolog

05. März 2015, tief unter den Ruinen des einstigen Tokyo-1

 

Das Surren der Ventilatoren war beinahe das einzige Geräusch, das den Bunkerkomplex erfüllte. Die abgestandene Luft wurde durch uralte Lüftungsschächte, gebaut weit vor der Zeit des Second Impact, nach oben gesogen. Knarzend bewegten sich die Röhren im Rhythmus der Rotationen der Flügel. Das geschäftige Treiben, das hier einmal geherrscht hatte, war schon lange verklungen. Das Hallen von Schritten auf dem blanken Steinboden, die stetige Flut von Befehlen, die durch die Gänge gebrüllt wurden, das Klackern von Fingern auf Tastaturen, einem Klavierspiel gleich, all das war bereits vor vielen Jahren verstummt. Der Regierungsbunker der ehemaligen Hauptstadt, die in den Wirren nach dem Second Impact in einem atomaren Feuersturm untergegangen war, erschien von außen beinahe so tot wie die verseuchte Erde, die ihn bedeckte. Aber eben nur beinahe.

 

Die gespenstische Leere der unterirdischen Anlage mochte auf simplere Geister verstörend wirken, doch K2 war kein gewöhnlicher Mensch. Er wollte es so. Annähernd dreißig Jahre nach seinem „Tod“ waren Isolation und Stille seine ständigen Begleiter geworden. Nichts Anderes kannte er mehr. Nichts Anderes wollte er mehr. Virtueller Kontakt reichte völlig aus.

Im ehemaligen Kommandoraum der Anlage blickte er von seinem Sessel aus auf die mechanische Uhr, die seit seinem Einzug in diesem Bunker auf seinem Schreibtisch stand.

 

„Der Test hat begonnen“, dachte er bei sich. Die Spitzen seiner Zeigefinger berührten seine Schläfen, während die Ellenbogen auf der Tischplatte ruhten. Er brauchte keinen Live-Stream nach Deutschland. Keine Funksprüche. Er wusste auch so, was passieren würde.

 

Ja, er hätte sie warnen können. Hätte das Ergebnis vorwegnehmen und die weitere Vorgehensweise enthüllen können. Aber etwas sagte ihm, dass es klüger wäre, es nicht zu tun. Das Team musste es selbst herausfinden. Es musste von sich aus begreifen, dass sie in einer Sackgasse gelandet waren. Nur wenn die Piloten zutiefst von den weiteren Schritten überzeugt waren, konnte es gelingen. Ein Funken Restzweifel, dass man doch hätte einen anderen Weg einschlagen können, und sein Plan, nein, ihr Plan, wäre zum Scheitern verurteilt.

 

„Um die Hölle auf Erden zu verhindern, muss man sie zuerst selbst erfahren“, murmelte er. „Ich beneide keinen von euch. Aber für die Zukunft der Menschheit ist kein Opfer zu groß.“

 

K2 öffnete die kleine Box, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er befüllte die innenliegende Injektionsnadel und verabreichte sich eine weitere Dosis des Antistrahlenmittels. Als die Wirkung des Medikaments sein Nervensystem flutete, lehnte er sich zurück.

 

„SEELE wird fallen. Aber bis dahin haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Die Zeit der Offenbarung bricht an, Qumran hin oder her…“

 

***

 

Zeitgleich, ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland

 

Mit einem hörbaren „Klack“ stellte Phil Sammons die Kaffeetasse auf seinem Pult ab. Eine Welle brauner Flüssigkeit ergoss sich über die Oberfläche, sodass er mit einem leisen Fluch hektisch seine Dokumentenmappe empor riss.

 

„Glück gehabt, alles trocken geblieben“, ging ihm durch den Kopf, als er die Papiere inspizierte. „Hoffen wir, dass das alle Überraschungen des heutigen Tages waren.“

 

„Hier Captain, nehmen sie das.“ Der Offizier zu seiner Rechten reichte ihm einige Taschentücher, um das Chaos zu beseitigen.

 

„Danke, Lieutenant. Wie ist der Status der Einheit?“, fragte Phil, während er die Oberfläche abwischte. 

 

„Bis jetzt sind alle Werte im Normalbereich. Sicherheitsverankerungen 1 bis 26 sind vollständig zurückgefahren. Beide Entry-Plugs sind in Position. Wir können mit der Synchronisierung der beiden Piloten mit Evangelion Einheit X beginnen.“

 

Also gut“, dachte Phil bei sich. Das letzte Jahr in der Betreuung der drei Evangelions, die hier im äußersten Osten Deutschlands entwickelt worden waren, war recht erfolgreich verlaufen. Natürlich gab es immer wieder Rückschläge, aber alles in allem kamen sie hier im Testgelände von NERV-04 gut voran. Sollten die Bürohengste in Berlin doch jammern und zetern, dass es so langsam vorwärtsging. Von denen hatte eh keiner eine Ahnung, was bei der Aktivierung eines Evangelions alles zu beachten war. Erst recht nicht bei Modellen, die sich so von dem ursprünglichen Entwicklungszweig unterschieden.

 

Seit Phil vor etwas mehr als drei Jahren den Posten als Einsatzleiter bei NERV-04 übernommen hatte, hatten sie eine Reihe von Erfolgen vorzuweisen gehabt, die jedoch weitestgehend von ihren Vorgesetzten in Japan unbeachtet blieben. All die Jahre hatte der Fokus vom NERV-Hauptquartier in Tokyo-03 immer auf der anderen, in Deutschland unter Federführung der NERV-Zweigstelle Hamburg gebauten Einheit 02 gelegen, was ihm ganz recht gewesen war. Sie hatten die Gelder für weitere Evangelions bewilligt bekommen, waren aber größtenteils sich selbst überlassen worden. In wenigen Monaten nun würde Einheit 02 nach Japan verschifft werden. Dann hatten sie vielleicht sogar noch mehr Ruhe. Sie waren ja schließlich nur der „Backup-Plan“, der immer weniger gebraucht wurde, je mehr einsatzbereite EVAs es gab und desto erfolgreicher diese im Kampf gegen die Engel in Japan waren.

 

Umso wichtiger war es aber, dass der heutige Test funktionierte. Sollten sich die Geldgeber entschließen, die weitere Entwicklung in Deutschland doch einzustellen, mussten die EVAs bis dahin unbedingt voll einsatzbereit sein. Schließlich hing ihr aller Überleben davon ab.

 

Phil richtete sich auf.

 

„Ok, alle mal hergehört. Heute eröffnen wir ein neues Kapitel in der Entwicklung der EVAs. Dafür haben wir die letzten Monate gearbeitet. Dafür haben wir unser Privatleben vernachlässigt, unsere Gesundheit ruiniert und soweit mir bekannt ist, mindestens eine Ehe geopfert.“ Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war seine Ehe gewesen. „Also sorgen wir dafür, dass sich der Aufwand gelohnt hat! Beginnen wir mit Aktivierungsphase 2!“

 

***

 

Evangelion Einheit X, Entry-Plug Alpha

 

Das monotone Rauschen der Instrumente hielt noch immer an, nur immer wieder kurzzeitig unterbrochen von Statusmeldungen des Hauptquartiers. Das regelmäßige Blinken der kleinen Lichter, ständige Begleiter des Piloten, war so etwas wie die stetige Vergewisserung, dass die Welt dort draußen noch immer existierte. Janko hatte sich nach all den Monaten des Trainings mittlerweile daran gewöhnt.

 

„Nervenverbindungen werden aktiviert, bis jetzt alles im grünen Bereich…“

 

„Nähern uns der Borderline, voraussichtlicher Übertritt in 2 Minuten…“

 

Plötzlich ertönte ein anderer Funkspruch.

 

„Ich hasse diese orangene Brühe“. Davids Stimme kam gepresst über die Kopfhörer. „Ich wird mich nie daran gewöhnen!“

 

„Wenn das dein größtes Problem ist… Ich werd‘ dich gleich für ne ganze Weile in meinem Kopf haben… Davor graust es mir viel mehr“, antwortete Janko. Ein kleines Lächeln umspielte seine Gesichtszüge. Aber ja, David hatte irgendwie Recht. Dieser metallische Geschmack von Blut, der sich bei jedem Einstieg in den Entry-Plug neu einstellte, war gewöhnungsbedürftig. Noch am nächsten Tag schmeckte jeder Bissen nach dem Zeug.

 

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Also, für dein eigenes Seelenheil: Bleib im Fokus! Keine Ahnung, wo du landest, wenn du dem Flüstern folgst…“

 

Janko streckte sich. Die Zugangskapsel begann in regelmäßigen Abständen die Farbe zu wechseln, so wie bei Aktivierungen üblich. Regenbogenmuster wechselten in immer schnellerer Abfolge die Intensität. Man konnte fast meinen, dass alles wie immer war. Einsteigen, synchronisieren, aktivieren. Und doch war diesmal etwas anders. Er konnte bereits jetzt, noch vor der eigentlichen Initialisierung, Davids Präsenz spüren. Er war nicht mehr allein im Evangelion.

 

„Piloten, aufgepasst. Wir nähern uns dem Nullpunkt“, kam es vom Hauptquartier. „Der Drift beginnt in zehn, neun…“

 

Janko atmete tief ein. Sofern man eine tiefe Inhalation von LCL als „atmen“ bezeichnen konnte.

 

„…acht, sieben…“

 

Seine Augen wanderten abwärts. Seine Hände umklammerten die Steuerungshebel, die vorne am Pilotensitz angebracht waren, stärker als üblich. „Lass es klappen“, dachte er bei sich, „Monatelanges Training genau für diesen Moment… LASS. ES. KLAPPEN!“

 

„…sechs, fünf...“

 

Das Flackern vor seinen Augen veränderte sich, die Regenbogenfarben verschwanden und machten Platz für dichten, grauen Nebel. Bilder einer Lichtung tauchten auf, umrahmt von knorrigen, windschiefen Bäumen, mehr tot als lebendig. Am Rande der kleinen Ebene sah er eine Felsformation, die sich aus der Erde erhob. Inmitten dieser Felsen erkannte er einen schwarzen Höhleneingang. Es war ihm, als könne er einen kalten Hauch spüren, der von diesem Punkt ausging.

 

„David, siehst du das auch?“ Sprach er noch? Oder dachte er die Worte nur?

 

„Positiv… soll das so sein?“, antwortete der zweite Pilot.

 

„… vier, drei…“

 

Die dunkle Öffnung der Höhle kam mit einem Mal näher. Wie in Trance konnte Janko seine Augen nicht mehr abwenden. Ihm war, als umklammere etwas seinen Kopf und zwinge ihn, hinzusehen.

 

„… zwei, eins…“

 

Dann hörte er es. Ein Grollen, das nicht von dieser Welt schien. Es schwoll mit einem Mal auf eine Lautstärke an, die sein Gehör förmlich zu zerreißen schien. Diese Woge aus Wut traf ihn und schleuderte ihn in den Sitz. Wie ein über ihn hereinbrechender Tsunami flutete das Grollen seine Nervenverbindungen mit Zorn, Hass und purem Schmerz. Janko umklammerte röchelnd seinen Hals.

 

Tief im dunklen Eingang der Höhle erblickte er zwei leuchtend rote Punkte. Es kam ihm vor, als zerschnitten die Blicke dieser glühenden Augen seine Haut. Minutiös. Voller perverser Freude.

 

Im hintersten Winkel seines Bewusstseins vernahm er die Schreie des anderen Piloten. Dazwischen, gedämpft wie durch meterdicke Wände, registrierte Janko die panischen Funksprüche aus dem Hauptquartier für einige Sekunden, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor.

 

„… Drift unterbrochen, wir verlieren das Signal!“

 

„… Termination Plug einführen, STOPPT DAS DING!“

 

„…Notfallauswurf eingeleitet, Eject-Command gesendet!“

 

Und dann war da nur noch Stille.

Das Schokotrauma

21. September 2015, Tokyo-3

 

Shinji Ikari war früh auf den Beinen an diesem Montag. Die Zikaden zirpten noch lauter als üblich an diesem Morgen. Oder kam es ihm nur so vor? Noch etwas müde, aber von dem anschwellenden Konzert mehr genervt als üblich stand er auf, um Frühstück zu machen. In der Küche wartete bereits Pen-Pen auf ihn, nachdem er sich angezogen hatte.

 

„WUAAAGH!“, schallte es herüber.

 

„Guten Morgen, Kleiner“, begrüßte ihn Shinji. „Du hast sicher Hunger, was?“

 

Der kleine Pinguin schlug seine Flossen zusammen, als applaudierte er dem Menschen für seine schnelle Auffassungsgabe. Ungeduldig wartete er darauf, dass Shinji die aufgetaute Sardinenbüchse öffnete. Wenige Minuten später schlang er auch schon sein Frühstück herunter, während Shinji es sich mit einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch gemütlich gemacht hatte. Er wollte gerade nach der Zeitung greifen, als er Schritte Richtung Küche hörte.

 

„Hey, Third Child, willst du der siegreichen Kämpferin nicht mal Frühstück machen?!“, schallte es herüber.

 

Shinji seufzte, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar. Er warf die Zeitung wieder an ihren angestammten Platz und stand auf. Seit ihrem Sieg bei dem Kampf gegen den Engel im Inneren des Vulkans vor vier Tagen hatte Asuka nicht mehr aufgehört, von sich selbst wahlweise als „Killer Queen“, „siegreiche Kämpferin“ oder „einzig würdige Pilotin“ zu sprechen. Shinji sparte sich Ausführungen zu seinem herabgeworfenen Prog-Messer, welches ihr schlussendlich den Sieg beschert hatte. Immerhin war sie recht gut gelaunt seitdem, was seiner körperlichen und mentalen Gesundheit bis jetzt ganz guttat.

 

Er ging hinüber zum Kühlschrank. „Es ist noch genug von gestern da, ich werde uns schnell etwas für die Schule vorbereiten“, gab Shinji zurück. Ein leichtes Stöhnen kam von Asuka.

 

„Och, müssen wir wirklich wieder dahin? Ich kann doch eh nur die Hälfte der Aufgaben lesen…“

 

„Misato hat mich gestern extra noch einmal darauf hingewiesen, dass unser ‚Engel-Sonderurlaub‘ heute endet. Wir müssen also wieder zum Unterricht“, antwortete Shinji, während er die Reste des Abendessens aus dem Kühlfach holte und in ihre Boxen packte.

 

„Warum müssen wir überhaupt dahin? Ich meine, die Rettung der Welt liegt auf unseren Schultern. Wieso dann sowas Profanes wie Schule?!“ Asuka lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und beobachtete, wie Shinji alles verstaute. Der kleine Pinguin hatte unterdessen sein Mahl beendet und watschelte zurück zu seinem Kühlschrank.

 

„Damit ihr ein Stück Normalität leben könnt, ganz einfach“, warf Misato ein und quetschte sich an Asuka vorbei, als sie die Küche betrat. „Es ist wichtig, dass ihr auch einen normalen Rhythmus habt, damit ihr nicht ganz den Bezug zur Außenwelt verliert. Nur bei NERV rumzuhängen ist nicht gut für euch. Und das ist keine Bitte, sondern ein Befehl. Also los, anziehen und Abmarsch!“

 

Grummelnd verzog sich Asuka ins Bad. Shinji richtete seinen Blick auf die ältere Mitbewohnerin. „Danke für deine Unterstützung, Misato-San. Ich hatte schon befürchtet, sie ganz alleine überzeugen zu müssen.“

 

Misato lächelte. „Kein Problem, Shinji-Kun. Ich bin schließlich sowas wie eure Erziehungsberechtigte, und das nehme ich durchaus ernst. Und jetzt geh weg vom Kühlschrank, mein Morgenbier wartet!“

 

***

 

Asuka lief wieder gut zwei Meter hinter Shinji, als sie die ersten Straßenkreuzungen auf dem Weg zur Schule hinter sich gelassen hatten.

 

„Das ist anstrengend, Asuka!“, beschwerte sich Shinji zum wiederholten Male. „Lauf doch bitte einfach neben mir!“

 

„Damit du mir lüstern auf den Hintern gucken kannst?! Vergiss es, Hentai!“, schallte es von hinten. Asukas Stimmung an diesem Morgen hatte sich immer noch nicht wirklich gebessert.

 

Shinji seufzte. Würde das jemals enden? Er wusch ihre Wäsche, bügelte ihre Klamotten und, verdammt noch mal, wohnte mit ihr zusammen. Er hatte über den Tag verteilt wohl mehr als genug Gelegenheiten, sie anzustarren. Wenn er es denn wollte. Was jetzt nicht so ganz fernab der Realität war, obwohl er es, schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus, kaum zugeben würde. Er versuchte es mit einem Themawechsel.

 

„Hast du’s schon gehört? Unsere Nachbarn ziehen wohl aus“, versuchte er erneut ein Gespräch in Gang zu bringen.

 

„Ach echt? Ne, das ist mir neu… Warum, das übliche ‚Stadt-als-Schlachtfeld‘-Argument?“, fragte Asuka.

 

Treffer. Tatsächlich ein anderes Thema!

 

„Ich weiß es nicht, Misato hat es mir gestern Abend kurz erzählt. Wohl ein Todesfall in der Familie, mit der Möglichkeit, ein Haus in der Nähe von Tokyo-2 zu erben“, antwortete Shinji. Er blieb an der Fußgängerampel stehen und drückte den Knopf. Asuka hielt neben ihm an.

 

Er schielte zu ihr rüber. Ein rüdes „Trotzdem Augen nach vorne, Baka!“ folgte sogleich.

 

„Naja, wenn ich auf einmal zu Geld kommen würde und keine Aufgabe hätte, würde ich auch von hier wegziehen“, sagte Shinji. „So toll ist Tokyo-3 nun auch wieder nicht.“

 

„Ach Quatsch! Die Stadt ist doch super! Alle paar Wochen machen wir ein paar Straßenzüge bei einem Kampf mit ‘nem Engel platt und dann entsteht schon wieder was Neues. Es wird also nie langweilig hier!“ Sie fummelte mit ihren Fingern in ihrer Schultasche herum. Ein kleiner Seufzer folgte. „Wobei ich zugeben muss, ein wenig mehr Geld könnte nicht schaden… Ich bin schon wieder pleite. Wann kommt NERV denn eigentlich mal auf die Idee, uns zu bezahlen? Ich würd‘ mir nachher gern was aus dem Schulautomaten ziehen.“ Ein Geistesblitz erhellte ihr Gesicht. „Third Child, du hast doch immer ein paar Reserven übrig. Was hältst du davon, wenn du der unumstrittenen Nummer Eins einen ausgibst?!“

 

Shinji verdrehte innerlich die Augen. „Naja, äh, ich denke, da lässt sich was machen…“

 

„Sehr gut. Und wenn Misato sich wundert, sag ihr einfach, ein brutaler Schulhofschläger hätte dir dein Essensgeld abgenommen!“ Die Ampel schlug um auf grün und die beiden setzten sich wieder in Bewegung.

 

„Ich denke, ich wohne schon mit der größten Gefahrenquelle der Schule zusammen. Das lässt sich kaum noch toppen“, dachte er bei sich.

 

***

 

Einige Blocks entfernt machte sich Rei Ayanami ebenfalls fertig für den Schultag. Auch wenn sie bei dem letzten Einsatz nicht mit zum Vulkan geflogen war, hatte sie die Schule nicht besucht. Ihre Klassenkameraden hatten den Schulausflug zwar bereits vor einigen Tagen beendet, aber ohne expliziten Befehl hatte sie keine Notwendigkeit gesehen, in den Klassenraum zurückzukehren. Es war ohnehin nicht von Belang. Erst die Anweisung, die sie gestern Abend erhalten hatte, bewog sie zu diesem Schritt.

 

Rei zog ihre Schuluniform an und schaute noch einmal in den Badezimmerspiegel. Sie starrte für einige Sekunden in die Augen ihres Gegenstückes.

 

„Spiegelbild… Ein Abbild eines Menschen…“, dachte sie. „Und doch nicht mehr.“

 

Sie zog die Tür des kleinen Apartments hinter sich zu. In der Ferne waren bereits so früh am Morgen die Baumaschinen zu hören. Bagger und Walzen ebneten einen anderen alten Wohnblock in der Nähe ein. Der Staub der nahegelegenen Baustelle wehte immer mal wieder als feiner Film an die Wände ihrer Unterkunft und sorgte für noch weniger Lichteinfall, als es die kleinen Fenster sowieso schon taten. Zumindest wäre ihr dies aufgefallen, hätte sie jemals die Vorhänge zur Seite gezogen. Wäre sie auf ihren kleinen Balkon getreten, der, entgegen der Hässlichkeit des sonstigen Gebäudekomplexes, einen malerischen Blick auf Tokyo-3 ermöglichte, so hätte sie sogar die neu entstandenen künstlichen Seen erkennen können, die sich allmählich mit Wasser füllten. Doch Rei interessierte sich nicht für derlei Dinge. Niemand hatte ihr je gezeigt, was die Schönheit der Landschaft in einem Menschen auslösen konnte. Niemand hatte ihr je irgendetwas gezeigt, was nicht unmittelbar mit den EVAs und der Erfüllung ihrer Mission zu tun hatte.

 

Sie ging den Außengang des Apartmentkomplexes in Richtung Treppenhaus entlang, ihre Schultasche über der Schulter.

 

„403… 404… 405…“ Sie schaute auf die abblätternden Nummern über den einzelnen Wohnungseingängen. Zahlen mochte sie. Sie waren vorhersehbar. Planbar. Rational. Eine folgte auf die Andere, nahm man wieder Zwei weg, so wusste man schon vorher das Ergebnis. Menschen waren nicht so einfach. Sie verhielten sich… unvorhersehbar. Der Umgang mit ihnen fiel ihr schwer.

 

Auf ihrer Etage wohnte außer ihr schon längst keiner mehr. Auch im Treppenhaus begegnete sie niemandem. Sie hatte mal einzelne Leute auf die zweite und dritte Etage gehen sehen. Aber schlussendlich lebte in diesem abbruchreifen Komplex jeder alleine vor sich hin.

 

Als sie den Bürgersteig betrat, fügte sie sich schnell in den zunehmenden Verkehr ein. Wie ein Fisch im Schwarm glitt sie mit Pendlern, Joggern und anderen Schulkindern den bekannten Weg entlang. Sie schaute auf die Uhr der Apotheke, die an der Straßenkreuzung auftauchte. In ihrem Kopf dividierte sie die noch notwendigen Schritte zur Schule durch die Anzahl der Schritte, die sie pro Minute lief. Ihren Berechnungen nach würde sie absolut pünktlich sein. Das war ausnahmsweise etwas, was ihr Vergnügen bereitete.

 

***

 

Als der Schulgong für diesen Tag zum letzten Mal ertönte, machten sich Asuka und Shinji auf zum NERV-Hauptquartier. Die Sonne schien und tauchte Tokyo-3 in ein friedliches, spätsommerliches Licht. Auch wenn sich die Jahreszeiten nach dem Second Impact immer noch nicht vollständig wieder eingependelt hatten, so kam es den Bewohnern der Stadt zumindest vor, als schwanke die Intensität und Dauer des Lichts leicht im Jahresrhythmus. Weder Shinji noch seine Begleiterin wollten die verbleibende Stunde bis zum nächsten Synchronisationstest in den stickigen Abteilen der Ringbahn verbringen, sodass sie sich für den Fußweg entschieden. Asuka kaute an einem Schokoriegel, den ihr Shinji nach Schulende noch aus dem Automaten in der Cafeteria geholt hatte. Sie verzog leicht das Gesicht, als sie hineinbiss.

 

„Ist da Reis drin?“, fragte sie mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck. „Müsst ihr Japaner das Zeug eigentlich überall reinfüllen?“

 

„Naja, ehrlich gesagt hätte dir das vorher klar sein können. Da ist Reis auf der Packung abgebildet…“, gab Shinji zurück.

 

Sie warf ihm den Riegel zu, als sie um die nächste Straßenecke bogen. „Hier, iss das Ding doch selbst! Ein Verbrechen sowas… Reis in Schokolade packen…“ Sie stöhnte auf. „Hach, was gäbe ich jetzt nur für ein ordentliches Snickers (™)!“

 

Shinji fing den Riegel auf und schüttelte innerlich den Kopf. „Das war das letzte Mal, dass ich ihr was gekauft hab!“, dachte er.

 

Plötzlich tauchte Rei neben ihnen auf. Oder war sie die ganze Zeit schon da gewesen? Sie hatte schließlich den gleichen Weg wie sie. Asuka erschrak leicht.

 

„Musst du dich so anschleichen, Wunderkind?!“, blaffte sie in leicht gespielter Erregung. Rei blieb stumm, so wie meistens.

 

Schweigend setzen sie ihren Weg zu dritt fort, während Shinji nun an dem Riegel kaute. Als er fertig war, warf er das zerknüllte Papier in einen am Straßenrand stehenden Mülleimer. Er versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen.

 

„Sagt mal, wie viele weitere Evangelions sind eigentlich noch im Bau?“, fragte er in die Runde. Rei reagierte nicht, Asuka schien kurz nachzudenken.

 

„Keine Ahnung“, gab sie zurück. „Ich hab‘ bei NERV-03 in Hamburg keine weiteren gesehen, bevor ich hier hin versetzt wurde. Es gibt aber noch eine weitere Niederlassung irgendwo in Ostdeutschland, soweit ich weiß. Was auch immer die da treiben…“

 

„Es wird so viele geben, wie notwendig sind“, sprach Rei, kaum hörbar.

 

„Was soll das denn heißen, hmm?“, fragte Asuka. „Notwendig sind sowieso keine weiteren, jetzt wo mein vollständig einsatzbereiter Evangelion hier ist. Und bloß nicht noch mehr Piloten, um die ich mich dann im Gefecht auch noch kümmern muss!“ Sie verzog das Gesicht.

 

„Naja, aber es macht schon Sinn, oder? Damit Ersatz da ist, falls mal mehrere unserer Einheiten schwer beschädigt werden. Man weiß ja nie, was die Engel als Nächstes anstellen“, meinte Shinji. 

 

„Aber jetzt, wo du’s sagst, kam mir die zweite Niederlassung in Ostdeutschland immer schon seltsam vor. Es hieß immer: ‚Da wird geforscht…‘ Aber wirkliche Ergebnisse haben wir nie präsentiert bekommen. Mein EVA wurde jedenfalls vollständig in Hamburg gebaut!“

 

„Das Hauptquartier hat Platz für fünf weitere Einheiten.“ Rei starrte weiter geradeaus, als sie sich dem ersten Checkpoint näherten und sie mit ihren Fingern in der Tasche nach ihrem Ausweis suchte.

 

„Du scheinst dich ja besonders gut auszukennen, Rei“, meinte Shinji anerkennend.

 

Sie blickte zu Boden. „Naja, ich bin schon wesentlich länger hier als ihr beide. Ich habe vom Bau der Anlage mehr mitbekommen.“

 

„Wie lange bist du eigentlich schon hier?“, fragten Shinji und Asuka fast zeitgleich.

 

Doch eine Antwort auf die Frage erhielten sie nicht.

And our scars remind us, that the past is real

26. Mai 2015, NERV-04, ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland

 

Der rechte Haken traf Janko wie aus dem Nichts. Mit einem Klingeln in den Ohren stolperte er rückwärts und ging auf die Knie. Er musste mehrmals tief durchatmen, bevor das Flimmern vor seinen Augen wieder nachließ. Ben stand grinsend vor ihm. Der eingelegte Mundschutz drückte seine Lippen auf unnatürliche Art nach außen.

 

„Was ist los?“, tönte er durch das kleine Stück Plastik hindurch. „Ein paar Wochen Koma und ein bisschen Reha, und schon sind deine Beine aus Wackelpudding? Du wirst alt, Kollege!“

 

Janko kämpfte sich hoch. Obwohl er schwer schnaufen musste und ihm der Schweiß schon nach wenigen Minuten des Sparrings in Strömen die Stirn herunterlief, tat es gut, wieder zu trainieren. Langsam merkte er, dass der misslungene Drift wohl keine bleibenden Schäden hinterlassen hatte. Janko klopfte die Boxhandschuhe gegeneinander, atmete einmal kräftig durch und ging wieder in Kampfposition. Mit einer schnellen Kombination seiner Fäuste drängte er Ben in die nahegelegene Ringecke zurück. Dem nächsten Jab ließ er zwei Tritte folgen, die auf Bens Oberschenkel einschlugen. Der Gong beendete die Runde. Sie klatschten ab und ließen sich in die Seile fallen, während sie ihren Mundschutz ausspuckten. Im Hintergrund hörten sie weiterhin das Hämmern von Fäusten auf Leder: David arbeitete sich noch immer am Sandsack ab.

 

Janko legte die Handschuhe weg und genehmigte sich einen großen Schluck aus der Wasserflasche. „Du warst nicht dabei, Ben. Sei froh, dass du die Erfahrung nicht machen musstest. Ohne diese Zwangspause hätte ich dir heute noch mehr den Hintern versohlt.“

 

„Das hat sich angefühlt, als ob dir einer deine Eingeweide durch die Nase entfernt.“, mischte sich David ein. Auch er hatte mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen müssen. „Ich hab ja in meinem Leben schon einiges an Scheiße durchmachen müssen, aber auf nen weiteren Trip dieser Art kann ich echt verzichten!“

 

„Phil hat übrigens kurzfristig ne Besprechung angesetzt. Anscheinend sind endlich die endgültigen Analysen fertig.“, antwortete Ben. Er setzt seine Brille auf, die er vor dem Training abgelegt hatte. „Hat ja auch lang genug gedauert. Während ihr zwei ein kleines Schläfchen gemacht habt, wurde ich nämlich zum Rumsitzen verdammt. Ich hab‘ auch keinen einzigen Test mit meinem EVA machen dürfen...“

 

„Ich bin mir nicht sicher, ob mir die Ergebnisse gefallen werden.“, dachte Janko, als er aus dem Ring kletterte.

 

„Hey, wo willst du hin?“, rief ihm Ben nach. „Die Besprechung ist erst in zwei Stunden. Da ist noch schöööön viel Zeit für Ausdauertraining! Vergiss nicht, ich hab‘ hier die Anordnungsbefugnis für das Fitnesstraining! David, du machst erst Recht mehr Ausdauer! Wird Zeit, dass du mal ein paar Kilos verlierst!“

 

„Ich hab nur schwere Knochen!“, gab der Andere feixend zurück. „Und seit dem Vorfall nen ungewöhnlichen Heißhunger auf Nougat… Was soll man da machen!?“

 

Janko grummelte vor sich hin. „Alter Sklaventreiber!“ Nichtsdestotrotz legte er seine Boxhandschuhe an die Seite und ergriff ein Springseil.

 

„Also gut, dann mal los. Hundert Sprünge vorwärts und hundert zurück!“, trieb ihn Ben an. „Zeit, dass wir aus diesem Klumpen Keksteig mal wieder nen ordentlichen Piloten formen. Eins, zwei, drei…!“

 

 

***

 

Janko stand noch unter der Dusche, als Ben und David die sanitären Anlagen schon lange verlassen hatten. Er genoss es, mit geschlossenen Augen das warme Wasser noch ein wenig länger über seinen Körper rinnen zu lassen. Langsam ließ er seinen Kopf kreisen. Ein leichtes Knacken der Halswirbelsäule war zu hören. Endlich stieg er aus der Dusche, nahm sich ein Handtuch und begann sich abzutrocknen. Dabei wanderte sein Blick zu den großen Spiegeln, die hinter den gegenüberliegenden Waschbecken installiert waren. Janko betrachtete die Narben, die mittlerweile seinen Körper zierten. In Gedanken ging er ihre Geschichte noch einmal durch:

 

Die langgezogene Narbe auf seinem rechten Oberschenkel: Darfur 2007, sein erster Auslandseinsatz. Eine Mörsergranate schlägt in seiner unmittelbaren Nähe ein. Ein Granatsplitter reißt ein tiefes Loch ins Fleisch. Belohnung für den Einsatz: 4 Tote in seiner Einheit, 2 Monate Krankenhaus, 3 Monate Reha, Verwundungsabzeichen I.

 

Die nahezu runde Narbe an der linken Hüfte: Kiew 2008, zweiter Auslandseinsatz. Der Scharfschütze einer Rebellenfraktion, die für die Abspaltung des Nordostens der Ukraine kämpft, nimmt seinen Trupp unter Feuer. Ihm gelingt es, trotz zertrümmertem Hüftknochen, nah genug an das Versteck heranzukommen und den Feind mit einer Handgranate auszuschalten. Belohnung für den Einsatz: 2 Tote in seiner Einheit, 6 Wochen Krankenhaus, 2 Monate Reha, Verwundungsabzeichen II sowie die Tapferkeitsmedaille.

 

Die zickzackförmige Narbe an der rechten Wade: Kairo 2010, nächster Einsatz. Ein Selbstmordattentäter sprengt sich unweit seines Militärkonvois in die Luft. Herumfliegende Wrackteile begraben sein rechtes Bein unter sich. Belohnung für den Einsatz: 11 Tote in seiner Einheit, 3 Monate Krankenhaus, 1 Monat Reha, Verwundungsabzeichen III.

 

Es war erstaunlich, wie gut seine Psyche das alles verkraftet hatte. Naja, zumindest bis…

 

Seine Hand fuhr über seine linke Schulter. Unter seinen Fingern spürte er die wulstigen Ausläufer der Verbrennungen 3. Grades: Sarajevo, Neujahr 2011.

 

„Nein, denk jetzt nicht daran…“, sagte er zu sich selbst. „Fang‘ jetzt nicht wieder davon an. Zieh‘ dich an und dann geht’s weiter…“

 

***

 

Phil Sammons und Dr. Thaddäus Weber saßen bereits im kleinen Besprechungsraum, als die drei Piloten eintraten. Die Projektionswand hinter ihnen war angeschaltet und zeigte ein drehendes NERV-Logo, das wohl als Bildschirmschoner diente. Phil trug wie immer seine dunkelgrüne Standarduniform, während Thaddäus seinen leicht fleckigen weißen Kittel übergeworfen hatte.

 

„Wechselt der Typ eigentlich auch mal seine Klamotten?“, dachte Janko bei sich, als er, mit einem dampfenden Kaffee in der Hand, auf der vordersten Bank Platz nahm. David und Ben ließen sich neben ihm nieder.

 

„Guten Tag, die Herren“, nickte Ihnen der Doc zu. „Ich nehme an, ihr wisst, warum ihr hier seid?“

 

„Damit du uns endlich an deiner Erleuchtung teilhaben lassen kannst?“, erwiderte David. Seine Füße lehnten mittlerweile auf dem kleinen Beistelltisch, den er sich herangezogen hatte.

 

„Beinahe, Jungs“, gab Thaddäus zurück. Er hatte kurz überlegt, den Piloten für seine laxe Haltung zu tadeln, überlegte es sich aber dann doch anders. Die Informationen, die er weiterzugeben hatte, würden ihnen vermutlich auch so genug den Tag versauen.

 

Phil tippte etwas auf dem neben ihm liegenden Laptop ein und das rotierende Logo verschwand. Stattdessen erschien ein kleines Video von der Überwachungskamera aus dem Entry-Plug Alpha, datiert auf den Tag des fehlgeschlagenen Tests.

 

„Och, müssen wir uns das nochmal ansehen? Ich war schließlich live dabei…“, fragte Janko. Er hatte wahrlich keine Lust, das Ganze nochmal miterleben zu müssen.

 

„Leider müssen wir das. Wir haben im Nachhinein die verschiedenen Stadien des Doppelaktivierungstests mit denen der standardmäßigen Einzelaktivierung abgeglichen. Ich denke, wir konnten die Probleme exakt lokalisieren.“, antwortete Phil. Er hatte einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt, so als überlege er ganz genau, wie er die folgenden Informationen am besten kommunizieren sollte. „Schaut genau hin.“

 

Er startete das Video. Janko sah sich selbst in dem Entry-Plug sitzen. Der Beginn der Aktivierung lief ab wie immer. Die Regenbogenmuster schimmerten malerisch über die Wände der Zugangskapsel. Auf einmal erloschen die Farben. Nur das rote Notstromlicht wurde sichtbar, dazu die krampfartigen Zuckungen Jankos im Entry-Plug. Das Video stoppte.

 

David ergriff das Wort: „Aber… wo ist der Nebel, wo diese Ebene? Wo zum Geier ist das Viech, das ich gesehen hab!?“

 

„Davon konnten wir, trotz wochenlanger Analysen der Videoaufzeichnungen und medizinischen Daten, nichts finden“, gab Thaddäus zurück. „Einzig und allein die rapide absinkenden Lebenszeichen sind alles, was wir mit euren Beschreibungen zeitlich übereinstimmend erkennen konnten. Was auch immer da geschehen ist, es hat sich in eurem Kopf abgespielt, aber nicht hier draußen.“

 

„Soll das heißen wir haben halluziniert?!“ Janko hatte sich aufgerichtet. Das konnte nicht sein. Dieses Grollen war niemals nur in seinem Kopf entstanden!

 

„Nein, davon gehen wir nicht aus. Ich denke, wir hatten es hier mit einem Versuch mentaler Verseuchung zu tun.“ Thaddäus nahm seine Brille ab und rieb sie an seinem Kittel.

 

„Na ganz großes Kino!“, schnaubte David. Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. „Das heißt, Evangelion Einheit X hat versucht uns auszulöschen!?“

 

Phil schaltete sich ein. „Soweit würden wir nicht gehen. Was wir allerdings nachweisen konnten, ist ein massiver Anstieg eurer Gehirnaktivitäten kurz bevor ihr bewusstlos wurdet. Wir denken, dass eure Gehirne bei diesem Aktivierungsversuch durch das völlige Wegbrechen der Sicherungen nicht in der Lage waren, die Menge an neuronaler Energie, die der Drift ausgelöst hat, zu beherrschen.“

 

Thaddäus stand auf und ließ die Leinwand, auf der eben noch das Video zu sehen war, nach oben fahren. Ein Whiteboard kam zum Vorschein. Er zückte einen Stift. „Gehen wir noch einmal zum Ausgangspunkt zurück. Wie ihr wisst, wurden die regulären EVAs, die nun in Japan eingesetzt werden, aus dem genetischen Material der Engel entwickelt, die dort und am Südpol gefunden wurden.“

 

„Adam und Lilith.“ Bens Stimme klang nachdenklich. Er stütze das Kinn auf die Hände.

 

„Exakt.“, fuhr Thaddäus fort. „Für unsere drei Evangelions wurde jedoch anderes genetisches Material verwendet. Die DNA von den Überresten sogenannter ‚Wilder Engel‘, die wir an drei verschiedenen Orten auf der Welt lokalisieren konnten. Engel, die nicht von Adam oder Lilith abstammten, sondern eine andere Herkunft haben.“

 

„Woher kommen die dann?“, fragte Janko. Er hatte dem biologischen Entwicklungsprozess der EVAs zugegebenermaßen bis jetzt keine sonderlich große Beachtung geschenkt. Ein Fehler, wie er sich gerade eingestand.

 

„Wir wissen es nicht genau. Wir gehen davon aus, dass auch diese ‚Wilden Engel‘ im Laufe von Jahrmillionen aus dem All auf der Erde gelandet sind. Vielleicht waren es Botschafter anderer Zivilisationen, vielleicht umherziehende, einsame Giganten. Jedenfalls nutzten wir deren genetischen Code, um die Evangelion-Einheiten X, Y und Z zu erschaffen.“ Thaddäus malte einen dicken schwarzen Pfeil auf das Whiteboard. Daneben malte er etwas, das wohl als menschlicher Kopf durchgehen konnte. Der Pfeil zeigte auf den Kopf. „Wie bereits bekannt ist, entsteht bei der Aktivierung eine ungeheure Menge neuronaler Energie. Genug, um jeden geistig gesunden Piloten in menschliches Gemüse zu verwandeln. Das Hirn eines einzelnen Menschen kann diesen Output einfach nicht ertragen.“

 

Nun nahm der Arzt einen roten Stift. Er begann eine Art Trichter in den dicken Pfeil zu malen.

 

„Also sind wir dazu übergegangen, den neuronalen Output zu begrenzen. Durch diese Art Reuse gelangt nur noch eine begrenzte Menge der Informationen in euren Kopf. Genug, um mit dem Evangelion umgehen zu können.“

 

„Na dann ist doch alles bestens!“, warf David ein. Er nahm die Füße vom Beistelltisch und setzte sich gerade hin. Die Arme verschränkte er vor der Brust. „Bleib ich halt Single in meinem EVA.“

 

Phil verdrehte die Augen. „David, wir hatten das Thema doch schon…“

 

„Na und? Hey, es war mein Hirn das da fast geröstet wurde! Ich sage: Sparen wir uns die Experimente! Die EVAs funktionieren doch auch so!“

 

„Aber eben nur mit weitaus geringerer Leistung als eigentlich möglich. Momentan limitieren wir uns zwangsweise selbst.“ Thaddäus zückte wieder den schwarzen Stift und malte einen zweiten Kopf neben den ersten. Ausgehend vom ersten, dicken Pfeil malte er zwei kleinere, die nun auf die beiden Köpfe zeigten. „Nur bei zwei kompatiblen Piloten in den beiden Entry-Plugs ist es möglich, die volle Leistung unserer EVAs abzurufen, denn dann können wir die künstlichen Sicherungen zurückfahren. Und diese Kraft werden wir bald brauchen. Hätten wir ein gewöhnliches Leistungspotential abbilden wollen, dann hätten wir die EVAs nach demselben Schema wie die Einheiten 00, 01 und 02 gebaut. Die DNA der ‚Wilden Engel‘, die wir für unsere Zwecke brauchen, ist jedoch weitaus potenter. WENN wir eine ordentliche Lastenverteilung hinkriegen.“

 

Ben räusperte sich. „Vielleicht war es nur das falsche Team. Setzt mich mit David oder Janko ein.“

 

Plötzlich erschallte eine Stimme aus den Lautsprechern des Laptops. Eine Stimme, die, obwohl sie nur selten bei NERV-04 zu hören war, sogar David eine geradere Haltung einnehmen ließ. Sie war ruhig, weder besonders ausdrucksstark noch hatte sie einen befehlenden Unterton. Dennoch wurde jeder Mitarbeiter der Niederlassung nervös, wenn sie erschallte. Was sie nicht besonders oft tat. „Das wird leider nicht funktionieren.“ K2 hatte sich über den Laptop zugeschaltet. Oder hatte er bereits die ganze Zeit mitgehört? „Wir haben bei den Untersuchungen des Vorfalls auch Ihre Gehirnwellenmuster, die bei den Übungen in Ihrem EVA aufgezeichnet wurden, mit abgeglichen. Das Resultat wäre exakt das Gleiche, unabhängig davon, welcher der drei EVAs mit welchem Partner zum Einsatz käme. Sie Drei sind einfach nicht untereinander kompatibel.“

 

Janko schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. „Aber damit sind wir doch genau an dem Punkt, von dem David gesprochen hat. Wir können unsere eigenen EVAs allein steuern, aber nicht zu zweit. Also werden wir in ihnen einzeln rausgehen und das Beste hoffen müssen.“

 

„Hoffnung alleine wird nicht ausreichen. Wenn meine Berechnungen stimmen, wird sich spätestens im Herbst der besagte Riss im Pazifik öffnen. Die Bestien, die durch diesen Schlund in unsere Welt kommen können, werden schon bald an Stärke zunehmen. Dann sieht sich die Menschheit zwei Arten von Feinden gleichzeitig gegenüber. Mit den Standard-EVAs in Japan und auch mit unseren im Single-Modus werden wir ihnen nicht lange Paroli bieten können.“

 

Janko rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. Das hatte er jetzt wirklich oft genug gehört. „Also was denn dann?“

 

K2 hatte den scharfen Unterton verstanden. „Ich verstehe Ihre Frustration, Pilot Freytag. Die Erfahrung der missglückten Doppelaktivierung muss Ihnen ziemlich zugesetzt haben. Aber möglicherweise gibt es noch einen Ausweg.“

 

Thaddäus legte die Stifte weg. Er sah den Piloten direkt ins Gesicht. „Es gibt noch drei weitere Piloten in Japan, wie ihr wisst.“ Er konnte ein kleines Grinsen nicht unterdrücken.

 

Ben prustete los. „Wie jetzt, diese drei Teenager sollen mit uns kompatibel sein?“

 

„Es sieht laut unseren Untersuchungen momentan alles danach aus. Und deshalb will ich, dass Sie bald Ihre Sachen packen und nach Japan fliegen. Wir werden Ihnen Unterkünfte in der Nähe der Piloten besorgen. Freunden Sie sich mit Ihnen an. Gewinnen Sie ihr Vertrauen. Und das, ohne NERV-04 und Ihre Rolle als Piloten zu erwähnen. Alle weiteren Erläuterungen überlasse ich Ihnen, Captain Sammons.“ Und damit schaltete sich K2 ab.

