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O genki desu ka?

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O genki desu ka

お元気ですか?

– Was ist los? –
 

Kapitel 1
 

Dezember
 

Stirnrunzelnd betrachtete ich ihn, versuchte mir meine Besorgnis gleichzeitig nicht zu sehr äußerlich anmerken zu lassen.

Er sah schlecht aus. Er war zwar immer noch ein schöner Mann, soweit ich das beurteilen konnte, und unsere Fans würden mir definitiv beipflichten, dennoch sah er für seine Verhältnisse schlecht aus. Seine Haut wirkte fahl, fast durchscheinend und glänzte, als hätte er Fieber. War er krank?

Ich unterdrückte ein Seufzen, versuchte mich auf Kyos Worte zu konzentrieren, der gerade von Sexx George mit Fragen gelöchert wurde. Doch meine Augen machten sich selbstständig und blieben schlussendlich erneut an Toshiya hängen, der neben unserem Sänger auf einem der hohen Stühle saß und schweigend der Konversation folgte. Er hatte sich verändert. Wieder einmal.

Vor vier Wochen, beim Fotoshooting für den Fanclub-Kalender, hatten die Konturen seines Gesichts schärfer als sonst gewirkt, die Wangen fast schon eingefallen. Das hatte das erste Mal bei mir eine gewisse Besorgnis erregt, die nun erneut in mir hoch flammte, als ich ihn auf meinem Bildschirm betrachtete. Heute erschien sein Gesicht leicht aufgedunsen, generell sah er einfach fertig aus. Was war da los?
 

Ich versuchte mich an unser Treffen im November zu erinnern, das war inzwischen schon über anderthalb Monate her. Wir hatten den ganzen Abend zusammen mit Shinya im Restaurant gesessen, hatten getrunken, gelacht, einfach das Gefühl des Zusammenseins, das im letzten, halben Jahr so rar geworden war, gefeiert. Damals hatte Toshiya recht normal ausgesehen oder war ich einfach blind gewesen? Blind vor Freude meine Freunde und Kollegen endlich einmal normal treffen zu können? Oder hatte er sich nur nichts anmerken lassen und es ging ihm die ganze Zeit schon nicht gut? Danach hatten wir uns nur noch bei jenem Kalender-Shooting getroffen und bei dem Talk-Event im Zepp Nagoya vor zwei Wochen. Ich hatte nichts mitbekommen, war wohl zu aufgeregt gewesen, endlich wieder auf einer Bühne zu stehen, wenn auch nicht für ein Konzert, sondern nur für eine Gesprächsrunde. Alles andere war dabei in den Hintergrund gerückt.

Und heute?

Von seiner körperlichen Verfassung konnte ich nicht sonderlich viel erkennen – das hochgeschlossene Hemd und die Lederjacke kaschierten zu sehr, die Sonnenbrille lenkte von seinem Gesicht ab. Trotzdem...
 

Statt weiter vor mich hinzugrübeln und doch keine zufriedenstellenden Antworten zu bekommen, konzentrierte ich mich auf das Interview, zauberte sogar ein professionelles Lächeln auf meine Lippen, als George einige Worte an mich richtete. Ich konnte stolz auf mich sein. Denn anscheinend hatte mein Hirn wenigstens so weit dem Gespräch folgen können, dass ich angemessen reagieren konnte, obwohl ich vollkommen in der Betrachtung meines Bandkollegens versunken gewesen war. Vermutlich hätte ich einen besseren Eindruck von Toshiya gewinnen können, wenn ich ebenfalls vor Ort im Studio gewesen wäre, aber es hatte nicht sollen sein.

Dieses Livestream-Talk-Event für die Fans, passend zum Jahreswechsel, musste leider ohne mich stattfinden, denn blöderweise hatte der Besuch meiner Familie am vergangenen Wochenende zur Folge gehabt, dass ich in Quarantäne musste und nun zu Hause bleiben durfte. Auch wenn es mir soweit gut ging, aber Leichtsinn wurde nun mal bestraft, besonders in diesen Zeiten – das sah ich ein und würde definitiv daraus lernen. Aus diesem Grund begleitete ich das Interview von meinem Sofa aus, per Liveschaltung, während meine Bandkollegen gemeinsam im Studio saßen. Ich ärgerte mich über mich selbst, ich hätte sie wirklich gerne alle wiedergesehen und das nicht nur über den Bildschirm meines Laptops, aber nun gut, es war nicht zu ändern. Dafür hatte ich nun die Möglichkeit, sie genauer zu betrachten und mir ein ausführliches Bild davon zu machen, wie es ihnen aktuell ging.

Dem ersten Eindruck zufolge schienen sie die allgemeine Zwangspause bisher ganz gut gemeistert zu haben. Shinya war wie immer die Ruhe selbst und wirkte zwischen Kyo und Kaoru in seinem eleganten Mantel, als wäre er gerade frisch von einem Modeshooting ins Studio geschwebt. Ein Schmunzeln huschte über meine Lippen. Es passte zu ihm.

Kaoru neben ihm fühlte sich anscheinend in seiner Rolle als Leader pudelwohl. Entspannt thronte er in legeren Klamotten auf dem Stuhl, verfolgte alles mit Argusaugen und hielt auf charmante Weise wie immer die Fäden in der Hand.