 

Ein ungläubiges Lachen entwich David. „Hab ich das richtig verstanden? Wir sollen nach Japan gehen und Babysitter spielen, bis wir ihr ‚Vertrauen‘ gewonnen haben?“ Seine Hände malten kleine Anführungszeichen in die Luft. „Also ich komm mir bei dem Gedanken echt schmierig vor…“

 

„Du sollst ja auch keine Romanze anbahnen!“ Phil trat vor David und stemmte die Hände in die Hüften. „Glaubt mir, wir hätten uns auch eine einfachere Lösung gewünscht. Aber der missglückte Aktivierungstest hat gezeigt, dass wir unseren Plan hier in Deutschland nicht weiterverfolgen können. Diese Kids sind ebenfalls EVA-Piloten und haben übrigens mehr reale Kampferfahrung als ihr. Also würde ich das überhebliche Gebrabbel mal lassen.“

 

David grummelte etwas von ‚Lebenserfahrung‘ vor sich hin, erhob aber keine Einwände mehr.

 

Thaddäus wendete sich von seinem Whiteboard ab, nachdem er es geputzt hatte. „Schlussendlich finden die Kämpfe sowieso rund um den Pazifik statt. Wir wären also früher oder später sowieso nach Japan gegangen. Ihr werdet bald einfach vorgehen und schon mal die Lage sondieren. Wir packen hier alles Notwendige für die Evangelions ein und kommen dann bald nach.“

 

„Wann soll’s losgehen?“, fragte Janko.

 

„In gut zwei Monaten wird Einheit 02 mit seiner Pilotin von Wilhelmshaven aus nach Japan verschifft werden. Wir werden kurz darauf folgen. Wir müssen noch einige Dinge vorbereiten, das Verladen des ganzen Equipments wird dauern. Schließlich zieht NERV-04 in voller Stärke in den fernen Osten. Sämtliches Material und auch das A-, B- und C-Klasse-Personal werden mitkommen.“

 

Janko seufzte. „Und dabei hasse ich sowohl Reis als auch Sushi…“ 

Schlicktown

07. August 2015, Marinestützpunkt Heppenser Groden, Wilhelmshaven, Deutschland

 

Bei strahlendem Sonnenschein hielt der kleine Bus am ersten Checkpoint. Der wachhabende Soldat ließ sich die Ausweispapiere zeigen und öffnete sodann die Schranke, sodass die Fahrt weitergehen konnte.

 

„Mit den richtigen Papieren von NERV hat man tatsächlich Zugang zu so ziemlich jeder Militäranlage“, schmunzelte Thaddäus, der auf dem Fahrersitz saß. Er trug eine schwarze Basecap und hatte zur Abwechslung mal keinen Laborkittel übergeworfen.

 

Er steuerte den kleinen Bus durch das offene Tor des roten Backsteinhauses, welches die äußere Grenze des Marinestützpunktes bildete. Als Hafen an der Küste Europas hatte die Basis in Wilhelmshaven den Second Impact gut überstanden. Keine Schäden durch Tsunamis, relativ wenig Meeresspiegelanstieg und keinerlei Kriegshandlungen in Zentraleuropa hatten dazu beigetragen, dass in Deutschlands wichtigstem Militärhafen auch weiterhin alles seinen gewohnten Gang ging. Wenn man mal von der riesigen Flotte absah, die jetzt im und vor dem Hafen vor Anker lag. Als die Gruppe am Kai aus dem Bus stieg, konnten sie am Horizont die Over the Rainbow entdecken, das Flaggschiff der Pazifikflotte. Der Geruch von Salzwasser und Seetang drang in ihre Nasen.

 

„Hui, na das ist ja mal ein Aufmarsch“, entglitt es Janko, der an den Pier herantrat. „Das müssen gut zwei Dutzend Schiffe sein, die diesen Frachter beschützen sollen.“

 

„Wozu eigentlich dieser Aufwand? Die hätten Einheit 02 doch auch unter eine dieser großen Transportmaschinen packen können…“, fragte Ben und musterte die Umgebung. Das Kreischen der Möwen über ihnen schwoll langsam an. „Und warum holt man die Pazifikflotte hier hin? Hätten’s nicht auch die Schiffe der UN im Atlantik getan?“

 

„Das sind wohl nicht genug. SEELE will anscheinend absolut sichergehen, dass ihre wertvolle Fracht unbeschadet in Japan ankommt.“, antwortete Phil. Trotz des sonnigen Wetters wehte ein schneidender Wind über die Hafenanlage. Er zog seinen olivgrünen Parka fester um sich und blickte grantig in die Ferne. „Ich versteh’s nicht. Abgelehnt, einfach abgelehnt! Ich meine, das muss man sich mal vorstellen! So ein Riesenaufwand hier für eine EVA-Einheit! Und dann bietet NERV-04 ihnen drei komplett einsatzbereite Evangelions an, samt Piloten und technischem Personal, und die lehnen ab! Keine Freigabe! Kein Bedarf!“ Er wedelte schon wieder mit dem Bündel Dokumente herum, das er fast die gesamte Fahrt über wütend angestarrt hatte.

 

Thaddäus schloss den Wagen ab und folgte ihnen an den Kai. „Hast du wirklich geglaubt, SEELE und NERV würden uns mit Applaus in Japan empfangen? Ich verrat‘ dir jetzt mal was: Es war nie wirklich geplant, dass NERV-04 brauchbare Resultate erzielt. Wir waren ein Feigenblatt für das SEELE-Komitee! Es sollte so aussehen, als ob wirklich weltweit an ganz verschiedenen Stützpunkten emsig am Projekt E gearbeitet wird. Dabei war der Weg der Entwicklung in Japan schon lange vorgezeichnet. Die alten Herren von SEELE glauben tatsächlich, sie könnten unbeirrt ihre Pläne umsetzen. Selbst wenn man ihnen die Wahrheit um die Ohren haut. So ist das anscheinend mit religiösen Fanatikern…“

 

„Aber wir haben ihnen unsere Berechnungen mitgeschickt! Wir können das Anwachsen der seismischen Spannung entlang des pazifischen Feuerrings nachweisen! AARGH!“ Phil nahm einen herumliegenden Stein vom Boden und warf ihn mit aller Kraft ins Wasser. Eine kleine Fontäne scheuchte ein paar dahinschippernde Seevögel auf, die mit großem Gezeter über sie hinwegflogen.

 

„Für das Komitee steht in den Schriftrollen nichts von dem Riss und den Kaijus. Also existiert es für sie auch nicht. Ich habe nicht ernsthaft mit einer Freigabe gerechnet.“ Thaddäus hielt sich die Hand über die Augen und schaute den Pier entlang. In der Ferne erkannte er eine Person, die auf sie zuschritt. „Ah, der wahre Grund für diese überdimensionierte Flotte trifft gerade ein.“

 

David hatte ein Sixpack Bier in der Hand und irgendwo mittlerweile sogar ein Tablett mit Fischbrötchen aufgetrieben. Er trat an Phil heran. „So, und jetzt beruhigen wir uns mal wieder und gönnen uns eine kleine Pause. Man ist schließlich nicht alle Tage am Meer. Greif zu.“

 

Missmutig starrte Phil ihn an. Nachdem sein Blick allerdings auf die angebotenen Genussmittel gefallen war, entspannte er sich. Er seufzte. „Vermutlich hast du Recht. K2 hat diese Möglichkeit sicherlich in Betracht gezogen. Bestimmt heckt der alte Mann schon wieder nen Plan B aus.“

 

Auch Janko und Ben hatten sich mittlerweile zu ihnen gesellt. Nach einem herzhaften Bissen und noch mit vollem Mund wandte Ben ein: „Ich bin sicher, dass auch die Absage schon zu K2s Plan gehört hat. Der Typ ist ziemlich clever…“

 

Die Person, die Thaddäus entdeckt hatte, war mittlerweile nähergekommen. Er schien Japaner zu sein und trug einen recht locker sitzenden Anzug, einen nach hinten gebundenen Pferdeschwanz und einen Dreitagebart. Thaddäus begrüßte ihn und schüttelte seine Hand.

 

„Ryoji Kaji, schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Dr. Weber. Wie ich sehe, haben Sie ihr Team mitgebracht.“, sagte der Mann. Er musterte die anderen Männer mit kritischem, aber freundlichem Blick. In seiner Hand hielt er einen schweren Koffer, den er auch zur Begrüßung nicht abstellte.

 

„Ich hielt es für besser, dass wir uns alle schon einmal getroffen haben, bevor wir uns in Japan begegnen werden.“, antwortete Thaddäus. Er blickte auf den Koffer. „Auch in Zeiten moderner Videotechnik geht doch nichts über ein persönliches Gespräch, da bin ich altmodisch. So wie es aussieht, haben Sie Ihre Fracht auch schon dabei…“

 

Kaji holte geschickt mit der freien Hand eine Zigarette aus ihrer Schachtel und zündete sie sich an. „Ja, mein Botengang ist von höchster Wichtigkeit, wie Sie sich denken können. Ich lasse diese Fracht ungern aus den Augen.“

 

Ein Schiffshorn erklang im Hafen. Langsam kam Bewegung in die Boote, die am Kai festgemacht waren. Marinesoldaten liefen auf und ab, kleine Transporter brachten die letzten Materialen, die noch verladen werden mussten. Es schien, als sei der Bienenstock erwacht.

 

„Das kann ich mir vorstellen. Nicht auszudenken, wenn unser kleiner ‚Freund‘ hier verloren ginge…“, sagte Thaddäus.

 

Kaji lachte leise. „Ja, das wäre meiner Gesundheit nicht gerade zuträglich, denke ich. Es sieht also recht gut für NERV und SEELE aus, jetzt, wo sie diese Fracht und Einheit 02 erhalten. Man könnte meinen, sie wägen sich bald am Ziel…“ Eine Gruppe Seeleute hechtete im schnellen Schritt an ihnen vorbei. Kaji nahm das letzte freie Bier und stieß mit den anderen an. Sie warteten, bis die Seemänner außer Hörweite waren.

 

Ein kaltes Lächeln umspielte Thaddäus Gesichtszüge. „Ja, allerdings gibt’s da ein Problem. GEIST steht nicht in den Schriftrollen von Qumran…“

 

Kaji schaute ihn mit ernstem Blick an. Das leicht spöttische Lächeln, das sonst sein Markenzeichen war, war verschwunden. „Ich hoffe, dass Sie wissen, was Sie tun. Wenn nicht, haben Sie NERV und SEELE schon bald drei weitere Waffen der Vernichtung an die Hand gegeben. Und tun Sie mir einen Gefallen: Passen Sie bitte mit auf Asuka auf. Die Kleine hat in ihrem jungen Leben schon genug durchgemacht. Ein wenig Unterstützung an dieser Front könnte ich gut gebrauchen.“

 

Thaddäus führte Kaji ein wenig weg von den anderen, die immer noch mit ihrer Mahlzeit beschäftigt waren. „Kaji, ich habe mein Leben von dem Moment an, als ich von den Plänen erfahren habe, der Vernichtung von SEELE gewidmet. Ich denke, da sind wir Zwei gar nicht so verschieden.“

 

„Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen. Ich könnte auch ein vier- oder fünffach-Agent sein.“

 

„Wenn Sie das wären, hätte man NERV-04 schon längst dem Erdboden gleichgemacht und es wie einen tragischen Unfall aussehen lassen.“

 

Kaji schmunzelte. „Hmm, ich denke, da haben Sie Recht.“

 

Im Hintergrund kämpften Ben und David mittlerweile um das letzte Fischbrötchen. Thaddäus fuhr fort. „Wir haben diese Piloten aus gutem Grund für unsere EVAs ausgewählt, auch wenn es gerade - wirklich - nicht den Eindruck macht.“ Mit einem leisen „Platsch“ fiel die Brötchenhälfte mitsamt Belag ins Wasser. Lautes Geschimpfe drang herüber. Phil und Janko vergruben das Gesicht lachend in den Händen. „Sie können es schaffen. Und sie sind umsichtiger, als man denken mag. Sie werden gut auf die drei Teenager-Piloten aufpassen.“

 

„Ihr Wort in Gottes Ohr…“

 

„Na, den lassen wir besser mal außen vor. Seine ‚Boten‘ haben uns einen Großteil dieses Schlamassels schließlich eingebrockt.“

 

 

Farewell

28. September 2015, Geofront, Japan, Büro des Commanders

 

Gendo Ikari hatte seine übliche Pose eingenommen und blickte starr vor sich hin. Die getönten Gläser seiner Brille ließen nicht im Ansatz erahnen, worauf seine Augen gerichtet waren. Kozo Fuyutsuki stand am Rande des großen Schreibtischs und betrachtete ihn. Wie immer war es nahezu unmöglich herauszufinden, ob der Commander erfreut oder verärgert war. Seine Körpersprache änderte sich nahezu nie.

 

Durch die schiere Weite des Büros fühlte sich Fuyutsuki jeden Tag aus Neue unbehaglich. Es schien als habe man bei der Erbauung des NERV-Hauptquartiers irgendwann nicht mehr gewusst, wie man die oberste Ebene nutzen sollte. Also hatte man praktisch alle Zwischenwände herausgerissen und eine gigantische Halle errichtet, nur befüllt mit einem Schreibtisch, etwas Hardware und einem Bürostuhl. Und es war kalt hier, verdammt kalt.

 

Dennoch blieb die Stimme des Vize-Commanders entspannt. „Ich bin mir nicht sicher, ob SEELE richtig entschieden hat. Der Kampf gegen Israfel hat gezeigt, wie schnell zwei unserer Evangelions außer Gefecht gesetzt werden können, wenn es schlecht läuft. Die alten Männer hätten das Angebot aus Deutschland nicht einfach so wegwischen sollen.“

 

„Nein, ich stimme dem Komitee zu“, antwortete Gendo. „Wir wurden vorher nicht ausreichend über den Fortschritt beim Bau der Evangelion-Einheiten in Deutschland bei NERV-04 in Kenntnis gesetzt. Weder liegen uns genaue Daten über deren technische Spezifikationen noch über deren Piloten vor. Ich lasse nicht zu, dass eine fremde Truppe hier einfach so hereinspaziert.“

 

„Sind es die fehlenden Informationen in den Schriftrollen von Qumran, die Sie so beunruhigen?“, fragte Fuyutsuki.

 

„Nein, ich bin nicht beunruhigt. Adam ist zu uns zurückgekehrt. Die Engel erscheinen genau in der vorhergesagten Reihenfolge. Es gibt keine Abweichung vom Szenario. NERV-04 hat mit viel Geld unsere Erkenntnisse beim Bau der EVAs ebenfalls erfolgreich umgesetzt, mehr nicht.“ Gendo stand auf. „Außerdem ist das Komitee im Moment recht zufrieden mit unserem Fortschritt. Ich werde Ihnen keine weitere Angriffsfläche bieten, indem ich gegen Ihre Entscheidung protestiere. Es würde sowieso nichts nützen.“ Zusammen traten sie an die riesige Glasfront, die einen ausgezeichneten Blick über die Geofront zuließ.

 

„Und was ist mit dieser Warnung bezüglich des pazifischen Feuerrings? Dr. Akagi hielt es jedenfalls nicht für unmöglich.“ Aber noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, wusste der Vize-Commander bereits die Antwort.

 

„Nichts als lächerliches Gerede einer Gruppe Emporkömmlinge, die versuchen, ihre eigene Existenz zu rechtfertigen. Man hätte niemals so viel Geld nach Deutschland pumpen sollen. Die Geofront hat sich als extrem widerstandsfähige Festung erwiesen. Ich werde in dieser mir bekannten Gleichung keine unbekannten Variablen einführen, solange es nicht absolut notwendig ist.“

 

„Dann hoffen wir, dass das auch so bleibt“, antwortete Fuyutsuki.

 

Gendo zeigte keinerlei Regung.

 

***

 

NERV-04, ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland

 

Janko Freytag verstaute gerade die letzten Gegenstände aus seinem Büro in Umzugskisten. Zwar würde er nicht besonders viel davon in Japan brauchen, aber allein aus nostalgischen Gründen wollte er nichts hier in Deutschland zurücklassen. Wenn sich alles so entwickelte, wie Thaddäus es angekündigt hatte, würden sie sowieso nicht mehr zurückkehren. Die Anlage wurde aufgegeben, bis auf eine zurückbleibende Rumpfbesatzung, die noch einen kleinen Teil der Forschungsprojekte zu Ende bringen würde, brach eh jeder Mitarbeiter hier die Zelte ab. Also was sollten seine Sachen noch hier?

 

„Ich hab immer noch keine Vorstellung davon, wie sie die Erlaubnis zur Übersendung der Einheiten nach Japan einholen wollen“, dachte Janko. „Aber Befehl ist Befehl. Und es hieß nun mal: Lasst nichts zurück, was Rückschlüsse auf eure Arbeit zulässt. Dann sei es so.“

 

Er starrte auf den Kram, den er in die vorbereiteten Behältnisse packte: Bilder von den ausgearteten Weihnachtsfeiern mit Ben und David, seine Notizblöcke und die Bücher über psychische Grenzerfahrungen, von denen er gedacht hatte, dass sie ihm als Vorbereitung für seinen Drift helfen könnten. Aber nichts hätte ihn darauf vorbereiten können. Die kleinen Andenken, die er aus seinen vorherigen Einsätzen mitgebracht hatte: Hauptsächlich Sand und Steine, hübsch drapiert in kleinen Gläsern, jeweils beschriftet mit Ort und Datum. Er hatte sich immer wieder gefragt, warum er sie aufbewahrt hatte. Was hatten ihm diese Einsätze gebracht außer Verletzungen und Schmerz? „Einen Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Welt leisten“, hatte in den Werbemappen der UN gestanden, als er sich als Soldat eingeschrieben hatte. „Werden Sie Teil der neuen Stabilität! Sorgen Sie für Recht und Ordnung!“ Janko schnaubte verächtlich.

 

„Nein, dieses Kapitel endet jetzt“, sagte er zu sich und nahm die Gläser wieder aus den Umzugskisten. Er betrachtete die angeklebten Schildchen: Darfur, Kiew, Kairo, Sarajevo. Vier Einsätze voller Hoffnung auf eine bessere Welt. Vier „robuste humanitäre Interventionen“. Vier Fehlschläge. Vier Mal zerstörte Hoffnungen, verwüstete Städte, Aufstände und Rückschläge. Und jede Menge Tote. Er warf die Gläser in den Mülleimer.

 

Nur das fünfte Glas behielt er. Jenes mit dem blutgetränkten Sand, den er, kurz bevor er den Einsatzort mit Thaddäus, Ben und David im Schlepptau verlassen hatte, noch schnell in den Behälter geschaufelt hatte. Alice Springs, ein verblassendes Mahnmal. Eine letzte Erinnerung an sein Leben vor EVA. Vor NERV. Vor GEIST. Auch wenn es ihm bis jetzt schwerfiel, sich einzugestehen, dass sie alle Wölfe im Schafspelz waren. Aber genau das mussten sie sein. Die Zeit der Vorbereitung würde nun enden. In Japan würde sich ihr Schicksal offenbaren. Und auch, ob sie ihre Mission erfüllen würden. Oder kläglich bei dem Versuch untergehen. So oder so, die Tür hinter ihm schloss sich. Es gab nur noch den Weg nach vorn.

 

***

 

Janko durchschritt ein letztes Mal den Verwaltungskomplex und erreichte schlussendlich die gigantische unterirdische Halle, in der die Ausrüstung und ihre drei Evangelions gelagert wurden. Hier im ehemaligen Tagebau Nochte, der nach dem Ende der Kohleverstromung aufgegeben worden war, hatte es mehr als genug Platz gegeben, um diesen weitläufigen Komplex unter der Erde zu errichten. Die verschandelte Landschaft an der Oberfläche, die die Kohlebagger hinterlassen hatten, waren das ideale Testgebiet für diese neuartigen Waffen gewesen.

 

Er ging auf einem der metallenen Stege weiter, die auf dem See aus Kühlflüssigkeit schwammen, in dem die EVAs standen. Vor ihm tauchte Einheit X auf, den man intern „Puriel“ getauft hatte. Ein passender Name, wie Janko fand. Dieser schlummernde Gigant, der ihn fast umgebracht hätte. Und das sollte nun im Tandem mit einem Teenagerpiloten besser werden? Der schwarze Riese mit den roten Streifen stand starr in seinem Rückhaltekäfig und blickte ins Nichts. Er erschien wie ein Soldat, der Haltung angenommen hatte. Janko blickte zu ihm hoch. „Das letzte Mal hast du mich beinahe gekillt, du verdammter Mistkerl“, dachte er. „Ich hoffe für uns beide, dass du beim nächsten Einsatz wieder spurst. Sonst wird das ein verdammt kurzes Abenteuer in Japan.“

 

Janko hatte die ursprünglichen Evangelions in Japan bis jetzt nur in Filmaufnahmen gesehen, doch er erkannte, dass sich die Baureihen auch äußerlich unterschieden. Die Pylonen ihrer eigenen Einheiten waren etwas nach innen gebogen und der Torso wirkte ein wenig breiter und bulliger. Statt einzelner Augenpaare bestand die Sichtpartie aus einem durchgehenden Visier. Am auffälligsten an Einheit X waren jedoch die relativ dicken Unterarme. Seine Einheit war für den unmittelbaren Nahkampf konzipiert worden, so war es also nicht verwunderlich, dass sich an jedem Unterarm ein ausfahrbares Schwert befand. Die hatten ihm im Kampf schon gute Dienste geleistet. „Naja, jedenfalls im Simulator“, dachte Janko bei sich.

 

Rechts neben Puriel befand sich Einheit Y, auch Asmodeus genannt. Der blau-gelbe Koloss wirkte ebenso so starr wie sein schwarzrotes Gegenstück, hielt aber bereits sein berüchtigtes Multitool in der Hand. Diese seltsame Lanze war der ganze Stolz jener Forschungsabteilung, die für die Instandhaltung und Weiterentwicklung der Waffen zuständig war. „Ganz großes Tennis!“, rief David und trat neben ihn. „Na, immer noch neidisch auf das Spielzeug? Auf Knopfdruck Axt, Hammer oder Lanze… Ich freu mich schon, damit bald richtig auf nen Engel einzuprügeln.“

 

Azrael – Einheit Z – hatte zu Puriels linker Seite Stellung bezogen. Auf der dunkelgrünen Panzerung spiegelten sich die Deckenleuchten, die die Halle mit ihrem bläulichen Neonschein überzogen. Auch Ben war hergekommen, um sich von seinem Evangelion zu verabschieden. „Macht ihr euch mal da vorne die Hände schmutzig“, sagte er, „Ich bleib lieber auf Abstand.“

 

„Wenn die Kaijus und Engel dich lassen…“, gab Janko zurück.

 

Die drei Piloten hörten Schritte hinter sich. Thaddäus ging langsam auf sie zu, die Hände in den Taschen seines Kittels vergraben. „Ich hoffe, dass der Abschiedsschmerz nicht zu groß für euch wird.“

 

„Das hängt ganz davon ab, wie lange es bis zum nächsten Wiedersehen dauert“, antwortete Ben.

 

Thaddäus kramte in seinen Taschen und holte drei neue Reisepässe hervor. Er verteilte sie. „Damit wird es keine Probleme am Flughafen geben. Die alten Pässe waren computerseitig mit der Arbeit hier bei NERV verknüpft, sodass ihr damit an den Grenzen schneller vorangekommen wärt. Da wir aber weiterhin so wenig Aufsehen wie möglich erregen wollen, haben diese Pässe hier keine Verknüpfung mehr. Ihr seid ab jetzt offiziell Piloten.“

 

„Piloten? Aber das sind wir doch jetzt schon…“. David schaute verwirrt.

 

„Zivile Piloten, David. Falls ihr gefragt werdet, was ihr in Japan macht: Ihr seid Mitarbeiter einer neuen Airline, die demnächst von dort aus fliegt und wartet auf eure Maschinen. Hier sind eure ‚Arbeitsverträge‘, die Flugtickets und die Visa.“

 

„Ihr habt tatsächlich an alles gedacht“, gab David anerkennend zurück und blickte auf das Ticket. „Upps! Ich sollte jetzt wohl auch mal meine letzten Sachen packen. Mein Flug geht in weniger als 12 Stunden…“ Und mit diesen Worten verschwand er schnell Richtung Bürokomplex. Auch Ben verabschiedete sich kurze Zeit später.

 

Thaddäus war die nachdenkliche Miene, mit der Janko vor sich hinstarrte, nicht entgangen. „Was ist los, Kollege?“

 

Sie gingen ein Stück den Korridor entlang, der sie schlussendlich in den Aufenthaltsraum führte. Janko zog sich einen Kaffee am Automaten. „Ich weiß nicht, Thaddäus… Das ist ein ziemliches Wagnis, das wir hier eingehen.“

 

„Nur dafür wurde diese Organisation geschaffen. Alles, was wir in den letzten Jahren erarbeitet haben, wird nun in Japan seine Feuertaufe erleben.“

 

Janko kramte in seinen Hosentaschen und fand schließlich, wonach er suchte. Die E-Zigarette gluckerte leicht, als er den ersten tiefen Zug nahm. Weiße Dampfwölkchen umhüllten ihn und hingen schwer in der Luft. Sie passten zu seiner Stimmung. „Und dieses Mädchen, Rei Ayanami… Du denkst, dass sie den Drift mit mir schaffen kann? Denn wenn das nochmal schiefgeht, weiß ich nicht ob noch was von meinem Verstand übrigbleibt. Und ihr würde ich so eine Erfahrung auch gerne ersparen.“

 

„Diesmal wird es funktionieren. Wir haben euch ‚Pilotenpaare‘ nach ganz bestimmten Überlegungen zusammengestellt. Ihre medizinischen Daten und ihr psychologisches Profil sind vielversprechend. Im Nachhinein ist uns klargeworden, dass Ben und David mit dir gar nicht kompatibel sein konnten. Ihr seid zu ähnlich: Alter, Erfahrung, Lebenslauf, Verhalten. Es ist schwer zu beschreiben, aber für Drift-Kompatibilität scheinen zu große Ähnlichkeiten zu Problemen zu führen.“

 

„Na schönen Dank auch… Hättet ihr da nicht draufkommen können, bevor ihr diesem Biest mein Hirn auf nem Silbertablett serviert?“, stänkerte Janko, als er sich in eine neue Wolke hüllte.

 

„Ich werde dir die Unterlagen vor deiner Abreise noch zusammenstellen. Dann hast du auf dem Flug was zu lesen.“ Thaddäus machte Anstalten zu gehen. „Und tut mir ja einen Gefallen: Bleibt unter dem Radar, solange ihr allein in Japan seid! Fallt nicht auf! Geht es mit den Children langsam an.“

 

„Naja, bei mir brauchst du dir da keine Sorgen machen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob David mit ‚nicht auffallen‘ umgehen kann.“ Beide mussten lachen.

 

Janko umarmte den Doc noch einmal zum Abschied. „Wir sehen uns dann wohl, sobald ihr die Freigabe für Japan habt… Wenn ihr es denn tatsächlich schaffen solltet, dass SEELE seine Meinung ändert.“

 

Thaddäus rückte seine Brille zurecht. Ein belustigter und dennoch eisiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Oh, die werden wir bald bekommen, sei unbesorgt. Sie werden schon bald geradezu um Verstärkung betteln. Und wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe mich noch um die Verladung von ungefähr 35.000 Tonnen Material zu kümmern. Alleine eure dicken Spielezeuge wiegen zusammen knapp 10.000 Tonnen! Wo soll ich nur so viele Umzugshelfer herkriegen?!“ Mit einem Grinsen drehte er sich um und war verschwunden.

 

Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann

1. Oktober 2015, Flughafen Berlin-Tegel

 

Janko bestieg die erste Klasse des Direktfluges von Berlin nach Japan. Sein Handgepäck hatte er sicher über seinem Platz verstaut, als er sich in seinem Sitz ausbreitete. Ein kleines Grinsen huschte in sein Gesicht. „Das ist das Schöne an der Arbeit bei NERV: Business-Class!“, dachte er, als er merkte, wieviel Beinfreiheit er hier hatte. Und die war bei mehr als neun Stunden Flugzeit auch bitter nötig, fand er.

 

David und Ben hatten separate Flüge genommen, gestern sowie vorgestern. Es war von allen Beteiligten als sinnvoll erachtet worden, nicht zusammen in Japan aufzutauchen. Je unauffälliger sie sich verhielten, desto besser. Janko schlug nach dem Start der Maschine die Dokumentenmappe auf, die Thaddäus ihm mitgegeben hatte. Der Fingerabdrucksensor piepte leise, als er das Schloss des Ordners entriegelte. „GEHEIM! NUR FÜR IHRE AUGEN BESTIMMT!“ prangte in roter Stempelschrift auf den Dokumenten. Woher kamen diese Unterlagen? Er bezweifelte, dass das NERV-Hauptquartier sie einfach so einer anderen Niederlassung zur Verfügung stellte. Hatte K2 mal wieder tief gegraben und einige seiner Gefallen eingefordert? Eigentlich wollte er es gar nicht so genau wissen, beschloss er. 

 

Janko blätterte durch die Unterlagen. Die ausgedruckten, psychologischen Profile der Children machten den größten Teil der Papiere aus. Er starrte auf das Passfoto von Rei Ayanami, das an das entsprechende Profil geheftet war. Zugegeben, diese Art von Bildern war nicht gerade für ihre Natürlichkeit und Kreativität bekannt, aber er empfand ein seltsames Gefühl der Taubheit, als er es betrachtete. Es ging eine bleierne Schwere davon aus, die er nicht wirklich greifen konnte. Die blauen Haare und roten Augen waren sehr markant, aber sie passten irgendwie nicht zu dieser … Stille … die das Foto ausstrahlte.

 

„Wer bist du, Rei Ayanami?“, dachte er, als er den Ordner wieder zuklappte. Er würde später weiterlesen. Nachdem er sich nach dem Start der Maschine, ganz klassisch, einen Tomatensaft bestellt hatte, schaute er aus dem Fenster und sah langsam die Ausläufer Berlins in der Ferne verschwinden.

 

„Wir sind also die Vorhut.“, sinnierte er. „Nach mehr als drei Jahren dann jetzt mal wieder ein Auslandseinsatz. Hoffentlich läuft dieser besser als die Letzten...“ Er setzte die Kopfhörer seines Music Players auf und dachte an die Ereignisse zurück, die ihn, David und Ben als Team zusammengeschweißt hatten.

 

***

 

14. Januar 2012, etwas mehr als elf Jahre nach dem Second Impact, Alice Springs, Australien

 

Die Hitze war das Schlimmste gewesen. Sergeant Janko Freytag patrouillierte mit seinen zwei Begleitern durch die Ausläufer der kleinen, einst stolzen Stadt Alice Springs, im Herzen Australiens. Er war angespannt, umklammerte den Griff seines Sturmgewehrs mit mehr Druck als notwendig. Die Sonne brannte mit unveränderter Intensität auf seinen Nacken, während sich seine Füße im staubtrockenen Wüstenboden vorwärtsbewegten. Er blickte auf das provisorische Flüchtlingslager vor sich. Australien war während des Second Impact übel mitgespielt worden. Nachdem die Flutwellen die Küstenstädte vollständig eingeebnet hatten, waren die Überlebenden panisch ins Landesinnere geflohen. Als der große Regen einsetzte und die eigentlich ruhigen Flüsse in rauschende Ströme verwandelte, spitzte sich die Lage erneut zu. Aber irgendwann ließ der Regen nach. Und nach 2003 kam dann die Hitze, mit unvorstellbarer Grausamkeit. Das wenige verbliebene Vieh verendete auf den Weiden, Hunger und Seuchen breiteten sich aus. Die Vereinten Nationen hatten in den Jahren danach mehrere „Hilfsmissionen“ gestartet, um die verbliebenen Menschen in Australien zu halten. Niemand wollte noch mehr Flüchtlinge in diesen chaotischen Zeiten umherwandern sehen, die Konflikte zwischen den Staaten genau deswegen waren noch zu frisch. Und er, Janko Freytag, hatte sich, mangels Alternativen in dieser wirtschaftlich kollabierten Welt nach dem Second Impact, 2005 bei der UN eingeschrieben. Seitdem war er also Teil der sogenannten Friedenstruppen, die nach dem Kollaps verschiedener Staaten auf der Welt für etwas Recht und Ordnung sorgen sollten. Friedenstruppen war dabei mehr als nur ein kleiner Euphemismus. Für viele Einwohner waren sie eine Besatzungsmacht, das hatte er in den Jahren bitter feststellen müssen. Invasoren, die sich aufschwangen, den noch übrigen Einwohnern ganzer Landstriche vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten hatten. Gefängnisaufseher, die sie am Wegziehen hindern sollten. Nahezu kein Land der Erde war nach dem Chaos der Migrationsbewegungen nach dem Second Impact mehr bereit, Flüchtlinge anderer Staaten aufzunehmen.

 

„Hätte ich vorher gewusst, dass man mich in diesem Höllenloch stationieren würde, wäre ich Bürohengst geworden, nicht Soldat“, dachte er, als er in eine der Straßen einbog, die die Stadt mit dem Sitz der UN-Streitkräfte in der Region verband. Seine zwei Begleiter fluchten ebenfalls leise vor sich hin.

 

„Hey Sergeant, mir gefällt die Atmosphäre hier ganz und gar nicht“, vermeldete der rundlichere der zwei anderen Soldaten. Schweißperlen liefen über seine Stirn, als er mit zusammengekniffenen Augen das Treiben um sie herum musterte. „Ich bin zwar erst vor kurzem hier angekommen. Aber auch mir ist nicht entgangen, dass auf jedem Friedhof ne ausgelassenere Stimmung herrscht.“ Er spuckte in den Sand. „Was bin ich doch für ein Trottel… ‚David, geh doch zu den Vereinten Nationen!‘, haben sie gesagt. ,Da machst du was Sinnvolles und lernst die Welt kennen!‘, haben sie gesagt.“

 

Corporal David Reimann, gleicher Jahrgang wie er und im ersten Auslandseinsatz. Der Kerl hatte zwar ein vorlautes Mundwerk, aber wenn’s drauf ankam, hatte sich Janko auf ihn verlassen können. Die Patrouille ins Outback letzte Woche wäre ohne sein schnelles Handeln mit Sicherheit in einem Desaster geendet. Janko fragte sich bis heute, wie der Corporal die vergrabene Mine mit bloßem Auge hatte erkennen können, über die sie beinahe gefahren wären. Nur sein beherzter Griff ins Lenkrad hatte Schlimmeres verhindert. Danach hatte sich Janko dafür eingesetzt, dass er fest seinem Trupp zugeteilt wurde.

 

Von seiner anderen Begleitung konnte er sich noch kein genaues Bild machen. Private Ben Jessel war ihm gestern an die Seite gestellt worden, um die Verständigungsprobleme untereinander möglichst gering zu halten. In dieser multinationalen Truppe, die die Vereinten Nationen stellten, bildeten die drei nun einen rein deutschsprachigen Aufklärungstrupp. Der Kerl wirkte wie ein Ruhepol inmitten als dieses Chaos. Selten war auch nur eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Die wachen Augen sondierten unablässig die Gegend.

 

„Bewegung auf neun Uhr“, meldete Private Jessel. Hinter seiner getönten Brille musterte er die Gruppen von Menschen, die sich hier um den provisorischen Markt zwischen den Zelten drückten. Eine größere Menge ziemlich zerlumpter Gestalten hatte sich plötzlich in Bewegung gesetzt. Einige von ihnen trugen Stangen und andere lange Gegenstände in den Händen. Die Gruppe zog vorüber, nicht ohne die drei Soldaten mit unverhohlener Verachtung zu mustern. „Vielleicht sollten wir weitergeh’n, Sarge… Hier liegt was in der Luft.“

 

„Einverstanden, rücken wir ab“, antwortete Janko.

 

Die drei Soldaten verließen den Markt und zogen durch einige kleinere, weniger gut besuchte Seitenstraßen. Dieses Viertel war auch schon vor dem Second Impact in keinem guten Zustand gewesen, jetzt allerdings waren sie umgeben von jeder Menge heruntergekommener Gebäude. Um jedes größere Haus, das noch stand, hatten sich kleine Ansammlungen von Zelten gebildet, die versuchten, wenigstens etwas kühlenden Schatten abzukriegen.

 

„Bin mal gespannt, wann sie uns als Eskorte nach Darwin abordnen“, sagte Private Jessel. „Gegen ein bisschen Meeresluft hätte ich nichts einzuwenden. Ich hab‘ heute Morgen erfahren, dass schon wieder zwei Hilfskonvois im Outback abgefangen wurden.“

 

„Was haben die denn erwartet?“, fragte Corporal Reimann. „In diesen Zeiten kann man keine Wagenladungen von Nahrungsmitteln auf LKWs packen, durch die verdammte Wüste fahren und dann auch noch erwarten, dass das gesamte Zeug unbehelligt am Zielort ankommt. Wenn ich Warlord wäre, würd‘ ich ebenfalls auf so ne Gelegenheit warten.“

 

Das Funkgerät krächzte. „Achtung, an alle Einheiten! Ein Mob sammelt sich vor den Toren des Stützpunktes. Erbitten sofortige Unterstützung, die Situation gerät außer Kontrolle!“

 

„Scheiße!“, fluchte Janko, als er losspurtete. „Das war ja zu erwarten gewesen!“ Es rumorte bereits länger unter den Menschen der Stadt. Die UN hingegen war hier verhältnismäßig gut versorgt, da ihre eigenen Vorräte von mehreren Transportmaschinen aus der Luft eingeflogen worden waren. Das war auch den Menschen außerhalb des Stützpunktes nicht entgangen.

 

Jankos Trupp erreichte die Anlage wenige Minuten später. Mehrere Humvees hatten links und rechts des großen Eingangstores Position bezogen, die aufmontierten Maschinengewehre im Anschlag. Eine große Gruppe von Menschen hatte sich in einiger Entfernung versammelt. Sie schrien und gestikulierten in Richtung der Truppen. Ungefähr fünfzehn Soldaten waren aufmarschiert, aufgestellt hinter einem Sprecher mit einem Megaphon. Schnaufend kamen die drei Patroulliengänger zum Stehen.

 

„Bitte bewahren Sie Ruhe!“, schallte es aus dem Lautsprecher zu der Gruppe Demonstranten herüber. „Ihre Situation ist uns bekannt und wir haben Ihre Forderungen vernommen. Wir werden mit unseren Vorgesetzten die Situation besprechen!“ Der Soldat mit dem Megaphon drehte sich zu Janko um, als dieser auf ihn zuging. „Wir haben bereits nach dem Captain geschickt.“ Er musste sich reflexartig ducken, als mehrere Steine an einem der Humvees neben ihm einschlugen. Janko nahm das Megaphon.

 

„Wir wissen um Ihre Lage, bitte beruhigen Sie sich!“, versuchte Janko es ebenfalls. Adrenalin flutete seinen Körper, als er sah, wie mehrere Soldaten ihre Waffen durchluden und entsicherten. „Hey, nicht anlegen!“, rief er ihnen zu. Dann begann er durch das Megaphon zu improvisieren: „Die ersten Rationen werden soeben verladen. Wir werden Sie mit Teilen unserer eigenen Vorräte versorgen, soweit wir das …“

 

„Was reden Sie da für einen Scheiß, Soldat!?“, erschall es auf einmal hinter ihm. Captain Richmond, leitender Offizier der Anlage, trat aus dem Tor. „Sie sind weder befugt noch befähigt, hier in irgendeiner Form die Verhandlungen zu übernehmen!“ Er entriss Janko das Megaphon.

 

„Aber Sir, irgendwie müssen wir die Lage beruhigen. Es war absehbar, dass das passieren wird. Diese Menschen haben vermutlich seit Tagen nichts gegessen!“ Ein weiterer Stein krachte in eine der Autoscheiben. Glas splitterte und Janko riss die Arme hoch.

 

Corporal David Reimann ergriff nun das Wort: „Captain, das gibt hier ein Blutbad, wenn wir nichts unternehmen. Diese Leute haben nichts zu verlieren. Die wissen um die Nahrungsvorräte, die die UN hier abgeladen hat.“

 

„Das gibt diesen Leuten dennoch nicht das Recht, einen Stützpunkt der Vereinten Nationen anzugreifen! Die Bereitstellung von Lebensmitteln liegt auch nicht in unserer Zuständigkeit! Wir sind hier zur Durchsetzung von Ruhe und Ordnung!“, brüllte Richmond zurück. Sein sonnenverbranntes Gesicht färbte sich noch rötlicher.

 

„Die greifen keinen Stützpunkt an, die kämpfen um ihr Leben“, antwortete Janko. „Diese Leute haben nichts mehr zu verlieren! Wenn wir sie nicht mit unseren eigenen Vorräten mitversorgen, gehen die hier draußen zugrunde!“ Janko hatte in den letzten Jahren zu viele Dörfer gesehen, in denen Berge von Verhungerten in Massengräbern verscharrt worden waren. Das Kompetenzgerangel der verschiedenen Organisationen und Abteilungen hatte ihn schon immer angewidert. „Dieses Mal nicht!“, dachte er bei sich.

 

„Das sind Güter für Notfälle und militärische Maßnahmen! Ich bin nicht hier rausgekommen, um mit Ihnen zu diskutieren, Sergeant!“

 

„Aber das hier ist ein Notfall!“ Private Jessel hatte seine Stimme nach dem Spurt ebenfalls wiedergefunden. „Was denn für Maßnahmen?! Wir sind hier in einem scheiß Niemandsland! Wir sind eine Hilfsmission! Ich habe mich jedenfalls nicht zum Dienst bei der UN gemeldet, um Gewehre auf hungernde Menschen zu richten!“

 

„Sie haben nicht darüber zu entscheiden, wohin Sie ihr Gewehr richten, Soldat! Zurück auf Ihren Posten!“ Richmonds Gesichtsfarbe wechselte langsam von Rot zu Lila.

 

Der Private gab sich unbeeindruckt. Seine Stimme wurde schneidend, blieb aber ruhig. „Wir haben hier gerade einmal 80 Soldaten und Vorräte für mehrere Monate. Hinzu kommt die Möglichkeit, Nachschub aus der Luft anzufordern, wenn’s knapp wird. Wir können diese Menschen bis zur nächsten LKW-Lieferung mitversorgen! Wir können …“ Weiter kam er nicht. Ein einzelner Mann hatte sich aus der Gruppe der Protestierenden gelöst und rannte nach vorne, auf die Humvees zu. Richmond zögerte keine Sekunde. Er zog seine Pistole und gab einen Schuss ab. Der Mann stolperte und fiel in den Wüstensand. Seine Schreie halten über die Ebene, während er versuchte, das ausströmende Blut aus seinem Oberschenkel mit seinen bloßen Händen zu stoppen. „Bastard! Mörder!“, schallte es aus der Gruppe herüber, als weitere Menschen vorpreschten, um den Getroffenen zu sich zu ziehen. Eine weitere Ladung Geschosse prasselte auf die Humvees nieder. Mehrere Soldaten schossen einige Salven über die Köpfe der Steinewerfer hinweg.

 

Vor Jankos Augen spielte sich die Szene wie in Zeitlupe ab. In der Rückschau konnte er bis heute nicht genau sagen, was ihn zu den nächsten Schritten bewogen hatte. Richmond war ein bürokratischer Drecksack, aber ganz Unrecht hatte er nicht. Nichtregierungsorganisationen kümmerten sich um die Verteilung der Lebensmittel, nicht der militärische Zweig der UN. Aber konnten sie diese Menschen im Stich lassen? Besagte nicht das UN-Mandat, durch das sie beauftragt worden waren, dass die Durchsetzung von friedensstiftenden Anweisungen nur in enger Begleitung von Versorgungsmaßnahmen durchzuführen war? Sein Bauchgefühl übernahm ab hier.

 

„Ach scheiß drauf, wenn ich mir schon wieder die Finger schmutzig machen muss, dann wenigstens einmal für die richtige Sache!“, dachte er bei sich.

 

Unmittelbar darauf war seine Waffe auch schon angehoben. Er entsicherte das Sturmgewehr und zielte auf Captain Richmonds Kopf. Dessen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Sind Sie wahnsinnig, Soldat? Sie bedrohen einen Captain der UN?!“

 

„Sir, ich fordere Sie hiermit auf, Ihre Pistole wegzulegen! Diese Menschen sind nicht unsere Feinde, die Soldaten Reimann und Jessel haben Recht. Wir können, und wir werden, diese Menschen bis zur Ankunft des nächsten Konvois mitversorgen!“ Er schrie beinahe. Seine Handflächen waren feucht und sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

 

„Insubordination!“, rief Richmond. „Lieutenant Spikes, nehmen Sie diese Männer fest!“

 

„Lieutenant Spikes, wo…?“ Die Frage erstarb in Jankos Mund. Der Gewehrkolben, der ihn in der gleichen Sekunde mit voller Wucht im Nacken traf, ließ die Welt um ihn herum schwarz werden. Als er mit dem Kopf auf dem Wüstenboden aufschlug, hatte er das Bewusstsein bereits verloren.

 

***

 

Janko erwachte in einem staubigen, halbdunklen Raum. Der pochende Schmerz, der seinen Rücken und seinen Kopf durchbohrte, rief ihm augenblicklich die letzten Momente vor seinem unfreiwilligen Nickerchen wieder in Erinnerung. Er saß auf einem Stuhl, die Hände hinter seinem Rücken mit Handschellen gefesselt. Im Zwielicht konnte er zwei weitere Insassen erkennen, mit der gleichen Körperhaltung.

 

„Sieh an, der Sarge is‘ wieder unter‘n Lebenden…“ Davids Stimme klang leicht undeutlich. Die wenigen Lichtstrahlen, die durch das vergitterte Fenster und die Vorhänge in den Raum fielen, ließen Janko die Prellungen und Verfärbungen im Gesicht des Corporals erahnen. „Die haben uns ganz gut‘n paar mitgegeben…“ Er hustete laut und spuckte eine Ladung Speichel und Blut auf den Fußboden.

 

„Is‘ ja auch keine Kaffeefahrt hier“, meldete sich Ben zu Wort. Er versuchte auf dem Stuhl eine bequemere Haltung zu finden, aber seine Füße waren ebenfalls an den Stuhlbeinen gefesselt.

 

„Und nun?“, fragte Janko. „Da haben wir uns wohl in eine schöne Scheiße manövriert.“

 

„Ah, ich wünschte, ich hätte Richmond noch eine mitgeben können“, antwortete David. Er wippte leicht zurück und ließ den Kopf nach hinten hängen, während er an die Decke starrte. „Verdient hätte der Bastard es allemal…“

 

Mit einem Mal wurde die Eingangstür aufgestoßen. Ein unbekannter Mann in Zivilkleidung betrat den Raum. Janko musste unweigerlich die Augen zusammenkneifen, als das helle Licht das Zimmer erleuchtete. Der Mann trug einen Aktenkoffer in der einen sowie einen weiteren Stuhl in der anderen Hand. Als er beides in einiger Entfernung zu den Dreien abgestellt hatte, schaltete er das Licht ein und schloss die Tür.

 

„Guten Tag, die Herren“, sagte er und nahm langsam Platz. Er musterte die gefesselten Soldaten und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

 

Janko wunderte sich, dass ein Zivilist das Erstgespräch nach dem Vorfall führen sollte.

 

Der Mann lehnte sich zurück und rückte seine Vollrandbrille zurecht. Mit seinen kurz geschorenen Haaren und dem Vollbart musterte er die Soldaten. Er wirkte nur unwesentlich älter als die Gefangenen. „Meine Herren, mein Name ist Dr. Thaddäus Weber. Es freut mich, Sie kennenzulernen.“

 

David ergriff zuerst das Wort. „Hey Doc, was wird das hier? Kriegen wir jetzt unser militärgerichtliches Verfahren? Oder kann ich bei Ihnen direkt die Henkersmahlzeit bestellen? Wenn dem so ist, hätt‘ ich gerne ne Pizza...“

 

„Meine Herren, die gegen Sie erhobenen Vorwürfe sind Ihnen sicherlich bekannt. Die von ihnen begangene Insubordination beinhaltet Befehlsverweigerung, Aufwiegelung und die Bedrohung eines Offiziers mit einer Waffe in einem schweren Fall und unter Verkennung einer gefährlichen Gesamtsituation.“

 

„… belegt mit Salami und Paprika…“

 

„Sie scheinen den Ernst der Lage nicht ganz zu begreifen, Corporal Reimann. In Anbetracht der Ausnahmesituation, der sich die UN hier auf dem australischen Kontinent und weltweit immer noch gegenübersieht, wird gerade darüber beraten, ein kurzes standgerichtliches Verfahren einzuleiten, an dessen Ende möglichweise ihre standrechtliche Erschießung steht.“

 

„… und Pilzen …“

 

„JETZT HALTEN SIE DOCH MAL DIE KLAPPE!“ Dr. Weber hob seinen Aktenkoffer hoch und öffnete den Verschluss. Er holte eine Ladung Papier und einen kleinen Schlüsselbund heraus. Mit leiserer Stimme fuhr er fort. „Haben Sie schon einmal etwas von einer Organisation namens NERV gehört?“

 

Die Soldaten zuckten mit den Schultern.

 

„Ich kann Ihnen hier und heute einen Ausweg aus dem von Ihnen angerichteten Schlamassel bieten.“

 

Janko beugte sich leicht nach vorn. Jedenfalls soweit es die Handschellen zuließen. „Ich bin ganz Ohr…“

 

„Nach der Durchsicht ihrer Personalakten und unter Einbeziehung des heutigen Vorfalls sind Sie genau die Art von Menschen, die wir für die vor uns liegende Aufgabe gebrauchen können.“

 

Ungläubiges Schweigen erfüllte den Raum. Ben war der erste, der die Fassung wiederfand. „Was soll das denn heißen? Wie lautet ihre Aufgabe?“

 

Dr. Weber schmunzelte. Er hielt immer noch den Stapel Papier in den Händen. „Die Rettung der Menschheit vor der totalen Vernichtung. Nicht mehr und nicht weniger.“

 

Ein verächtliches Schnauben entwich Janko. „Wollen Sie mich verarschen? Warum wir?“

 

Der Fremde stand auf und trat hinter die drei Männer. In wenigen Augenblicken hatte er die Handschellen gelöst. Während sich die überraschten Soldaten noch die Handgelenke rieben, fuhr der Mann in den beigen Klamotten fort. „Unsere Organisation wurde gegründet, weil die Menschheit einer beispiellosen Gefahr ausgesetzt ist. Es arbeiten bei NERV Menschen aus unterschiedlichsten Teilen der Welt. Für die besondere Aufgabe, die uns bevorsteht, brauchen wir noch Personal, das nicht ganz den üblichen militärischen Karriereweg hinter sich hat. Wir brauchen Menschen, die … naja … einen eigenen moralischen Kompass haben. Menschen, die ihrem Bauchgefühl und ihren Instinkten folgen, auch wenn das bedeutet, Vorschriften und Regeln gelegentlich umzudeuten oder zu brechen.“ Ein spitzbübisches, amüsiertes Lächeln strich über sein Gesicht, als er in die ungläubigen Gesichter blickte. „Neben unseren Fähigkeiten sind es vor allem unsere Entscheidungen, die uns definieren. Die uns zu dem machen, was wir sind. Zum Guten oder zum Schlechten. Lesen Sie sich die Unterlagen gut durch, die ich Ihnen jetzt geben werde. Lassen Sie mich ehrlich sein: Ich kann nicht versprechen, dass Sie körperlich und seelisch gesund aus den Einsätzen zurückkehren werden, in die wir Sie schicken werden. Himmel, ich kann Ihnen nicht einmal versprechen, dass Sie die nächsten zwölf Monate überleben werden. Aber bei dem, was Sie hier heute versucht haben, scheint es um Ihre geistige Gesundheit eh nicht besonders gut bestellt zu sein.“ Er liebte es, kleine Beleidigungen in wohlmeinenden Worten zu verstecken. Er drückte den Soldaten jeweils einen Stapel Papier in die Hand. „In einer Stunde werde ich wiederkommen und mir Ihre Entscheidung anhören.“ Mit diesen Worten ging er zur Tür und öffnete sie.

 

Ein kurzer Moment des Schweigens setzte ein, während die anderen immer noch ungläubig die Dokumente in ihren Händen betrachteten. Die Tür schloss sich mit einem leisen Quietschen.

 

„… und Schinken!“

Zucker

2. Oktober 2015, Tokyo-3

 

Quietschend hielt die Ringbahn an der vorgesehenen Haltestelle. Janko schulterte seine Reisetasche und stieg, mit einem Stadtplan in der Hand, aus dem stickigen Abteil. Die Mittagssonne brannte auf ihn herab und er kniff unweigerlich die Augen zusammen. Nur wenige andere Passagiere schienen hier den Zug verlassen zu wollen. Als Janko auf dem Bahnsteig zum Stehen kam und einen Blick auf die nähere Umgebung warf, wurde ihm klar warum. „Großartig, man hat mich in den Slums einquartiert!“, dachte er missmutig. Mehrere Bauruinen begrüßten ihn und zeigten ihm das hässliche Gesicht des mit Abstand heruntergekommensten Teils des ach-so-modernen Tokyo-3. In der Ferne hörte er große Baumaschinen, die sich durch Betonwände arbeiteten. Sie übertönten sogar noch das ewige Zirpen der Zikaden. Als er sich orientiert hatte, sank seine Laune noch ein wenig weiter. „Da vorne muss ich hin?! Das Ding sieht aus wie ein umgedrehter Bunker!“

 

Janko nahm die Treppe, die ihn ins Untergeschoss führte. Die Scheiben des daneben angebrachten Aufzugs waren zerbrochen und ein „Defekt“-Schild baumelte traurig klappernd an seiner Kette. Jedenfalls vermutete er diesen Schriftzug darauf. Japanisch im Wort hatte man ihm seit seinem ersten Arbeitstag bei NERV bis zum Erbrechen eingetrichtert, sodass er, hätte er es für eine Bewerbung im Lebenslauf einordnen müssen, seine Kenntnisse durchaus als ‚fließend‘ bezeichnet hätte. Bei den Schriftzeichen haperte es jedoch immer noch. Es waren einfach zu viele! Er verließ die Unterführung und bewegte sich auf die Ansammlung von Hochhäusern zu, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu erkennen waren.

 

Im Schatten der Wolkenkratzer hatte er zumindest ein wenig Schutz vor der Sonne. Er ging vorbei an einem verrottenden Spielplatz und mehreren heruntergekommenen Imbissbuden, aus denen ihn die müden Augenpaare von Menschen anstarrten, die schon lange nicht mehr auf der Sonnenseite des Lebens standen. Er erregte hier als Europäer Aufsehen, das gefiel ihm ganz und gar nicht. „Ich schätze, alle anderen Ausländer hier in Tokyo-3 sind hochbezahlte Fachkräfte…“, ging ihm durch den Kopf. „Scheint ungewöhnlich zu sein, dass sich einer wie ich in so eine Gegend verirrt.“

 

Nach wenigen Minuten fand er das richtige Hochhaus. Die überquellenden Mülltonnen begrüßten ihn mit ihrem ganz eigenen Geruch. Er wühlte in der Reisetasche nach dem Wohnungsschlüssel und schloss die große Glastür auf, die ins Treppenhaus führte. Immerhin war es hier angenehm kühl. Der Klang seiner Schritte halte von den Wänden wider, als er bis in den vierten Stock lief und in den seitlichen Korridor einbog. „Apartment 403. Das scheint es wohl zu sein“, dachte er, als er die schlecht lesbaren Nummern betrachtete, die über jeder Eingangstür angebracht waren. Die weiße Farbe war auf dem dunkelgrauen Beton kaum noch zu erkennen. Er hatte Mühe, den Schlüssel im Schloss zu drehen. „Auf die Einkaufsliste: Schmieröl!“, sagte er zu sich. Quietschend schwang die Tür nach innen. „Was für ein Drecksloch!“, schimpfte Janko, als er eintrat und die Tür hinter sich schloss. Die Reisetasche ließ er zu Boden gleiten. Er schaltete das Licht an und sah sich um. In dem kleinen Eingangsflur, in dem er sich befand, sah er zu seiner Rechten direkt eine Küchenzeile, bestehend aus einem kleinen Stück Arbeitsplatte, einem Spülbecken, 2 Herdplatten, einem Backofen und ein paar Hochschränken. Immerhin war auch schon ein kleiner Kühlschrank vorhanden. Links von ihm befand sich das kleine Bad mit Toilette, Dusche und Waschbecken. „Nicht mal ein Badezimmerspiegel!“, grummelte er. Hinter dem Flur befand sich nur noch ein anderer Raum, vielleicht vier mal vier Meter groß. Eine Wandseite war mit seinen Umzugskartons vollgestellt worden. Wie er das alles hier vernünftig unterbringen sollte, war ihm jedoch noch ein Rätsel. Eine Standardmatratze lehnte davor, ein Tisch und zwei Stühle standen ebenfalls schon bereit. Das Bett jedoch…

 

„Ok, im NERV-Lieferservice scheint der Aufbau nicht enthalten zu sein“, sagte er und begutachtete die zwei großen Pakete, die auf dem Fußboden lagen. „Dann hab ich immerhin gleich noch was zu tun.“

 

Janko ging durch den Raum und zog die schweren, fleckigen Vorhänge zur Seite, die die hintere Wand bedeckten. Dahinter befand sich eine große Fensterfront, an der rechten Seite war eine Glastür eingelassen. Er öffnete sie und trat auf den kleinen Balkon. „Immerhin ne gute Aussicht!“, stellte er erfreut fest. Er lugte nach links. „Dann wird das hier wohl der Balkon von Fräulein Ayanami sein…“, überlegte er. Der Vorbau wirkte unbenutzt, Laub und Dreck lagen in kleinen Haufen auf dem vielleicht 2 Quadratmeter großen, umgitterten Bereich. Er konnte nicht viel mehr erkennen, die Vorhänge des Nachbarapartments waren zugezogen. „Sie scheint sich nicht besonders oft hier raus zu verirren.“

 

Sein Handy klingelte. Als er es aus der Hosentasche kramte, erkannte er die Nummer. „Mahlzeit, Kollege! Wie ist die Lage? Bereits eingelebt?“, fragte David, nachdem er rangegangen war. 

 

„Lass es mich so sagen: Es würde mich nicht wundern, wenn die hier nachts um brennende Mülltonnen herumtanzen…“, gab er ernüchtert zurück. Er ließ den Blick über den Horizont schweifen. Eine Reihe von künstlichen Seen hielt seinen Blick fest. „Immerhin hab ich nen Balkon. Und das Dach scheint dicht zu sein.“

 

„Tja, wärst du besser mit zu uns gekommen. Ben und ich sind gestern eingezogen. Die Wohnung ist ja mal der Oberhammer! 5 Zimmer, großer Balkon, ne top ausgestattete Küche und ein riesiges Bad! Ich will hier morgen meinen Geburtstag feiern. Sei bloß pünktlich!“, rief David über schwer definierbaren Werkzeuglärm hinweg. „Ben und ich richten gerade den letzten Krempel ein. Also, Morgen ab 19 Uhr! Und bring ja Schnaps mit! Solange Phil, Thaddäus und die anderen noch nicht hier sind, gönnen wir uns noch ein paar entspannte Tage!“

 

Das war ja wieder klar gewesen! Die Herren residierten in einem Palast und er musste zusehen, dass er seine wenigen Habseligkeiten überhaupt in diesem Schuhkarton untergebracht bekam! „Ach Scheiße, der Geburtstag!“, schoss ihm durch den Kopf.

 

***

 

Es war später Nachmittag, als die Tests und Nachbesprechungen im NERV-Hauptquartier für diesen Tag zu Ende waren. Rei Ayanami hatte wie immer die Ringbahn bis zu der Haltestelle genommen, an der vor einigen Stunden ein gewisser Neuankömmling ebenfalls ausgestiegen war. Sie marschierte zu ihrem Wohnblock, ohne den Zustand des Viertels groß wahrzunehmen. So war es für sie schon immer gewesen, seitdem sie vor mehr als einem Jahr aus dem Hauptquartier hier hingezogen war, ungewöhnlich früh für ein Mädchen ihres Alters. Aber was war bei ihr schon normal?

 

Rei öffnete die große Glastür und betrat das Treppenhaus. Die wenigen noch intakten Lampen warfen ihr schummriges Licht über die Wände, als sie in den vierten Stock hochstieg. Als sie den Korridor betrat, der zu ihrer Wohnung führte, sah sie zum ersten Mal seit Tagen einen anderen Menschen in diesem Hochhaus. Sie blieb mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand wie angewurzelt stehen. Der Kerl trug eine schwarze Schiebermütze und ein Polohemd sowie eine Jeans und unauffällige Sneakers. Er balancierte mehrere Einkaufstüten in seinen Händen, während er gleichzeitig versuchte, die Wohnungstür zu öffnen. Ihre Wohnungstür.

 

„Jetzt geh schon auf, du verdammtes Mistding!“, hörte sie ihn leise vor sich hin fluchen, als sie langsam auf ihn zuging. „Muss in dieser Ruine denn eigentlich alles klemmen?!“ Einige Konserven fielen aus den Tüten und kullerten über den Fußboden. Unter weiteren Flüchen stellte er seine Fracht ab und begann, die über den Fußboden verstreuten Einkäufe wieder einzusammeln. Eine Dose, Suppe, dem Etikett nach zu urteilen, kam genau vor Reis Füßen zum Liegen. Als er danach griff, bemerkte er, dass er nicht mehr allein war. Seine Hand hielt in der Luft inne und er blickte erstaunt auf. „Oh, ähhh… Hi!“, sagte er und richtete sich auf. Er musste ungefähr 1,80m groß sein und war von recht schlanker Statur. Er schien um die 30 Jahre alt zu sein. Schwarzes Haar kam an den Seiten der Schiebermütze zum Vorschein. Für einen kurzen Moment kam es ihr vor, als entglitten seine Gesichtszüge. Einen Augenblick später jedoch setzte er ein kleines Lächeln auf. „Entschuldigung für das Chaos, das ich hier angerichtet habe, aber meine blöde Wohnungstür weigert sich irgendwie, den Schlüssel zu akzeptieren!“

 

Rei schaute mit nichtssagender Miene von ihm zum Eingang ihrer Wohnung. „Das ist meine Wohnungstür“, sagte sie leise.

 

Der Mann fasste sich überrascht an den Hinterkopf. „Was? Äh… ok, das erklärt natürlich alles.“ Ein kleines Glucksen entwich ihm. „Diese blöden Nummern sind so verwittert, die kann man ja kaum noch erkennen. Ich bin übrigens Janko Freytag. Ich bin gerade hier eingezogen. Es scheint, als seien wir Nachbarn!“ Er beugte sich noch einmal herab, um die letzte Dose aufzuheben. Rei starrte ihn schweigend an, wie er sie erneut in seine Tüte packte. „Wie heißt du denn?“, fragte er anschließend.

 

„Mein Name ist Rei Ayanami“, antwortete das blauhaarige Mädchen leise.

 

„Es freut mich, dich kennen zu lernen, Rei Ayanami“, antwortete der Mann und lächelte sie an. Er begab sich nun zu seiner Wohnungstür und schloss sie auf. Diesmal funktionierte es reibungslos. „Na dann mal auf gute Nachbarschaft, würde ich sagen!“ Er begann, die Tüten in die Wohnung zu packen. Als er alles hineingetragen hatte, steckte er noch einmal den Kopf aus der Tür. „Solltest du einmal Milch oder Salz brauchen, zöger‘ nicht mich zu fragen!“ Und mit diesen Worten schloss er den Eingang.

 

Rei blieb noch einige Augenblicke nach dem leisen Schließgeräusch regungslos stehen, bis sie selbst in ihre Wohnung ging.

 

***

 

Als Janko die Einkaufstüten abgestellt und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich mit einem tiefen Schnaufen gegen sie fallen und rutschte langsam bis zum Boden herab. Er schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Nach einer Weile beruhigte sich sein Puls.

 

„Heilige Scheiße, DAS hab ich nicht erwartet!“, dachte er und schaute auf seine Hand. Ganz langsam hörte das Zittern auf. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie angekommen war. Bereits als sie den Korridor betreten hatte, hatte er ihre Präsenz gespürt. Dennoch war er geschockt davon, wie stark die Überraschung gewesen war, als er ihr das erste Mal ins Gesicht geblickt hatte. Das Passbild, das er noch im Flugzeug angeschaut hatte, hatte nichts davon erahnen lassen. Die Statur, die Haltung, der Blick ihrer Augen. ALLES erinnerte ihn an das Mädchen. Das Mädchen von Sarajevo.

 

„Ich hoffe, ich habe nicht zu viel Bullshit von mir gegeben“, dachte er verzweifelt und fuhr sich durch die Haare. Die Schiebermütze plumpste neben ihm zu Boden. „Hoffentlich hat sie nichts gemerkt. Die ganze Sache ist wohl noch mal um einiges komplizierter geworden.“ Er kämpfte sich hoch und begann, seine Einkäufe zu verstauen. Er wusste bereits jetzt, dass die Albträume heute Nacht wiederkommen würden. Und dabei hatte er jetzt doch tatsächlich mal ein paar Nächte durchgeschlafen!

 

***

 

Eine Wohnung weiter saß eine nicht minder verwirrte Rei auf ihrem Bett und starrte an die Wand. Ihre Beine baumelten von der Bettkante. Langsam streifte sie ihre Schuhe ab. Ihr fiel erst jetzt auf, wie dünn die Wände in diesem Hochhaus tatsächlich waren. Bis heute hatte sie quasi alleine auf dieser Etage gewohnt, sodass eh niemand nebenan war, der Geräusche verursachen konnte. Jetzt hörte sie jedoch gedämpft durch die Wände ihren neuen Nachbarn, wie er mutmaßlich seine Einkäufe wegpackte. Ihre Gedanken rasten.

 

„‘Es freut mich, dich kennen zu lernen, Rei Ayanami‘ hat er gesagt und gelächelt. So etwas hat noch niemand zu mir gesagt“, dachte sie. Sie legte sich auf den Bauch, mit dem Blick in Richtung Fußende des Bettes. Ihr Kinn ruhte auf ihren Armen. „Freude… Eine Emotion. Eine Emotion, die ich auslöse? Warum? Was ist das? Freude…“ Ein Lächeln konnte Freude auslösen, hatte sie gelesen. So wie Ikari-Kun sie angelächelt hatte, kurz nach dem Kampf gegen den fünften Engel. Hatte sie sich daraufhin gefreut? Sie wusste es nicht mehr. Die Momente, nachdem sie den Partikelstrahl des Engels mit dem Evangelion abgewehrt hatte, kamen ihr im Nachhinein vor wie ein Fiebertraum. Und Freude konnte wiederum ein Lächeln hervorrufen. „Freut er sich… wegen mir?! Aber wieso tut er das?!“

 

***

 

Einige Straßenzüge entfernt kam Misato mit zwei schlechtgelaunten Teenagern im Schlepptau vor ihrer Wohnung an. Die beiden stritten seit Ende des Synchronisationstests unablässig. Irgendwann während der Autofahrt hatte sie aufgehört zuzuhören. Alles, was sie jetzt noch wollte, war ein kaltes Bier und eine warme Dusche.

 

„Bist du blöd, oder was?“, keifte Asuka ihren männlichen Mitbewohner an. „Natürlich sind meine Harmonix-Werte weiterhin besser als deine! Und das werden sie auch immer sein! Schließlich bin ich eine fertig ausgebildete Pilotin! Nicht so ein Anfänger wie du!“

 

„Aber meine steigen in einer schnelleren Rate als deine es jemals getan haben! Das hat Ritsuko doch eindeutig gesagt!“, gab Shinji erbost zurück. „Warum kannst du nicht einmal akzeptieren, dass neben dir auch andere Menschen mal Erfolg haben!?“

 

Misato seufzte leise und suchte nach dem Wohnungsschlüssel. Sie wollte gerade aufschließen, als ein lautes „ACHTUNG!“ zu ihrer Linken sie aufschreckte. Sie fuhr herum, ebenso ihre zwei Mitbewohner. Zwei Männer quetschten sich, eine gigantische Couch auf den Schultern, an ihnen vorbei. Der vordere von beiden, der mit der Brille, balancierte mit der einen Hand das vordere Ende des Möbelstücks auf seiner Schulter, während der hintere Mann versuchte, Schritt zu halten.

 

„Danke fürs Durchlassen!“, rief der Hintere. „Kannst du wenigstens Bescheid sagen, wenn du losmarschierst?!“, knurrte er schlechtgelaunt. „Jedes Mal flutscht mir dieses Riesending fast durch die Finger!“

 

„Jaja, hör auf zu flennen wie ein Mädchen. Wir sind ja fast da. Und abstellen auf drei! Eins, zwei, drei!“ Mit einem leichten Rumms landete die Couch auf dem Boden. Die beiden blickten sich um und sahen sich kurz an.

 

Der Fülligere der Beiden ergriff wieder das Wort. „Oh, cool, jetzt sieht man sich ja mal. David Reimann, hallo zusammen!“, sagte er und hielt seinen Nachbarn seine verschwitzte und dreckige Hand hin. Dies fiel ihm eine Sekunde später dann auch auf, sodass er sie wieder zurückzog. „Nee, so besser nicht. Wie dem auch sei, wir sind gerade neben Ihnen eingezogen.“

 

Der andere Mann mit der Brille schaltete sich ebenfalls ein. „Ben Jessel mein Name. Herzlichen Glückwunsch, neben Ihnen richtet sich soeben die Chaos-WG ein.“ Ein wütender Blick traf seinen Mitbewohner. „Sorry für den lautstarken Tumult gestern, aber die Möbel bauen sich nicht von alleine auf.“ Er stemmte die Hände in die Hüften. „Wenn Kollege Reimann hier dann zur Abwechslung auch mal mithilft, sollten heute Abend alle Arbeiten abgeschlossen sein.“

 

„Freut mich, Misato Katsuragi“, gab die Frau mit den lila Haaren zurück und setzte ein Lächeln auf. Nachdem sich auch Shinji und Asuka vorgestellt hatten, sagte sie: „Wir haben uns schon gefragt, was hier los ist. Das Gepolter war nicht zu überhören.“ Das Lächeln behielt sie bei, sodass die neuen Nachbarn sehen konnten, dass es anscheinend nicht allzu schlimm gewesen war.

 

„Dann sind wir ja beruhigt. Und jetzt entschuldigen Sie bitte, ich möchte diese Schlafcouch noch vor Einbruch der Dämmerung in die Wohnung kriegen. Ich schlafe KEINE weitere Nacht neben diesem Sägewerk hier!“ Ben zeigte mit spitzen Fingern auf David. „Unser Arbeitgeber war tatsächlich der Meinung, wir sollten uns ein Schlafzimmer teilen!“ Er schüttelte in übertriebener Dramatik den Kopf.

 

Sein Gegenüber verdrehte die Augen. Dann aber blickte David wieder auf die Drei und sagte: “Da fällt mir ein: Morgen habe ich Geburtstag. Wir wollten abends ein wenig feiern. Kommen Sie doch mal rüber. Dann stoßen wir auf gute Nachbarschaft an!“

 

Asuka und Shinji blickten skeptisch auf Misato. Diese jedoch zeigte sich begeistert: „Ja, warum eigentlich nicht? Mit Bier kriegt man mich immer geködert!“ Kurz darauf waren die zwei Raufbolde von nebenan diskutierend in ihrer Wohnung verschwunden. Misato schloss ebenfalls die Tür auf. „Na das klingt doch mal nach netter Gesellschaft. Jetzt lasst uns auch mal reingehen. Und Shinji: Hör auf, auf dem Harmonix-Thema rumzureiten! Und du, Asuka: Jetzt stell dich mal nicht so an! Mal gewinnt man, mal verliert man! Ihr habt beide heute einen guten Job gemacht. Und ihr habt jetzt noch einen weiteren: Ihr seid mit Abendessen dran!“

 

Grummelnd verzogen sich die Streithähne mit ihr in die Wohnung.

 

***

 

Es hatte zwar einige Zeit gedauert, aber schlussendlich hatte Janko alle Einkäufe verstaut und sogar schon sein Bett aufgebaut. Anschließend war er direkt den Inhalt der Schränke durchgegangen und hatte erfreut festgestellt, dass alles, was er an Gerätschaften für die Geburtstagsvorbereitungen brauchte, vorhanden war. David war jedes Mal total aus dem Häuschen, wenn er die Cupcakes nach dem Rezept seiner Tante backte. Warum also nicht auch für morgen? Er holte die entsprechenden Formen und Zutaten aus den Schränken.

 

Als er begann, den Zucker mit der Butter zu verrühren, wurde er kurz skeptisch und hielt inne. Fragend betrachtete er die Packung. Er steckte den Finger hinein und probierte die weiße, kristalline Substanz. „Scheiße, das ist Salz!“, grummelte er und spuckte ins Spülbecken. Er schaute auf die Uhr. „Mist, zu spät. Die Läden haben auch schon zu…“ Doch dann kam ihm eine Idee. Er setzte sich auf sein Bett und dachte kurz nach. Ein kleines Grinsen huschte über sein Gesicht.

 

***

 

Die Räum- und Baugeräusche nebenan hatten vor einiger Zeit aufgehört. Rei fand es immer noch befremdlich, so viel Aktivität in ihrer Umgebung mitzubekommen. Normalerweise war dieser Hochhauskomplex still wie ein Friedhof. Wenn nicht gerade der Lärm der Baumaschinen, die ihre monotonen Arbeiten in der Nähe verrichteten, an ihr Ohr drang, kam ihr die Anwesenheit in ihrem kleinen Apartment oft so vor wie die regelmäßigen Aufenthalte in dem Tank voll mit LCL tief unten im Central-Dogma. Ein stummes Dahingleiten, durch nichts unterbrochen, was die Stille und Schwerelosigkeit störte. Wie ein Schweben, losgelöst von den Stürmen und Irritationen dieser Welt. Rei hielt gerade eines ihrer Bücher über Genetik in der Hand, als sie ein neues, ungewohntes Geräusch vernahm.

 

*poch* *poch* *poch*

 

Was war das?

 

*poch* *poch* *poch*

 

Klopfte es etwa an der Tür?

 

*poch* *poch* *poch*

 

Sie legte das Buch weg und stand von ihrem Bett auf.

 

*poch* *poch* *poch*

 

Tatsächlich, das Geräusch kam von draußen. Sie ging zur Tür und hielt kurz inne. Durch den schmalen Spalt im Boden der Tür konnte sie einen Schatten ausmachen. Dort stand Jemand. Langsam drückte sie die Türklinke herunter und öffnete. Ihr neuer Nachbar stand wieder vor ihrer Tür.

 

„Hallo Rei“, sagte er und verzog die Mundwinkel in einer eigentümlichen Art und Weise, die sie nicht ganz einordnen konnte. Die Sonne ging langsam draußen unter und schien hinter seinem Rücken zu verschwinden. „Zwar hab ich dir eben meine Hilfe im Falle eines Mangels angeboten, aber ich schätze, jetzt muss ich direkt auf dich zukommen.“ Er zog leicht die Schultern hoch.

 

„H…hallo“, erwiderte sie kurz.

 

 „Ich bin noch nicht besonders gut darin, japanische Schriftzeichen zu entziffern. Nach dem Einkauf dachte ich, dass ich für alles gerüstet bin, aber irgendwie ist da was schiefgegangen…“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Jedenfalls bin ich jetzt stolzer Besitzer von sechs Kilo feinstem japanischem Salz, aber es fehlt mir an Zucker. Und die Läden haben schon zu… Meinst du, du kannst mir was borgen?“ Er machte eine eigentümliche Geste mit den Händen.

 

„Zucker?“, fragte sie irritiert. Ihre linke Hand spielte leicht mit der Türklinke, so als wisse sie nicht, ob sie festhalten oder loslassen solle.

 

Er lächelte wieder. „Ja, ein guter Freund von mir hat morgen Geburtstag und wartet sehnsüchtig auf meine Cupcakes. Du würdest mir damit echt helfen, sonst kann ich mir morgen den ganzen Tag sein enttäuschtes Genörgel anhören.“

 

Rei drehte sich um und ging zu ihren Schränken. Wenige Wimpernschläge später hielt sie ihm ein Paket hin.

 

„Oh, vielen Dank! Du hast mir echt den morgigen Tag gerettet!“ Er nahm ihr das Paket aus den Händen und ging zu seiner Wohnung. Er drehte sich noch einmal kurz um. „Hast was gut bei mir!“

 

Und damit war er auch schon wieder verschwunden.

 

***

 

3. Oktober 2015

Reis Nacht war unruhig gewesen. Es waren nun weniger die Geräusche, die sie aus dem üblichen Trott brachten, als vielmehr das Wissen, dass jemand da war. Nebenan. Und dort lebte. Dinge tat, fluchte, wenn etwas nicht funktionierte (so wie es anscheinend bei seiner Backaktion gewesen war) oder er etwas herunterwarf (zumindest hatte sie das zweimalige Scheppern entsprechend interpretiert). Sie spürte keine Angst, vielmehr war es … ungewohnt. Mit neuen und unvorhersehbaren Ereignissen hatte sie noch nie besonders gut umgehen können. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, war ihr Leben eigentlich immer bestimmten Ritualen gefolgt. Projekt E. Tests. Schule. Wieder Projekt E. Wieder Tests. Gendo Ikari. Projekt E … Aber nun änderte sich ständig alles. Auf einmal waren da die Engel. Die neuen Piloten. Jetzt dieser Nachbar! Es erinnerte sie an eine Lawine, die einen Abhang herunterrollte. Am Anfang war es nur ein kleiner Stein, doch dieser löste schließlich anderen Schutt. Und ganz am Ende war da eine mächtige Front, die ins Tal donnerte und alles veränderte. Straßen, Landschaften, Menschen und deren Schicksale.

 

„Schlussendlich auch… mich?“, fragte sich Rei, als sie ihre Schuluniform anzog und ihre Schultasche nahm, um die Wohnung zu verlassen. Zwar war Samstag, aber aufgrund des ausgefallen Unterrichts durch die Engelangriffe war, zumindest einmalig, wie es hieß, Unterricht für diesen Tag angesetzt worden. Und da kein anderweitiger Befehl vorlag, hatte sie entschieden, hinzugehen. Als sie die Wohnungstür aufzog und nach draußen ging, trat sie mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Dort auf dem Boden stand eine kleine, schwarze Box. Ein Zettel klebte daran. Sie beugte sich herab und nahm den Zettel in die Hand.

 

Dein Anteil ;)“ stand in schnörkelloser Handschrift darauf geschrieben. Und diese zwei seltsamen Zeichen waren am Ende des Satzes zu sehen. Zwar konnte sie sich keinen wirklichen Reim darauf machen, aber dennoch hob sie die Box an. Als sie den Deckel zurückschob, kamen drei runde, braune, tassengroße Kuchen zum Vorschein. Weißer Zuckerguss bedeckte sie. Sie legte den Zettel dazu in die Box und verschloss sie wieder. Sie musste dringend los, sonst würde sie nicht, wie sonst üblich, absolut pünktlich sein. Rei verstaute die Box in ihrer Schultasche und machte sich auf den Weg.

 

Dieser Tag schien noch seltsamer zu werden als der Letzte.

 

Animus

3. Oktober 2015, Toyko-3, Junior High-School

 

Die schlechte Stimmung im Klassenraum war praktisch greifbar. Es war Samstag! Und trotzdem mussten sie hier hocken. Asuka schnaubte und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Sie sah sich um: Toji, der Trottel, schlief mit dem Kopf auf dem Tisch. Seine blöde weiße Kappe hatte er weit ins Gesicht gezogen. Kensuke, der andere Trottel, spielte wie immer mit seiner Videokamera herum und gab dabei eine Menge kindischer Laute von sich. Shinji hatte sich seine Kopfhörer in die Ohren gesteckt und wirkte abwesend. Asuka gähnte. „Unterricht nachholen… bla bla bla!“, dachte sie verärgert. „Der alte Knacker redet doch eh wieder nur vom Second Impact! Also was werden wir heute lernen? Nix! Und dafür wird der Samstag verschwendet! Wenn Kaji Zeit gehabt hätte, hätte ich blaugemacht!“

 

Hikari hatte die schlechte Laune ihrer Freundin bemerkt und beugte sich zu ihr rüber. Sie schien die einzige zu sein, die fröhlich war. „Hey Asuka, ich könnte dir zur Aufmunterung in der Pause was von meinem Salat abgeben! Das Dressing ist total lecker!“, bot sie an.

 

„Ach neeee, dankeschön…“, grummelte Asuka. „Wenn, dann will ich was Süßes!“ Sie blickte auf. Rei betrat den Klassenraum und setzte sich still an ihren Platz am Fenster, so wie üblich. „Hey, First Child! Wusste gar nicht, dass du auch heute herkommst. Kein Spezialauftrag am Wochenende für das Wunderkind?“ Doch Rei reagierte nicht auf die Stichelei. Nicht, dass sie es sonst getan hätte. Aber irgendwie wirkte sie noch „entrückter“ als sonst. Sie saß auf ihrem Platz und hatte ihre offene Schultasche auf dem Schoß, die sie wie gebannt anstarrte. Asuka wollte gerade zum nächsten Spott ansetzen, als Hikari neben ihr aufstand.

 

„Aufstehen, verbeugen, hinsetzen!“, brüllte sie, als der Lehrer den Klassenraum betrat.

 

Missmutig erhob sich der Rest der Klasse.

 

***

 

Zur etwa gleichen Zeit rollte sich Janko völlig übermüdet und fluchend aus dem Bett. Er setzt sich auf die Bettkante und rieb sich die Augen. Er versuchte, die letzten Reste des Albtraumes mit heftigem Schütteln aus seinem Kopf zu kriegen. Die Bilder von Explosionen und Feuer hallten immer noch nach. Und die Schreie. Diese unerträglichen Schreie. „Jetlag und Albträume, ne großartige Kombination…“, dachte er mürrisch.

 

Er brauchte einen kurzen Moment, um sich zu orientieren. Als sein Blick durch das kleine Apartment schweifte, fing er sich wieder. Dann stand er auf und schlurfte ins Bad. Es dauerte eine Dusche und ganze drei Kaffee lang, bevor er endlich klar im Kopf wurde.

 

Janko zog sich zu Ende an und schulterte seinen Rucksack. „Dann schauen wir uns mal die Stadt an, bevor wir David beglücken“, sagte er zu sich selbst und verließ die Wohnung.

 

***

 

Der erste Pausengong ertönte und Asuka seufzte erleichtert. Viele ihrer Mitschüler sprangen direkt auf und verließen den Klassenraum. Nur Shinji und Rei blieben mit ihr zurück. Das blauhaarige Mädchen hatte wieder die Schultasche auf ihrem Schoß. Asuka konnte beobachten, wie sie eine kleine schwarze Box herauszog und vor sich auf dem Tisch abstellte.

„Seltsam, die hat doch sonst nie was zu essen dabei…“, dachte sich Asuka und ging zu Reis Platz.

 

„Hey Wunderkind, was hast du denn da Leckeres?“, fragte sie und setzte sich auf den Tisch neben ihr, der, seitdem ein guter Teil der Schüler wegen der Engelangriffe die Stadt verlassen hatte, verwaist war.

 

„Ich bin mir nicht sicher…“, antworte Rei.

 

„Wie, du bist dir nicht sicher? Du musst doch wissen, was du da eingepackt hast!“, fragte Asuka. Sie schnappte sich die Box und schaute hinein. Drei verzierte Cupcakes waren zu sehen, ebenso der kleine Zettel. „Sieh an, unsere Rei wird zur Bäckerin!“, tönte sie.

 

Shinji war neugierig geworden und gesellte sich zu den beiden Mädchen.

 

„Ich habe nicht gebacken. Diese Box stand heute Morgen vor meiner Tür“, gab Rei zurück. „Sie ist vermutlich von meinem neuen Nachbarn.“

 

Asuka zog den Zettel hervor. „Sieh an, sieh an!“, rief sie. „‘Dein Anteil‘… und ein Smiley! Hey, gibt es etwas, was du uns verschwiegen hast?“ Sie feixte.

 

Rei schaute betreten. „Ich… ich verstehe nicht ganz.“

 

Shinji nahm Asuka den Zettel aus der Hand. „Sieht ganz danach aus, als ob dir dein Nachbar eine kleine Freude machen wollte, Rei“, stimmte er ein.

 

„Ich habe ihm Zucker geliehen… Meint ihr… als Dankeschön?“, fragte sie. Man konnte sehen, dass ihr die plötzliche Aufmerksamkeit unangenehm war.

 

„Naja, wie man bei uns in Deutschland sagt: Liebe geht durch den Magen!“, sprach Asuka. „Aber ich muss zugeben, die sehen verdammt gut aus.“

 

„Wir können teilen, wenn ihr möchtet. Ich denke nicht, dass ich drei davon essen kann“, bot Rei an.

 

Kaum, dass sie diesen Satz ausgesprochen hatte, nahm Asuka den ersten Cupcake schon in die Hand und biss genüsslich hinein. „Ha, die sind gut! Sooo viel besser als der Salat, den Hikari mit mir teilen wollte! Da könntest du dir mal ein Beispiel dran nehmen, Shinji. Ich erwarte solch eine Hingabe auch von dir!“

 

Shinji nahm sich ebenfalls einen Cupcake hinaus und gab ihr die Box zurück. „Danke, Rei“, sagte er, ohne auf Asuka einzugehen. Er ging zurück zu seinem Platz. Der Gong vermeldete das Ende der Pause. Rei starrte noch ein wenig länger auf ihre Box, dann verschloss sie sie und steckte sie wieder in ihre Schultasche. Sie würde vielleicht später davon probieren. Wenn sie zuhause war.

 

„Apropos Nachbarn“, rief Shinji über den ansteigenden Lärm der wiederkehrenden Schüler Asuka zu. „Gehst du heute Abend auch auf diese Geburtstagsparty?“

 

„Ich denke schon“, antwortete Asuka undeutlich. Der halbe Cupcake war bereits verschwunden. „Kaji ist ja nicht da, was soll ich sonst an meinem freien Samstagabend tun? Und die Jungs wirkten ganz lustig.“

 

***

 

Janko hatte sein heruntergekommenes Viertel mittlerweile hinter sich gelassen. Laut „inoffiziellem“ Stadtplan, den er von Thaddäus erhalten hatte, bewegte er sich schnurstracks auf einen der Eingänge zur Geofront zu. Die Gebäude links und rechts der Straße wurden größer und moderner, je näher er dem Zentrum kam.

 

Er blickte sich um. Janko hatte schon viel vom sagenumwobenen Tokyo-3 gehört. Die Festungsstadt mit den versenkbaren Wolkenkratzern war also die letzte Verteidigungslinie zwischen den Engeln und der unterirdischen Geofront. Er spürte ein Kribbeln am ganzen Körper, wenn er daran dachte, dass sich genau unter seinen Füßen wohl einige der bestgehütetsten Geheimnisse der Menschheit befanden. „Genau hier wird sich also unser aller Schicksal erfüllen“, dachte er, als er den kleinen Kaffeestand ansteuerte, der unmittelbar vor dem abgetrennten Sicherheitsbereich lag, den er dahinter erkennen konnte. Im Schatten eines gigantischen Zaunes stand das fahrbare Café, nun abgekoppelt von dem Toyota, der ihn eigentlich zog. Mehrere Personen in khakifarbenen Uniformen standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Er bestellte einen großen Becher Kaffee to go, dann ging er weiter.

 

Als er einige Zeit später in einer ruhigen Seitenstraße angekommen war, entdeckte er tatsächlich einen kleinen Park. Er setzte sich auf eine der Bänke und öffnete seinen Rucksack. „Wird Zeit, dass ich mich mal auf den aktuellen Wissensstand bringe“, dachte er.

 

Nach einem kurzen Check, ob er auch wirklich allein war, schlug er die von Thaddäus erhaltene Dokumentenmappe auf. Er überblätterte die Berichte der letzten Kampfhandlungen. Das hatten sie von Deutschland aus sowieso mehr oder weniger live verfolgt. Er landete bei den Profilen der Children. Als er die Lebensläufe von Shinji und Asuka überflog, musste er schmunzeln. „Großes Kompliment an dich, Thaddäus. Ich kann verstehen, warum du uns entsprechend als Pilotenpaar eingeteilt hast“, dachte er bei sich. Ob seine zwei Kollegen die Dokumente auch zu sehen bekommen hatten? Er suchte weiter. Schlussendlich fand er den Teil, in dem es um Rei Ayanami ging und blätterte zu der Stelle, an der ihr Lebenslauf hätte liegen müssen.

 

Dort stand in dicker roter Stempelschrift:

 

####### SYSTEMSEITIG GELÖSCHT######

 

Janko runzelte die Stirn. Wenn Thaddäus und K2 nicht in der Lage gewesen waren, die klassifizierten Informationen zu beschaffen, dann waren sie wohl wirklich nicht mehr vorhanden. Oder sie wurden nie angelegt. Er holte seine E-Zigarette aus der Tasche und blies ein paar große weiße Wolken in die Luft, die wie frischer Morgennebel über dem kleinen Park in Bodennähe hängen blieben. „Irgendetwas ist da faul“, sagte er zu sich selbst.

 

***

 

3. Oktober 2015, Toyko-3, David und Bens Wohnung, kurz vor 19:00 Uhr

 

David giggelte wie ein Teenager, als er die zweite Flasche Korn in die Bowle schüttelte. „Das wird ein Feheeeest!“, rief er gut gelaunt. Während er sich nebenbei bereits ein Bier genehmigte und Guns N’ Roses‘ „Sweet Child O’Mine“ aus den Lautsprechern der kleinen Stereoanlage schepperte, kam Ben in die Küche. Er runzelte leicht die Stirn.

 

„Denk dran, ein Teil unserer Gäste ist minderjährig…“, gab er zu Bedenken.

 

„Keine Angst, die haben doch ihren Vormund dabei“, antwortete David.

 

Ben seufzte. „Du hast die Unterlagen, die uns Thaddäus mitgegeben hat, also noch nicht gelesen“, stellte er fest.

 

David schaute verwundert. „Hä, wieso?“

 

Es klingelte. Ben winkte ab und raunte ihm noch ein „Dann lass dich überraschen…“ zu, als er Richtung Tür ging. Als er sie öffnete, standen Misato, Shinji und Asuka im Eingang. Der Junge trug wie immer seine schwarze Hose und ein weißes Hemd, während Misato und Asuka beide ein schlichtes Kleid anhatten.

 

Nachdem sie David als Einzugs- und Geburtstagsgeschenk eine Flasche Sake überreicht hatten, was dieser fröhlich bejubelte, machten sie es sich im Wohnzimmer gemütlich. Ben war derjenige, der den formellen Teil schnellstmöglich beiseiteschaffen wollte.

 

„Wenn wir jetzt schon nebeneinander wohnen, sollten wir das blöde ‚Gesieze‘ lassen“, fand er und erhob seine Bowle. Den Teenagern hatte man Limonade eingeschenkt.

 

„Einverstanden!“, schallte es von Misato herüber.

 

„Richtig!“, stimmte David ein. „Wenn man schon solche Berühmtheiten als Nachbarn hat, dann muss man das ausnutzen!“

 

Shinji runzelte die Stirn. „Wieso ‚Berühmtheiten‘?“, fragte er.

 

Asuka knuffte ihn schmerzhaft in die Seite. „Na, warum wohl?! Die haben sicherlich schon von den Heldentaten des Second Child gehört!“, grinste sie.

 

Ben schmunzelte. „Von euch allen“, antwortete er. „Ihr seid alle drei kleine Berühmtheiten in dieser Stadt. Nur tut mir einen Gefallen, ja? Ich hab die letzten Stunden hier noch vor mich hin gewerkelt. Beim nächsten Kampf gegen einen Engel bitte nicht auf unsere Wohnung treten! Sonst war alles umsonst!“

 

Shinji grinste. „Ok, ich werde mir Mühe geben“, antwortete er.

 

Misato lief mit prüfendem Blick durch das Zimmer. Sie drehte sich zu Ben und David um. „Und, wie läuft das Zusammenwohnen? Habt ihr euch schon aneinander gewöhnt?“

 

Ben lachte verächtlich. „Ganz ehrlich? Der Typ macht mich wahnsinnig!“

 

David tätschelte ihm den Kopf. „Och komm, du gewöhnst dich schon noch an mich…“

 

Der Andere zog den Kopf weg und setzte einen flehenden Gesichtsausdruck auf. „Ich könnte es, wenn du wenigstens nach dem Duschen eine Hose anziehen würdest, wenn du das Bad verlässt!“

 

Es klingelte erneut an der Tür. „Was soll ich machen?! Ich bin halt Lufttrockner!“, rief David lachend und hechtete los.

 

***

 

Einige Straßenzüge weiter saß Rei Ayanami in ihrem Apartment vor ihrem Cupcake. Den ganzen Nachmittag hatte sie überlegt, ob sie ihn essen sollte. Bis jetzt hatte noch nie jemand für sie gebacken.

 

„Ob er vergiftet ist?“, fragte sie sich. Aber Ikari-Kun und Asuka hatten ihre auch gegessen und waren anschließend lebend aus der Schule spaziert. Sie betrachtete den Zuckerguss eingehend. Sie hatte Essen bis jetzt eigentlich immer als rein notwendige Maßnahme zur Energiezufuhr betrachtet. Zwar wusste Rei, dass Menschen dies auch als soziale Komponente nutzten, aber in der Regel aß sie allein und schnell. Nur, wenn es bei NERV wieder länger dauerte, ging sie in die Kantine. Aber auch dort blieb sie meistens für sich.

 

Der Cupcake war eine Art Geschenk, das verstand sie. Aber nachdem sie ihn verspeist hätte, wäre das Geschenk weg. Andererseits wäre es mit Sicherheit auch unhöflich, ihn umkommen zu lassen. Sie schloss die Augen und führte den kleinen Kuchen zum Mund. Als sie hineinbiss, flutete die Süße ihre Geschmacksnerven.

 

Ein kleiner, überraschter Ton entwich ihr.

 

„Das… ist gut!“

 

***

 

Janko war spät dran, das wusste er. Aber da er das erste Mal ohne Stadtplan aus dem Haus gegangen war, hatte er sich prompt verlaufen. Außerdem musste er noch einen Laden finden, in dem er den Whisky besorgen konnte. Er hatte beschlossen, heute beim Einschlafen etwas nachzuhelfen. Konnte ja nur besser werden.

 

Kurz nachdem er geklingelt hatte, öffnete ihm David gut gelaunt die Türe. Sein schalkhafter Blick verriet mehr als tausend Worte. „Bist spät dran, Kollege. Warst du noch beim Sightseeing?!“ Er winkte ihn rein. Nach der Gratulation brachte Janko seine Cupcakes und den Whisky in die Küche. Neidisch musste er feststellen, dass David nicht übertrieben hatte. Die Wohnung wirkte wie ein Palast im Vergleich zu seinem Apartment.

 

Als er das Wohnzimmer betrat, war er überrascht, neben Ben auch noch drei weitere Besucher vorzufinden. Er kannte sie bereits von den Bildern in seinem Dokumentenordner. „Ah, die Kontaktaufnahme hat hier wohl auch schon begonnen“, dachte er, als er sich den anderen Besuchern vorstellte.

 

Ben drückte ihm ein Bier in die Hand. „Du siehst scheiße aus“, stellte er trocken fest. „Jetlag?“

 

Janko nahm einen tiefen Schluck. Das japanische Bier war gar nicht so schlecht, wie er erwartet hatte. „Unter anderem, könnte man sagen…“, entgegnete er.

 

„Was’n los?“ Bens fragender Blick hielt ihn fest.

 

„Besser später“, antwortete Janko und nickte Richtung Misato.

 

Asuka war wenige Augenblicke zuvor in die Küche marschiert. „MOMENT MAL, DIE KENN ICH DOCH!“, rief sie. Das rothaarige Mädchen kam zurück ins Wohnzimmer und hielt einen der Cupcakes vor sich. „Die hab ich heute Morgen doch schon mal zu Gesicht bekommen“, sagte sie.

 

„Eher ‚ins Gesicht‘ würde ich sagen“, gluckste Shinji von der Couch aus. „Du hast ihn regelrecht inhaliert!“

 

„Baka!“, schallte es herüber. Dann wandte sie sich Janko zu. „DU bist der neue Nachbar von Rei!“ Auf Jankos überraschtes Gesicht hin fuhr sie fort: „Davon hab ich heute einen abbekommen. Die sind echt lecker!“

 

„Gut kombiniert“, gab Janko zu. „Neuigkeiten machen anscheinend schnell die Runde in dieser Stadt.“

 

„Wir mussten ihr zwar wieder alles aus der Nase ziehen, aber schlussendlich hat sie erzählt, dass du ihr welche dagelassen hast.“ Sie schmunzelte. „Du hast sie ziemlich verwirrt, die gute Rei…“ Sie hockte sich zu Shinji auf die Couch, nicht, ohne ihn unsanft etwas zur Seite zu drücken.

 

Janko schaute leicht betreten. „Das… war eigentlich gar nicht meine Absicht.“ „Verdammt, war das schon zu viel?“, dachte er verärgert. „Ich sag ja… irgendwas stimmt da nicht.“

 

„Sie wird das schon verkraften. Hey Shinji, jetzt gib mir mal den Controller!“ Asuka drehte sich zum Fernseher. David hatte mittlerweile seine Spielkonsole angeschlossen und fuhr gerade gegen Shinji ein Autorennen.

 

Misato stellte sich zu Ben und Janko. Sie hatte bereits das zweite Glas Bowle intus. Ihr leicht skeptischer Blick wechselte zwischen den beiden hin und her. Dann fixierte sie Ben. „Zufälle gibt’s… Ihr zieht hier neben uns ein und euer bester Kumpel, der ebenfalls frisch in Japan ist, wohnt ausgerechnet neben der anderen Pilotin eines Evangelions.“

 

Ben hielt ihrem Blick stand. „Ja, wirklich seltsam“, antwortete er ruhig. Sein Gesicht verriet nicht einen einzigen Gedanken.

Für den Bruchteil einer Sekunde spürte Janko die wachsende Spannung, die in der Luft lag. Die Dame war clever, musste er sich eingestehen. „Naja, es wird schon einen Grund haben, dass sie diesen Posten bei NERV hat. Ihr gutes Aussehen allein wird’s wohl kaum sein.“

 

„Ach egal!“, kicherte Misato plötzlich und der Knoten platzte. „Ich bin ja gerade nicht im Dienst!“ Sie holte sich noch eine Tasse und stellte sich wieder zu ihnen. „Was macht ihr denn eigentlich beruflich?“

 

„Wir sind Piloten!“, schallte es wie aus der Pistole geschossen vom Sofa herüber. „Unser Arbeitgeber, eine Airline, hat uns nach Tokyo-3 versetzt. Wir warten quasi nur auf unsere Maschinen…“

 

„Ach echt? Wie heißt denn eure Airline? Ich hab Piloten in ihren Uniformen ja immer schon gemocht…“, fragte Misato nach. Sie ließ die Kuppe ihres Zeigefingers auf dem Tassenrand kreisen.

 

„Tu doch nicht so unschuldig…“, dachte Janko. Vielleicht war sich heute zu besaufen doch keine so gute Idee.

 

„Ähm…“ David drehte den Kopf zu ihnen und sah sie hilflos an. „Helft mir“, formten seine Lippen wortlos.

 

„Animus-Airlines“, sprang Ben ein. „Du magst noch nicht von uns gehört haben. Aber wir sind ein kleines aufstrebendes Unternehmen mit einer großen Vision.“ Ein nicht näher definierbares Lächeln umspielte seine Lippen.

 

Janko begann, sich zunehmend unwohl zu fühlen. Oder sich hemmungslos zu besaufen war vielleicht doch das einzig Richtige!

 

***

 

Zu vorgerückter Stunde stand Janko auf dem Balkon und schaute in den Nachthimmel. Die Hintergrundbeleuchtung der Stadt ließ trotz der klaren Nacht nur wenige Sterne sichtbar werden. Er blies weiße Wolken in die Luft und nippte an seinem Whisky. Er hatte aufgehört, zu zählen.

 

„Das ist nicht richtig“, dachte er. „Wir stehen trotz allem auf einer Seite. Wir sollten uns nicht anlügen müssen.“

 

Er hörte Schritte hinter sich. Misato stieg leicht wankend ebenfalls auf den Balkon.

 

„Puh, so ein bisschen frische Luft tut echt mal gut“, sagte sie und stellte sich zu ihm an die Brüstung. Janko musterte sie aus dem Augenwinkel. Er konnte nicht umhin, ihr eine gewisse Trinkfestigkeit zu attestieren. Ihre Schlagzahl war weit höher als seine.

 

Drinnen hockten Shinji und David immer noch lachend vor der Spielkonsole und droschen digital bei irgendeinem Prügelspiel aufeinander ein. Ben und Asuka hatten in der Küche Platz genommen und waren anscheinend in ein Gespräch vertieft. Es war schon seltsam, wie K2s Pläne quasi von selbst aufgingen. Abgesehen von dem seltsamen Moment vom Anfang der Party war der Abend doch ziemlich lustig verlaufen.

 

„Darf ich dich was fragen, Misato?“, eröffnete Janko eine neue Runde in dem Spiel „Wie umschiffen wir die Wahrheit?“.

 

„Klar, schieß los!“ Die Frau mit den lila Haaren leerte ihre Bierdose wieder in einem Zug. Das hatte sie heute Abend schon öfter getan. Ein kleiner Hickser entwich ihr und sie hielt sich die Hand vor den Mund. „Upps, sorry…“

 

„Du arbeitest also auch für diese Organisation…. NERV…“, begann er. War das wirklich klug? Aber die Frage lag ihm schon den ganzen Abend auf der Zunge. Sie waren so jung! „Warum setzt ihr Teenager für diese Aufgabe ein? Ich meine, wir haben uns gefragt: Macht es nicht viel mehr Sinn voll ausgebildete Soldaten als Piloten zu nehmen? Leute, die Ahnung vom Töten haben, meine ich.“

 

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Ob als Annäherungsversuch oder nur, um nicht umzufallen, konnte er nicht eindeutig sagen.

 

„Das ist witzig, das frag ich mich auch manchmal“, entgegnete sie. Sie blickte in die Ferne. „Ich weiß, dass das von außen wie Wahnsinn aussieht. Und ich wünschte wirklich, dass diese Kinder etwas Anderes machen könnten. Shinji, Asuka, Rei… von ganzem Herzen. Aber es ist nunmal so, dass nur Teenager die Evangelions steuern können. Die Entwicklungsabteilung versichert mir das jedes Mal. Und es geht hier um die Rettung der Welt vor den Engeln. Da haben wir leider gar keine andere Wahl. Aber schön, dass ihr euch Gedanken um sie macht. Das find ich gut. Sie werden zu oft nur als Werkzeuge gesehen.“

 

Janko lächelte gequält ob des Komplimentes und trank den Rest seines Whiskys in einem Zug aus. Er verzog das Gesicht und spürte langsam, wie ihm der Alkohol zu Kopf stieg. Er stand einfach da und starrte in den Nachthimmel. Er stand da und ihm wurde bewusst, dass er hier gerade der lebende Beweis dafür war, dass ihre Aussage eine Lüge war.

 

***

 

Das Klackern der Controller war das einzige Geräusch, das den Raum erfüllte, als David verzweifelt versuchte, die digitale Schlagserie seines Gegenübers abzuwehren. Sein kleines Polygon-Männchen kippte jedoch nach kurzer Zeit nach hinten und verpuffte in einer Rauchwolke. „GAME OVER!!!“ erschien auf dem Bildschirm.

 

„Herrgottnochmal!“, rief er, als er den Controller weglegte und zu seinem Bier griff. „Du machst mich echt fertig, Shinji!“

 

„Training ist alles!“, antwortete der schwarzhaarige Junge zufrieden und angelte nach einer Chipstüte.

 

„Sag mal, dein Verhältnis zu Asuka ist eher… schwierig, oder?“, setzte David an. Er hatte die beiden Teenager die letzten Stunden über beobachtet.

 

„Naja… ich… weiß nicht recht.“ Shinji blickte zu Boden. „Sie ist so direkt! Manchmal verhält sie sich echt nett. Und dann, von einer Sekunde auf die andere, ist es, als würde plötzlich ein Vulkan ausbrechen.“

 

„Ja, die Gute scheint voller Energie zu sein“, stimmte David zu.

 

„Dann habe ich das Gefühl, sie hat was gegen mich. Dabei tu ich doch gar nichts!“ Er blickte zu dem älteren Gegenüber auf. „Glaubst du, du hast nen Tipp für mich? Ich meine, so im Umgang mit ihr.“

 

David kratzte sich am Kopf. „Puh, schwierige Frage, da ich sie nicht gut kenne. Aber manchmal hilft es vielleicht, zuerst auf sich selbst zu achten. Was andere Leute über einen denken, ändert sich sowieso ständig, weißt du? Ich hab mir irgendwann angewöhnt, weniger auf die Meinung anderer zu geben. Ein dickes Fell kriegen. Das kann durchaus helfen. Mach doch einfach mal dein Ding, ohne dich um ihre Reaktion zu sorgen. Momentan kassierst du ja eh schon Dresche.“ Er lächelte.

 

Shinji blickte nachdenklich ins Leere. Dann, ganz langsam, begann er zu nicken. „Ja, vielleicht ist das eine Idee.“

 

***

 

Ben und Asuka saßen am Küchentisch. Ihm war der Blick des Mädchens nicht entgangen, das unentwegt auf sein Bier starrte.

„Was ist los?“, fragte er. „Willst du auch eins?“

 

Überrascht von der Frage, zuckte Asuka zurück. „Meinst du, das geht?“

 

„Naja, ich kenn die japanischen Gesetze nicht, aber unter uns Deutschen: Du bist fast 15, in Deutschland darfst du Bier ab 16 trinken… Ich sag‘ mal ein Jahr ist kein Jahr.“ Er zwinkerte. „Aber sag’s nicht David, sonst wirft er mir noch Wankelmütigkeit vor.“ Asuka stand auf und ging zum Kühlschrank.  „Nur lass‘ besser die Finger von der Bowle. Bei dem was der Kerl da reingepackt hat, wird das sonst ein kurzer Abend…“

 

Sie öffnete das Bier und schaute sich verstohlen um. Weder Misato noch Shinji waren in der Nähe. Anschließend setzte sich Asuka mit ihrer Flasche zurück an den Küchentisch.

 

„Und, wie lebt es sich so mit Shinji unter einem Dach?“, fragte Ben und beobachtete das Mädchen, wie es langsam den ersten Schluck nahm.

 

„Ach, der Trottel geht mir auf die Nerven! Nie sagt er, was er will. Immer diese übertriebene Zurückhaltung!“ Sie machte einen Schmollmund. „Ich komm mit dieser japanischen Art einfach nicht klar!“

 

Ben lachte leise. „Naja, vielleicht überforderst du ihn auch nur ein wenig. Du bist auch für europäische Verhältnisse eher forsch.“

 

„Echt? Kommt mir gar nicht so vor…“ Asuka lehnte sich zurück. „Wie meinst du das genau?“

 

Ben beugte sich nach vorn und verschränkte die Hände. „Ehrlich gesagt, du kannst ne kleine Pestbeule sein!“

 

Ihr überraschtes Gesicht sprach Bände.

 

„Aber ich mag dich.“ Er stieß mit ihr an. „Nur so’n bisschen weniger ‚Holzhammer‘ würde manchmal vielleicht helfen.“

Asuka streckte ihm die Zunge raus.

 

***

 

Mitternacht war längst vorüber, als die drei Neuankömmlinge die Gäste zur Tür brachten und sie verabschiedeten. Shinji musste Misato stützen, als sie aus der Wohnung traten.

 

„Vielen Dank für den schönen Abend!“, riefen Asuka und Shinji und schoben Misato in Richtung ihrer eigenen Eingangstür. Die Frau winkte nur.

 

Als sie für sich allein waren, ließ sich Janko auf das Sofa fallen. Er stieß einen langen Seufzer aus und goss sich noch einmal nach. Die Whiskyflasche hatte er also doch leer gekriegt.

 

„Na, das ist ja alles in allem ganz gut verlaufen“, sagte Ben und warf sich in den Sessel, der neben der Couch stand. „Aber bei Misato müssen wir echt aufpassen. Sie hat’s faustdick hinter den Ohren…“

 

„Sie hat’s wohl eher faustdick hinter der Leber“, warf David ein und grinste. Er lehnte schwankend über der Rückenlehne der Couch. „Bin mir nicht sicher, ob sie morgen früh noch viel von dem Abend weiß.“

 

Im gleichen Augenblick vibrierten plötzlich ihre drei Handys. Janko zückte seins und fand eine Nachricht vor. Ohne Absender. Bei seinen Kollegen zeigte sich das gleiche Bild.

 

„06.10.2015, 14:00 UHR. GEHT HOCH HINAUS!“ war zu lesen.

 

„Dann geht’s wohl bald los“, sagte Ben. Janko glaubte, ein ganz leichtes Zittern in seiner Stimme erkennen zu können.

 

Sticks and Stones

4. Oktober 2015, Toyko-3, David und Bens Wohnung
 

Janko schlug langsam auf der Couch im Wohnzimmer die Augen auf. Ein gequältes Stöhnen entwich ihm. Er setzte sich gerade hin und musterte das Chaos um ihn herum. Die leere Whiskyflasche lag auf dem Fußboden, Bierdosen und leere Knabberkram-Tüten waren im ganzen Raum verteilt. Er schaute auf sein Handy. Es war bereits Mittag. In den anderen Räumen regte sich allmählich auch wieder das Leben.
 

Janko ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Das braune Lebenselixier half sowohl ihm als auch seinen zwei verkaterten Mitstreitern, wieder auf die Beine zu kommen. Sie hatten die kryptische Nachricht in der Nacht noch einige Zeit diskutiert, bevor er, zu betrunken für die Heimfahrt, auf der Couch in den Schlaf gesunken war.
 

„Ich schätze mal, dass das unser letztes ruhiges Wochenende war“, sagte David und nahm sich den übrig gebliebenen Cupcake. „Schade eigentlich, so ein bisschen mehr bezahlter Urlaub wäre schon ganz nett.“
 

Ben putzte seine Brille. Er sah die beiden anderen Piloten an. „Also machen wir’s so. Wir treffen uns am Dienstag um 13:00 Uhr vor dem höchsten Wolkenkratzer.“ Die anderen nickten. „Mehr Infos wären aber echt gut gewesen…“
 

Janko schenkte noch einmal Kaffee nach. „Vermutlich ist das Risiko zu groß. Manchmal hab ich das Gefühl, beobachtet zu werden…“, gab er zu.
 

„Ja, mir geht’s genauso“, erwiderte David. „Würde mich auch nicht wundern. Ich meine, von diesen Kids hängt bis jetzt offiziell die Rettung der Welt ab. Wenn da kein Sicherheitsdienst ein Auge draufhat, wäre das mehr als leichtsinnig!“
 

„Belästigt worden bin ich bis jetzt aber noch nicht“, warf Ben ein. „Vielleicht hat K2 auch da Einfluss.“
 

Janko schüttelte den Kopf. „Würde mich schwer wundern. NERV-04 hat hier nichts zu melden. Aber ich gebe zu: Gesehen hab ich auch noch keinen Agenten oder ähnliches. Also entweder sind sie sehr sehr gut…“
 

„… oder sehr sehr fahrlässig“, beendete David den Satz für ihn.

 

***
 

Es war schon später Nachmittag, als Janko sich tatsächlich endlich fit genug fühlte, den Heimweg anzutreten. Er verließ die Wohnung von Ben und David und machte sich auf den Weg Richtung Ringbahn-Haltestelle. Als er den Bahnsteig betrat, fielen ihm die vielen seltsamen Zeichen auf, die hinter den Zuganzeigen aufleuchteten. Da er jedoch immer noch an den Kanjis verzweifelte, gab er es auf, weiter nachzuforschen. Er wollte einfach nur wieder ins Bett. Pünktlich fuhr die Ringbahn auch heute ein, wie er zufrieden feststellte.
 

Janko zwängte sich mit den vielen anderen Leuten in das Abteil. Sogar an einem Sonntag schien der Strom an Menschen genau so mächtig zu sein wie unter der Woche. Er bekam keinen Sitzplatz mehr, sodass er im Türbereich stehen blieb. Die frische Luft an den einzelnen Haltestellen, die hereinströmen würde, täte seinem gescholtenen Magen sicher gut.
 

Die Sonne ging am Horizont bereits unter und tauchte die Stadt in ein rötliches, friedliches Licht. Er schaute sich im Abteil um. Die Menschen wirkten fröhlich und ruhig. Schwer vorstellbar, dass auch sie in den letzten Wochen all die Kämpfe gegen die Engel aus nächster Nähe mitbekommen hatten. Es war doch mittlerweile klar, dass Tokyo-3 das Epizentrum der Gefechte werden würde. Warum blieben sie also alle hier?
 

„Vielleicht aus demselben Grund, aus dem ich hier bin“, dachte er bei sich. „Weil sie eine Aufgabe zu erfüllen haben. Eine Aufgabe, die nur hier durchführbar ist.“ Vielleicht waren es ja auch hauptsächlich NERV-Mitarbeiter, die hier wohnten, schliefen, zur Arbeit gingen. Irgendwie bewunderte er diese Japaner für ihre Unerschütterlichkeit. Eine Durchsage ließ ihn aufhorchen.
 

„Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund einer Gleisreparatur endet dieser Zug bereits an der nächsten Haltestelle. Sie werden gebeten, auszusteigen. Bitte vergewissern Sie sich, dass Sie keine persönlichen Gegenstände im Zug zurücklassen. Vielen Dank und noch einen schönen Tag.“
 

„Ah, das waren also die Ankündigungen auf den Schildern“, dachte Janko. „Das ist noch mindestens drei Stationen zu früh! Naja, vielleicht tut mir ein kleiner Spaziergang gut…“
 

Wie erwartet hielt der Zug an der nächsten Station. Janko schwamm mit dem Strom der anderen Fahrgäste und hielt sich ein wenig am Rand des Bahnsteiges auf, um einen besseren Überblick zu bekommen und sich zu orientieren. Als sein Blick über die Menschenmenge schweifte, glaubte er für einen kurzen Moment, blaue Haare zu sehen. Er stutzte.
 

„War das Rei?“, fragte er sich und setzte sich in Bewegung. Hatte sie auch mit dem Zug nach Hause fahren wollen? Er kämpfte sich durch die Menschenmassen und erreichte den Ausgang des kleinen Bahnhofes. Ihm kam es vor, als sehe er einen Teenager in Schuluniform um die nächste Straßenecke biegen, die in Richtung seines Apartments führte. Janko wartete an der Fußgängerampel, bis er loslaufen durfte. Als sie grün wurde, beschleunigte er seine Schritte.
 

Ganz langsam erkannte er sein Viertel wieder. Die Häuserwände wiesen mehr Graffiti auf, der Zustand der vor den Wohnblöcken geparkten Autos wurde auch immer schlechter. Er war auf dem richtigen Weg. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen. Die Schatten in den Häuserschluchten wurden länger, bald würden die Straßenlaternen angehen. Das Wetter wurde passenderweise zusehends schlechter. Leichter Wind kam auf und die ersten Tropfen der großen grauen Wolken, die am Himmel festzuhängen schienen, fielen auf ihn herab. Als er um die nächste Straßenecke bog, erkannte er sie. Er hatte Recht gehabt. Schätzungsweise zweihundert Meter vor ihm lief Rei. Als sie die Straßenseite wechselte, erkannte er eine vierköpfige Gruppe von jungen Männern, die sich in einen Hauseingang drängten. Als das Mädchen an ihnen vorbeiging, lösten sie sich von der Haustür und gingen ihr nach.
 

„Ich hab ein ganz mieses Gefühl dabei…“, dachte er und ging nochmals ein wenig schneller. Er musterte die Kerle. Sie trugen alte, weite Hosen und allesamt schwarze Oberbekleidung. Allem Anschein nach hatten sie die Klamotten nicht unbedingt frisch aufgetragen. Der größte von ihnen, ein Mann mit langen, schwarzen, nach hinten gegelten Haaren, stellte sich Rei in den Weg. Die anderen flankierten sie.
 

„Hey Kleine, was hast’n da in deiner Tasche? Ist da was Spannendes drin?!“, fragte der Anführer grinsend. Janko blieb gut dreißig Meter von ihnen entfernt stehen. Zu seiner Rechten befand sich eine Baustelle, der klapprige Bauzaun war an mehreren Stellen verbogen und wippte leicht im aufziehenden Wind. Er zog sich die gesamte Straßenseite entlang. Unauffällig ging Janko zu einem kleinen Berg von Schutt, der hier aufgeschüttet worden war. Die Typen schienen ihn nicht zu bemerken. Er konnte nicht hören, ob Rei antwortete. Aber den zweiten Kerl verstand er. Zwei auffällige, protzige Ketten baumelten an dessen Hals.
 

„Jetzt komm‘ schon, zeig ma‘ her!“, rief der Mann. Er griff nach Reis schwarzer Schultasche und zog kräftig daran. Das Mädchen schien Widerstand zu leisten, aber schlussendlich rutschte ihr die Tasche aus den Händen. Sie stolperte und fiel rücklings hin. Janko konnte sehen, wie sie auf dem Boden aufschlug und sich reflexhaft den rechten Arm hielt.
 

In diesem Moment, als Rei auf dem Boden landete, setzte etwas in ihm aus. Verschwommen hörte er das Gelächter der Männer. Sein Autopilot übernahm ab hier. Das erste Mal seit langer Zeit. Das erste Mal seit Sarajevo. Jankos Herzschlag beschleunigte sich, als die Flut von Adrenalin wie eine Woge durch seinen Körper raste. Als sich sein Gesichtsfeld verengte, spürte er eine Gänsehaut. Es war, als konzentriere sein Körper alle verfügbaren Energiereserven im Zentralbereich. Er konnte plötzlich leichter atmen, die dröhnenden Kopfschmerzen waren mit einem Mal verschwunden.
 

Janko griff sich einen am Rand des Schuttberges liegenden Pflasterstein und rannte los. Noch zwanzig Meter.
 

„Sag ma‘, wie geht’n das Ding auf?!“, fragte der Kerl, der Rei die Tasche entrissen hatte. Auch auf die Entfernung konnte Janko das alkoholgeschwängerte Lallen hören. Noch zehn Meter.
 

Einer der anderen Männer, die sich seitlich von Rei positioniert hatten, drehte sich zu ihm um. Noch fünf Meter.
 

Und dann war er da. In vollem Lauf rammte er dem ihm am nächsten stehenden Mann den Pflasterstein ins Gesicht. Er konnte das Knacken der Knochen hören, dicht gefolgt von einem erbärmlichen Schmerzensschrei. Wie ein abgesägter Baum fiel sein erstes Opfer zu Boden. Blut spritzte durch die Luft und sprenkelte den Asphalt mit kleinen roten Punkten. Janko kam zum Stehen und zielte. Er warf den Stein auf den Typen mit der Tasche. Dieser riss überrascht die Arme hoch und ließ seine Beute fallen. Aus dem Augenwinkel erkannte er, wie Rei sich aufrappelte.
 

„REI, LAUF!“, schrie er. Sie schnappte nach ihrer Schultasche und war binnen Sekunden verschwunden. Janko packte den Kopf des Mannes, der auf der anderen Seite des Mädchens gestanden hatte. Mit einer gut getimten Drehung seines Oberkörpers gewann er genug Rotation, um den Kopf des Anderen in die Seitenscheibe eines geparkten Autos zu drücken. Das Glas zersplitterte in einer Fontäne aus kleinen Kristallen, direkt im Anschluss heulte die Alarmanlage los. Mit den Händen vor dem Gesicht ging der Mann schreiend in die Knie. Janko setzte mit einem Tritt nach und sein Gegenüber kippte nach hinten.
 

Dann jedoch war das Überraschungsmoment vorbei. Janko wollte sich gerade zu den übrigen zwei Männern umdrehen, als ihn etwas Hartes an der linken Schläfe traf. Er wurde durch die Wucht des Treffers herumgeschleudert und landete bäuchlings im Dreck. Blut schoss direkt in sein Auge, er konnte auf dieser Seite nichts mehr sehen. Schlieren bildeten sich vor seinem Gesichtsfeld, als sich die rote Flüssigkeit mit den Regentropfen vermischte, die immer stärker vom Himmel prasselten. Als der Kerl, der ihn erwischt hatte, näherkam, zog Janko sein linkes Bein an und trat ihm mit voller Kraft gegen die Kniescheibe. Ein wütendes Knurren signalisierte ihm, dass er getroffen hatte. Dennoch prasselten weitere Schläge des gezogenen Teleskopschlagstockes sowie einige Tritte auf seinem Rücken ein. Janko stöhnte schmerzerfüllt, dann schaffte er es irgendwie, sich aufzurappeln. Er riss die Arme hoch und wehrte im Rückwärtsgang die ersten Schläge des vierten Mannes ab. In der ersten kurzen Pause nach der Schlagserie schubste Janko seinen Gegner in den klapprigen Bauzaun. Er erkannte die Lücke, die sich ihm nun bot. Er sprang über den Typen mit den Glassplittern im Gesicht hinweg und rannte davon. Der Anführer mit dem Teleskopschlagstock brüllte ihm wütend etwas hinterher.
 

Erst nachdem er mehrere Straßenecken zwischen sich und diese Gang gebracht hatte, kam er atemlos zum Stehen und lehnte sich mit dem Rücken an eine schäbige Hauswand. „Scheiße, das war knapp!“, dachte er und befühlte seine linke Augenbraue. Noch immer hielt der Blutstrom an, er schien sich einen ziemlichen Cut eingefangen zu haben. Sein anderer Arm umklammerte seinen Brustkorb. Es fühlte sich an, als seien auch zwei Rippen gebrochen. Der Rücken brannte ebenfalls wie Feuer. Er zog ein Taschentuch hervor und presste es auf die Verletzung im Gesicht. Dann begann er, nach Hause zu humpeln. Rei war nirgends zu sehen.

 

***
 

Wenige Straßenblocks entfernt war das blauhaarige Mädchen vor ihrer Wohnungstür angekommen. Sie war den Rest der Strecke gerannt und entsprechend außer Atem. Rei schloss auf und trat ein. Als die Tür hinter ihr zufiel, lehnte sie sich an den Türrahmen. Sie umklammerte noch immer ihre schwarze Schultasche und atmete einige Male tief durch, bis sich ihr Kreislauf wieder beruhigt hatte. Sie war völlig verwirrt.
 

„Warum hat er das getan?“, fragte sie sich. „Wo kam er her?“ Es war alles so schnell gegangen. Diese vier Männer hatten sie umstellt und angefangen, auf sie einzureden. Dann riss der erste an ihrer Tasche und sie fiel. Und dann war Janko dagewesen. Er hatte geschrien, dass sie laufen solle. Seine Stimme hatte so anders geklungen. „War er… in Sorge um mich?“ Und wo war er jetzt? War er verletzt? Sie blieb am Türrahmen stehen und entschied sich, zu warten und zu lauschen.

 

***
 

Janko humpelte mittlerweile fluchend durch das schummrige Treppenhaus. Er hatte wieder genug Luft zum Atmen gefunden, aber sein Rücken ließ keine schnellen Bewegungen zu. Er drückte das zwischenzeitlich dritte Taschentuch auf die Augenbraue, aber es hörte einfach nicht auf zu bluten. Zum Glück hatte er seine Erste-Hilfe-Ausrüstung in der Wohnung. Auf einen Besuch in der Notaufnahme konnte er an diesem Sonntag verzichten.
 

Als er den vierten Stock erreicht hatte, machte er sich auf zu seinem Apartment. In dem Moment, als er Reis Wohnungstür passierte, trat das Mädchen auf den Flur. Sie schien auf ihn gewartet zu haben. Sie stand einfach da vor ihrer Tür und sah ihn mit großen Augen an. Offensichtlich wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
 

„Hallo Rei… Geht’s… geht’s dir gut?“, fragte er und musterte sie. Sie schien unverletzt.
 

„Ja. Es ist nichts weiter passiert“, antwortete sie leise. Sie hielt noch immer ihre Schultasche mit der linken Hand. Ihren rechten Arm führte sie an ihrem Rücken vorbei und ihre rechte Hand umklammerte ihre linke Armbeuge. Unruhig hatte sie einen Fuß ein wenig auf die Zehenspitzen gestellt. Ihr Gesicht blieb jedoch ausdruckslos wie immer.
 

„Das ist gut“, sagte Janko. Er versuchte, ein kleines Lächeln aufzusetzen. „Wenn du mich entschuldigst, ich laufe immer noch ein wenig aus… Ich versuch‘ mal, mich zusammenzuflicken.“ Janko drehte sich zu seinem Apartment und schloss die Tür auf. Als er eintrat, merkte er, dass sie ihm wortlos folgte. „Willst… willst du mit reinkommen?“
 

Rei nickte stumm.
 

Janko betrat seine Wohnung und marschierte zu seinem Koffer, der immer noch nicht ausgepackt war. Nach wenigen Sekunden hatte er das kleine rote Erste-Hilfe-Päckchen gefunden. Mit einer Hand (die andere drückte immer noch das Taschentuch auf die Wunde) öffnete er das Bündel und zog einen kleinen, runden Handspiegel, Desinfektionsmittel, Verbandszeug sowie eine Ampulle mit Wundkleber hervor. Er setzte sich mit seinen Utensilien auf das Bett. Nach einem letzten Tupfer warf er das blutige Taschentuch in den bereitstehenden Mülleimer. Rei betrachtete ihn. Sie sah, wie er ungeschickt versuchte, den Spiegel zu halten, den ersten Lappen mit Desinfektionsmittel zu beträufeln und anschließend die Wunde zu bestreichen. Sie setze sich zu seiner Linken und nahm ihm wortlos den Spiegel ab. Dann ergriff sie den Lappen und machte sich daran, den Cut zu desinfizieren.
 

„Nein, du brauchst nicht…“, setzte Janko an.
 

„Doch“, antwortete das Mädchen mit fester Stimme. „Du hast eine Hand zu wenig.“
 

Mit einem Seufzen ließ Janko sie gewähren. Geschickt strich sie das Desinfektionsmittel auf die Verletzung und begann, die kleine Flasche mit dem Wundkleber aufzudrehen. Janko betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Ihre Unsicherheit schien verflogen. Mit konzentriertem Gesichtsausdruck begutachtete sie seine Augenbraue.
 

„Du scheinst ruhiger zu werden, sobald du etwas zu tun hast“, dachte Janko. „Geht mir genauso.“
 

Rei träufelte den Kleber auf die Verletzung. Vorsichtig drückte sie die Wunde ein wenig zusammen. Ein kleines Schnauben entwich Janko.
 

„Es ist gleich vorbei“, sagte Rei leise. Nach einigen Sekunden ließ sie los. Ihre Blicke trafen sich. Zum ersten Mal konnte er ihre ungewöhnlichen, roten Augen aus der unmittelbaren Nähe betrachten. Für einen kurzen Augenblick kam es Ihm vor, als könne er eine tiefe, seit langem anhaltende Traurigkeit in ihrem Blick erkennen. Sie wandte sich als Erste ab. Der Moment ging vorüber. Rei schaute auf das große Pflaster, das zwischen ihnen lag und griff nach ihrer Schultasche. Das Mädchen legte einige Gegenstände aus der Tasche auf den Fußboden, holte anschließend eine Schere heraus und passte das Pflaster der Wunde entsprechend an. Anschließend klebte sie es auf. Einige weitere Sekunden der Stille vergingen, bevor sie aufstehen wollte.
 

„Warte“, sagte Janko und griff nach ihrem Arm. Gerade war ihm die große Schürfwunde an ihrem rechten Ellenbogen aufgefallen. Rei musste sie sich bei dem Sturz zugezogen haben. Er blickte zuerst darauf, dann schaute er sie wieder an. „Darum sollten wir uns aber auch noch kümmern.“
 

Rei blickte teilnahmslos auf ihren Arm. Als sie den Mund aufmachen wollte, kam ihr Janko zuvor. „Keine Widerrede. Eine Hand wäscht die andere.“ Sie setzte sich wieder. Er drehte ihren Arm ein wenig, damit er die Stelle besser erreichen konnte. Ihm fiel auf, wie kalt sich ihre Haut anfühlte. Nachdem er die Stelle großflächig gereinigt und desinfiziert hatte, klebte er den restlichen Teil des Pflasters darauf und strich es vorsichtig glatt. Falls es wehtat, zeigte sie keinerlei Regung.
 

„Kannst du mir mal verraten, wo der NERV-Sicherheitsdienst eben war? Haben die sonntags alle frei, oder was?!“, fragte er ärgerlich. Ihre Augen weiteten sich ein wenig vor Überraschung. Janko setzte ein freundlicheres Gesicht auf. Das hatte härter geklungen, als es eigentlich sollte. „Na komm schon, ihr seid recht bekannt in dieser Stadt. Ich weiß, dass du die Pilotin eines Evangelion bist.“
 

Sie nickte leicht, so als verstünde sie. Dann erhob sie sich und nahm ihre Tasche. „Es gibt keine durchgängige Überwachung. Jedenfalls… nicht für mich“, antwortete sie. Rei ignorierte seinen fragenden Gesichtsausdruck und machte sich auf dem Weg zur Tür.
 

Erst jetzt fiel Janko auf, dass er vom Regen völlig durchnässt war. Als er sah, dass das Mädchen auf dem Weg nach draußen war, zog er sein T-Shirt aus und ging zu seinem Koffer. An der Tür drehte sich Rei plötzlich noch einmal um. Eine Frage erstarb auf ihren Lippen. Ihre Augen richteten sich überrascht auf seine Schulter, dann schaute sie auf seine Hüfte.
 

Janko bemerkte ihren Blick. „Wie du siehst, alles halb so schlimm. Ich hab schon einige andere Andenken gesammelt. Da kommt’s auf eine Narbe mehr oder weniger auch nicht an.“ Er versuchte es mit einem beruhigenden Lächeln.
 

Rei wandte den Blick ab und öffnete die Tür des Apartments. Sie blickte sich nicht mehr um. „Danke“, sagte sie kaum hörbar, als sich die Tür hinter ihr schloss. Mit dem frischen Oberteil in der Hand schaute Janko ihr nach, bis das Schloss mit einem leisen „Klack“ einrastete.

 

***
 

Der Vollmond war aufgegangen und warf mittlerweile sein blasses Licht in die Straßenschluchten von Tokyo-3. Der Regen hatte die Schwüle der vergangenen Tage aus der Luft gewaschen und die Wolken hatten einer sternenklaren Nacht Platz gemacht. Janko hatte sich einen Stuhl auf den kleinen Balkon gestellt und dort Platz genommen. Seine Füße hatte er auf dem Geländer abgelegt. Irgendwie versuchte er, mit dem schmerzenden Rücken in eine angenehme Haltung zu kommen. Das Nikotin flutete seinen Körper, als er den beruhigenden Dampf in die Abendluft blies.
 

Er dachte über die zurückliegenden Stunden nach. Hatte er zu krass reagiert? Immerhin wollten sie nur ihre Tasche rauben, sie hatten nicht versucht, sie zu vergewaltigen oder gar zu töten. Das war eine Gruppe fertiger Alkoholiker gewesen, kein Team von trainierten Attentätern. Aber als er Rei hatte stürzen sehen, hatte etwas in ihm die Kontrolle übernommen, was seit Jahren nicht zum Vorschein gekommen war. Nicht einmal, wenn er im EVA saß.
 

Und was hatte sie gemeint, als sie sagte, dass es für sie keine durchgängige Überwachung gäbe? War sie nicht im Moment eine von drei Piloten, an denen das Schicksal der gesamten Menschheit hing? Warum ließ man sie in diesem abbruchreifen Hochhaus wohnen, umgeben von Perspektivlosigkeit, Frustration und Alkoholmissbrauch? Waren die im NERV-Hauptquartier eigentlich wahnsinnig?
 

Was hatte ihn dazu gebracht, seine schlechteste und brutalste Seite rauszulassen? Rei war zwar gestürzt, aber wirklich gewalttätig war es erst nach seiner Intervention geworden. Er war im Nachhinein froh, dass Thaddäus und Phil es abgelehnt hatten, ihnen ihre Pistolen mitzugeben. Er hätte sie definitiv heute eingesetzt. Und dann noch wesentlich mehr Ärger am Hals gehabt.
 

Er pustete eine weitere Wolke in die Nachtluft und rieb sich das Gesicht. Er zuckte leicht zurück und grunzte, als er versehentlich auf die Verletzung drückte. Er würde noch viel nachdenken müssen.

 

***
 

Ein Apartment weiter hockte Rei Ayanami auf ihrem Bett und lauschte. Der Abend war schon weit fortgeschritten, aber trotzdem wollte sich keine Müdigkeit einstellen. Immer und immer wieder hatte sie das große Pflaster auf ihrem Ellenbogen betrachtet. Sie war in ihrem Leben schon sehr häufig verarztet worden, das letzte Mal nach dem missglückten Aktivierungsversuch vor einigen Monaten. Aber da waren es immer ausdruckslose Gesichter gewesen, versteckt hinter OP-Masken. Im Gesicht ihres Nachbarn jedoch hatte sich ernste Sorge ausgebreitet, als er ihren Arm gesehen hatte.
 

„Warum ist ihm das wichtig gewesen?“, grübelte sie. Und warum hatte sie ihm geholfen? Sie verstand nicht, was sie dazu verleitet hatte. Es war einfach so über sie gekommen. Rei hatte gesehen, wie ungeschickt er sich angestellt hatte. Aber warum interessierte es sie? Warum scherte es sie, was mit ihm war?
 

„Weil er sich auch um mich gekümmert hat“, sagte eine kleine Stimme in ihr. „Weil er bereit gewesen war, verletzt zu werden. Damit ich weglaufen konnte.“
 

„Aber warum tut er das?“, fragte eine andere Stimme skeptisch.
 

Seine Hände hatten sich warm angefühlt, als er ihren Ellenbogen verbunden hatte. Die letzten Male, als sie einen anderen Menschen berührt hatte, waren schon Monate her. Damals, als Ikari-Kun sie aufgefangen hatte, als sie während des Angriffs des dritten Engels aus dem Krankenbett gefallen war. Und diese seltsame Sache, als er ihr die neue Zugangskarte vorbeibringen wollte. Berührungen, menschliche Nähe. Unbekanntes Terrain. Sie hatte in so langer Zeit so wenig davon erfahren.
 

Rei legte sich auf ihr Kopfkissen und zog die Bettdecke bis an ihr Kinn.
 

„Danke“, dachte sie. „Ein Ausdruck von Dankbarkeit. Ich habe diese Worte noch nie benutzt. Nicht einmal bei Commander Ikari…“
 

Sie rollte sich auf die Seite und starrte in die Dunkelheit. Es würde noch Stunden dauern, bis der Schlaf sich einstellen würde.

Eigensinn

5. Oktober 2015, Toyko-3, Jankos Apartment
 

Zum dritten Mal an drei aufeinanderfolgenden Tagen erwachte Janko Freytag mit Kopfschmerzen. Und zum dritten Mal trottete er wie ein Zombie zur Kaffeemaschine.
 

„Oh, du seist gepriesen, du schwarzes Lebenselixier“, dachte er spöttisch, als er den ersten Becher trank. Er ging zu dem kleinen Handspiegel, den er auf seine Nachtkommode gelegt hatte.
 

„Ich müsste langsam mal nen Badezimmerspiegel kaufen“, ging ihm durch den Kopf. „So kann das nicht weitergehen.“ Er nahm den Spiegel hoch und blickte hinein. Seine linke Gesichtshälfte hatte ein hübsches Farbmuster angenommen, von Rot über Lila bis hin zu Dunkelgrün. Dazu gesellten sich tiefe Augenringe, die vom Schlafmangel kamen. Der Dreitagebart tat sein Übriges, um ihn verwegen und mitgenommen erscheinen zu lassen. „Glückwunsch, erst so kurz in Japan und schon fünf Jahre gealtert.“
 

Als Janko zähneputzend durch das kleine Apartment lief, fiel ihm ein kleines Etui auf, das unter seinem Bett lag. Er zog das schwarze Mäppchen hervor und wunderte sich.
 

„Vielleicht ist das Rei gestern aus ihrer Tasche gefallen…“, dachte er und schrubbte mit der linken Hand weiter. Er öffnete den Reißverschluss und kippte den Inhalt auf sein Bett. Mehrere Plastikkarten und drei kleine Stifte kamen zum Vorschein. „NERV-Dienstausweis“ prangte auf der obersten kleinen Karte. „Wusste ich’s doch! Na, den wird sie wohl brauchen.“
 

Janko beendete seine Mundhygiene und zog sich an. In den Untiefen seines Koffers kramte er eine Sonnenbrille hervor, die leidlich einen Teil der Spuren des gestrigen Kampfes bedeckte. „Naja, besser als gar nichts“, dachte er, als er sein Apartment verließ und zusätzlich die Schlägerkappe aufsetzte. Er schaute auf sein Handy.
 

„Kurz vor neun… Sie wird wahrscheinlich gerade Pause haben, wenn ich an der Schule ankomme“, sagte er zu sich und machte sich auf den Weg Richtung Ringbahn. Er ging immer noch recht steif, aber zumindest hatten die Schmerzen an den Rippen nachgelassen. Die zwei Schmerztabletten, die er mit dem Kaffee runtergespült hatte, würden hoffentlich ihr Übriges tun, damit er durch den Tag kam.

 

***
 

Zeitgleich, ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland
 

Phil Sammons war bis jetzt nur selten im Büro seines Kollegen Thaddäus gewesen. Er führte zwar im Kommandozentrum die taktischen Operationen und Befehle aus, Thaddäus war ihm aber in der Befehlshierarchie mindestens ebenbürtig, auch ohne klassischen militärischen Rang. Und er war näher an K2 dran. Jedenfalls hatten sie öfter Kontakt als dieser und Phil.
 

Er schaute sich um. Normale Menschen hätten das Büro als Gruselkabinett beschrieben, aber wer bei NERV-04 war schon normal? Auf dem Boden lagen mehrere Stapel von Dokumenten, die darauf warteten, in Umzugskartons gepackt zu werden. Dazwischen standen einige mannshohe Glasbehälter, in denen irgendwelche organischen Reste der Evangelions, fachgerecht eingelegt in Formaldehyd, herumschwammen. Phil glaubte, in einem dieser Gläser sogar ein Auge identifizieren zu können, mindestens so groß wie ein Gymnastikball. Und das Ding starrte ihn an. Zumindest kam es ihm so vor. Mit schnellen Schritten eilte Thaddäus herein und schloss die Tür.
 

„Sorry fürs Warten lassen“, sagte er atemlos. „Aber diese Vollidioten vom Verladeteam wollten ernsthaft die Tanks mit LCL ungekühlt in die Container packen. UN-GE-KÜHLT!“ Bei jeder Silbe tippte er mit dem rechten Zeigefinger gegen seine Schläfe. „Das muss man sich mal vorstellen! Das Zeug ist schal, lange bevor wir Tokyo-3 erreicht haben!“
 

Phil schmunzelte und musterte Thaddäus. Eigentlich war dieser immer sehr fokussiert und gut organisiert. Jetzt wirkte der Doc allerdings wie ein zerstreuter Professor. Sein Kittel war noch fleckiger als sonst, er hatte seit bestimmt drei Tagen die Basis nicht mehr verlassen und offensichtlich auch das Rauchen wieder angefangen. Als er sich gerade die nächste Zigarette anzündete, musste Phil einfach nachfragen. „Warst du nicht eigentlich weg davon? Gesundheit und so?“
 

Thaddäus rutschte ein gequältes Lachen heraus. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Wenn ich lang genug lebe, dass mich der Lungenkrebs dahinrafft, dann ist das vollkommen in Ordnung. Hast du dir die Werte vom Meeresboden angeschaut? Die Aktivität dort ist jenseits aller Berechnungen, die wir durchgeführt haben. Der Druck nimmt exponentiell zu!“
 

„Dann ist es also bald soweit“, stellte Phil fest.
 

„Exakt. Das nächste Aufeinandertreffen von AT-Feldern reißt ein Loch ins Raum-Zeit-Gefüge, da kannst du Gift drauf nehmen!“ Thaddäus warf Phil die Packung Zigaretten hin.
 

Dieser zögerte. Dann griff er zu. „Ach, was soll’s… Hoffen wir, dass morgen alles glatt läuft.“
 

Der Doc ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. „Exakt. Wenn nicht, hab ich mir den Stress mit dem Umzug umsonst gemacht. Dann sind wir morgen Abend nämlich alle orangene Ursuppe!“
 

Phil grinste ob dieser seltsamen, für Außenstehende so völlig unglaubwürdigen Ankündigung vom Ende ihrer menschlichen Existenz. Das Feuerzeug klickte leicht, bevor es seine bläuliche Flamme ausspuckte. „Naja, wie heißt es so schön? ‚Wer nicht wagt, der nicht gewinnt…'“

 

***
 

Kurz vor 10:00 Uhr, Toyko-3, Junior High-School
 

Janko näherte sich langsam dem unscheinbaren Bau, in dem die momentan letzte Verteidigungslinie der Menschheit gegen die Engel so tun musste, als seien sie normale Schüler. Es schien gerade Pause zu sein, das fröhliche Geschrei von spielenden Schulkindern und Gesprächsfetzen von missmutigen Teenagern drangen an sein Ohr. Er überquerte den Parkplatz des Lehrerkollegiums und ging auf den hohen Zaun zu, der den Schulhof umgab. Bereits von Weitem konnte er Rei erkennen. Das blauhaarige Mädchen saß allein auf einer Bank im Schatten und las ein Buch. Sie schien das Chaos um sie herum gar nicht wahrzunehmen. Die anderen Schüler schienen instinktiv Abstand von ihr zu halten.
 

Auf dem Weg hierhin hatte Janko eine Entscheidung getroffen. Es würde ihn wahrscheinlich in Teufels Küche bringen, wenn er so offen Befehle ignorierte. Aber zur Hölle damit! Es fühlte sich so falsch an. Und ein Stück weit mussten sie ihm auch Freiheiten lassen, wenn das hier erfolgreich sein sollte!
 

Verwunderte Blicke folgten Janko, als er vor dem Zaun anhielt. Er wollte nicht das Schulgelände betreten und mehr Aufsehen erregen als unbedingt nötig. Rei schaute immer noch nicht auf. Einzelne Teenagergruppen begannen zu tuscheln, das entging ihm nicht.
 

„Rei?“, rief er halblaut. Erst jetzt blickte die Pilotin von Einheit 00 auf. Er nahm die Hand aus der Tasche seiner schwarzen Lederjacke und winkte. Sie erkannte ihn und er konnte auch auf diese Entfernung die Überraschung erkennen, die sich in ihrem Gesicht abzeichnete. Sie schlug ihr Buch zu und kam zum Zaun.
 

Janko kam es vor, als ob sämtliche Gespräche des Schulhofs mit einem Schlag verstummt waren. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Er spürte die annähernd fünfhundert Augenpaare, die nun auf sie gerichtet waren. Sogar Rei blickte sich kurz um.
 

„Hallo“, sagte sie in ihrem üblichen, ruhigen Ton, als sie den Zaun erreichte. Wenn sie die plötzliche Aufmerksamkeit störte, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Er konnte sehen, wie ihre Augen einen Punkt oberhalb seiner Sonnenbrille fixierten.
 

„Keine Sorge, ich hab in meinem Leben schon weit schlimmer ausgesehen“, sagte er und versuchte, ein ermutigendes Lächeln in sein Gesicht zu bekommen. Was angesichts der immer noch vorhandenen Schwellung kein leichtes Unterfangen war.
 

„Was möchtest du?“, fragte Rei. Sie verschränkte die Arme wieder auf die gleiche seltsame Weise hinter ihrem Rücken, wie sie es gestern schon getan hatte.
 

Janko kramte in einer anderen Tasche seiner Jacke. „Ich glaube, du hast gestern etwas bei mir liegen gelassen. Ich gehe davon aus, dass du deine Zugangskarten brauchst.“ Er holte das schwarze Etui hervor und schaute nach oben. Ob das über den Zaun funktionierte? Die Maschen im Draht waren zu klein, um es durchzuschieben. „Achtung!“ Er warf das schwarze Mäppchen in einem hohen Bogen hinüber. Geschickt fing sie es auf.
 

Sie errötete ganz leicht, als ihr klar wurde, dass er extra deswegen hier hingefahren war.
 

„Wir wollen doch nicht, dass ein Engel angreift und du nicht zu deinem EVA kommst, oder?“, fragte Janko und versuchte, ihr zuzuzwinkern. Was sich gleich zweifach als dumme Idee herausstellte. Zum einen trug er immer noch die Sonnenbrille, sodass sie es gar nicht sehen konnte. Zum anderen tat das echt weh! Er grunzte kurz auf.
 

„Das… das stimmt“, sagte sie kurz angebunden und blickte zu Boden.
 

Der Schulgong ertönte und markierte das Ende der Pause.
 

Janko setzte nach. „Du hör mal, ich wollte dich noch was fragen: Hast du heute Abend Zeit, was essen zu gehen? Ich hab nen Nudelstand auf dem Weg hier hin gefunden, der nett aussieht. Ich lad dich ein.“ Er räusperte sich. „Außerdem wollte ich dir was Wichtiges erzählen.“ Der Köder war gelegt.
 

Rei schien kurz zu überlegen. Sie hatte ihren Mund geöffnet und schloss ihn dann direkt wieder. Der Lärm der anderen Schüler, die sich wieder auf ins Gebäude machten, schwoll im Hintergrund wieder an. Dann antwortete sie aber doch noch. „Ja, können wir machen.“
 

„Ausgezeichnet! So 19:00 Uhr? Ich hol dich ab!“ Mit diesen Worten drehte Janko sich um und ging. Er winkte ihr nochmal kurz zu.
 

„Ist… Ist gut!“ Sie schaute ihm kurz nach, dann drehte sie sich herum und ging mit ihrem Buch und dem schwarzen Mäppchen Richtung Klassenraum zurück.

 

***
 

Als Rei das Klassenzimmer erreicht hatte, war sie bereits das Gespräch der Stunde. Sie setzte sich an ihren Fensterplatz und wollte gerade wieder hinausschauen, als sie zwei Mädchen bemerkte, die sich neben ihr Pult stellten. Noriko Saiga und Yoshiko Kokushi waren zwei Klassenkameradinnen, die noch nie ein Wort mit ihr gewechselt hatten. Jetzt standen sie kichernd vor ihr und schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu, als Erste zu fragen.
 

„Nein, mach du!“, flüsterte Noriko.
 

„Wieso? Du wolltest doch hier hin!“, gab die andere zurück. Dann richtete sie ihren Blick auf Rei. „Hey Ayanami, wer war denn der Typ, mit dem du dich da am Zaun unterhalten hast?“
 

Reis Blick blieb am Fenster haften. „Das war mein Nachbar. Er hat mich gefragt, ob wir später was essen gehen können“, gab sie ruhig zurück.
 

Asuka kam herangestürmt und schob die beiden anderen Mädchen zur Seite. Feixend stemmte sie ihre Hände auf Reis Pult. „Aha, aha! Erst die Cupcakes und jetzt eine Einladung zum Essen? Bahnt sich da was aaaaan!?“ Sie grinste und zog bewusst die letzte Silbe lang.
 

Rei errötete zum zweiten Mal an diesem Vormittag leicht. „Ich… ich verstehe die Frage nicht“, gab sie unsicher zurück und blickte auf ihre Hände.
 

Die Klassentür öffnete sich und bewahrte Rei so vor weiteren bohrenden Nachfragen des Rotschopfes.
 

„Aufstehen, verbeugen, hinsetzen!“, rief die Klassensprecherin Hikari energisch.

 

***
 

Pünktlich um 19:00 Uhr hatte Janko Rei angeholt. Sie hatten die Ringbahn ins Zentrum genommen und den kleinen Nudelstand auf der Anhöhe neben einem kleinen Park gefunden. Mit zwei Portionen Ramen in den Händen nahmen sie auf einer großen Parkbank Platz. Der Himmel war wieder wolkenlos, die Sterne bereits sichtbar. Janko blickte nach oben. Er erkannte die sechs hellsten Sterne der Plejaden wieder.
 

„Es ist schon seltsam“, sagte er. Mit verkrampften Fingern hielt er die Essstäbchen fest und versuchte, nicht allzu sehr zu kleckern. „Ich habe mir Außerirdische immer als kleine Wesen in großer Zahl vorgestellt, die irgendwann die Erde in Raumschiffen besuchen würden. Nicht als turmhohe Viecher, die durch unsere Innenstädte stürmen würden.“
 

Rei blickte ihn verwundert von der Seite an. „Warum sagst du das jetzt?“, fragte sie.
 

„Naja, ich meine die Engel“, antwortete Janko. Er konnte seinen Blick immer noch nicht von den Sternen abwenden. „Wobei der Gedanke ja eigentlich Blödsinn ist. Unser aller Leben kommt schlussendlich aus der Weite des Alls.“
 

„Du meinst… auch die Menschen sind nicht von der Erde?“ Rei hatte ihr Essen wesentlich schneller beendet als er und stellte die Schüssel neben sich ab. Sie zog die Beine hoch und umklammerte mit den Armen ihre Knie. Sie starrte ebenfalls in den Nachthimmel.
 

„Naja, wenn man bedenkt, wie das Leben auf die Erde gekommen ist: Streng genommen liegt unser aller Ursprung irgendwo da draußen.“ Janko räusperte sich. „Jetzt hast du eh schon damit angefangen. Dann bring es auch zu Ende“, dachte er bei sich und setzte sich auf.
 

Er hatte sein Mahl beendet und legte die Stäbchen weg. Dann fuhr er fort: „Ich hab lange überlegt, ob ich dir das jetzt sage, Rei. Aber ich will von Anfang an ehrlich sein. Auch wenn ich eigentlich den gegenteiligen Befehl habe. Es ist kein Zufall, dass ich neben dir eingezogen bin. NERV hat das angeleiert. Ich… ich bin ebenfalls Pilot eines Evangelion.“ „So, jetzt ist es raus“, schob er in Gedanken nach.
 

Fragend sah sie ihn an. „Warum erzählst du mir das?“
 

„Weil ich denke, dass es wichtig ist, dass wir Piloten einander vertrauen können. Und ich denke nicht, dass das funktionieren wird, wenn schon das Kennenlernen mit einer Lüge beginnt. Außerdem will ich nicht, dass du denkst, ich hätte dir absichtlich etwas verschwiegen.“
 

Rei zog die Beine ein wenig näher an den Körper. „Und… was mache ich jetzt mit diesen Informationen?“
 

Janko stand auf. Er warf das Einwegbesteck und die Pappschüsseln in einen nahegelegenen Mülleiner. „Ganz ehrlich: Was du willst. Erzähle es Misato, Gendo Ikari oder anderen. Oder lass es. Ich bin nicht hier, um dir irgendetwas vorzuschreiben. Manchmal geht’s darum, eigene Entscheidungen zu treffen.“ „Und dann mit den Konsequenzen zu leben“, führte er den Satz in Gedanken weiter.
 

Rei antwortete nicht. Sie legte den Kopf auf die Knie und starrte in die Dunkelheit. Einige lange Momente der Stille vergingen, ohne dass einer von beiden etwas sagte. „Wie meinst du das… ‚einander vertrauen können‘…?“
 

„Was ich meine ist, dass wir Piloten doch auf einer Seite stehen. Wenn wir uns da draußen nicht aufeinander verlassen können, werden wir alle sterben. Und dazu gehört auch, ehrlich dem Anderen gegenüber zu sein. Damit derjenige weiß, woran er ist. Und ich will nicht, dass, sobald das Ganze offiziell wird, du dann denkst, dass ich ein Spielchen mit dir gespielt hab.“
 

„Ich denke nicht, dass ich das getan hätte…“, sagte sie leise und drehte sich zu ihm herüber. „Jetzt… tue ich das schon zum zweiten Mal, aber… Danke. Für deine Ehrlichkeit.“ Sie blickte zu Boden. „Ich glaube nicht, dass Leute bis jetzt besonders oft ehrlich zu mir waren.“
 

„Offen gesagt, habe ich auch diesen Eindruck“, antwortete Janko. Der Wind frischte langsam auf. „Lass uns mal zurückgehen, es wird ein wenig frisch…“
 

Die zwei Piloten machten sich zu Fuß auf den Weg in ihr Viertel. Janko bewunderte immer noch diese seltsamen Wolkenkratzer, die auf Knopfdruck im Boden verschwanden. Rei wirkte weiterhin sehr nachdenklich.
 

„Aber du hattest doch den Befehl… Ich meine, deine Vorgesetzten wollten doch nicht, dass du etwas erzählst“, sagte sie. Irgendwie verwirrte sie anscheinend der Gedanke, sich über Befehle hinwegzusetzen.
 

„Meine Vorgesetzten sind aber gerade nicht hier…“, antwortete Janko. Er grinste schelmisch. „Außerdem sind sie auch nur Menschen. Sie machen auch Fehler und können die Situation vor Ort nicht immer gut genug einschätzen. Ich halte diesen Weg für falsch. Aus den schon erwähnten Gründen. Und ich vertraue dir irgendwie. Ich glaube nicht, dass du Schabernack mit diesen Informationen treibst.“
 

Sie verließen das Stadtzentrum und bogen in ihr Viertel ein. Die Straßen waren heute wie leergefegt. Trotzdem schallt sich Janko, dass sie nicht die Ringbahn für den Rückweg genommen hatten. Man musste es ja nicht provozieren!
 

Reis Neugier war anscheinend nun geweckt. „Ein Evangelion also…“, begann sie.
 

„Ja, ein etwas anderes Modell. Man könnte sagen, eine andere Baureihe“, antwortete Janko. „Er kann im Single- als auch im Dual-Betrieb betrieben werden.“
 

Rei stutzte. „Du meinst, er hat zwei Piloten?“
 

„Im Moment hat er nur einen. Der zweite wird noch gesucht. Und jetzt rate mal, wer als potentielle Co-Pilotin infrage käme…“ Ein breites Grinsen erschien in seinem Gesicht.
 

Der Gesichtsausdruck des Mädchens blieb unbewegt. „Ich bin mir nicht sicher, ob meine Vorgesetzten das erlauben würden…“
 

„Ich denke, dass es Mittel und Wege geben wird, sie davon zu überzeugen“, versicherte Janko.
 

Sie erreichten ihren Apartmentkomplex. Im Treppenhaus war es wie immer totenstill. Als sie ihre Apartments erreicht hatten, verabschiedeten sie sich voneinander. In der Tür drehte sich Rei noch einmal um.
 

„Wann wird deine Einheit hier ankommen?“, fragte sie.
 

„Oh, ich schätze schon sehr bald“, gab Janko zurück. „Ich habe den Eindruck, dass die nächsten Tage recht spannend werden könnten. Lassen wir uns überraschen…“

Blackout

6. Oktober 2015, Ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland, Kommandoraum
 

Dr. Thaddäus Weber schaute auf das Personal hier im Kommandoraum, das auf seinen Stühlen Platz genommen hatte. Er blickte in blasse Gesichter, müde Augen und verwuschelte Haare und sah die verzweifelten Versuche, ein Gähnen zu unterdrücken. Sie hatten die ganze Nacht damit zugebracht, Vorbereitungen zu treffen. Er konnte den Schweiß und die Anspannung bis zu seinem Platz riechen. Phil Sammons ging durch die Reihen, sprach allen Anwesenden Mut zu und verteilte eine weitere Runde Kaffee. Die beiden sahen einander an. Dann blickten sie auf ihre Uhren und nickten sich zu.
 

Thaddäus ergriff das Wort. „Meine Damen und Herren, heute lösen wir unser Ticket nach Japan!“ „Oder wir sind bereits morgen alle tot. Entweder durch die Engel oder durch die Hand von SEELE“, schob er in Gedanken hinterher.
 

Er schaute auf den Mann mit dem schütteren Haar zu seiner Linken. Dieser ließ die Fingerknöchel knacken. „Lieutenant Kocurek, starten Sie mit der falschen Fährte.“
 

Der Offizier nickte. Dann begann er, in einer kaum nachvollziehbaren Geschwindigkeit, die Computerbefehle auf der Tastatur einzugeben. Zeilen mit Code rasten in schneller Abfolge den Hauptbildschirm entlang. Die schemenhaft dargestellten Linien, die für das gegnerische Computersystem standen, wechselten langsam von Rot zu Grün.
 

„Erste Firewall durchbrochen!“, rief er mit zusammengebissenen Zähnen. „Stillen Alarm gecancelt, wir sind drin!“
 

„Hervorragend, Lieutenant!“ Thaddäus trat selbst an eine Konsole heran und legte die Finger auf die Tasten. „Und jetzt zielen wir genau auf ihre Achillesferse… Sergeant Martinsen: Ihr Einsatz!“
 

Die junge Technikerin links von Lieutenant Kocurek nickte eifrig. „Überlaste Hauptstromversorgung… Sende Terminierungsprogramm… Energie-Backup-Routine wurde zum Absturz gebracht! Wieviel Prozent soll ich ihnen lassen, Sir?“
 

Thaddäus tippte immer noch. Er hielt kurz inne und blickte auf: „Geben Sie ihnen 1,6 % Reststrom ... Wir wollen ja nicht zuuuu gut wirken.“
 

„Verstanden, wird erledigt.“
 

Thaddäus setzte den Timer auf 60 Minuten. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm auf seinem Stuhl Platz. Dann hieß es jetzt wohl warten.

 

***
 

13:00 Uhr, Toyko-3, vor dem höchsten Wolkenkratzer der Stadt
 

Janko lehnte an einer Straßenlaterne und blickte in der Gegend umher. Trotz Sonnenbrille und Mütze kam es ihm heute sehr hell vor. Viele Angestellte schienen gerade in die Mittagspause zu gehen. Lange Schlangen bildeten sich vor nahegelegenen Restaurants und immer mehr Menschen strömten aus den gläsernen Hochhäusern, die das Zentrum von Tokyo-3 bildeten. Er entdeckte zwei ihm wohlbekannte Männer, die auf ihn zukamen. Einer trug eine Brille, der zweite zog einen…
 

„Bollerwagen?“, fragte Janko grinsend, als er erkannte, was David mitgebracht hatte. In diesem stand, frisch aus Deutschland importiert, eine Kiste kaltes Bier.
 

„Na sicher das“, antwortete sein Kollege. „Wir sind doch heute sowieso zur Untätigkeit verdammt. Dann können wir auch ein wenig Spaß haben. Gut siehst du aus, bist du die Treppe runtergefallen?“
 

„Beinahe…“, antwortete Janko.
 

„Kaum in Japan und schon Stress am Hals“, stellte Ben fest. Er klopfte ihm auf die Schulter. „Lasst uns erstmal hochfahren. Nicht, dass wir noch was verpassen.“
 

Sie betraten, mit dem Bollerwagen im Schlepptau, die Lobby des vor ihnen liegenden Gebäudes. Nach einem kurzen Gespräch am Empfangstresen wurden sie, unter skeptischen Blicken der Bediensteten, mitsamt ihrer Fracht zu den Aufzügen geleitet. Als sich die Türen des Fahrstuhls hinter ihnen schlossen, ergriff David das Wort. „Hätte gedacht, dass es mehr Stress gibt wegen meines Mitbringsels.“
 

Ben schüttelte wohlwissend den Kopf. „Ne, wir wurden schon angekündigt. So ein paar Leute hat NERV-04 doch schon hier in Tokyo-3 eingeschleust. Es sollte auch da oben keine Probleme geben.“
 

Tatsächlich war die Aussichtsplattform menschenleer, als sie auf dem Dach ankamen. Mit einem zufriedenen Seufzen nahmen sie auf einer Bank Platz und machten sich jeder ein Bier auf. David breitete die Arme über die Rückenlehne aus. „Ah, so lässt es sich leben. Bierchen, schönes Wetter und gleich noch ein wenig Action direkt vor unseren Augen. Hab ich schon gesagt, dass ich meinen Job liebe?“
 

Ben wandte sich an Janko. „Jetzt erzähl mal, wie läuft es eigentlich mit Rei? Hat dein Auge was damit zu tun?“
 

Janko wunderte sich über die schnelle Auffassungsgabe seines Kollegen. Wobei, eigentlich kannte Ben ihn ja auch schon lange genug, um ihn gut einschätzen zu können. Er verzog leicht den Mund. „Gut erkannt. Es gab am Sonntag ein wenig Stress auf dem Weg nach Hause. Eine Gruppe Alkoholiker hat versucht sie auszurauben. Pech für sie, dass ich’s mitbekommen hab.“
 

„Oh, na dann hast du ja jetzt mit Sicherheit einen Stammplatz in ihrem Herzen… Job erfolgreich abgeschlossen, würde ich sagen“, wand David ein.
 

Janko musste unweigerlich lachen. „Wenn’s so einfach wäre… Sagen wir so: Es hat bestimmt nicht geschadet und ein wenig das Eis gebrochen. Dennoch ist die soziale Interaktion eher… schwierig.“ Sein Blick schweifte über die anderen Dächer der Stadt.
 

Ben folgte seinem Blick. „Wieso, kein Interesse?“
 

„Das würde ich nicht sagen. Eher scheint es so, als ob sie es nicht gewohnt ist, groß mit Menschen zu interagieren.“
 

David hatte das erste Bier aus und ließ mit einem leisen „Plopp“ den nächsten Kronkorken abspringen. „Wie meinst du das? Hat sie ein Problem, auf Fremde zuzugehen?“
 

Janko schüttelte den Kopf. Es fiel ihm schwer, seine Eindrücke anderen verständlich zu machen. Er überlegte kurz, dann sagte er: „So ungefähr. Ich denke, sie kennt gewöhnlichen sozialen Umgang einfach nicht. Manchmal hab ich den Eindruck, dass sie bis jetzt nur für das Evangelion-Projekt gelebt hat. So als habe ihr nie jemand etwas außerhalb von NERV gezeigt. Und ihr habt die Unterlagen ja auch erhalten: Es gibt keinen Lebenslauf über sie. Alle Daten wurden gelöscht. Ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass da irgendetwas faul ist.“ Er lachte kurz auf. „Vielleicht war das ‚Knochenhinhalten‘ am Sonntag aber ein ganz guter Schritt in die richtige Richtung. Immerhin scheint sie mir jetzt zu glauben, dass ich nicht ihr Feind bin.“
 

Ben schaute ihn nachdenklich an. „Denkst du, dass sie glücklich ist mit dem, was sie tut? Den EVA steuern und so? Bei Asuka hab ich immerhin den Eindruck, dass sie das wenigstens will…“
 

Janko zog die Augenbrauen hoch. „Glücklich? Abgesehen davon, dass ich denke, dass niemand hier bei NERV wirklich glücklich ist, bin ich mir bei Rei gar nicht sicher, ob sie so etwas wie Glück überhaupt kennt…“
 

„HEY! Kommt mal her!“ David presste sein Gesicht gegen die Gitterstäbe, die ein Herunterfallen an der Außenseite der Plattform verhindern sollten. Der Wind wehte hier oben recht stark und ließ seine blonden, kinnlangen Haare im Wind flattern.
 

Ben und Janko traten neben ihn. David zeigte auf die elektronischen Werbewände, die an den anderen Gebäuden angebracht waren. Sie waren alle pechschwarz. Er schaute auf sein Handgelenk. „Punkt 14:00 Uhr“, sagte er. „Sieht nach nem Stromausfall aus. Dann hat es also begonnen…“ Die gigantischen Klimaanlagen, die das Innere des Wolkenkratzers abkühlten, setzten ebenfalls mit einem schabenden Geräusch aus.
 

Ben kletterte auf die grauen Metallkisten, um einen besseren Überblick zu erhalten. Er setzte sich im Schneidersitz hin. „Dann machen wir es uns mal gemütlich und genießen die Show…“

 

***
 

14:01 Uhr, Nerv-Hauptquartier, Central Dogma, nahe der EVA-Käfige
 

„Hey, ich war das nicht!“, sagte Ritsuko, als sie die fragenden Blicke der anderen Mitarbeiter spürte. Bis vor einigen Sekunden war noch alles normal gewesen. Die Initialisierung des Aktivierungstests von Einheit 00 hatte soeben begonnen. Doch dann wurde es auf einmal dunkel. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die wenigen batteriebetriebenen Lampen die Anlage in rotes Licht tauchten.
 

„Wir haben keine Energie mehr!“, rief ihre Assistentin Maya. Sie blickte verzweifelt zwischen ihrem Laptop und der Leiterin der Forschungsabteilung hin und her.
 

„Das ist merkwürdig. Die Notstromversorgung müsste längst angesprungen sein, dachte Ritsuko. Sie wandte sich an ihre Mitarbeiter: „Aktivierungstest sofort abbrechen. Machen wir uns auf ins Kommandozentrum!“
 

Die Aufzüge waren ebenfalls ausgefallen. Als sie eine kleine Leiter hochkletterten, um in die höher gelegenen Etagen zu gelangen, sagte Ritsuko: „Und ich habe immer geglaubt, dass wir die alten Flucht- und Wartungstunnel nur aus moralischen Gründen behalten haben. Ich hätte nie gedacht, dass wir sie einmal brauchen würden.“
 

Maya kletterte direkt hinter ihr. „Naja, besser haben als brauchen.“

 

***
 

Unweit der Eingangstore zum NERV-Hauptquartier standen drei Teenager und starrten verwirrt in die Gegend. Sie hatten versucht, die großen Tore mit Hilfe ihrer Zugangskarten zu öffnen, doch nichts geschah.
 

„Seltsam…“, sagte Asuka, nachdem ihre Karte auch keinen Erfolg hatte. „Das sieht alles nach einem Stromausfall aus. Vielleicht erreichen wir ja jemanden über die Telefone…“

 

***
 

Einige Minuten später hatte die Wissenschaftlerin mit ihrer Assistentin in der Kommandozentrale Platz genommen.
 

„Auch der Notstrom ist ausgefallen, die Hauptenergie ist weg! Nur 9 Schaltkreise haben noch Energie. Insgesamt steht uns nur noch 1,6 % Reststrom zur Verfügung!“ Maya schaute besorgt auf die obere Ebene. Dort saß, in seiner üblichen Haltung, Gendo Ikari. Kozo Fuyutsuki stand dicht neben ihm, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Einige Mitarbeiter hatten mittlerweile angefangen, Kerzen aufzustellen. Deren Leuchten begann, die Anlage und die MAGI-Supercomputer in ein flackerndes Licht zu tauchen.
 

Ritsuko dachte kurz nach. Sie vergrub ihre Hände in den Taschen ihres weißen Mantels und blickte in die Dunkelheit.
 

„Das kann alles kein Zufall sein“, dachte sie verärgert. Sie wandte sich an das Führungsduo über ihr. „Ich könnte Dummy-Programme auf den MAGI laufen lassen. Das dürfte es erschweren, auf die Systemarchitektur zu schließen!“
 

„Guter Einfall, Dr. Akagi“, entgegnete Gendo. „Tun sie das.“
 

Der Vizecommander ergriff das Wort. „Leiten Sie alle verfügbare Energie zu den MAGI-Computern und ins Central Dogma um.“ Er drehte sich zu Gendo um. „Dass sämtliche Energiequellen gleichzeitig versagen ist absolut unmöglich! Das NERV Hauptquartier ist als vollkommen autarke Kolonie entworfen worden. Das war Absicht! Kaum zu glauben, dass jemand von unserer eigenen Spezies dafür verantwortlich ist.“
 

„‘Homo humini lupus‘, wie der Lateiner sagt“, entgegnete der Commander trocken.
 

„Nicht auszudenken, wenn jetzt ein Engel angreift!“

 

***
 

14:17Uhr, tief unter den Ruinen des einstigen Tokyo-1
 

Das Ticken der mechanischen Uhr auf dem großen Schreibtisch war das Einzige, das die Stille hier im Bunker durchbrach. K2 beobachtete das Treiben bei NERV-04 über seinen Laptop. Die Schadprogramme hatten also begonnen, ihre Arbeit aufzunehmen. Er hatte die Erfolgsmeldungen des virtuellen Angriffsteams vernommen.
 

Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und nippte ganz vorsichtig daran. Ein Hustenanfall überkam ihn und schüttelte seinen mageren Körper durch. Es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder gefangen hatte. K2 setzte eine neue Dosis des Medikamentes an und hielt die Augen weiter gebannt auf den Bildschirm gerichtet.
 

„Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt“, dachte er zufrieden. Ein kaltes Lächeln wurde unter den Falten seines Gesichtes sichtbar. „Wir kommen dem Nullpunkt immer näher.“

 

***
 

Zeitgleich, Tokyo-2, JSSDF Hauptquartier
 

„Sir, ein unbekanntes Objekt ist in der Nähe der ehemaligen Region Atami aufgetaucht und hat soeben die Küste erreicht! Es ist vermutlich wieder ein Engel! Er bewegt sich direkt auf Tokyo-3 zu!“ Der junge Offizier mit dem akkuraten Seitenscheitel rang um Fassung. Die Instrumente vor ihm zeigten einen großen, blinkenden Punkt, der auf einer virtuellen Karte vorrückte.
 

Der General hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch. „Was zum Teufel geht da bei NERV vor? Wieso melden die sich nicht!?“
 

Sein Stellvertreter trat an seine Seite und blickte auf die großen Bildschirme. Ein gigantisches, spinnenähnliches Wesen war zu sehen. Es bewegte sich mit vier Beinen am Strand fort. „Es behält seine Geschwindigkeit konstant bei. Was sollen wir tun, General Masuhiro?“
 

Der junge Offizier mischte sich noch einmal ein. „Wir könnten ein Flugzeug starten und sie warnen.“
 

General Masuhiro blickte ihn an. „Hervorragende Idee, Lieutenant Nobuyoshi. Tun sie das!“

 

***
 

„Das Mobilfunknetz ist auch weg…“, sagte Rei und steckte ihr Mobiltelefon wieder ein.
 

„Boah, natürlich ist es das! Wenn der Strom ausfällt, dann überall!“ Asuka stemmte die Hände in die Hüften und schaute wütend auf ihre Kollegin.
 

Diese zeigte sich davon jedoch unbeeindruckt. Sie wühlte in ihrer Tasche und fand schließlich ein kleines rotes Heft, umrahmt von einer schützenden Schicht aus Plastik. „NUR IN NOTFÄLLEN ÖFFNEN - NERV“, stand in großen Buchstaben darauf. Sie knickte es und entnahm das innenliegende Papier.
 

„Hier steht, wir sollen versuchen, ins Hauptquartier zu gelangen“, erklärte sie ruhig. Die beiden anderen Piloten lasen ihre Anweisungen ebenfalls gerade durch.
 

Asuka ergriff wieder das Wort. „Natürlich sollen wir das tun! Aber vorher müssen wir noch bestimmen, wer der Anführer unserer Gruppe ist. Das kann natürlich nur ich sein!“
 

Rei blieb stumm, aber Shinji hakte nach: „Aha, und warum?“
 

„Na weil ich diejenige mit den höchsten Synchronwerten bin! Bist du blöd, oder was?!“ Sie machte Anstalten, loszumarschieren.
 

„Zum Hauptquartier geht es in die andere Richtung“, korrigierte Rei sie.
 

„Ach, das weiß ich doch! Ich wollte nur sehen, ob ihr auch aufpasst!“ Asuka streckte das Kinn nach oben. Dann machte sie auf den Hacken kehrt und ging den anderen Weg lang. Shinji und Rei folgten ihr. Sie marschierten einige Minuten vorwärts, bis sie vor einer verschlossenen Metalltür zum Stillstand gezwungen wurden.
 

„Na toll, und wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Shinji ärgerlich.
 

Asuka sah sich um. Ihr Blick fiel auf das Metallrad mit dem ausklappbaren Handgriff rechts neben der Tür. „Na dann öffnen wir die Tür eben von Hand. Shinji, das ist deine Aufgabe! Du bist schließlich der Kerl hier in der Runde.“
 

Grummelnd machte sich der Junge daran, das Rad zu entsichern. „War ja wieder klar. Wenn’s anstrengend wird, bleibt die Aufgabe an mir hängen!“, dachte er missmutig.

 

***
 

Die drei Europäer hörten das Flugzeug schon aus einiger Entfernung. Als sie gen Himmel starrten, erkannten sie eine einmotorige Propellermaschine der japanischen Luftwaffe, die über der Stadt kreiste.
 

„ACHTUNG, ACHTUNG, EIN ENGEL BEWEGT SICH AUF TOKYO 3 ZU! ALLE ZIVILISTEN WERDEN AUFGEFORDERT, UMGEHEND DIE STADT ZU VERLASSEN! ACHTUNG ACHTUNG…“, schallte es in sich ständig wiederholender Art und Weise aus den Lautsprechern, die an den Tragflächen der Maschine angebracht waren.
 

David kratzte sich an der Wange. „Äh… Ist das Teil des Plans? Wenn NERV jetzt keinen Strom mehr hat, dann wird das irgendwie… haarig.“
 

Janko zog kräftig an seinem Nikotinspender. „Hoffen wir, dass unsere Jungs zuhause wissen, was sie tun…“

 

***
 

Zeitgleich, Ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland, Kommandoraum
 

Der Holobildschirm zeigte die spinnenartige Kreatur, die sich majestätisch aus dem Meer erhob.
 

Phil lehnte mit verschränkten Armen auf einem der Tische und beobachtete, wie der Engel landeinwärts marschierte. Die vier schwarzen Beine marschierten ungehindert im immer gleichen Rhythmus vorwärts.
 

„Er lässt die zivilen Städte wieder links liegen“, stellte er fest. „Eigentlich sind diese Engel ja recht höfliche Viecher.“
 

„Bei den Kaijus wird das anders sein“, ergänzte Thaddäus. „Die Engel folgen nur ihrem Instinkt und wollen zu Adam. Dem ordnen sie alles unter. Die Kaijus allerdings…“ Er fischte die nächste Zigarette aus der Packung. Überrascht stellte er fest, dass sich auch dieses Paket langsam dem Ende zuneigte. „… werden mehr wie Kammerjäger sein. Und die Menschen sind das Ungeziefer.“

 

***
 

14:22 Uhr, in den Gängen des NERV-Hauptquartieres
 

Sie waren jetzt schon einige Zeit in den Fluren der Basis unterwegs gewesen. Shinji hatte versucht, die Türen und Abzweigungen zu zählen, jedoch vergebens. Dann fiel ihm der abgeblätterte Putz an einer Wand auf. Er sah aus wie die Umrisse einer Fledermaus.
 

„Verdammt, wir sind schon mal hier gewesen! Ich erkenne diesen Fleck wieder!“, rief er verzweifelt. „Wir haben uns verlaufen!“
 

Sie standen auf einer kleinen Brücke und konnten über sich verschiedene andere Wege erkennen. Asuka wollte gerade zu einer wütenden Antwort ansetzen, als das Motorengeräusch eines Autos immer näherkam. Die drei Teenager blickten nach oben und erkannten Scheinwerfer, deren Licht an die Stahlwände der Anlage geworfen wurde. Sie hörten eine Lautsprecherdurchsage, jedoch war sie noch zu undeutlich. Als sie einige Zeit gewartet hatten, erkannten sie die Stimme.
 

„Das ist Hyuga!“, rief Asuka. Sie und Shinji begannen auf und ab zu hüpfen und mit den Armen zu rudern. „HEY, Hyuga!“
 

Aber es kam keine Reaktion. Dafür konnten sie nun endlich die Durchsage verstehen.
 

„… ein Engel! Ein Engel bewegt sich auf das Hauptquartier zu! ACHTUNG ACHTUNG! EIN ENGEL!“ Und dann war der Van mit dem Offizier an Bord auch schon vorbeigefahren.
 

„Ein Engel…“ Shinjis Atem stockte. „Und was nun?“
 

„Wir sollten eine Abkürzung nehmen“, schlug Rei vor.
 

Asuka drehte sich zu ihr um. „Ach ja? Und wo soll die bitte sein?!“
 

Rei ging zu einer der Klappen für die Lüftungsschächte, die in Bodenhöhe die Wand bedeckten. Nach einem leichten Ziehen gab die Verkleidung nach. „Hier rein“, sagte sie.
 

Zu dritt krochen sie auf Knien den engen Schacht entlang. „Ah, das Wunderkind weiß, wo’s lang geht“, bemerkte Asuka verächtlich. Rei blieb stumm.
 

Hinter ihr begann Shinji, laut zu denken. „Was sind eigentlich die Engel? Ich meine, das sind doch die Boten Gottes… Warum kämpfen sie gegen uns? Was wollen die?“
 

Asuka drehte sich zu ihm um. „Ist doch völlig egal! Sie greifen uns an, dann wehrt man sich eben. Daher müssen es Feinde sein. Die Frage ist sinnlos…“
 

Aber Shinji war nicht überzeugt. Nachdenklich schüttelte er den Kopf und kroch weiter.
 

Nach wenigen Minuten schoben sie eine weitere Abdeckung zur Seite und krochen aus dem Lüftungsschacht. „Na also, fast am Ziel“, stellte Asuka selbstzufrieden fest und ging den folgenden Gang entlang.
 

„Aber… dieser Gang führt nach oben…“, stellte Rei fest.
 

„Na und? Wir müssen gleich da sein! Da, hinter dieser Tür muss das Kommandozentrum sein!“, antwortete das rothaarige Mädchen. Sie hielt vor der nächsten Pforte. Sie drehte an dem Rad, das das Schloss blockierte und die Tür schwang weit auf. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Asuka andere Gebäude von Tokyo-3 erkennen, mitsamt dem über ihnen leuchtenden blauen Himmel. Dann raste etwas Schwarzes herunter und schlug auf dem Boden ein. Als sich das gigantische Bein des Engels weiterschob, sah sich Asuka dem Zentrum des Untiers gegenüber. Sein runder Bauch zwängte sich durch die Straßenschluchten und seine vielen Augen blickten zu allen Seiten.
 

„WAAAAAHHHH!“, schrie sie und schlug die Tür mit aller Kraft wieder zu. „Ok, wir gehen vielleicht doch besser abwärts!“

 

***
 

Der Van, den der Brückenoffizier Hyuga vereinnahmt hatte, kann mit quietschenden Reifen unterhalb der MAGI zum Stehen. „Ein Engel ist auf dem Weg! Wir müssen die EVAs startklar machen!“, brüllte der Mann durch den aufmontierten Lautsprecher.
 

„Oh mein Gott, ein Engel?! Jetzt!?“ Ritsuko schnappte nach Luft. Dann sah sie zum Platz des Commanders auf.
 

Gendo Ikari erhob sich von seinem Stuhl. Er nahm die Füße aus der Wanne mit Eiswasser, die er unter seinen Schreibtisch gestellt hatte, um der ansteigenden Hitze etwas entgegenzusetzen. „Dann müssen wir die EVAs startklar machen“, bemerkte er trocken.
 

„Aber wie? Die hydraulischen Anlagen sind ebenfalls ohne Strom“, bemerkte der Vizecommander.
 

„Dann eben von Hand“, entgegnete Gendo. „Sie müssen hier oben für mich übernehmen, Fuyutsuki.“
 

„Aber was ist mit den Piloten? Ohne die können wir die EVAs nicht aktivieren“, hakte die Nummer Zwei nach.
 

Gendo ging zu der Leiter, die ihn hinunter bis zu den EVA-Käfigen führen würde. „Die Piloten werden rechtzeitig hier sein.“ Mit diesen Worten begann er den Abstieg.

 

***
 

„Hey, wir sind glaub ich wieder auf dem richtigen Weg!“, stellte Shinji freudig fest. Schon seit einigen Minuten hatte er das Gefühl, dass sie wieder abwärtsgingen. Außerdem hatte er bis jetzt keine Abzweigung wiedererkannt.
 

Rei ging vorweg und schaute sich nach den Seiten um. Asuka begann zu schnauben und sprang ihr in den Weg, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von dem des blauhaarigen Mädchens entfernt. „Ja, danke dir, Wunderkind! Aber das passt ja! Du bist ja eh Commander Ikari’s Liebling, nicht wahr!“, schmetterte sie ihr ins Gesicht. „Wahrscheinlich sogar ‚Everybody’s Darling‘!“
 

Rei schaute an ihr vorbei. „Das stimmt nicht. Ich werde nicht bevorzugt. Wenn ich eines weiß, dann das…“
 

„Asuka… lass es doch gut sein…“, versuchte Shinji, die Lage zu beruhigen.
 

Ein böser Blick zu ihm folgte. „Halt dich da raus, Baka!“ Dann richtete sie ihre Augen wieder auf Rei. Ein fieses Grinsen huschte in ihr Gesicht. „Ach ja!? Und was ist mit deinem tollen Nachbarn? Der lädt dich ja sogar ZUM ESSEN EIN!“ Sie brüllte die letzten Worte nahezu.
 

„Das ist etwas Anderes. Und er hatte seine Gründe…“, antwortete Rei und versuchte, an Asuka vorbeizugehen. Doch diese hüpfte weiter vor ihr herum.
 

„Oh, etwas Anderes… Was ist es denn?! Na komm, spuck’s schon aus und tu nicht so geheimnisvoll!“
 

„Nein“, antwortete Rei mit fester Stimme. „Ich habe mich entschieden, mit niemandem darüber zu sprechen.“
 

Eine starke Erschütterung über ihnen holte die drei Piloten zurück in die Realität. Rei ließ Asuka stehen und entfernte eine weitere Abdeckung von der Wand. Der dahinerliegende Schacht wirkte noch enger als der Vorherige. Als sich alle hineingezwängt hatten, bildete Shinji das Schlusslicht. Rei kroch vorneweg, sodass Asuka die Position in der Mitte blieb.
 

„Wenn ich dich erwische, wie du mir unter den Rock guckst, dann setzt es was!“, warnte sie den Jungen.
 

Störrisch hielt dieser den Blick aufrecht, was zu einer regelrechten Flut von auf ihn einprasselnden Tritten führte.
 

„Oh du Perversling, na warte…. WAAAAH!“, schrie sie, als der Schacht plötzlich mit einem metallischen Quietschen unter ihnen nachgab und sie gut drei Meter Richtung Boden fielen. Asuka und Shinji landeten als verworrenes Knäuel auf der Erde, während Rei relativ elegant neben ihnen zu Boden glitt.
 

Ritsuko, Maya und Fuyutsuki blickten von oben auf die Piloten herab. „Sieh an, wer gerade eingetroffen ist…“, meinte Ritsuko leicht spöttisch.
 

Als Shinji sich wieder aufgerappelt hatte, blickte er sich um. Sie waren tatsächlich in der Kommandozentrale.
 

„Die EVAs sind alle vollständig einsatzbereit“, ergänzte der Vizecommander.
 

Shinji konnte ein Staunen nicht unterdrücken. „Wie ist das möglich?“, fragte er. In der Ferne erblickte er seinen Vater, der zusammen mit den Mechanikern ein langes Seil anzog, das an einem Flaschenzug hing. Rumpelnd kam der letzte Entry-Plug in der vorgesehenen Öffnung des Evangelions zum Stehen.
 

„Sie haben alles von Hand gemacht. Weil der Commander an euch geglaubt hat. Er war sich sicher, dass ihr rechtzeitig hier sein würdet“, antwortete Ritsuko. Man konnte ihre Bewunderung quer durch die ganze Halle heraushören.

 

***
 

Auf dem Dach des nahegelegenen Hochhauses spähten die drei anderen Piloten mittlerweile durch ihre mitgebrachten Ferngläser. Der spinnenförmige Engel, den sie beobachteten, hatte aufgehört, sich fortzubewegen. Stattdessen hatte er begonnen, eine ätzende Flüssigkeit in einen großen Schacht abzusondern, den er mit Gewalt geöffnet hatte.
 

„Hihi, schaut mal, der markiert sein Revier“, gluckste David, als er durch seinen Feldstecher starrte.
 

Janko fand das nicht ganz so witzig wie sein Kollege. Aber David hatte immer schon die Angewohnheit gehabt, bei erhöhtem Stresslevel noch mehr Blödsinn als sonst von sich zu geben. Er betrachtete den Engel. Das waren sie also. Die Feinde der Menschheit und Boten des Untergangs. Diesen Wesen mussten sich die Teenager bis jetzt also alleine stellen. Ihr Leben riskieren, damit die alten Männer von SEELE weiter auf ihre Erlösung hoffen konnten. Eine kalte Wut stieg in ihm auf.
 

„Also sonderlich gefährlich sieht der nicht aus…“, ergänzte Ben. „Trotzdem wäre es gut, wenn die Kids mal was tun würden. Sonst hat der Engel bald die gesamte Panzerung bis zur Geofront durchgeätzt…“

 

***
 

Rei hatte in ihrem Entry-Plug Platz genommen und checkte noch einmal die Systeme durch. Alle Anzeigen leuchteten grün, auch die Nervenverbindungen schienen diesmal zu halten.
 

„Warum habe ich das, was Janko mir verraten hat, eben nicht erzählt?“, fragte sie sich.
 

„Weil es Asuka nichts angeht, was ihr zu besprechen hattet“, sagte eine leise Stimme in ihrem Kopf.
 

„Aber ich hätte es tun können. Ich habe sogar seine Erlaubnis.“
 

„Nur, weil man etwas tun kann, heißt nicht, dass man es auch tun muss“, antwortete die Stimme.
 

„Er vertraut mir, hat er gesagt. Vertrauen… der Glaube an einen anderen…“
 

Ritsukos Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

 

***
 

Asuka und Shinji waren mittlerweile ebenfalls in ihre EVAs geklettert. Ritsuko stand in einiger Entfernung und rief zu ihnen durch ein Megaphon hoch: „Ok passt auf, wir haben die EVAs mit zusätzlichen Batterien ausgestattet. Damit habt ihr ein wenig mehr Akku-Laufzeit! Wir können aber die letzte Halterung nicht entfernen, das müsst ihr manuell machen!“
 

„Verstanden!“, schallte es gemeinsam zurück.
 

Wie auf Knopfdruck begannen die drei Evangelions, gleichzeitig an ihren Sicherungen zu schieben. Ein gigantisches Quietschgeräusch erfüllte das Central Dogma. Anschließend schickten sie sich an, einen der Tunnel, durch die sie eigentlich Richtung Oberfläche geschossen werden sollten, hinaufzuklettern.
 

„Warum müssen wir heute eigentlich immer wieder irgendwo durchkriechen?“, fragte Asuka halb belustigt. Als sie eine gigantische Zwischentür erreichten, nutzte sie die Füße ihrer Einheit 02, um das Tor einzutreten. Unter lautem Krachen fiel die aus den Angeln gerissene Stahlplatte den angrenzenden Schacht nach unten. Anschließend sprangen sie in den Durchbruch und fanden sich in einem senkrechten Tunnel wieder. Mit ausgestreckten Armen und Beinen hielten sich die EVAs fest. Sie blickten nach oben.
 

„Ach du Scheiße!“, rief Asuka, als sie weiter oben die Augen des Engels ausmachen konnte. Etwas gelbes, leicht zähflüssiges floss aus einer Öffnung am Bauch des Engels in Strömen nach unten.
 

Die Flüssigkeit traf Reis EVA zuerst. Sie spürte einen brennenden Schmerz, als die Säure begann, sich das Metall der Panzerung zu zersetzen. „Vorsicht, das ist Säure!“, rief sie und verlor den Halt an der Wand. Der EVA krachte auf die anderen beiden Einheiten unter ihr, die ebenfalls den Druck an die Wände nicht mehr aufrechterhalten konnten. In einer gewaltigen Lawine aus Metall rutschten sie nach unten und verloren dabei ihre Gewehre.
 

Mit zusammengebissenen Zähnen rammte Shinji die Arme und Beine von Einheit 01 erneut in die Wände. Quietschend kam er, mit den anderen Einheiten auf seinem Rücken, zum Stehen. Sie schafften es anschließend, sich in einen seitlich abgehenden Tunnel zu retten, bevor die nächste Welle an Säure sie treffen konnte.
 

Zu dritt hockten die gigantischen Maschinen in der kleinen Öffnung. Als sie nach unten blickten, erkannten sie ihre Waffen.
 

„Na toll, wir haben nur noch für 2 Minuten und 40 Sekunden Energie! Und die Gewehre sind außer Reichweite!“, schimpfte Shinji über den Comm-Kanal.
 

Asuka dachte kurz nach. Dann erschien ein Grinsen in ihrem Gesicht. „Ok, hier ist der Plan: Wir brauchen einen Verteidiger, einen Angreifer und einen Backup-Spieler. Der Verteidiger fängt die Säure ab und neutralisiert das AT-Feld des Engels. Der Backup-Spieler lässt sich in den Schacht herunter und holt eines der Gewehre. Er gibt es an den Angreifer weiter.“ Sie blickte über den Livestream in die Gesichter ihrer Kameraden. „Und der Angreifer verpasst dem Engel damit eine Salve und zerstört ihn so.“
 

Die anderen zwei Piloten nickten. „Dann werde ich die Verteidigung übernehmen“, meldete sich Rei. Das war ja bis jetzt quasi immer ihre Aufgabe gewesen.
 

„Vergiss es, Wunderkind!“, grätschte Asuka dazwischen. „Shinji, ich schulde dir noch was für die Nummer auf dem Vulkan. Und ich hab nicht gerne Schulden, klar?!“
 

Shinji zog überrascht die Augenbrauen hoch.
 

„Rei, du bist Backup“, legte Asuka nach. „Du gibst das Gewehr an Shinji als Angreifer. Ich mache den Verteidiger. Also, bereit?“
 

„Gut“, schallte es von den anderen beiden zurück.
 

„Na dann mal los!“, rief die Pilotin von Einheit 02. Mit einer grazilen Rolle hechtete sie aus dem Schacht und rammte ihre Arme und Beine oberhalb des Schachtes in die Wände. Der Engel reagierte sofort. Eine neue Welle ätzender Säure schwappte auf ihren Rücken und begann, sich durch das Metall der Panzerung zu fressen. Sie keuchte auf.
 

„Na warte, du Bastard!“, schimpfte sie in Gedanken. „Neutralisiere AT-Feld!“
 

Ein nahezu unsichtbares Flimmern breitete sich wellenförmig von ihrem EVA aus. Es gab ein kurzes, knarzendes Geräusch, als das Feld auf das Gegenstück des Engels traf. Nach einigen Sekunden brach die Verteidigung des Gegners in sich zusammen. Er war ungeschützt.
 

Einheit 00 war währenddessen auf dem Boden des Schachtes gelandet. Sie griff das Gewehr und schaute nach oben. Shinjis EVA kam gute vierzig Meter über ihr nach kurzem Rutschen zum Stehen. Er drehte sich zu ihr um und streckte den violetten Arm aus.
 

„Rei, das Gewehr, schnell!“, rief er.
 

Mit aller Kraft warf die blaue Einheit das Gewehr nach oben. Mit perfektem Timing fing Shinji es mit seinem EVA auf und legte an. „Asuka, aus dem Weg!“, brüllte er.
 

Einheit 02 machte mit einem Sprung zur Seite den Weg frei und eine Ladung nahezu PKW-großer Projektile schnellte gen Himmel. Sie durchschlugen den Kern des Engels, der ohne AT-Feld dieser Attacke nichts entgegenzusetzen hatte. Die gelbe Säure vermischte sich mit dem roten, hervortretenden Blut des neunten Engels, als dieser in sich zusammenbrach. Überraschenderweise kam es zu keiner Explosion. Als habe man einen unsichtbaren Stecker gezogen, fiel der Körper des Feindes einfach in sich zusammen. Die vier schwarzen Beine schlugen leblos auf den Straßen von Tokyo-3 auf.

 

***
 

14:49 Uhr, Ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland, Kommandoraum
 

Der gesamte Stress der letzten 24 Stunden entlud sich in dem Luftstrom, den Thaddäus und Phil auspusteten, als die Satellitendaten das Ende des neunten Engels vermeldeten. Jubel brach aus und die beiden Leiter der Niederlassung fielen sich in die Arme.
 

„Ok, die Apokalypse ist für heute abgewendet!“, rief Thaddäus. „Herzlichen Glückwunsch, meine Damen und Herren, Sie sind durch Ihre Aktion heute NICHT für das Ende der Welt verantwortlich!“
 

„Diese Teenager haben es tatsächlich geschafft“, stellte Phil anerkennend fest. „Und ich muss meinen Hut vor dem NERV-Hauptquartier ziehen. Die Dinger ohne Strom einsatzbereit machen… reife Leistung. Aber es war ein verdammtes Risiko! Wenn der Engel bis zum Terminal Dogma vorgedrungen wäre…“
 

Thaddäus hatte sich bereits wieder gefangen. Er setzte seinen routinierten Blick auf. „Ein Risiko, das wir eingehen mussten. Hoffentlich hat SEELE jetzt genug Druck, weitere Verstärkung anzufordern.“ Er wandte sich an den anderen Offizier. „Lieutenant Kocurek, was sagen die Satellitendaten zum Pazifischen Feuerring?“
 

Der Offizier keuchte auf. „Es… es hat begonnen, Sir!“
 

Thaddäus rückte seine Brille zurecht. „Dann alle Mann zurück auf ihre Posten!“, schrie er. „Es erwartet uns die nächste Prüfung!“ „Und kein Frieden diesseits des Himmels“, fügte er in Gedanken hinzu.

 

***
 

Zeitgleich, Pazifischer Ozean, Subduktionszone Pazifische Platte/Philippinische Platte, ca. 300 Kilometer südlich von Japan
 

Hier im dunklen Ozean, wo der Druck der Wassermassen und die Macht der geologischen Aktivitäten die alles bestimmenden Kräfte waren, waberte der rosafarbene Nebel seit Ewigkeiten vor sich hin. Seit Milliarden von Jahren hatte er hier verharrt, seit der weiße und der schwarze Mond das Antlitz der noch jungen Erde verändert hatten. Gebirge waren entstanden und wieder zerfallen, abgeschabt von Wind und vom Zahn der Zeit. Meere hatten sich gebildet und wieder zurückgezogen, Generationen von Lebewesen ihre Federn, Füße und Fühler über den Planeten ausgebreitet. Zivilisationen waren aus der Asche ihrer Vorväter aufgestiegen und wieder vergangen.
 

Und seit Anbeginn der Zeit hatte das Kaiju in tiefem Schlaf gewartet. Verharrt, um bei Bedarf den extrem unwahrscheinlichen Fehler zu korrigieren, der sich tatsächlich ereignet hatte. Der sogar einer nahezu perfekten Spezies wie den Allerersten passiert war. Es konnte nur eine Art von Nachkommen der Saaten des Lebens auf einem Planeten existieren. Dies war das älteste Gesetz. Und hier, auf dem blauen Planeten, waren es nun mal nicht die Menschen, die dieses Anrecht innehatten. Dies hatte nichts mit Bestrafung zu tun, nicht mit Vergeltung, auch nicht mit Mordlust. Schlicht mit der Wiederherstellung der natürlichen Ordnung, der vorgeschriebenen Reihenfolge. Adam war zuerst dagewesen, nicht Lilith.
 

Und so zog das Kaiju aus, um sein Werk zu vollenden. Als Erstes von Vielen. Als erster Vorbote der Hölle. Der Riss im Gefüge des Raums, der sich auftat, war noch frisch und klein. Doch er würde wachsen und viele weitere Boten würden folgen. Zu Ende bringen, was dieses Kaiju vielleicht noch nicht vermochte. In einer gigantischen Explosion entlud sich die angestaute Spannung unterhalb der Kontinentalplatten. Ein Lichtstrahl schoss aus der Tiefe des Ozeans empor und bildete eine kreuzartige Säule, die über dutzende Kilometer hinweg sichtbar war. Doch diesmal handelte es sich um ein umgedrehtes Kreuz.
 

Das Monster schrie, als es die Wasseroberfläche durchbrach. Es sandte eine Nachricht an die Spezies, die über so lange Zeit die dominierende Lebensform auf diesem Planeten gewesen war. Die Nachricht besagte, dass die Zeit der Menschen abgelaufen war.

Keine Atempause

6. Oktober 2015, ca. 22:00 Uhr, am Rande von Tokyo-3
 

In der aufziehenden Dunkelheit waren die Umrisse der nicht eingefahrenen Wolkenkratzer nur vage zu erkennen. Shinji, Asuka und Rei hatten am Hang auf einer Wiese Platz genommen und schauten in die Nacht und den Sternenhimmel. Sie hatten die Plugsuits bis jetzt noch nicht abgelegt.
 

Shinji lag auf dem Rücken und schaute nach oben. „Ob die Engel von außerhalb stammen? Von anderen Planeten, meine ich…“
 

Asuka schüttelte den Kopf. Sie hatte sich ebenfalls flach hingelegt, aber ihre Beine überschlagen. Sie wippte leicht mit dem Fuß. „Also ich finde, dass es keine Rolle spielt, wo die Viecher herkommen. Sie sind uns feindlich gesinnt. Also müssen sie weg.“
 

„Ich weiß nicht. Irgendwie verstehe ich das alles nicht. Vielleicht sollen wir das auch gar nicht herausfinden. Und einfach nur unseren Job machen.“ Shinji drehte sich auf den Bauch.
 

„Glaubst du, die verheimlichen uns etwas?“ Asuka schien die Idee nicht ganz abwegig zu finden. „Trotzdem bleiben die Dinger böse. Und daher müssen wir sie bekämpfen.“
 

Der Junge schien nicht stillliegen zu können. Er drehte sich wieder zurück auf den Rücken und betrachtete die Sterne. „Der Himmel sieht so viel schöner aus, jetzt, wo die störenden Lichter der Stadt aus sind“, sagte er.
 

„Also ich weiß nicht, so dunkel wirkt die Stadt total langweilig“, antwortete Asuka. Sie verzog das Gesicht. „Es wirkt alles so… tot…“
 

Rei hatte die Beine wieder an den Körper gezogen und umschlang sie mit ihren Armen. Sie starrte nachdenklich ins Leere. „Nur, weil die Menschen die Dunkelheit so sehr fürchten, waren sie in der Lage, das Feuer zu zähmen.“
 

„Sieh an, sieh an! Unsere Rei ist ja eine richtige Philosophin!“, kicherte Asuka. Dann weiteten sich ihre Augen. „Seht! Aaaah, schon besser! Der Strom scheint wieder da zu sein!“
 

Straße um Straße wurden die Lichter in Tokyo-3 wieder angeschaltet. Nacheinander wurden die Gebäude vor dem schwarzen Hintergrund wieder sichtbar. Dann, als alle Lichtquellen wieder eingeschaltet waren, hörten sie es. Ein lautes Alarmsignal ertönte und zerstörte die malerische Ruhe, die bis jetzt an diesem Abend vorgeherrscht hatte.
 

„WAS!?“, keuchte Asuka. „Das kann doch nicht schon wieder ein Engel sein! Der letzte ist noch nicht mal 8 Stunden tot!“
 

Die Drei sprangen auf und liefen den Hügel hoch. Nach wenigen Augenblicken erschien ein schwarzer Van von NERV und hielt mit quietschenden Reifen vor ihnen. Die Schiebetür flog auf und zwei Sicherheitsleute sprangen heraus. „Piloten, bitte einsteigen! Wir fahren Sie direkt zum Hauptquartier!“, rief der Größere von beiden.
 

„Aber das kann doch nicht wahr sein!“, sprach Shinji, als er auf der Rückbank Platz genommen und sich angeschnallt hatte. Der Van brauste durch die noch menschenleeren Straßen und kam nach kurzer Zeit vor dem großen Eingangstor des Hauptquartieres an. Die Schranken gingen auf und der Wagen wurde direkt auf einen der CAR-Trains geleitet. In wenigen Minuten waren sie wieder in der Geofront. Als sie ausstiegen, kamen ihnen eine mürrisch dreinblickende Misato und eine nahezu panische Ritsuko entgegen.
 

„Da seid ihr ja!“, rief die blonde Frau und winkte sie zu sich. „Ein unbekanntes Objekt ist vor der Küste aufgetaucht und legt gerade die Region um Shizuoka in Schutt und Asche!“
 

Shinji keuchte vor Entsetzen. „WAS?! Ein weiterer Engel? Kommt er hierher?“
 

Sie geleiteten die drei Piloten in die Kommandozentrale. Überall herrschte helle Aufregung. Techniker hetzten von Raum zu Raum, Analysen huschten über die Bildschirme. Wer keinen Platz an einem Schreibtisch ergattert hatte, war dabei, die Spuren des Stromausfalls zu beseitigen. Die beim Kappen der Leitungen ausgelaufene Hydraulikflüssigkeit sonderte einen eigenartigen Gestank ab, der bis in die Kommandozentrale zog. Die Stromversorgung war wieder aktiv, sodass alle einen Blick auf die holografischen Projektionen werfen konnten. Die drei Piloten konnten Hyugas Stimme hören, als sie eintraten.
 

„Wir haben Videoaufzeichnungen! Ich lege sie auf den Hauptschirm!“, rief er.
 

Und dann sahen sie es. Inmitten brennender Gebäude der Großstadt stand die seltsame, grau-bläuliche Kreatur. Ein gigantischer Fächer wuchs aus der Mitte des Kopfes des Monsters und zog sich den Hals hinunter bis über den Rücken, hin zum Schwanz. Seine glühenden Augen durchdrangen die Nacht. Als es schrie, beleuchteten blau fluoreszierende Adern im Maul des Wesens seine riesigen Zähne. Es besaß zwei kleine Arme am Körper, die an einen Tyrannosaurus Rex erinnerten. Die riesigen, muskulösen Beine zerstampften gerade ein weiteres Hochhaus.
 

Allen Anwesenden lief es kalt den Rücken herunter. „Was… was ist das?“, hörten die Piloten den Vizecommander fragen, der eine Etage weiter oben neben Gendo Ikari stand.
 

„Datenanalyse abgeschlossen!“, rief Maya Ibuki. „Höhe knapp über 60 Meter! Gewicht über 1.700 Tonnen! Wellenmuster… Violett!?“ Sie schüttelte den Kopf. „Sir, die MAGI stufen das Wesen nicht als Engel ein!“
 

Commander Ikari stand auf. Seine Stimme klang ruhig. Nur Ritsuko und Fuyutsuki konnten ein ganz leichtes Zittern heraushören. „Es spielt keine Rolle, als was die MAGI dieses Ding einstufen. Es wird über kurz oder lang nach Tokyo-3 kommen. Somit stellt es eine Gefahr für uns dar. Gibt es Informationen bezüglich eines AT-Feldes?“
 

„Negativ, Sir!“, antwortete Maya. „Wir konnten bis jetzt keines feststellen. Dennoch hat das Militär nicht den Hauch einer Chance. Ihre konventionellen Waffen richten bei der dicken Haut des Wesens keinerlei Schaden an!“
 

Misato wandte sich an die Brückenoffiziere: „Warum setzen die keine N² ein?“
 

„Wurde von der Regierung abgelehnt, Captain“, gab Aoba zurück. „Die Stadt wurde nicht evakuiert, der Angriff erfolgte zu plötzlich. Es befinden sich noch mehr als eine halbe Million Menschen dort!“
 

Gendo drehte sich um und blickte nach unten, direkt zu den Piloten. „Dann müssen wir die Evangelions erneut einsetzen. Glücklicherweise sind die Schäden vom Kampf gegen den neunten Engel nur minimal und alle drei Einheiten somit noch kampffähig. Captain Katsuragi, machen Sie alle Evangelions kampfbereit und postieren Sie sie am südlichsten Punkt von Tokyo-3. Sobald das Wesen sich gen Norden bewegt, greifen wir an.“ Er machte Anstalten, die Kommandoplattform zu verlassen. Dann drehte sich Gendo jedoch noch einmal zu Fuyutsuki um. „Ich werde eine Notfallsitzung mit dem Komitee anberaumen. Ich hoffe, dass die mehr Antworten haben. Sie müssen hier für mich übernehmen.“
 

Fuyutsuki wandte sich an den Rest der Crew. „Sie haben den Commander gehört! Auf Ihre Posten. Alle EVAs einsatzbereit machen. Die Piloten sollen sich zu den Entry-Plugs begeben!“

 

***
 

In seinem Apartment in Tokyo-3 saß Janko Freytag auf seinem Bett und starrte auf die Livebilder, die NERV-04 dankenswerterweise auf seinen Laptop übertrug. Das staatliche Fernsehen war mal wieder abgeschaltet worden, die Nachrichtensperre wurde genau wie beim Auftauchen der Engel angewandt. Er nippte an seiner Tasse Tee und konnte nicht umhin, diesem Wesen eine gewisse Faszination zuzugestehen. Mit Leichtigkeit zerdrückte es geparkte LKWs, riss Brücken ein und zerschmetterte die Fassaden der Bürogebäude, als es sich seinen Weg durch das Zentrum der Großstadt bahnte. Er sah die verzweifelten Bemühungen des japanischen Militärs, dem Kaiju Einhalt zu gebieten. Selbst die in großer Zahl abgeschossen Marschflugkörper der Kreuzer der japanischen Streitkräfte erwiesen sich als wirkungslos.
 

„Es macht mich wahnsinnig, euch allein da rausgehen zu lassen“, dachte er betrübt. Was würde er jetzt dafür geben, schon seinen Evangelion hier zu haben. „Verdammt nochmal, Thaddäus, beeilt euch!“

 

***
 

Die Evangelion-Einheiten 00, 01 und 02 hatten am südlichsten Zipfel von Tokyo-3 Stellung bezogen. Ihre Reichweite wurde immer noch von den Umbilical-Kabeln limitiert, sodass sie nicht weiter vorrücken konnten. Von einem Abwurf mit Hilfe der großen Transportmaschinen hatte man abgesehen, da man nicht sicher war, dieses Wesen in fünf Minuten besiegen zu können.
 

Asuka starrte in die dunkle Nacht und hielt ihren riesigen Speer fest umklammert. Sie erblickte mehrere Feuer am Horizont. „Und was, wenn das Biest nicht weiter nach Norden marschiert?“, dachte sie. „Bleiben wir dann hier stehen und sehen zu, wie die Menschen vor uns einfach getötet werden? Blöde, schwache Batterien!“
 

Einheiten 00 und 01 hatten neben ihr Stellung bezogen. Sie öffnete einen Comm-Kanal zu Rei und Shinji. „Und was jetzt, Leute?“, fragte sie. „Bleiben wir hier und drehen Däumchen?“
 

„Unsere Befehle lauten, darauf zu warten, dass das Wesen zu uns kommt“, gab Rei ruhig zurück.
 

„Oh, ich vergaß! Bloß nicht vom Protokoll abweichen!“, blaffte Asuka zurück.
 

„Was sollen wir denn sonst tun?“, fragte Shinji. „Wir können das Ding ja schlecht anfüttern…“
 

Ein Gedanke zuckte durch Asukas Kopf. Sie fing an, breit zu grinsen. „Und ob wir das können, passt mal auf!“, rief sie und sprengte ihr Umbilical-Kabel ab. Der Timer begann, von 5 Minuten an runter zu zählen. „Ihr wartet hier, ich locke das Ding zu euch!“ Mit diesen Worten sprintete Einheit 02 los, den Feuern in der Dunkelheit entgegen.
 

„Asuka, was wird das?“, rief Misato verärgert über Funk. „Du hast den Befehl, zu warten!“
 

„Vergiss es, Misato! Ich stehe doch hier nicht rum und sehe zu, wie das Ding die Stadt da vorne platt macht!“, gab Asuka zurück. In vollem Lauf sprang der Evangelion über die Stromtrassen und Eisenbahnlinien vor sich. Die Füße des EVAs hinterließen tiefe Furchen auf den angrenzenden Feldern, als er sich dem Zentrum der Kämpfe näherte. Ihre Instrumente meldeten ein riesiges Objekt vor ihr. „Da bist du ja, du hässlicher Drecksack!“, rief sie euphorisch.

 

***
 

Zeitgleich, Ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland, Kommandoraum
 

„Die Standard-Evas haben Position bezogen“, meldete Helga Martinsen, die die Daten der Überwachungssatelliten beobachtete. „Immer noch kein AT-Feld beim Kaiju messbar…“
 

Phil verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. „Wie wollen die Viecher dann gegen einen Evangelion bestehen?“, fragte er laut.
 

Thaddäus lachte leise auf. „Die brauchen kein eigenes AT-Feld…“
 

„Was?!“, entgegnete Phil und drehte sich zu ihm um.
 

Thaddäus lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und versuchte, den Zigarettenstummel in dem völlig überfüllten Aschenbecher auszudrücken. Die Asche fiel daneben, sodass er sie mit einem leichten Pusten vom Pult fegte. „Die Kaijus sind von den gleichen Wesen erschaffen worden, die auch die Lanzen von Longinus gebaut haben. Glaubst du, die juckt ein AT-Feld? Nein, die gehen da einfach durch wie ein Messer durch warme Butter…“
 

Martinsen und Kocurek entfuhr ein überraschtes Stöhnen. „Und wie besiegt man die dann?“, fragte der Brückenoffizier.
 

Thaddäus setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf. „So, wie man alles andere auch besiegt: Mit roher Gewalt.“

 

***
 

22:48 Uhr Ortszeit, am Rande von Tokyo-3
 

Das Kaiju hatte Asuka bemerkt und drehte sich zu der ankommenden Einheit 02 um. Es stieß einen markerschütternden Schrei aus. Asuka blickte auf den Timer an ihrem Handgelenk. Die Uhr zeigte noch 3:48 Min Restenergie. Sie bremste ihren EVA und nahm den Speer in die rechte Hand. Wie ein Leichtathlet ging sie in Wurfposition und zielte.
 

„Na dann komm mal schön her“, dachte sie und schleuderte den Speer Richtung Gegner. Die gigantische Eisenstange sauste durch die Luft und traf die rechte Schulter des fremden Wesens. Sie durchbrach die lederne Haut des Kaijus und blieb stecken. Ein kleiner, bläulicher Blutstrom lief an der Eintrittswunde herab. Wütend riss das Kaiju das Maul auf und biss auf den Speer. Mit einem lauten Krachen zerbrach die Waffe und die Einzelteile fielen zu Boden. Dann setze es zum Angriff auf den Evangelion an.
 

„Na dann hab ich jetzt wohl seine Aufmerksamkeit!“, rief das rothaarige Mädchen und machte kehrt. Der Timer tickte weiter runter. Sie stürmte los, dicht gefolgt von dem blaugrauen Wesen, das eine überraschend hohe Geschwindigkeit entwickelte.
 

„Shinji, Rei, nehmt das Ding unter Feuer, sobald es in Reichweite ist! Ich hol mir mein Kabel zurück!“, ergänzte Asuka und nahm wie ein Hürdenläufer die Hindernisse, die vor ihr im Weg standen. Das Kaiju war nicht so höflich. Es durchbrach einfach jeden landschaftlichen Widerstand, der ihm im Weg stand.
 

Die Einheiten 00 und 01 legten ihre Standardgewehre an und zielten. Als die Maximalreichweite unterschritten wurde, erhellten die Blitze des Mündungsfeuers die Nacht. Gewaltige Patronen flogen in Richtung des Kaijus und ließen es aufheulen. Jedoch zeigten nur wenige Treffer tatsächlich Wirkung. Die meisten Kugeln prallten einfach an der organischen Panzerung des Monsters ab.
 

Als beide Magazine leergeschossen waren, öffnete Rei einen Comm-Kanal. „Das funktioniert nicht. Wechsele auf Nahkampf-Bewaffnung“, teilte sie mit. Einheit 00 zückte das Prog-Messer.
 

Einheit 02 stöpselte das Umbilical-Kabel wieder ein und blickte auf das Schlachtfeld. Der Timer an Asukas Handgelenk wurde wieder auf „unendlich“ zurückgesetzt.
 

Der lilafarbene EVA stürmte vor, eine Prog-Axt in den Händen. „Komm her!“, schrie Shinji, als der die Waffe über den Kopf hob und die Restdistanz zum Feind überwinden wollte. Das Kaiju drehte sich jedoch plötzlich um und schleuderte Einheit 01 seinen Schwanz entgegen. Er traf den EVA im Brustbereich und warf ihn zurück. Krachend landete Shinji auf einem großen Parkplatz. Die Autos zerbarsten unter heulendem Geschrei der Alarmanlagen.

 

***
 

Janko hatte seinen Laptop mit auf den Balkon genommen und saß auf dem Boden, den Rechner auf dem Schoß. Er sah die Bilder des zurückfliegenden EVAs und schüttelte frustriert den Kopf. Die E-Zigarette blubberte vor sich hin. „Himmel, hat man euch denn gar nichts beigebracht?! So greift man doch nicht an…“, dachte er verärgert. Das Ganze kam ihm so absurd vor. NERV ließ die Piloten unbeobachtet in der Stadt herumlaufen und offensichtlich hatte sie auch niemand in irgendeiner Art von Selbstverteidigung unterrichtet.
 

„Ein Wunder, dass wir alle noch leben!“, sagte er zu sich.

 

***
 

Rei hatte gesehen, wie Shinji zurückgeschleudert wurde. Dann ergab sich für sie der passende Moment. Das Kaiju war am Ende seiner Rotation angekommen und hatte ihr den Rücken zugewandt. Nach einem kurzen Sprint setzte Einheit 00 zum Sprung an und landete auf dem Rücken des Kaijus. Sie quetschte sich an dem Fächer vorbei und schob den linken Arm unter dem Hals des Kaijus durch. Die blaue Einheit verschränkte die Beine vor dem Bauch des Monsters, das, einem buckelnden Pferd gleich, versuchte, sie abzuwerfen.  Mit dem Prog-Messer in der rechten Hand begann sie, auf den Gegner einzustechen.
 

Asuka sah, wie sich Einheit 00 festklammerte. Sie lief zu einem der Waffendepots und zog einen weiteren Speer hervor. Mit diesem in der Hand rannte sie auf den immer noch buckelnden Gegner zu. Nachdem Einheit 00 einige blutige Treffer in der Halsgegend setzen konnte, verlor sie jedoch kurzzeitig den Halt. Das Kaiju packte Einheit 00 und schleuderte Reis EVA genau auf die heranstürmende Verbündete, sodass sie beide in einer Wolke aus Schutt und Staub zu Boden gingen. Der Untergrund bebte, als sie beide nebeneinander zum Liegen kamen. Als sich der bräunliche Nebel verzog, erkannten sie Shinjis Einheit, die den Gegner erneut erreicht hatte. Sie schwang wieder die Prog-Axt und traf diesmal das linke Bein des Kaijus. Eine Fontäne aus bläulichem Blut spritzte über den Horizont, als die Klinge der Waffe Muskeln und Sehnen durchtrennte. Die anderen EVAs kamen wieder auf die Beine und setzten zum finalen Stoß an.
 

„Jetzt fahr zur Hölle!“, schrie Asuka und rammte den Speer in den Brustkorb des Kaijus. Es kippte nach hinten und fiel zu Boden. Seine Beine strampelten hilflos in der Luft.
 

„Beenden wir das!“, dachte Rei und sprang an Asukas Einheit vorbei. Mit beiden Händen riss sie das Prog-Messer nach oben und rammte es dem am Boden liegenden Feind in den Kopf. Ein letzter Schrei entwich dem besiegten Gegner, bevor das Kaiju zuckend und blutend verstummte und regungslos liegen blieb.
 

Stille senkte sich über das Schlachtfeld. In der Ferne flackerten noch immer die Brände in der zerstörten Großstadt und tauchten den Horizont in ein tiefes Orange. Durch die geöffneten Comm-Kanäle konnte Rei das schwere Atmen ihrer Kameraden hören. Dann erreichte sie der Jubel aus dem Hauptquartier.
 

„Gute Arbeit, Leute! Keine Lebenszeichen mehr vom Zielobjekt!“, rief Misato. „Kommt nach Hause, Kinder. Ihr habt wahrlich genug für heute geleistet.“
 

Rei ließ sich nach hinten in ihren Pilotensitz sinken und schloss kurz die Augen. Sie atmete ein paar Mal ein und aus. „Das war also der neue Feind“, dachte sie. „Wo kommt er her? Und was will er?“

 

***
 

23:15 Uhr, Dringlichkeitssitzung des Komitees, digitaler Konferenzraum im Büro des Commanders
 

Gendo Ikari hatte die Arme auf seinem Schreibtisch aufgestützt und wartete geduldig, bis sich sämtliche Mitglieder des Komitees von SEELE zugeschaltet hatten. Keel war der Erste, der das Schweigen durchbrach. „Commander Ikari, ein ereignisreicher Tag geht zu Ende. Wir haben soeben die Nachricht vom Sieg der Evangelions gegen den unbekannten Feind erhalten.“
 

„Das ist korrekt. Der Gegner wurde außerhalb von Tokyo-3 abgefangen und unschädlich gemacht. Alle Einheiten haben nur minimale Schäden erlitten“, antwortete der Befehlshaber von NERV.
 

„Das hätte aber auch ganz anders ausgehen können. Der Stromausfall vom heutigen Tag hat massive Sicherheitslücken in der Geofront offenbart“, mischte sich das britische SEELE-Mitglied ein.
 

„Es sind keine Daten aus der Geofront abgeflossen. Die EVAs konnten ebenso den Engel, der es bis nach Tokyo-3 geschafft hat, zerstören“, gab Gendo zurück. Er hatte sich fest vorgenommen, heute keine Schwächen zu offenbaren.
 

„Allerdings ist immer noch unklar, wer für diesen Stromausfall verantwortlich ist, Ikari“, sprach Keel. Er stützte den rechten Arm auf den Schreibtisch und lehnte sich leicht nach vorn. Sein Visor ließ nicht zu, dass man irgendeine Gefühlsregung in seinem Gesicht erkennen konnte. „In Anbetracht der neuen Ereignisse revidiert das Komitee seine Haltung bezüglich der anderen verfügbaren Evangelion-Einheiten von NERV-04. Wir wollen, dass Sie sie anfordern.“
 

Gendo runzelte leicht die Stirn. „Meine Crew hat heute bewiesen, dass sie auch mit dem neuen Feind fertig wird. Ich halte das nicht für erforderlich.“
 

„Das haben Sie nicht zu entscheiden, Ikari“, sprach das amerikanische Mitglied am grünen Projektionstisch.
 

Bedächtig nahm Gendo die Arme runter. Er wusste, dass weitere Diskussionen nur Zeitverschwendung waren. Er nickte langsam. „Aber was ist mit den Schriftrollen? Dort finden diese neuen Wesen keine Erwähnung, geschweige denn dieser ‚Riss‘ im Pazifik.“
 

Keel übernahm wieder das Wort. „Kümmern Sie sich nicht um die Schriftrollen, sondern um ihren Job. Setzen Sie die neuen EVAs nach deren Ankunft auf diese Bedrohung an, sie sind schlussendlich entbehrlich. Die ursprünglichen EVAs bleiben dem Kampf gegen die Engel vorbehalten. Sie kennen das Szenario und wissen, was sie zu tun haben, Ikari.“ Und mit diesen Worten schaltete sich das Komitee ab.
 

Gendo lehnte sich zurück und blieb schweigend sitzen. Nach einigen Minuten hörte er die Schritte des Vizecommanders, der das Büro betreten hatte und langsam auf ihn zukam. Er blickte über den Rand seiner Brille auf und fixierte Fuyutsuki, der vor seinem Schreibtisch zum Stehen kam.
 

„Also doch“, stellte der grauhaarige Mann fest.
 

„In der Tat. Geben Sie NERV-04 grünes Licht, sie sollen nach Japan kommen.“ Gendo schob die Brille zurecht und faltete seine Hände.
 

„Dass der Chairman die Frage nach den Schriftrollen so abgeblockt hat, ist ärgerlich“, bemerkte Fuyutsuki.
 

Tief in seinem Inneren musste Gendo lächeln. Es war kein freundlicher Gedanke. „Du hast also an der Tür gelauscht, alter Mann“, dachte er im Stillen. Dann antwortete er: „Er hat sie nicht einfach abgeblockt. Er schien vielmehr wütend, keine Antwort auf meine Frage zu haben. Und da ist ihm nichts Besseres eingefallen, als auf der Befehlshierarchie zu bestehen.“
 

Und DAS beunruhigte Gendo. Irgendetwas lief hier ganz und gar nicht nach Plan.

Gutes Timing

07.Oktober 2015, früh morgens, Ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland
 

Helga Martinsen rannte, nein, sie flog förmlich durch die unterirdischen Gänge von NERV-04. Sie passierte die große Halle mit den drei „Höllenmaschinen“, wie sie die EVAs im Geheimen immer nannte, ließ den Verwaltungskomplex links liegen und stieß schlussendlich die Tür zur Kantine auf. Sämtliche Anwesenden drehten sich zu ihr um, als sie schlitternd zum Stehen kam. Die Gespräche waren mit einem Mal verstummt, nur der gurgelnde Kaffeevollautomat in der Ecke arbeitete beharrlich vor sich hin. Die junge Technikerin bekam einen hochroten Kopf, als sie sich der Aufmerksamkeit bewusstwurde, die sie erregt hatte. Dann begann sie jedoch zu strahlen und riss das Dokument in die Höhe, welches sie vor wenigen Minuten ausgedruckt und überflogen hatte.
 

„Freigabe!“, rief sie atemlos. „Hier ist die Anforderung vom NERV-Hauptquartier! Sie haben die Erlaubnis zur Überführung erteilt, inklusive des gesamten angebotenen Personals!“
 

Der Saal explodierte förmlich. Die anwesenden Techniker begannen, jubelnd auf den Tischen zu trommeln, während Phil von seinem Stuhl aufsprang und auf den Tisch kletterte. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er in die Gesichter seiner Leute blickte. Sie hatten so lange so hart für diesen Moment gearbeitet. Mit einer Handbewegung brachte er die Crew zum Schweigen.
 

„Männer und Frauen von NERV-04, ihr habt es gerade gehört. Ich hoffe, dass ihr eure Zähne geputzt und eure Unterhosen gebügelt habt, denn jetzt lassen wir die Grenzen dieser Einrichtung hinter uns und gehen dorthin, wo die Zukunft der Menschheit entschieden wird. Die nächste Zeit wird hart werden, macht euch da keine Illusionen! Wir werden kämpfen, wir werden bluten und vielleicht werden viele von uns sogar sterben. Ich kann euch nicht versprechen, dass eure Bemühungen gewürdigt werden. Ich kann auch keinen Erfolg dieser Mission garantieren. Aber eines kann ich euch sagen: Wenn ihr in einigen Jahren auf diese Zeit zurückblickt, dann werdet ihr mit Stolz euren Kindern und Enkeln sagen können, dass ihr euch mit jeder Faser eures Seins gegen die hereinbrechende Dunkelheit gestemmt habt! Dass ihr bereit wart, euer Leben zu geben, damit die Menschheit als solche eine Zukunft hat! Auf der anderen Seite der Erde wird sich das Schicksal dieses Zeitalters erfüllen. Dort stoppen wir die Apokalypse! WIR GEHEN NACH JAPAAAAAAN!!!“
 

Die Crew von NERV-04 riss es von den Stühlen. Im anbrandenden Jubeln lagen sich Sicherheitsteams, Techniker und Brückencrew in den Armen und reckten die Fäuste gen Himmel. „Japan! Japan“-Sprechchöre hallten immer noch durch die Anlage, als jedes Mitglied zu seinem Platz zurückeilte, um die finalen Arbeiten vor dem Aufbruch in den fernen Osten zu erledigen.

 

***
 

07. Oktober 2015, 20:32 Uhr Ortszeit, Tokyo-3, Amüsierviertel
 

Die Kellnerin brachte die zweite Runde Cocktails, als die Laternen angingen und offiziell den Abend einläuteten. Es war zwar unter der Woche, aber die Straßen waren voll von Menschen. Es schien, als feiere ganz Tokyo-3 den nächsten Sieg gegen einen Engel. Oder einfach nur, wider Erwarten noch am Leben zu sein.
 

Janko, David und Ben saßen an einem Außentisch einer Cocktailbar und sahen sich um. Von drinnen erklangen die schiefen Stimmen einiger Leute, die sich an Karaoke versuchten. Das ein oder andere alkoholische Getränk hatte wohl schon geholfen, ihre Skrupel zu überwinden und japanische Volkslieder nun mit voller Inbrunst zu schmettern.
 

„Auf die Freigabe!“, rief David und stieß mit den anderen an. Natürlich hatten sie die Neuigkeiten aus Deutschland erhalten. Wenn auch wieder kryptisch über eine verschlüsselte Nachricht auf ihren Smartphones.
 

„Meint ihr, die finden die Ursache des Stromausfalls heraus?“, fragte Janko leise. Er hielt die ganze Aktion immer noch für sehr riskant.
 

„Kann ich mir nicht vorstellen. Es geht weniger darum, ob sie uns verdächtigen. Mehr, in welche Richtung man blickt. Sie werden kaum eine ihrer eigenen Niederlassungen dahinter vermuten.“ Ein schelmisches Grinsen zeigte sich in Bens Gesicht.
 

„Es war ein notwendiges Risiko“, ergänzte David. „SEELE muss sich von Gegnern umzingelt fühlen, um alle ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu nutzen. Wie heißt es so schön? ‚Stehe nah bei deinen Freunden, aber noch näher bei deinen Feinden‘.“ Er zwinkerte verschwörerisch.
 

„Mach dir keinen Kopf, Janko.“ Ben wuschelte ihm durchs Haar. „Bald wird hier richtig die Post abgehen, da wird überhaupt keine Zeit sein, zurückzublicken.“
 

„Na, ob das jetzt ne erstrebenswerte Aussicht ist…“, antwortete Janko mürrisch. Dann weiteten sich seine Augen. „Seht mal, sind das da hinten nicht Misato und unser Kontaktmann, dieser Kaji?“, fragte er und zeigte in die Menschenmenge.
 

„Ich glaub, du hast Recht!“, meinte David. „Ich glaube, ich lad sie mal an unseren Tisch ein, wird sicher lustig!“ Bevor die anderen etwas erwidern konnten, war er schon über den kleinen Zaun der Bar gehüpft und lief schnurstracks auf die zwei Neuankömmlinge zu.
 

„Meine Güte, jetzt spiel mal nicht den Trauerkloß! Endlich kommt Bewegung in die ganze Sache. Dafür wurden wir ausgebildet, Mann!“ Ben lächelte Janko an und schüttelte dabei mit dem Kopf. „Normalerweise bin ich derjenige mit den größten Bedenken, mach mir bloß nicht meinen Ruf streitig!“
 

David hatte Misato mittlerweile erreicht. Janko konnte nicht verstehen, was sein Kollege ihnen sagte, aber nach kurzer Diskussion setzten sich die Frau und der Mann zu ihnen an den Tisch. Nachdem sich Kaji den anderen unverbindlich vorgestellt hatte, man wollte ja die offizielle Linie, dass sie sich nicht kannten, aufrechterhalten, bestellte David für alle eine Runde Shochu. Sie verzogen alle leicht das Gesicht, als der japanische Schnaps ihre Kehlen herunterlief.
 

„Boah, seeeehr nussig“, hustete David und spülte mit seinem Cocktail nach. „So, jetzt aber nochmal offiziell: Herzlichen Glückwunsch zu den Operationen gestern! Erst ein Engel und dann noch ein anderes Monster an einem Tag, das will schon was heißen!“
 

Misato lächelte. „Naja, da müsst ihr eher den Children gratulieren als mir.“ Sie schaute in die Runde, dann zog sie eine Augenbraue hoch. „Aber woher wisst ihr von dem zweiten Kampf?!“
 

„Ach komm schon, wir leben in Zeiten des Internets! Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass eine Nachrichtensperre fürs Fernsehen die Leute daran hindert, mitzukriegen, dass hier ein tonnenschwerer Koloss in irgendeiner Stadt randaliert…“, gab Ben zurück.
 

Misato stand auf. „Schätze, ihr habt Recht… So, ich geh mir mal mein Näschen pudern, bin gleich zurück!“
 

Als sie Richtung Toilette verschwunden war, schaute Kaji die drei Piloten an. „Dann hat es tatsächlich funktioniert, wie ich erfahren habe. Eure Leute machen sich also gerade auf den Weg…“
 

„Das kannst du laut sagen“, antwortete David. „Brillant ausgeführt, möchte ich betonen.“
 

Der Mann mit dem Pferdeschwanz zog die Stirn in Falten. „Macht nicht den Fehler, das Komitee zu unterschätzen. SEELE wird wegen der ganzen Sache ziemlich in Aufruhr sein. Die werden jetzt noch einen genaueren Blick auf NERV werfen, soviel ist sicher.“ Er zündete sich eine Zigarette an, bevor er fortfuhr. „Die alten Männer werden nervös, wenn sie eine Abweichung von ihrem Szenario feststellen. Und für dieses ‚Kaiju‘ ist der Begriff ‚Abweichung‘ wohl maßlos untertrieben…“
 

„Es ist ja alles gut gegangen“, wand Ben ein. „Und sobald unsere EVAs hier sind, werden wir schon dafür sorgen, dass die Kaijus nicht zu viel Ärger machen.“
 

„Sofern uns das gelingt“, dachte Janko. Nicht einmal der Schnaps hatte seine Laune heben können. Er lehnte sich zurück und betrachtete die Menschen, die an der Cocktailbar vorbeizogen. Die Stimmung war ausgelassen, sie lachten und freuten sich des Lebens. Doch warum freute er sich nicht? Ein weiterer Engel war vernichtet worden, auch den neuen Feind schien man besiegen zu können.
 

„Weil ich mich nicht damit abfinden kann, nur Zuschauer zu sein“, sagte er zu sich selbst. „Solange unsere Evangelions nicht hier sind, bleibt uns nur die Rolle der Beobachter. Und wir verlassen uns drauf, dass die Teenager das schon schaffen werden. Egal, wie es ihnen dabei geht.“ Er nahm sich vor, nachher noch einmal bei Rei vorbeizuschauen. Er hatte sie heute den ganzen Tag noch nicht nebenan gehört. Vielleicht war sie ja heute Abend zuhause.
 

Die Kellnerin kam erneut an den Tisch und nahm eine weitere Bestellung auf. Kaji schaute sich einmal um, von Misato war immer noch nichts zu sehen. „Und, wie ist der erste Eindruck von Asuka?“, fragte er.
 

„Naja, sie scheint ein ziemlicher Wirbelwind zu sein“, gab Ben zurück.
 

„Allerdings, da ist Musik drin…“, pflichtete David bei. Er spielte mit dem leeren Cocktailglas und seinem Schirmchen.
 

Kaji grinste kurz, dann wurde er wieder ernst. „Das mag sein, aber lasst euch von ihrem Auftritt nicht blenden. Sie ist getrieben davon, stark und unabhängig zu wirken. Tief drin hat sie jedoch Angst davor, dass jemand ihre Unsicherheit erkennt. Hab das bitte auf dem Schirm.“
 

Ben nickte ruhig. „Ja, sowas hab ich mir schon gedacht… Und jetzt Themawechsel, die Dame des Abends rückt an…“

 

***
 

Als Janko kurz vor Mitternacht in seinen Wohnkomplex zurückkehrte, hielt er unschlüssig vor Reis Tür. Von drinnen hörte er das erste Mal seit dem gestrigen Kampf Geräusche. Sie schien noch wach zu sein. Er gab sich einen Ruck und klopfte. Als sich die Wohnungstür nach wenigen Augenblicken öffnete, schien sie überrascht zu sein, Janko hier vorzufinden. Sie trug noch immer ihre Schuluniform. Zumindest schien sie unverletzt aus den Einsätzen gekommen zu sein.
 

„Hallo Rei“, sagte Janko. Er lehnte leicht am Türrahmen, der Shochu zeigte doch seine Wirkung. Jedenfalls der vierte oder fünfte.
 

„Hallo“. Sie blinzelte leicht.
 

„Ich… ich wollte dir nur kurz gratulieren. Das war echt gut gestern. Zwei Einsätze an einem Tag sind wirklich nicht zu unterschätzen.“ Er lächelte.
 

„Das war… unerwartet, ja. Ich habe nur getan, von mir verlangt wird.“ Sie schien unruhig zu werden, so als wisse sie nicht, wie sie mit diesem Kompliment umgehen solle. Sie scharrte mit dem rechten Fuß ein wenig auf dem Boden.
 

„Trotzdem war das gute Arbeit, ganz ehrlich.“ Er blickte an ihr vorbei. Er konnte die zugezogenen Vorhänge und das Chaos in dem kleinen Apartment erkennen. „Von Ordnung hält sie wohl nicht viel“, dachte er bei sich. Dann wendete er sich ihr wieder zu. „Ich wollte dir noch sagen, dass wir heute offiziell die Freigabe erhalten haben. Mein Team setzt sich in diesen Minuten in Bewegung. In wenigen Tagen sind unsere Evangelions hier.“
 

„Das ist gut.“ Sie nickte. Ihr Gesicht blieb jedoch weiterhin unbewegt.
 

„Das heißt, dass du demnächst nicht mehr alleine in den Einsatz musst. Ich freu mich jedenfalls drauf, mit dir zusammen da raus zu gehen.“ Janko machte Anstalten, zu gehen.
 

„Warte“, sagte Rei leise.
 

„Ja?“, fragte er überrascht. Er drehte sich wieder zu ihr um. Ein Moment der Stille folgte, nur ausgefüllt vom ewigen Zirpen der Zikaden.
 

Sie umfasste ihren linken Ellenbogen mit ihrer rechten Hand und blickte zu Boden. Sie schien die richtigen Worte zu suchen. „Ich… ich habe es niemandem erzählt“, stellte sie fest. „Aber… ich weiß nicht, warum…“
 

Janko setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. „Ja, das hab ich mir schon fast gedacht. Wir haben Misato in der Stadt getroffen, sie hätte sonst mit Sicherheit etwas erwähnt.“ Janko schob die Hände in die Hosentaschen. „Manchmal will man einfach nichts sagen. Meistens ist ein Bauchgefühl, das einen von bestimmten Dingen abhält.“ Er musste lächeln. „Zumindest geht es mir so. Ich kann das dann auch oft nicht genau erklären.“
 

Sie blickte ihn fragend an. „Warum freust du dich, dass du bald kämpfen kannst?“
 

Jetzt war es Janko, der nach den richtigen Worten rang. Er spielte mit dem Schlüsselbund in seiner Hand. Langsam drehte er die einzelnen Schlüsselringe zwischen seinen Fingern. Das Metall fühlte sich kalt an. Er blickte auf. „Weil… weil ich nicht will, dass dir da draußen etwas passiert, Rei. Die sollten von euch nicht verlangen können, euch den Engeln entgegenzustellen. Das ist nicht richtig. Und wenn ich meinen Teil dazu beitragen kann, dass das aufhört, dann werde ich das mit Freuden tun. Besser ich als du.“ Mit diesen Worten schloss er auf und betrat sein Apartment.
 

Rei blickte ihm nach und sah, wie die Tür zufiel. „Du tust es… für mich?“

 

***
 

10. Oktober 2015, 11:41 Uhr, NERV-Hauptquartier, Kommandozentrale
 

Misato war soeben in die Kommandozentrale gestürmt. „Bericht!“, brüllte sie über den schellenden Alarm hinweg.
 

„Ein unbekanntes Objekt ist soeben in einer hohen Umlaufbahn um die Erde aufgetaucht!“, antwortete Hyuga.
 

„War ja klar, dass heute Probleme auftauchen. Gerade jetzt, wo Commander Ikari und Vizecommander Fuyutsuki nicht da sind…“, dachte sie mürrisch.
 

„Zwei Beobachtungssatelliten kommen in Reichweite. Ich stelle auf den Hauptbildschirm durch“, sprach Aoba. Der Mann mit den schulterlangen Haaren drückte einige Knöpfe, dann erschien die Projektion.
 

Die gesamte Crew der Brücke erschrak, als sie auf den Bildschirm blickten. Eine gigantische, amöbenartige Lebensform erschien dort, gelblich-orange mit einem riesigen Auge in der Mitte.
 

„Um Himmels willen, das Ding ist ja riesig!“, sagte Ritsuko. Die Wissenschaftlerin stellte sich neben Misato und vergrub die Hände in den Taschen ihres Kittels. „Ist das ein Engel?“
 

Auf einmal erschien ein leichtes Flimmern auf der Projektionswand, dann brach die Videoaufzeichnung ab. „War das ein AT-Feld?“, fragte Misato.
 

„Positiv. Und er setzt es als Waffe ein. Die MAGI melden: Wellenmuster blau, es ist definitiv ein Engel! Und das AT-Feld blockt alle Funksprüche ab! Wir können den Commander nicht erreichen!“ Maya hatte alle Hände voll zu tun, die Daten auszulesen, mit denen die MAGI ihre Monitore fluteten. Sie betrachtete die Ergebnisse, dann berichtete sie weiter. Bilder mehrerer großer Einschlagskrater tauchten auf dem Hauptbildschirm auf. „Einzelne Teile haben sich vom Engel gelöst und sind Richtung Erde gerast. Sie sind ebenfalls von einem AT-Feld geschützt. N²-Minen haben keine Wirkung gezeigt.“
 

„Es scheint, als halte der Engel Zielübungen ab“, sprach Ritsuko, halb zu sich selbst. „Als er das erste Mal Land getroffen hat, hat er damit aufgehört.“
 

„Ritsuko, folg mir in den Besprechungsraum!“, ordnete Misato an. Zum Rest der Brückencrew sagte sie: „Zeichnen Sie alles weiter auf. Ich will, dass Evakuierungsplan 44 A für alle Zivilisten im Umkreis von 50 Kilometern ausgeführt wird. Der Engel kommt hier her, soviel ist sicher!“

 

***
 

„Das Ding ist eine riesige, lebende Bombe. Er wird sich vermutlich auf das Hauptquartier herabstürzen wollen…“ Ritsuko lehnte an der Kante des Tisches und pustete leicht auf den dampfenden Kaffee in ihrer Hand. „Und bei seiner Größe ist es nicht einmal wichtig, dass er uns direkt trifft. Selbst wenn er uns kilometerweit verfehlt, reicht die Wucht des Einschlags noch aus, um Tokyo-3 komplett zu vernichten.“ Sie blickte ihre langjährige Freundin an. „Was sollen wir tun? Du hast im Moment das Kommando. Evakuieren wir das Hauptquartier, Major?“
 

„Nein, eine Sache will ich noch ausprobieren“, gab Misato schmunzelnd zurück. „Ruft die Kinder herbei…“

 

***
 

„WAS?! Wir sollen das Ding mit bloßen Händen auffangen?!“ Asuka war außer sich. Sie standen in der großen Halle vor Commander Ikaris Büro und das rothaarige Mädchen starrte auf ihre Hände. Alle Piloten trugen bereits ihre Plugsuits.
 

„Richtig. Wir haben die Hoffnung, dass eure AT-Felder es erlauben, den Engel aufzufangen, bevor er den Boden berührt. Um einen möglichst großen Radius abzudecken, werden wir euch an drei verschiedenen Standorten rund um Tokyo-3 positionieren.“ Misato tat ihr Bestes, um ruhig zu wirken. Dabei wusste sie nur zu gut, wie der „Plan“ auf die drei Teenager wirken musste. Er schien nicht nur verzweifelt, er war es auch.
 

„Und worauf beruht die Auswahl der Startpositionen?“, hakte Asuka nach.
 

„Sagen wir: Weibliche Intuition“, antwortete Misato. Sie konnte ein Grinsen, so unangebracht es auch in der jetzigen Situation war, nicht unterdrücken.
 

„Na toll, das ist ja wie ein Lotteriespiel“, stellte Shinji mit verschränkten Armen fest. Dann blickte er auf Asuka. „Darin hat sie noch nie Glück gehabt…“
 

„Das hört sich ja nach einem großartigen Plan an!“ Die Pilotin von Einheit 02 stampfte mit dem Fuß auf.
 

Misato gewann ihre Fassung wieder. „Das Protokoll sieht vor, dass ihr drei ein Testament macht. Habt ihr das schon erledigt?“
 

„Nein! Ich habe nämlich noch nicht vor, zu sterben!“, gab Asuka wütend zurück.
 

„Ich wüsste auch gar nicht, was ich hineinschreiben sollte…“, stimmte Rei ein.
 

„Zuckerbrot und Peitsche, versuchen wir’s damit…“, dachte Misato und setzte neu an. „Passt auf, ich weiß, dass das alles nach Wahnsinn klingt. Aber es ist der beste Plan, den wir haben. Eure EVAs und ihre AT-Felder werden euch vor der Explosion schützen. Es gibt keinen Ort, an dem ihr sicherer sein könntet. Und wenn das Ganze hier vorbei ist, dann lade ich euch drei zu einem riesengroßen Steak ein, na wie klingt das?“
 

„Echt, toll!“, gaben Asuka und Shinji wie aus einem Mund zurück. Nur Rei blieb stumm.
 

„Na seht ihr, wir kriegen das schon hin“, antwortete Misato zufrieden und drehte sich um. „Ich werde zurück in die Kommandozentrale gehen. Ihr macht euch jetzt mal auf zu euren EVAs.“ Mit diesen Worten ging die Frau mit den lila Haaren aus dem Raum. Zurück blieben drei Teenager, die ihr verwirrt hinterher schauten.
 

„Hat sie gerade wirklich versucht, uns mit einem Stück Fleisch zu ködern?“, fragte Asuka irritiert. „Irgendwie ist diese Second-Impact-Generation seltsam…“ Sie zog eine Schnute.  
 

„Naja, damals gab es so etwas nicht mehr. Sie glaubt wohl tatsächlich, dass das für uns etwas Besonderes ist. Du hast aber wirklich erfreut geklungen…“ meinte Shinji.
 

„Ich wollte nur, dass sie sich bestätigt fühlt. Du hast aber auch gut geschauspielert. Fast hätte ich’s dir abgenommen!“ Asuka grinste ihn an.
 

„Quatsch. Ich wollte nur, dass sie sich nicht schlecht fühlt.“ Shinji beobachtete, wie Asuka ein gefaltetes Papier aus der Tasche zog.
 

„Dann lasst uns doch mal das beste Restaurant von Tokyo-3 raussuchen, damit sie auch wirklich ihr Gewissen beruhigen kann. Je teurer, desto besser… Was ist mit dir, First Child? Kommst du auch mit?“
 

„Ich denke nicht“, antwortete Rei. „Ich habe nicht besonders viel übrig für Fleisch…“

 

***
 

Kurze Zeit später hatten die Teenager in ihren Evangelions die vorgeschriebenen Positionen bezogen. Als der Engel seine Umlaufbahn verließ und gen Boden schwebte, fiel der Startschuss. Die Roboter machten sich bereit.
 

„Ok, die MAGI können euch bis auf 10.000 Meter an das Ziel heranführen“, gab Ritsuko über Funk durch. „Dann müsst ihr euren Augen vertrauen.“
 

„Evangelions, START FREI!“, rief Misato.
 

Und dann spurteten die Einheiten los. Sie übersprangen Hügel, Stromtrassen, Flüsse und Schnellstraßen, als sie ihren Blick gen Himmel hielten und versuchten, zu antizipieren, wo der Engel niedergehen würde. Das gigantische Biest war schon in großer Höhe mit bloßem Auge zu erkennen. Rotglühend trat es in die Erdatmosphäre ein, bereit, sein todbringendes Werk zu vollenden. Es entfaltete seine Seiten, die sich wie Federn während des Sturzfluges leicht nach hinten bogen.
 

„Schneller!“, dachte Shinji, als er auf das Objekt zuraste. Er hatte eine kleine Erhöhung vor sich als Ort ausgemacht, an dem er den Feind abfangen konnte. Die lila Einheit beschleunigte ihren Lauf nochmals, gigantische Erdklumpen flogen hinter ihr in die Luft. „Baue AT-Feld auf!“, rief er, als er den Fuß des Hügels erreichte. Oben angekommen riss er die Hände hoch. Ein kratzendes Geräusch erklang, als sich die beiden Felder berührten. Mit aller Macht stemmte Shinji die Handflächen des Evangelions gegen das Feld des Engels. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass sein EVA mehrere Meter tief im Boden versank. Seine Arme brannten vor Anstrengung und er biss die Zähne zusammen.
 

„Einheit 02, wo ist dein AT-Feld?!“, rief Rei, als sie mit ihrer Einheit ebenfalls den Hügel erreicht hatte. Sie sprang die letzten Meter nach vorn und stemmte sich ebenfalls gegen den Engel.
 

„Baue es gerade auf!“, schrie Asuka und erreichte den Kampfplatz. Gemeinsam schafften sie es, den Engel wieder ein Stück nach oben drücken. Unter größter Anstrengung gelang es, den Sinkflug zu stoppen. Wie eine erstarrte Feder hing der Engel über ihnen in der Luft. Einheit 00 fuhr ihr Prog-Messer aus. Als Asuka neben Shinji zum Stehen gekommen war, stach Rei mit voller Wucht auf das AT-Feld ein. Ein erster kleiner Riss bildete sich, gerade groß genug, um die Fingerkuppen hindurchzuschieben.
 

„Bereit?“, fragte sie die Pilotin von Einheit 02.
 

„Kann losgehen!“, rief Asuka angestrengt zurück.
 

Einheit 00 riss mit voller Kraft an dem Feld, das nach kurzem Widerstand nachgab. Der Kern des Engels kam ungeschützt darunter zum Vorschein.
 

„JETZT FAHR ZUR HÖLLE!“, schrie Asuka und rammte ihr Prog-Messer mitten in die rötliche Kugel.
 

Es kam ihnen vor, als stünde für einen kurzen Moment die Zeit still. Blut schoss aus den Armen von Einheit 01, als sie unter dem Gewicht des Engels nachgaben. Dann brach der Kern mit einem lauten Knacken auf, es klang nahezu wie splitterndes Glas. Der tote Engel sank langsam auf die drei Evangelions herab und bedeckte sie vollständig. Dann hörten sie mit einem Mal ein lautes Fiepen, bevor der Feind in einer gigantischen Explosion verdampfte. Ein riesiges Loch entstand, wo eben noch der Hügel gestanden hatte. Asche, Erde und verbrannte Bäume prasselten auf die Kinder nieder, aber die Evas hielten stand. Sie konnten spüren, wie die Wucht der Explosion ihre Panzerungen zerfetzte und durch die AT-Felder drang. Die Teenager kamen in ihren Maschinen inmitten des riesigen Kraters zum Liegen.
 

Rei blinzelte und schüttelte leicht benommen den Kopf. Die Anzeigen des Cockpits zeigten mehrere Schäden im Brust und Schulterbereich ihres Evangelions an. Aber sie war am Leben, ebenso die anderen Piloten.

 

***
 

Die Crew des Hauptquartiers jubelte auf, als der Feind explodierte. Misato atmete aus und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. „Puh, das war knapp“, dachte sie. Dann wandte sie sich an ihre Mitstreiter. „Bericht!“
 

Aoba meldete sich zuerst. „Der Feind wurde vernichtet. Die EVAs haben diverse Schäden, da werden sich die Techniker wieder über Überstunden freuen. Aber den Piloten geht es gut.“
 

„Ausgezeichnet. Sendet Rettungsteams aus und bringt die Kinder zurück. Ich will, dass ab sofort Doppelschichten gefahren werden, damit die Einheiten schnellstmöglich wieder einsatzbereit sind.“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen. „Commander Ikari wird mich vermutlich umbringen, wenn er von den Schäden erfährt“, ging ihr durch den Kopf.

 

***
 

Als die Teenager wieder das Kommandozentrum betraten, kam Misato freudestrahlend auf sie zu. „Das war eine großartige Leistung, ich wusste, dass ihr es schaffen würdet. Im Gegensatz zu einigen anderen hier!“ Sie warf Ritsuko einen bösen Blick zu.
 

Diese lächelte die Spitze einfach weg. „Die Kommunikationsverbindungen funktionieren wieder. Commander Ikari ist von der Antarktis aus in der Leitung.“
 

Misato nahm Haltung an. Als die Verbindung geöffnet wurde, sprach sie als Erste. „Commander, ich übernehme die volle Verantwortung für diesen Einsatz. Die Evangelions sind unter meiner Aufsicht allesamt beschädigt worden.“
 

Die Stimme des Commanders blieb ruhig. „Die Aufgabe der Evangelions ist es, die Engel zu bekämpfen. Dass sie dabei in Mitleidenschaft gezogen werden, ist unvermeidlich. Die Mission wurde erfolgreich beendet, das ist ihr Verdienst.“ Misato öffnete überrascht den Mund. Dann sprach Gendo weiter. „Ist der Pilot von Einheit 01 anwesend?“
 

Shinji riss vor Überraschung die Augen auf. „J-Ja, ich bin hier“ antwortete er.
 

„Ich habe den Bericht gelesen. Gut gemacht, Shinji.“
 

Der Junge wusste nicht, was er sagen sollte. „Das war das erste Mal, dass er mich gelobt hat“, schoss ihm durch den Kopf. „D-Danke, Vater.“
 

Rei warf ihm verstohlen einen Blick von der Seite zu.
 

Dann wandte Gendo sich wieder an das Führungspersonal. „Major Katsuragi, Dr. Akagi, wir befinden uns mit der Fracht auf dem Rückweg und werden in schätzungsweise fünf Tagen wieder in Tokyo-3 eintreffen. Sie übernehmen die Koordination der Reparaturen.“
 

„Verstanden, Commander“, gaben beide wie aus einem Mund zurück. Dann schloss sich die Verbindung.
 

Ritsuko wandte sich wieder den Technikern zu, die auf weitere Befehle warteten. Misato wollte die Teenager gerade nach draußen begleiten, als sich Hyuga meldete.
 

„Oh mein Gott, Aktivität im pazifischen Ozean! Die MAGI registrieren Bewegung im Riss!“ Er rieb sich die Augen, aber die Ergebnisse blieben die gleichen. „Ein… Oh Scheiße! Nein, ZWEI Wesen sind soeben an dieser Anomalie aufgetaucht. Sie bewegen sich geradewegs Richtung Japan!“
 

„WAS!?“ Misato schrie nahezu. Sie wandte sich zu ihren überraschten Schützlingen um. „Schätze, unser Abendessen muss ausfallen… Was ist bis jetzt bekannt?“
 

„Nicht viel“, gab Maya zurück. „Wellenmuster wieder violett! Sie scheinen aber schneller und schwerer als das vorherige zu sein.“ Ihre Stimme wurde panisch. „Aber die Panzerungen der EVAs müssen getauscht werden, sie sind so nicht einsatzfähig! Außerdem wurden sie noch nicht einmal aus dem Krater geborgen!“
 

Misato wurde blass. Sie wandte sich an Ritsuko, deren geweitete Augen genauso aussahen, wie sie sich gerade fühlte. „Können wir sie trotzdem einsetzen?“
 

Die blonde Wissenschaftlerin schüttelte energisch den Kopf. „Gegen zwei von diesen Biestern? Nein, mit den bestehenden Schäden ist das absolut unmöglich…“ Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.
 

Aoba registrierte weitere Aktivität auf dem Bildschirm. „Unbekannte Flugobjekte haben soeben japanischen Luftraum erreicht. Sie rufen uns!“
 

„Durchstellen“, sprach Misato mit verschränkten Armen. Wer war das denn jetzt schon wieder? Konnte es etwa noch schlimmer kommen?
 

Gekrächze kam aus den Lautsprechern, als die Verbindung hergestellt wurde. „Verdammtes Mistding… Wie geht denn das?! Ah! Thaddäus, jetzt mach mal Platz!“ Wütendes Geklopfe war zu hören. Nach einigen Augenblicken hatte sich die Stimme wieder gefangen. „So… Hallo, können Sie mich hören? Mein Name ist Phil Sammons, Leiter der taktischen Abteilung bei NERV-04 und gerade im Direktflug nach Tokyo-3! Was dagegen, wenn wir ab hier übernehmen?“
 

„Sie sind da!“, entfuhr es Rei lauter als üblich. Asuka und Shinji starrten sie überrascht an.

Feindkontakt

10. Oktober 2015, Tokyo-3, Apartmentkomplex
 

Janko Freytag stand auf dem Dach des Hochhauses und blinzelte gegen die Sonne an. Die verrostete Dachluke am Ende der Leiter hatte kaum Widerstand geleistet, sodass es ein Leichtes für ihn gewesen war, sich seinen Weg hier hin zu bahnen. Sein Telefon klingelte.
 

„Ja, wie sieht’s aus?“, fragte er aufgeregt, aber mit fester Stimme, als er den Anruf annahm.
 

„Der Transporter ist unterwegs. Halt dich bereit und rühr dich nicht vom Fleck!“, gab Phil zurück. „Die anderen Piloten werden ebenfalls abgeholt. Ihr werdet in der Luft in die Transportmaschinen überwechseln müssen, uns läuft die Zeit davon. Die Kaijus treffen in wenigen Minuten an der Küste Japans ein!“
 

„Verstanden.“ Janko steckte sein Telefon weg. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und atmete tief ein. „Dann geht’s jetzt also los…“, dachte er.
 

Wenige Minuten später hörte er bereits das Dröhnen der Triebwerke des Senkrechtstarters, der auf das Dach des Hochhauses zuhielt. Die Windstöße nahmen zu, als die graue Maschine dicht über ihm in der Luft stoppte und eine Leiter ausgefahren wurde. Er kletterte hinauf und fand sich im Laderaum der Militärmaschine wieder. Bis auf einen kleinen Gang war alles mit grünen, militärischen Transportboxen vollgestellt.
 

„Guten Tag der Herr, Sie haben ein Taxi bestellt? NERV-04, Ihr Transportunternehmen in allen Lebenslagen steht jetzt für Sie bereit!“, fragte eine fröhliche Stimme über die Lautsprecher. Janko stutzte überrascht. Er rannte nach vorne ins Cockpit. Die junge Frau mit dem braunen Pony und der Pilotenbrille drehte sich von ihrem Sitz aus zu ihm um.
 

„Sally!“, rief Janko. „Schön dich zu sehen, ich hatte nicht mit jemandem von unserer eigenen Crew gerechnet!“
 

„Thaddäus hat darauf bestanden, dass NERV-04-Flieger die Piloten abholen. Er wollte kein Risiko eingehen.“ Sie gähnte. „Was bedeutet, dass ich seit gestern Morgen in diesem verdammten Pilotensessel sitze! Kann also sein, dass der Flug ein wenig holprig wird. Die Pilotin Sally Anderson hier ist zu 100 Prozent aufgeputscht!“ Sie setzte ein breites Grinsen auf und warf eine weitere kleine Pille ein. „Schau mal in den großen Rucksack, der an der Tür hängt. Da findest du deinen Plugsuit. Wird wohl besser sein, wenn du dich schon mal umziehst. Ich spinkse auch nicht!“

 

***
 

NERV-Hauptquartier, wenige Minuten später
 

Der Funkverkehr, der über die Lautsprecher innerhalb des Kommandozentrums zu hören war, nahm stetig zu. Misato, Ritsuko und die drei Teenager hatten auf Stühlen Platz genommen und beobachteten das Treiben. Man hatte sie in das Kommunikationsnetzwerk eingeklinkt, NERV-04 schien sie wohl auf dem Laufenden halten zu wollen, anders konnten sie sich die Funksprüche nicht erklären. Es fiel Misato schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Sie wippte mit den Beinen, als sie die verschiedenen Monitore im Auge behielt. „Das fühlt sich so falsch an…“, dachte sie. „Wir haben soeben die komplette Operation aus der Hand gegeben! Hoffen wir mal, dass die von NERV-04 wissen, was sie tun.“
 

Zwar hatte sie als taktische Einsatzleiterin natürlich mitbekommen, dass die andere Niederlassung mit ihren EVAs übersiedeln sollte. Aber unter keinen Umständen hatte sie damit gerechnet, dass dies innerhalb weniger Tage geschehen würde! Hatten die bereits auf gepackten Koffern gesessen? Sie nippte unruhig an ihrer Kaffeetasse und lauschte weiter dem Funkverkehr.
 

„Alle Transporter melden, dass die Piloten in Tokyo-3 eingesammelt wurden“, quäkte es aus den Lautsprechern. Misato wurde stutzig.
 

„In Tokyo-3 eingesammelt? Waren die etwa schon hier?“, fragte sie sich. Auch Ritsuko schien von der Aussage überrascht. Die Monitore zeigten drei kleine Punkte, die sich den großen Transportmaschinen näherten, die von Westen über Japan flogen. „Irgendwie wirkt das sehr orchestriert…“

 

***
 

VTOL-Transportmaschine 339
 

Janko hatte seinen Plugsuit angezogen und neben Sally auf dem Sitz des Copiloten Platz genommen. Als er durch die große Glasfront hinausblickte, erkannte er am Horizont bereits die Silhouette des riesigen Nurflüglers, der auf sie zuhielt. Anhand einer riesigen Wölbung unter dem Bauch der Maschine erkannte er, dass dort sein Evangelion hing.
 

Sally kaute ihre charakteristischen Kaugummis und ließ ihre Maschine ein Stück höher steigen. „Ich werde die VTOL oberhalb des Frachtraums absetzen“, sagte sie zu ihm. „Hier im Heck gibt es eine kleine Luke, durch die gelangst du zu einem Noteinstieg auf der Oberseite des Transportflugzeugs. Dieser wird dich direkt in den Laderaum führen, damit du in deinen Eva steigen kannst.“
 

Janko nickte. „Alles klar. Setz mich mal ab.“
 

„Gute Jagd, Janko! Zeig den Einheimischen mal, wie man bei NERV-04 mit diesen Biestern umgeht!“ Sie salutierte spielerisch und wandte sich wieder ihren Instrumenten zu.
 

Janko nahm den Weg vorbei an den grünen Transportboxen und strich über die Arme seines Plugsuits. Er spürte den festen und doch biegsamen Stoff des Anzugs auf seiner Haut, der über und über mit hauchdünnen Sensoren zum Aufzeichnen der Vitalzeichen besetzt war. Es war nun schon einige Zeit her, dass er ihn das letzte Mal getragen hatte. Sally setzte den VTOL wie geplant auf dem Nurflügler ab. Janko drehte an dem Rad, das die hintere Luke öffnen sollte. Mit einem Krachen sprang sie auf und der Wind blies ihm entgegen. Er hörte das Dröhnen der Luftströmung, als er sich hinabfallen ließ und etwas unsanft auf dem Bauch landete. Ein paar Drehungen eines weiteren Rades öffneten seinen Weg ins Innere des riesigen Transportflugzeuges. Er kam auf einer Art Steg zum Stehen und schaute sich um. Hinter einer Fensterfront erkannte er seinen festgeschnallten Evangelion. Die schwarzrote Lackierung glänzte förmlich.
 

„Da bist du also, Puriel“, dachte Janko, als er seinen EVA musterte. „Dann wollen wir doch mal sehen, wozu wir zwei heute fähig sind!“ Janko rannte die Brüstung entlang, bis er auf einer kleinen Treppe ankam, die nach oben zum ausgefahrenen Entry-Plug führte. Ein anderes, wohlbekanntes Gesicht kam ihm entgegen und empfing ihn grinsend.
 

„DA ISSER JA!“, brüllte der Mann über den Lärm der Triebwerke hinweg. „Und dass du mir den Großen hier ja in einem Stück heil wiederbringst!“
 

Janko musste lachen, als er den Mann in seinem Arme schloss und ihm kräftig auf den Rücken klopfte. „Keine Sorge, Dimitrij! Ich will ja nicht, dass du wieder Überstunden schieben musst!“
 

Der Techniker führte Janko zum Entry-Plug. „Wir haben die Lebensdauer der Batterien deines Evangelions auf knapp zwanzig Minuten erhöhen können. Frag mich nicht wie das geht, die Forschungsabteilung hat sich drum gekümmert. Die Zeit dürfte damit aber locker reichen, um die Viecher platt zu machen! Gutes Gelingen!“ Dimitrij tippte etwas auf seinem Tablet ein und die Luke des Entry-Plugs sprang auf. Janko zwängte sich hinein und nahm im Pilotensitz Platz.

 

***
 

NERV-Hauptquartier
 

„Piloten eingetroffen und Entry-Plugs bemannt!“, schallte es aus den Lautsprechern.
 

Phil Sammons meldete sich wieder. „Ok Leute, aufgepasst. Die Kaijus haben unterschiedliche Routen genommen. Codenamen: Vorroth und Nethervine. Da der Transport von Einheit X einige Minuten früher gestartet ist, befindet er sich am nächsten an Vorroth. Dieses Kaiju wird dein Ziel sein, Janko.“
 

„Alles klar“, gab der Pilot von Einheit X zurück.
 

„Die Einheiten Y und Z werden wir über Nethervine abwerfen. Das Viech befindet sich in der Nähe eines Atomkraftwerks. Es darf da unter keinen Umständen Schäden anrichten, ist das klar!?“
 

„Roger, Ziel festgelegt!“, klang es synchron von David und Ben zurück.
 

Misato wurde blass. Das konnte doch nicht sein! Oder doch? Sie sah hinüber zu Asuka und Shinji, die ebenso überrascht dreinblickten.
 

„Animus-Airlines, Pah!“, zischte Misato. „‘Wir warten nur auf unsere Maschinen!‘ Ich hätte es ahnen müssen! Verdammte Lügner!“
 

Asuka wandte sich an Shinji. „Ich kenn doch diese Stimmen! Das sind unsere Nachbarn!“ Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
 

Shinji nickte ungläubig. „Ja… Ich denke, du hast Recht…“
 

Nur Rei blieb stumm. Gebannt starrte sie auf die Anzeigen, die die Positionen der Flugzeuge und der Kaijus übertrugen. Die Punkte näherten sich an.
 

Bens Stimme erschallte wieder über den Comm-Kanal. „Bereit? Dann lasst uns die Finger spreizen und nicht mit Feuer geizen, Ladies!“
 

„Worauf du einen lassen kannst!“, gaben die anderen Piloten zurück.

 

***
 

Einheit X, Entry-Plug
 

Janko fuhr die Systeme hoch und wartete auf das Zeichen zum Abwurf.
 

Als das LCL eingeleitet wurde, spürte er, wie sich die warme Flüssigkeit um ihn herum sammelte. „Schade, dass ich in dieser Suppe hier nicht dampfen kann“, dachte er. „Ein bisschen Nikotin könnte ich jetzt echt gut gebrauchen!“
 

Die Funksprüche der fliegenden Kommandozentrale drangen an sein Ohr. „LCL eingeleitet, A 10 Nervenverbindungen initiiert! Neuronale Verbindung hergestellt. Beginnen mit Kontaktphase 2!“ Das altbekannte Regenbogenmuster flackerte wieder über die Wände der Kapsel. „Sekundäre und tertiäre Kondensatoren halten! Resonatoren aktiv! Nähern uns der Borderline! Batteriestatus 100 Prozent. Überschreiten der Borderline in fünf… vier… drei… zwei… eins… KONTAKT!“
 

Janko spürte ein Kribbeln in seinen Fingerspitzen, als die Verbindung mit Einheit X aufgebaut wurde. Er konnte das Bewusstsein des Evangelions in seinem Hinterkopf spüren. Wie ein dunkler Schatten wartete die Entität am Rande seines Verstandes, hungrig, wütend, bereit, bei nächster Gelegenheit sofort mit voller Härte vorzupreschen. Diese lauernde, bösartige Macht, nur zurückgehalten von den Sicherungssystemen, die im Single-Betrieb sein Hirn vor einer Überlastung schützten.
 

Er ballte die Faust, sein EVA tat es ihm gleich. Der Pilot spürte die Kraft, die von diesen Bewegungen ausging. Dieses Gefühl, die Welt selbst aus den Angeln heben zu können, stellte sich wieder ein. Wie hatte er das vermisst!
 

„Einheit X aktiviert! Ausklinken!“, rief Phil. Die Halterungen wurden gelöst und der Evangelion sauste Richtung Erdoberfläche. Über sich konnte Janko erkennen, wie die riesige Transportmaschine abdrehte. Im Flug konnte er in einiger Distanz vor sich das Kaiju erkennen, das durch eine Vorstadtsiedlung stapfte. Es ging aufrecht, mit einem langen, nach hinten gestreckten Kopf und vier leuchtend blauen Augen. Seine lederartige, dunkelgraue Haut war gesprenkelt mit rötlichen Punkten. Lange Klauen an seinen Händen und Füßen gaben ihm eine Art reptilienartiges Aussehen, während es auf zwei Beinen aufrecht die Straßenzüge vor sich in Ruinen verwandelte. Es zog einen grauen Schwanz hinter sich her.

 

***
 

NERV-Hauptquartier
 

„Wir haben Live-Bilder! Lege sie auf den Hauptschirm!“, rief Hyuga und drückte einige Knöpfe. Die Anwesenden sahen, wie der EVA nach einigen hundert Metern freien Falls auf dem Boden landete und in die Knie ging. Als er sich wiederaufrichtete, legte sich langsam der Staub, den er beim Einschlag aufgewirbelt hatte.
 

„Also irgendwie wirkt der EVA… anders…“, bemerkte Asuka mit unsicherer Stimme. Die Umstehenden stimmten ihr nickend unter leichtem Gemurmel zu. Die breiten Schultern des Evangelion wurden von einem kräftigeren Torso getragen, auch die dicken Panzerplatten an den Beinen und Schultern waren auffällig. Er wirkte kompakter, nicht so langgezogen und dünn wie die in Japan gebauten Einheiten.
 

„Dieser EVA kann unmöglich aus Adam oder Lilith geklont sein“, dachte Ritsuko bei sich. „Wo zum Teufel haben die das genetische Material dafür her!?“
 

Jankos Stimme erklang aus den Lautsprechern. „Landung erfolgreich. Habe visuellen Kontakt. Wurde die Stadt bereits evakuiert?“
 

„Positiv“, gab Phil zurück. „Die Stadt ist leer. Das Kaiju hat eine annähernd humanoide Form. Du weißt, was du zu tun hast. Tob dich aus!“
 

„Verstanden. Angriffsvektor Sigma-Alpha-Tau. Initiiere Sturmlauf“, antwortete der Pilot.
 

Misato konnte nicht umhin, die Kommunikation der Beteiligten zu bewundern. Kurze Befehle, schnelle Ansagen, keine Widerrede, keine Diskussion. Wer auch immer diese Leute waren, sie waren Profis, soviel war sicher.
 

Einheit X setzte sich in Bewegung. Mit immer schnelleren Schritten nahm der Evangelion Fahrt auf und rannte auf das Kaiju zu. Das fremdartige Wesen hatte ihn bemerkt und drehte sich zu ihm um. Es schrie seine Wut förmlich hinaus, dann begann es ebenfalls, sich auf den Feind zuzubewegen. Es ignorierte die gleichförmigen Hochhäuser neben sich und konzentrierte sich auf nur noch auf den Evangelion.
 

„Oh oh… das kracht gleich aber mächtig…“, sagte Shinji, als er sah, wie sich die Distanz zwischen den beiden Kontrahenten immer mehr verkleinerte.

 

***
 

Einheit X, Entry-Plug
 

Jankos Augen flogen über die Systeme, die die Distanz zum Gegner anzeigten. Ein eiskaltes Lächeln umspielte seine Lippen, als das Kaiju sich ihm zuwandte und ebenfalls zu rennen begann. Mit jedem Schritt, der die Distanz zwischen den beiden verkürzte, konnte Janko die Mordlust seines Evangelions stärker spüren. Diesmal war ihm das ganz recht, er badete nahezu in der Wut, die ihm die nötige Kraft verleihen würde, um das zu tun, was notwendig war.
 

„Dies ist unsere Stunde“, dachte er grimmig. Verpiss dich von unserem Planeten, Missgeburt!“
 

Noch einige hundert Meter trennten den EVA von seinem Feind. Kurz bevor die beiden ineinander krachten, ging der Evangelion auf die Knie. Er rutschte auf ihnen vorwärts und rammte seine Schulter in den Hüftbereich des Feindes, dann umfasste er die Oberschenkel des Kaijus und hob es hoch. Es kreischte wütend und begann, mit seinen Klauen auf die Panzerplatten auf dem Rücken des EVAs einzuschlagen, doch ohne Erfolg. Funken sprühten, als die scharfen Krallen an dem Stahl entlangkratzten. Janko nutzte das Momentum des Sturmlaufes und drängte das Wesen nach hinten. Als er es vollständig ausgehoben hatte, brach er mit dem Kaiju nacheinander durch drei angrenzende Hochhäuser.
 

Die Erschütterungen waren auch im Entry-Plug zu spüren, als Jankos Kapsel durch die Wucht des Aufpralls zu vibrieren begann. Er verstärkte den Druck auf die Hebel und blieb in der Vorwärtsbewegung. Schutt, Staub und metergroße Betonstücke flogen in alle Richtungen davon, als der EVA das Kaiju anschließend vor sich auf den Boden schmetterte.
 

„Hervorragend! Fixier‘ es! Ground and Pound!“, rief Phil über Funk.
 

Der Evangelion ließ sich auf den Bauchbereich des Feindes fallen und umklammerte dessen Beine mit seinen eigenen. Dann begann er, mit stählernen Fäusten auf das Wesen einzuschlagen. Wieder und wieder trafen die riesigen Hände den Kopf des Kaijus, klaffende Wunden rissen auf, aus denen bläuliches Blut auf den Asphalt und die Trümmer spritzte. Einige der zahlreichen Zähne des Untiers, jeder so groß wie ein Minivan, flogen durch die Luft. Mit einem Mal begann das Wesen, wie ein Pferd zu buckeln. Janko verlor mit Einheit X kurz das Gleichgewicht und kippte zur Seite, wo er sich mit den Händen abstützen musste, sodass das Kaiju ein Bein unter ihm herausziehen konnte. Mit diesem trat es gegen den Brustkorb des Evangelions; einmal, zweimal, dreimal. Das Scheppern der Metallplatten, die von dem krallenbewehrten Fuß traktiert wurden, hallte durch die Straßen.
 

„Vergiss es!“, schrie Janko und bekam den Unterschenkel des gegnerischen Beines mit beiden Händen zu fassen. Er lehnte sich nach vorn und drückte das strampelnde Bein hoch, bis es auf der Schulter des Evangelions zum Liegen kam. Er verschränkte die Hände ineinander und legte sie auf die Stelle, an der er eine Art Kniegelenk des Kaijus ausmachen konnte. „Schachmatt!“, dachte er grimmig, als er mit aller Kraft nach unten drückte. Mit aufgerissenem Maul schnappte das Wesen nach seinen Händen, aber die Distanz war zu groß. Ein kurzer Moment der Stille trat ein, als die Kräfte des Kaiju-Beines und der Hände von Einheit X um die Vorherrschaft kämpften. Dann gewann der EVA. Unter einem ohrenbetäubenden Krachen brach das Kniegelenk des Gegners. Es brüllte seinen Schmerz heraus, bis der EVA das nun nutzlose Bein wegschleuderte und in das Gesicht des Gegners griff. Die Finger des Evangelions wanderten zu den Augen des Kaijus und drückten mit aller Kraft zu. Die weichen Sinnesorgane gaben knackend nach und eine graue, gallertartige Flüssigkeit trat hervor. Sie tropfte auf die Straßen, während der Kopf des Wesens hin und her zuckte.

 

***
 

NERV-Hauptquartier
 

Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen betrachteten die Zuschauer die Szene. Maya Ibuki wandte sich mit der Hand vor dem Mund als erste ab. „Ich glaub, mir wird schlecht!“, rief sie und schloss die Augen.
 

„Ist das brutal…“, sprach Hyuga vor sich hin. Gänsehaut überkam ihn.
 

„Ja, aber effizient!“, gab Aoba mit einem bewundernden Nicken zurück.
 

Die Anwesenden schauten schweigend zu, wie Einheit X noch einige Zeit danach seine Schlagserie fortsetzte. Das dumpfe Trommeln der Fäuste auf dem Kopf des Kaijus war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Der Techniker mit der Brille fand anschließend als Erster seine Stimme wieder. „Keine Lebenszeichen mehr vom Feind! Dieses Monster ist tot.“ Leichter Jubel und Applaus stieg auf, als sich der EVA aufrichtete und seine blutverschmierten Fäuste vom Feind abließen.
 

Rei hatte bis jetzt still auf ihrem Platz gesessen. Sie zeigte immer noch keinerlei Regung.

 

***
 

Einheit X, Entry-Plug
 

Janko atmete schwer, als er von dem geschundenen, leblosen Kadaver des Feindes abließ und den EVA zurück in den Stand brachte. Seine Hände zitterten und sein Körper versuchte immer noch, die Wellen an Adrenalin unter Kontrolle zu bringen, die ihn durchfluteten. Er spürte die geifernde Präsenz des Evangelions in seinem Kopf, aufgeputscht durch den gerade gewonnenen Kampf. Er gierte nach mehr.
 

„Keine Sorge, das war mit Sicherheit nicht der letzte Einsatz“, sagte er in Gedanken zu seinem Evangelion. Einer Antwort gleich zuckte die gigantische, metallene Hand unkontrolliert.
 

„Mission abgeschlossen, erwarte weitere Befehle!“, meldete Janko atemlos über die Lautsprecher.
 

„Saubere Arbeit, Einheit X“, gab Phil zurück. „Bleib auf Standby, Einheiten Y und Z wurden soeben über Nethervine abgeworfen.“

 

***
 

NERV-Hauptquartier
 

Hyuga gab erneut die Lage durch. „Weitere Evangelions rund 50 Kilometer südlich des ersten ausgeklinkt. Sie nähern sich dem Feind!“
 

Der gelbblaue und der dunkelgrüne Evangelion erschienen auf den Monitoren. Sie landeten ebenfalls in großen Wolken aus Staub auf dem Boden. Einheit Y stürmte ohne zu zögern vor. Am Horizont war das zweite Kaiju zu sehen. Es erinnerte mit seinem vierfüßigen Gang und den abstehenden Hörnern, die auf seinem Rücken verteilt waren, entfernt an einen Stegosaurier. Der kräftige Schwanz war gespickt mit scharfen Dornen und schwang bei jeder Bewegung hin und her.
 

„Einheit X hat den Feind ausgeschaltet, David. Jetzt seid ihr zwei dran!“, trieb Phils Stimme den Piloten von Einheit Y an.
 

Davids Antwort erklang grantig aus den Lautsprechern. „Pah, Streber! Legen wir los, ich werd mich doch von dem Vogel nicht übertrumpfen lassen!“
 

„Ihr müsst das Biest unbedingt von dem Reaktor des Kernkraftwerks fernhalten! Die Folgen einer Explosion wären verheerend! Das Gebäude konnte nicht evakuiert werden, schätzungsweise tausend Mitarbeiter sind noch vor Ort.“
 

„Verstanden, Central“, sagte Ben in wesentlich ruhigerem Ton. „David, lenk das Viech ab, ich positioniere mich zwischen ihm und dem AKW!“ Die dunkelgrüne Einheit begann, einen größeren Bogen um das Ziel herum zu laufen.
 

Ritsuko nahm kurz ihre Brille ab und dachte nach. Dann wandte sie sich an das Brückenpersonal. „Lassen Sie die MAGI sämtliche Kampfbewegungen der Evangelions analysieren. Ich will jedes kleine Bisschen an Information, das sie auftreiben können, heute Abend auf meinem Schreibtisch haben!“
 

„Jawohl, Dr. Akagi!“, kam von der Besatzung zurück.
 

„Ich will wissen, wer ihr seid“, dachte die Wissenschaftlerin.

 

***
 

Einheit Y, Entry-Plug
 

Davids Einheit fegte nahezu über die weite Ebene. Am Horizont konnte er die weißen Kühltürme des Atomkraftwerks erkennen, die sich deutlich von der grauen Masse des Kaijus abhoben.
 

„Aktiviere Multitool, Hammer-Modus!“, rief er und nahm den seltsamen Stab in die Hände, der auf dem Rücken des Evangelions festgemacht war. Die einfahrbaren mechanischen Platten klickten hörbar, als sich die Waffe verwandelte. Die Metallschienen bildeten an einer Seite plötzlich einen soliden Quader. Der Evangelion fasste den entstandenen Hammer mit beiden Händen fest am Griff.
 

Das Kaiju drehte sich zu dem anrückenden EVA um und trommelte mit seinem Schwanz auf dem Boden. Es war ungefähr doppelt so lang wie der Evangelion. Wie bei einer Sprungfeder nutzte es den Schwung, um sich abzustoßen. Es wirbelte durch die Luft, direkt auf die blaugelbe Einheit zu. Mit einem markerschütternden Schrei schwang David den Hammer und traf den Gegner genau im Brustbereich. Krachend landete die Bestie auf der Erde und rutschte einige Meter, bevor sie zum Liegen kam. Einheit Y setzte nach und schwang die Waffe über den Kopf. Als das kantige Ende Richtung Boden sauste, rollte sich das Kaiju zusammen und begann, wie ein Ball Richtung Atomkraftwerk zu kullern. Der Hammer schlug krachend auf dem Boden auf. Einige Bäume wurden von der Erschütterung entwurzelt und segelten durch die Luft.
 

„Hey, bleib hier du Mistvieh!“, brüllte David und verwandelte die Waffe wieder in einen Speer, den er dem wegrollenden Monster hinterherwarf. Die gigantische Eisenstange sauste durch die Luft, verfehlte ihr Ziel jedoch.
 

Der dunkelgrüne Evangelion war vor dem Kraftwerk zum Stehen gekommen. Ben sah die riesige Kugel aus Fleisch und Dornen auf sich zurollen.

 

***
 

NERV-Hauptquartier
 

„Datenaufnahme läuft, Ergebnisse werden den MAGI zur Auswertung übermittelt!“ Maya Ibuki hatte wieder etwas Gesichtsfarbe hinzugewonnen. Das Abarbeiten der Befehle half ihr, die aufflackernde Übelkeit unter Kontrolle zu bekommen.
 

Asuka beugte sich zu Shinji und Rei herüber. „Ich will auch so ne Waffe!“, sprach sie. „Können wir da nicht mal die Entwicklungsabteilung drauf ansetzen?“
 

„Ja, sie scheinen gut ausgerüstet zu sein“, antwortete Rei leise.
 

„Kaum zu fassen, dass die nix gesagt haben!“, ärgerte sich Shinji. „Die hätten uns bei der Feier ruhig mal einweihen können…“
 

„Weil sie nicht durften“, sagte Rei leise. „Sie hatten ihre Befehle.“ Und trotzdem hatte Janko es getan. Ein seltsames, warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. War das Freude? Stolz? Über das Vertrauen, das er ihr entgegengebracht hatte?

 

***
 

Einheit Z, Entry-Plug
 

Das seltsame Wesen rollte noch immer auf ihn zu. Ben sah sich um.
 

„Scheiße Mann, lass dir was einfallen!“, dachte er bei sich. Dann sah er die Hochspannungsleitungen, die von dem Kraftwerk wegführten und ihm kam die rettende Idee. Er griff nach einem der riesigen, stählernen Masten und zog ihn aus seiner Verankerung. Die Leitungen zischten funkensprühend, als sie die Belastung nicht mehr aushielten und rissen. Wie einen Baseballschläger schwang Einheit Z die Stahlkonstruktion und traf das rollende Monster, das auf ihn zuhielt. Es flog eine gute Strecke zurück und landete auf dem Rücken.
 

Mit einem lauten Schrei drehte es sich wieder um und starrte auf Einheit Y, die den Speer wieder in der Hand hielt und auf das Kaiju zustürmte. Dieses begann zu rotieren und schlug mit dem dornenbewehrten Schwanz. Davids Evangelion rollte zur Seite, sodass der Schweif neben ihm auf dem Boden einschlug.
 

„Axt-Modus!“, rief der Pilot. Die Metallplatten verformten sich erneut und bildeten eine zweischneidige Waffe mit gegenüberliegenden, gerundeten Schneiden. Der EVA schwang die Doppelaxt in einem Halbkreis vor sich und traf den Schwanz beim nächsten Angriff des Kaijus genau in der Mitte. Es gab ein schneidendes Geräusch, dann klatschte das abgetrennte Ende des Monsters zuckend auf den Boden. Eine Fontäne aus bläulichen Blut ergoss sich über Einheit Y.
 

„Jetzt bist du fällig!“, hörte Ben David rufen. Er schob den Stil der Axt unter dem Hals des Kaijus durch und begann, ihm so die Luft abzuschnüren. Eine Videoübertragung tauchte im Entry-Plug auf. Davids Gesicht erschien. Er hatte Mühe, das wackelnde und um sich schlagende Monster zu fixieren. Entsprechend angestrengt waren seine Gesichtszüge. „Hey Kollege, lad mal deine Kanone auf!“
 

Ben ballte die Faust und rannte auf das kämpfende Bündel zu. „Mit dem größten Vergnügen!“
 

Im Laufen veränderte sich der rechte Arm von Einheit Z. Mehrere Panzerplatten fuhren zurück und gaben drei ausfahrende Metallschienen preis, die sich über die stählerne Faust des Evangelion stülpten. Zwischen den Spitzen begannen blaugrüne Blitze zu zucken.
 

„Plasmakanone einsatzbereit!“, rief Ben und zielte.
 

Einheit Y riss das Kaiju nach oben und entblößte dessen Bauch. Ein heller, grüner Lichtblitz zuckte auf, als das heiße Plasma aus dem Arm des Evangelions mit einem Schrotflinten-ähnlichen Geräusch emporschoss und die Unterseite des Kaijus zerfetzte. Riesige Hautlappen lösten sich und segelten durch die Luft, während die Eingeweide des Monsters von den nachfolgenden Ladungen verbrannt wurden. Er schoss nochmal, bis sie sicher sein konnten, dass keine Gegenwehr mehr stattfinden konnte. David ließ den leblosen Körper zu Boden fallen.

 

***
 

NERV-Hauptquartier
 

„Zweiter Feind erledigt! Keine Lebenszeichen mehr vom Zielobjekt!“, rief Hyuga und lehnte sich zurück. Die Gefahr war vorerst gebannt.
 

Ritsuko zog die Schultern hoch und starrt auf das leblose Wesen, das unweit der dampfenden Kühltürme des Kraftwerks im Staub lag.
 

„Auftrag ausgeführt. Erbitten Erlaubnis, nach Tokyo-3 zu kommen“, sprach Phil Sammons. „Der Großteil unserer Ausrüstung befindet sich in seinen Transportmaschinen mittlerweile im Landeanflug. Die Evangelions haben noch genug Restenergie, um selbstständig den Weg zum NERV-Hauptquartier anzutreten.“
 

Misato näherte sich dem Mikrofon. „Erlaubnis erteilt, NERV-04. Wir sehen uns im Hangar.“ Sie blickte zu Ritsuko, deren Gesicht so gar nicht zu dem gerade mit angesehenen Erfolg passte.
 

Die blonde Frau starrte Misato über die Ränder ihrer Brillengläser hinweg an. „Das war kein Kampf, das war eine Machtdemonstration. Die haben uns gerade eine Nachricht geschickt. Eine Nachricht, die mir ganz und gar nicht gefällt.“ Mit diesen Worten wand sie sich ab und verließ den Kommandoposten.
 

Misato sah ihr noch einige Zeit nachdenklich hinterher, dann wandte sie sich an ihre Piloten. „Ihr solltet euch jetzt auch mal duschen und umziehen gehen. Für heute ist wohl keine weitere Feindaktivität mehr zu erwarten. Macht euch frisch, dann können wir unseren ‚Besuch‘ nachher gebührend in Empfang nehmen.“

Begegnungen - Teil I

10. Oktober 2015, früher Abend, Tokyo-3

 

Die Bewohner von Tokyo-3 staunten nicht schlecht, als der Trubel um das NERV-Hauptquartier im Licht der untergehenden Sonne ungeahnte Ausmaße annahm. Von ihren Balkonen und Hausdächern aus sahen die Bewohner, wie auf dem eigens eingerichteten Rollfeld im Minutentakt neue Transportmaschinen mit dröhnenden Motoren zur Landung ansetzten. Es wirkte fast wie bei der Berliner Luftbrücke mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor. Der kleine Flughafen erschein wie ein gigantischer Bienenstock, als mehrere hundert Techniker und Sicherheitskräfte begannen, mit Hubwagen, Gabelstaplern und teilweise purer Muskelkraft das in den Laderäumen der Flugzeuge verstaute Equipment ins Hauptquartier zu bringen. Die Versorgungszüge wurden für ihren Weg unter Tage bis zum letzten Platz befüllt, Behälter wurden auf abenteuerlichste Art und Weise gestapelt, sogar die normalen Personenaufzüge fand man an diesem Abend vollgestellt mit Umzugskisten, wenn ein armer Mitarbeiter des Hauptquartiers am Ende seiner Schicht verzweifelt versuchte, einen Weg hinaus zu finden.

 

Ritsuko, Misato und Kaji standen an einer der großen Fensterfronten an der Oberfläche und starrten auf das Flugfeld.

 

„Hui, das sieht mir nach einem ziemlich gut organisierten Umzug aus“, bemerkte der Mann mit dem Dreitagebart. Er zündete sich eine Zigarette an und blickte auf eine äußerst schlecht gelaunte Wissenschaftlerin.

 

„Das ist kein Umzug. Das ist eine Invasion“, gab diese mürrisch zurück.

 

„Ach komm schon, so schlimm wird’s schon nicht werden“, beschwichtigte er. „Seid doch froh, ab jetzt bleibt nicht mehr die ganze Arbeit an euch hängen. Ich denke, dass wir in der jetzigen Situation jede Hilfe gebrauchen können.“

 

Ritsuko drehte sich um und ging, etwas Unverständliches vor sich hin murmelnd, in Richtung ihres Büros.

 

Kaji schaute auf Misato. „Hast du’s gewusst?“

 

„Was? Dass meine Nachbarn EVA-Piloten sind? Nein.“ Sie schüttelte den Kopf und nahm ihm die Zigarette ab. Nachdem sie einige Male daran gezogen hatte, gab sie ihm diese zurück. „Ich komme mir so dumm vor. Sie haben mich an der Nase herumgeführt! Und dabei haben wir beide vor einigen Tagen noch mit ihnen zusammengesessen und Shochu getrunken! Wusstest du etwa was davon?!“

 

Kaji starrte mit unbewegtem Gesicht in die Ferne. „Nein, woher sollte ich auch? Commander Ikari hätte mich bestimmt auf sie angesetzt, wenn er etwas davon geahnt hätte. Ich wette, seine Laune ist im Moment auch nicht die beste…“ Er grinste schelmisch.

 

***

 

Zeitgleich, Antarktischer Ozean, Flugzeugträger Shinano

 

Vizecommander Fuyutsuki stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor Commander Ikaris provisorischem Schreibtisch. Durch die Scheiben im Hintergrund konnte er erkennen, wie die Sonne langsam am Horizont des roten Meeres versank. Die gigantische Zeltplane, die das Artefakt, das sie aus der Antarktis geholt hatten auf dem Flugdeck verdeckte, wehte leicht im Fahrtwind.

 

Er hatte dem Commander gerade die weiteren Ereignisse des Tages in Japan mitgeteilt. Eine seltsame Stille hatte sich über den Raum gelegt, keinerlei Regung ging von Ikari aus.

 

„Niemals hätte man die Evangelions und die komplette Niederlassung NERV-04 in wenigen Tagen verlegen können“, sagte dieser mit ruhiger Stimme.

 

„Ich stimme zu, der logistische Aufwand einer solchen Operation wäre viel zu groß, um dies so kurzfristig durchzuführen.“ Fuyutsuki legte einen Stapel Akten auf den Schreibtisch. „Dies sind die Auswertungen der deutschen Evangelions, die Dr. Akagi in Auftrag gegeben hat. Zu Ihrer Kenntnis.“

 

„Dann betreten sie also in diesem Moment das NERV-Hauptquartier.“ Gendo griff nach der obersten Akte.

 

„Korrekt. Die Evangelions sind in den entsprechenden Rückhaltebuchten verstaut worden, die übrige Fracht wird gerade entladen. Mit den zusätzlichen Mannschaften wird es voll im Hauptquartier.“

 

Sechs Evangelions in einem Land. Unter normalen Umständen hätte man erwartet, dass Gendo Ikari zusätzliche Kampfkraft gerne angenommen hätte. Seine Pläne waren jedoch für die drei Evangelions ausgelegt, deren Eigenarten und Entwicklung er genau kannte. Dies hier jedoch bedeutete Probleme und viele Unbekannte in der Gleichung für die weiteren Pläne. Zu viele Leute, die an Informationen herankommen konnten, die sie nichts angingen.

 

Er klappte den Aktendeckel wieder zu. „Wir können ihnen im Moment nichts Negatives nachweisen. Bis jetzt folgen sie alle nur den Befehlen des Komitees. Also spielen wir mit. Übermitteln Sie Glückwünsche zum Einsatz. Wenn wir in einigen Tagen zurück sind, will ich ein persönliches Gespräch mit den Verantwortlichen von NERV-04 führen. Dann sehen wir weiter.“

 

Fuyutsuki drehte sich um und wollte gerade den Raum verlassen, als Ikari noch einmal die Stimme erhob. „Und setzen Sie den Sicherheitsdienst in erhöhte Alarmbereitschaft. Wenn sich einer unserer Gäste zu neugierig verhält, will ich davon wissen. Aktivieren Sie auch Agent Ryoji Kaji.“

 

***

 

NERV-Hauptquartier, Aufzug B 36

 

Die Aufzugstüren schlossen sich leise, als die fünf Männer eingetreten waren. Thaddäus und Phil hatten es sich nicht nehmen lassen, die drei Piloten persönlich abzuholen, nachdem die Evangelions in ihren entsprechenden Buchten in dem bis jetzt ungenutzten D-Flügel des Hauptquartiers platziert worden waren.

 

„Wir ziehen also quasi in diesen Bereich von NERV ein, ja?“, fragte Janko und studierte die vielen Schalter des Aufzugs. Die Feuchtigkeit und der Geruch des LCL klebten noch immer an seinem Plugsuit.

 

„Exakt“, gab Phil zurück. „Die hier liegenden Buchten und sogar ein Testzentrum und ein paar Labore stehen uns zur Verfügung. Sieht so aus, als ob hier jemand vor einiger Zeit richtig groß geplant hat. Einzig die Kantine und die sanitären Anlagen teilen wir mit dem Rest der ursprünglichen Crew im B-Flügel. Oh, und natürlich das Kommandozentrum. Davon abgesehen könnten wir hier durchaus unsere Ruhe haben. Wenn uns Ikari und Co. lassen…“

 

„Ziehen wir unser Abendprogramm noch durch?“, wollte David wissen.

 

„Selbstverständlich. Wenn es heute keinen Grund dazu gibt, wann denn dann?“, antwortete Phil. Er strich über die Arme seiner von dem langen Flug leicht zerknautschten Uniform. „Ich hoffe, ihr seid nach diesem Einsatz noch gesellschaftsfähig.“

 

David lächelte schief. „Naja, dank des LCL stinke ich wie ein Iltis und in diesem Anzug sehe ich aus wie eine Presswurst…“

 

„Also alles wie immer“, stellte Ben trocken fest und blickte starr geradeaus.

 

David verzog das Gesicht zu einer wutentbrannten Fratze. Er fuhr die Hände in Richtung von Bens Hals aus. „NA WARTE, DU MIESER KLEINER…!!!!“

 

Janko stellte sich lachend zwischen die beiden, als Thaddäus ruckartig den Arm hob, ohne sich umzudrehen. „Haltung annehmen, Männer! Wir wollen uns doch von unserer besten Seite präsentieren. Wir werden schließlich die nächsten Monate hier verbringen.“ Doch auch er musste leicht schmunzeln.

 

Die Aufzugtüren öffneten sich und gaben den Blick in einen langen Gang mit mehreren Abzweigungen frei. Am Ende des Weges war eine gigantische Metalltür zu sehen, auf der das Logo und der bekannte Schriftzug von NERV zu erkennen waren. Einige Leute von NERV-04, erkennbar an den dunkelgrünen Uniformen, warteten bereits. Je näher sie dem Ende des Ganges kamen, desto mehr ihrer Mitarbeiter strömten aus den Seitengängen und schlossen sich ihnen an. Sally Anderson gratulierte den drei Piloten kurz, als sie zu ihnen aufschloss. Auch die Brückencrew aus Deutschland sowie die Techniker schienen vollzählig eingetroffen zu sein.

 

„God’s in his Heaven, all’s right with the world“, las Janko das Motto auf der Tür vor, als sie darauf zumarschierten.

 

„Nee...“ Ben schüttelte den Kopf. „Ich bin da eher bei Nietzsche. Gott ist tot, Mann. Wir sind nicht mehr als seine ungewollten Kinder. Und wir balgen uns um sein Erbe.“

 

Die Stahltür öffnete sich langsam, als die Gruppe nahe genug herangetreten war. Sie konnten eine andere gigantische Halle erkennen, ähnlich der, in der sie ihre eigenen Evangelions geparkt hatten. Von den Wänden blickten die drei ursprünglichen EVAs auf sie herab. Eine große Menschenmenge hatte sich auch bereits in dieser Halle versammelt und schien auf sie zu warten. Ein Großteil der NERV-Mitarbeiter hier trug augenscheinlich khakifarbene Uniformen, sodass eine Unterscheidung für die Zukunft wohl leichtfiel.

 

An der Spitze der Menge standen Major Katsuragi und Kaji sowie Dr. Ritsuko Akagi, dicht dahinter die drei Teenager. Flankiert wurden sie von einer ganzen Armee von gleich aussehenden Männern mit Sonnenbrillen und schwarzen Anzügen. Erst weiter hinten wartete das restliche Personal.

 

„Ui, was wird’n das?“, flüsterte David. „Ein Angriff der Klonkrieger?“

 

„Klappe, Pilot!“, zischte Thaddäus zurück. „Überlass mir jetzt mal das Reden!“ Mit diesen Worten legte er einen schnelleren Schritt ein und trat in die Halle. Phil folgte ihm, dann der Rest.

 

„Dr. Ritsuko Akagi!“, sagte der Wissenschaftler lächelnd und streckte die Hand aus. Nachdem Ritsuko diese zögernd geschüttelt hatte, fuhr er fort. „Ich bin Dr. Thaddäus Weber, wissenschaftlicher Leiter von NERV-04. Es freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.“

 

„Das kann ich von Ihnen nicht behaupten“, gab die blonde Leiterin der Forschungsabteilung mit zusammengebissenen Zähnen zurück. Dann atmete sie einmal tief ein und aus. Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig. „Dennoch heiße ich Sie alle im Namen von NERV hier willkommen. Commander Ikari und Vizecommander Fuyutsuki sind im Moment nicht im Haus. Ich bin aber sicher, dass meine Kollegin Major Katsuragi und ich alle Ihre Fragen fürs Erste werden beantworten können.“

 

„Vielen Dank für den Empfang“, stieg Phil ein und schüttelte der anwesenden Führungsriege ebenfalls die Hände. „Ich bin Captain Phil Sammons, taktischer Leiter der Einsatzabteilung. Anscheinend ihr Äquivalent, Miss Katsuragi“. Er setzte ein breites Lächeln auf, das von Misato jedoch nicht ganz in der Form erwidert wurde. „Ich gehe davon aus, dass wir gut zusammenarbeiten werden. Im Kampf gegen die Engel gilt schließlich: Mehr ist mehr!“

 

Die drei Piloten traten vor. „Hi, Misato“, sagte David und zeigte sein breitestes Grinsen. „Nicht böse sein, aber Befehle sind nunmal Befehle.“ Er beugte sich zur Seite und winkte zu den Teenagern.

 

Misato gab sich einen Ruck. „Dann gratuliere ich mal zu dem erfolgreichen Einsatz. Ich muss sagen, dass das gute Arbeit war. Wir können mit Sicherheit viel voneinander lernen.“

 

Thaddäus ergriff wieder das Wort. „Davon gehe ich aus. Wichtiger ist aber, aus Sicht der Teambildung, dass sich unsere zwei Mitarbeitergruppen erst einmal besser kennenlernen.“ Er drehte sich zum Rest des Stabs von NERV-04 um und nahm die Finger in den Mund. Dann pfiff er zwei Mal kräftig. Die Menge teilte sich und mehrere Hubwagen, beladen mit Paletten, wurden durchgelassen.

 

„Was wird denn das?“, fragte Asuka überrascht und trat vor.

 

„Na, nach einem so erfolgreichen Tag halten wir eine kleine Vereinigungsfeier für die beste Gelegenheit, damit sich unsere Teams nicht mehr wie Fremde begegnen. Zeit für eine kleine Party!“ Thaddäus klatschte freudig in die Hände.

 

Ein wohlwollendes Raunen ging durch die wartende Menge.

 

Ritsukos Mund stand leicht offen, als sie überrascht zu stottern begann. „Eine… eine Party?!“

 

Phil machte einen Schritt auf sie zu. „Na sicher! Heute ist unter Garantie kein weiterer Angriff zu befürchten. Man muss die Feste feiern wie sie fallen!“ Er drehte sich zu den Leuten um, die die Hubwagen hereingefahren hatten. „Ok Leute, auspacken! In einer Stunde will ich hier Partystimmung haben!“

 

Asuka kratzte sich am Kopf. „Aber für eine Feier braucht man Musik, Equipment, Getränke…“

 

„Alles dabei“, sagte Phil und legte den Kopf leicht quer. „Wenn wir in Deutschland schon unsere Sachen packen, dann richtig!“

 

Shigeru Aoba drehte sich in der Menge zu seinen Kollegen von der Brücke um. „Hab ich richtig gehört, eine Party? Das ist ja großartig! Und verdient haben wir uns das nach den letzten Wochen wohl allemal!“

 

Makoto Hyuga lachte leise vor sich hin. „Wie gut, dass Ikari und Fuyutsuki nicht hier sind. Sonst gäbe es jetzt ganz bestimmt ein Donnerwetter.“

 

„Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch“, stimmte Maya Ibuki mit ein.

 

***

 

Die Crew von NERV-04 machte sich mit geschickten Händen daran, die Paletten abzuladen. Bierfässer, Musikboxen und sonstiges Equipment wurde in der großen Halle verteilt, während erfreute Hauptquartiersmitarbeiter sich daranmachten, notwendige Stromleitungen zu verlegen und bereitzustellen. Im Nu hatten sich mehrere gemischte Grüppchen gebildet, die Bierbänke und Stehtische aufstellten, Dekoration verteilten und die mitgebrachte und noch komplett zerlegte Cocktailbar aufbauten.

 

Darius Kocurek und Sally Anderson waren zusammen mit Shigeru Aoba und Maya Ibuki dabei, eine riesige Diskokugel per Flaschenzug unter der Decke zu befestigen. Maya musste lachen. „Vor einigen Tagen haben wir diese Gerätschaften noch gebraucht, um die EVAs manuell startklar zu machen. Bei dem Stromausfall hab ich gedacht, mein letztes Stündchen hätte geschlagen!“ Sally und Darius warfen sich kurz einen vielsagenden Blick zu. Dann antwortete die Pilotin des VTOLs: „Ja, wir haben davon gehört. Krasse Geschichte, aber es ist anscheinend ja nochmal gut gegangen. Sonst hätte ich nie das Vergnügen gehabt, dich kennenzulernen!“

 

Maya wurde leicht rot, musste aber lächeln. Etwas unsicher suchte sie sich schnell eine andere Aufgabe bei der in die Höhe wachsenden Cocktailbar.

 

Der Computerexperte von NERV-04 beobachtete Sally, wie sie der jungen Technikerin nachschaute. Er verschränkte die Arme. „Ich weiß genau, was du denkst!“

 

Sally stemmte die Hände in die Hüften. Sie grinste. „Rrrrrrrr!“, war alles, was sie dazu sagte.

 

***

 

Janko hatte die letzte halbe Stunde zusammen mit seinen Kollegen dazu genutzt, um duschen zu gehen. Und, zugegeben, sich ein wenig vor dem Aufbau zu drücken. Da aber die Feier ohne ihren unermüdlichen Einsatz heute ja gar nicht hätte stattfinden können, fand er das schon gerechtfertigt. Er zog die ihm wohlbekannte Uniform an und betrat mit den David und Ben wieder die große Halle. Oder eher den Festsaal, wie sie erleichtert feststellen mussten. Auf einer kleinen Anhöhe, errichtet aus den nun leeren Paletten, machten sich mehrere Mitarbeiter daran, die umfangreiche Verkabelung zu verlegen.

 

„Wow, wird das sogar ein DJ-Pult?“, fragte Asuka und trat zu den drei Piloten. Sie schien ganz hibbelig. „Ist lange her, dass ich mal ausgiebig getanzt hab!“ Dann setzte sie einen gespielt empörten Gesichtsausdruck auf. „Ihr Ärsche! Ihr hättet echt mal was sagen können!“ Shinji im Hintergrund nickte eifrig. Nur Rei war nirgends zu sehen.

 

Ben lächelte und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Liebe Asuka, wenn ich die Erlaubnis gehabt hätte, dann hättest du es auch erfahren. Aber Thaddäus und Phil werden ungemütlich, wenn man sich ihnen widersetzt. Ich bin nur ein einfacher Soldat. Befehle sind Befehle…“

 

„Jaja!“ Sie wischte seine Hände weg und reckte ihm den Zeigefinger entgegen. „Dann erwarte ich aber, dass das ne gigantische Party wird, ist das klar!?“

 

„Oh, das wird es, vertrau mir“, warf David grinsend ein und rieb sich die Hände. „Du hast keine Ahnung, wie die Weihnachtsfeiern von NERV-04 so ausgesehen haben!“

 

Janko trat nah an Shinji und Asuka heran. „Als ob der davon noch viel wüsste“, flüsterte er und zwinkerte ihnen zu.

 

„Eben, dann kann’s ja nur großartig gewesen sein!“, entgegnete David.

 

Das Klopfen einer Hand auf einem Mikrofon riss sie aus ihrem Gespräch. Sie drehten sich zu der improvisierten Bühne aus Paletten um und sahen Phil, der sich dort oben hingestellt hatte.

 

„Guten Abend! Ich weiß nicht, welche miserablen Entscheidungen in Ihrem Leben dazu geführt haben, dass Sie sich NERV angeschlossen haben. Aber da Sie heute schon mal hier sind, kann Ihnen versichern, dass Sie im Begriff sind, Großes zu vollbringen! Die Entscheidungen der letzten Tage mögen für einige Anwesende überraschend und verwirrend gewesen sein, aber lassen Sie mich eines deutlich machen: Wir von NERV-04 haben die gleichen Ziele wie Sie! Unsere Aufgabe ist es, die Menschheit vor ihren Feinden zu beschützen. Mögen diese von außen oder von innen kommen!“ Er betonte die letzten Worte besonders nachdrücklich und schaute kurz zu Thaddäus und den Piloten hinüber. „Auch ich kann Ihnen keinen Sieg versprechen. Aber im Laufe ihrer Geschichte hat die Menschheit immer und immer wieder gezeigt, dass sie auch unter den größten Widrigkeiten in der Lage ist, zu bestehen. Und was soll ich Ihnen sagen? Wir sind, trotz all der Katastrophen, trotz all der Angriffe, immer noch hier! Mögen die Feinde Engel heißen, mögen sie Kaijus heißen, das ist nicht wichtig! Wichtig ist, dass wir bereit sind, füreinander einzustehen! Uns zu unterstützen!“

 

Leichter Jubel im Publikum brandete auf.

 

„Aber, wenn das hier das Ende der Geschichte ist, dann lassen Sie mich eines klarstellen: Wenn diese Viecher uns von diesem Planeten fegen wollen, dann werden sie hart dafür arbeiten müssen! Denn vorher werden WIR IHNEN die Hölle bereiten!“

 

Der Jubel nahm weiter zu. Janko musste grinsen. So kannte er Phil, nie um eine große Ansprache verlegen.

 

„Aber ich bin zuversichtlich! Der heutige Tag ist nicht zum Grübeln da! Heute feiern wir die Zusammenkunft der letzten Verteidiger der Menschheit! Genießen wir für einen Abend das Leben als sei es unser letzter! Lasst uns anfangen, Leute!“ Phil zeigte auf die fertig errichtete Bar und gab ein Handzeichen. Mit einem großen Hammer wurde das erste Bierfass angeschlagen. Eine Fontäne aus Schaum ergoss sich über den Bereich vor der Theke. Eine Woge aus Geschrei und Applaus wallte auf, als die Mitarbeiter der zwei Fraktionen an den Tresen stürmten. Die ersten Stöße des Schlagzeugs von Manowars „Warriors of the World United“ schepperten wie zur Unterstreichung von Phils Worten aus den Musikboxen.

 

***

 

Als bereits einige Zeit vergangen war, saßen Ben, Misato und Phil auf einer der großen Metallkisten am Rande der improvisierten Tanzfläche. Das deutsche Bier schien bei der Japanerin gut anzukommen. Sie beobachteten Janko und Sally bei ihren Tanzversuchen. Nachdem die beiden sich aber gegenseitig mehrmals auf die Füße getreten waren, ließen diese lachend davon ab und gingen zurück zur Theke. Misato schaute ihnen hinterher.

 

„Die beiden scheinen ja ziemlich eng miteinander zu sein. Läuft da etwas?“, fragte sie interessiert an Ben und Phil gerichtet.

 

„Bei Janko und Sally? Niemals. Die beiden kennen sich einfach schon ewig. Die haben lange gemeinsam bei der UN gedient, bevor sie NERV beitraten. Ne Ladung schiefgegangener Einsätze schweißt wohl zusammen…“, antwortete Ben.

 

„Klingt nicht gerade nach einer glorreichen Vergangenheit“, wand Misato ein.

 

„War’s auch nicht“, ergänzte Phil. Er drehte das Bierglas in seiner Hand und schaute zu Misato hinüber. „Der Kerl hat anscheinend sieben Leben. Deswegen macht er sich auch so gut im Evangelion. Er weigert sich einfach, zu sterben.“

 

Darius gesellte sich zu ihnen und hielt einen riesigen Cocktailbecher in der Hand. Er spielte mit dem Strohhalm und nickte in Richtung der Pilotin. „Aber was Sally Anderson angeht: Eure Technikerin Maya Ibuki sollte sich vielleicht vorsehen! Ich glaube, da hat jemand die Angel ausgeworfen.“ Er grinste und widmete sich wieder seinem Long Island Iced Tea.

 

***

 

In einer anderen Ecke der großen Halle hatten Shinji und Asuka sich mit David und Thaddäus zusammengefunden. Der deutsche Pilot musterte die gigantischen Evangelions, die starr auf sie herabblickten.

 

„Die berühmten Einheiten 01 und 02…“, setzte er an.

 

Asuka unterbrach ihn. „Die TEST-Einheit 01!“, stellte sie fest. „Einheit 02 ist der erste voll funktionsfähige Evangelion!“

 

David seufzte übertrieben, dann blickte er zu ihr herüber. „Für dich ist alles ein Wettbewerb, oder?“

 

„Hey, Ehre wem Ehre gebührt! Ich bin nun mal die Pilotin mit den höchsten Synchronwerten! Du bist doch nur neidisch!“ Sie grinste. „Ich wette, mein Wert ist auch höher als deiner!“

 

David zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, hab meinen nie erfahren… Das Ding springt an, wenn ich drinsitze, das ist alles was ich wissen muss.“

 

„WAS?!“, antworteten Shinji und Asuka zeitgleich. Der Junge hakte nach. „Ihr… wisst eure Werte gar nicht?“

 

„Sie werden nicht dauerhaft protokolliert“, schaltete sich Thaddäus ein. Er hatte sein erstes Bier fast aus. „Ich vertrete die Auffassung, dass es, solange es keine massiven Abweichungen von der Norm gibt, keinen Grund gibt, diese Werte ständig zu thematisieren. Sorgt nur für zu viel Wettbewerb unter den Piloten und lenkt von der eigentlichen Aufgabe ab.“

 

Ritsuko trat an das Grüppchen heran. Sie hatte mitgehört und zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

 

Thaddäus setzte nach. „Außerdem sind die Werte eh nur begrenzt aussagefähig. Jeder Pilot ist anders, jeder Evangelion ebenso. Es kommt also immer auf das Zusammenspiel zweier Individuen an. Beispielsweise kann eine Einheit mit seinem Piloten und einem Synchronwert von 60 Prozent trotzdem bessere Ergebnisse im Kampf erzielen als eine andere Einheit mit Pilot und einem Wert von 75 Prozent.“

 

Ritsuko sagte immer noch nichts. Dafür schüttelte Asuka den Kopf. „Also für mich klingt das nach einer faulen Ausrede, um sich nicht mehr anstrengen zu müssen!“

 

Thaddäus lächelte. Er schaute zu der Wissenschaftlerin herüber. „Sie können das natürlich handhaben, wie Sie wollen. Aber unserer Auffassung nach sind die Piloten eh schon genug psychischem Stress ausgesetzt, da muss man nicht noch ein Wettrennen veranstalten.“ Dann wandte er sich an David. Tadelnd zeigte er mit wippendem Zeigefinger auf ihn. „Was nicht heißt, dass ich nicht mitkriege, wenn du während der Tests ein Nickerchen machst!“

 

David zog lachend die Schultern hoch. „Hey, das ist nur ein Mal passiert! Und das war an dem Tag nach der Weihnachtsfeier! Da hätte ich nicht mal Auto fahren dürfen! Und du zwingst mich in den Entry-Plug! Selbst schuld!“

 

Thaddäus zählte durch. „Das ist übrigens ein gutes Stichwort. Wie sieht’s aus? Neue Runde? Fünf Bier?“

 

Die Gesichter von Shinji und Asuka begannen zu strahlen. Sie nickten eifrig. Die Wissenschaftlerin jedoch schnaubte erbost. „Wie bitte? Das sind Teenager! Sie können Minderjährigen doch keinen Alkohol anbieten!“ Die Mienen der zwei Piloten verfinsterten sich augenblicklich.

 

Thaddäus räusperte sich, dann blickte er in die Augen seines Gegenübers. „Wie jetzt? Es stellt für Sie kein Problem dar, dass sich Vierzehnjährige da draußen im Zweifel von Engeln zerfetzen lassen müssen, aber bei einem Bier gilt auf einmal der Jugendschutz? Ist das nicht ein wenig heuchlerisch?“ Er betonte mit Vergnügen das letzte Wort.

 

Die blonde Frau überlegte kurz. „Der Punkt geht an Sie, Dr. Weber. Aber wenn hier volltrunkene Piloten rumlaufen, ziehe ich Sie persönlich dafür zur Verantwortung.“ Sie nickte ernst in die Runde, dann drehte sie sich um und ging.

 

„Uuh, welch böser Blick“, dachte Thaddäus und schaute ihr nach. „Sie hasst mich jetzt schon. Großartig.“ Ein eiskaltes Lächeln umspielte seinen Mund.

 

„Da waren’s nur noch vier Bier“, stellte David trocken fest. „Also, die Dame, die Herren, wenn Sie mir bitte zur Theke folgen würden.“ Er fuhr die Arme aus. Die beiden Teenager hakten sich an den Seiten ein.

 

„Mit dem größten Vergnügen!“, antwortete Shinji. Auch Asuka kam freudestrahlend mit.



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