Kyos Haare hatten seit unserem letzten Treffen überraschenderweise einmal nicht ihre Farbe gewechselt. Sie waren immer noch giftig grün und es juckte mir in den Fingern, beim nächsten Mal zu testen, ob sie unbeeindruckt weiter leuchteten, wenn man das Licht ausschaltete.

Allesamt sahen sie gut und entspannt aus, immer wieder erhellte ein Lächeln ihre Gesichter, wobei ich das bei Shinya mit seiner Maske nur vermuten konnte. Aber so wie sich seine Augen ab und zu verengten, war ich mir sicher, dass auch er lächelte und sich wohlfühlte. Allen ging es gut – bis auf Toshiya.

Abermals wanderte mein Blick zu ihm. Seine Schultern, verborgen unter der braunen Jacke, wirkten angespannt, seine Haltung verkrampft. Die Augen wurden von einer für seine Verhältnisse übergroßen Sonnenbrille verdeckt, doch ich war mir sicher, dass die Schatten unter ihnen ungewohnt dunkel waren. Was war mit ihm los?
 

Das Interview plätscherte vor sich hin. Wir waren alle überraschend gesprächig, vermutlich war es der relativ langen Zeit zu Hause geschuldet, dass wir alle aktuell einen gewissen Redebedarf hatten. Wer konnte es uns schon verübeln? Im Allgemeinen wurden wir oft als recht unsoziale Band verschrien. Jeder von uns war auf seine Art ein Eigenbrötler – der eine mehr, der andere weniger. Doch wir hatten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und wussten mittlerweile, wie wir die anderen zu nehmen hatten, ohne aneinander zu geraten. Auch wenn es für Außenstehende nicht so aussah, wir standen uns inzwischen auf unsere eben unsoziale Weise näher denn je. Das hätte ich vor einigen Jahren definitiv noch nicht behaupten können, aber irgendwie hatten wir es geschafft nach diversen Streitereien enger zusammenzurücken.
 

Umso mehr besorgte mich Toshiyas Zustand. Unser Bassist hatte auf mich bisher meist wie das blühende Leben gewirkt, mal abgesehen von seiner Dauermüdigkeit. Gut, wenn ich an unseren gemeinsamen Livestream im Mai zurückdachte, da war er etwas neben der Spur gewesen, hatte sich nebenbei ein, zwei Bierchen mehr gegönnt, als es für ein Interview gut war. Dennoch hatten wir Spaß gehabt, viel geredet. Und hey, jeder durfte sich mal betrinken, auch wenn der Zeitpunkt vielleicht nicht unbedingt optimal gewählt gewesen war. Die Fans hatte es gefreut.

Und jetzt? Toshiya war für seine Verhältnisse sehr schweigsam, in sich gekehrt, obwohl er dennoch ab und zu ein kleines Lächeln zur Schau stellte. Zum wiederholten Mal beobachtete ich, wie er das Gesicht verzog und sich über die Stirn rieb, als hätte er Kopfschmerzen. Hatte er einen Kater oder doch nur eine Erkältung? War in den letzten Tagen etwas passiert, dass ihn aus der Bahn geworfen hatte?

Vielleicht sollte ich ihn später mal anrufen – wenigstens um zum neuen Jahr zu gratulieren.
 

*
 

Januar
 

Ich hatte ihn nicht angerufen. Warum, konnte ich nicht sagen, aber irgendwie war es mir nach Beendigung unseres Interviews nicht mehr als passend erschienen. Wir hatten ja zuvor erst geredet, es wäre sicher seltsam gewesen, wenn ich gleich darauf mit ihm telefoniert hätte. Außerdem: Womöglich hatte ich vollkommen überreagiert und Dinge gesehen, die überhaupt nicht da waren. Jeder hatte mal einen schlechten Tag. Aber dafür hatte ich eine kurze Line-Nachricht an Toshiya geschickt, mit allgemeinen Neujahrsgrüßen und anderem Geplänkel. Und natürlich auch mit der Frage, wie es ihm ging. Sein »Gut. Wie immer :)« war nichtssagend standardmäßig, aber wirklich glauben konnte ich ihm nicht.
 

Heute war der erste Tag, an dem ich meine vier Wände wieder verlassen durfte und natürlich musste sich der Winter genau jetzt von seiner unangenehmsten Seite zeigen. Das, was er in den letzten Wochen nicht geschafft hatte, holte er nun im Januar nach: nasskaltes Matschwetter, Regen und Schnee wechselten sich stündlich ab, gleichzeitig pfiff ein eisiger Wind durch die Straßen.

Glücklicherweise war das Izakaya gut beheizt. Vor den Fenstern war es inzwischen dunkel geworden, sodass wir von dem Geschehen draußen nichts mitbekamen. Da die Restaurants aktuell nur mit Sonderauflagen öffnen durften, war kaum etwas los. Dennoch hatten sich Kyo, Toshiya und ich in eine der hinteren Ecken verzogen, um nicht direkt auf dem Präsentierteller zu sitzen, sollten weitere Gäste kommen.
 

Nachdenklich nahm ich einen Schluck aus meinem Bierglas, nicht ohne meine beiden Bandkollegen, die mir gegenüber saßen und über irgendeinen Film diskutierten, aus den Augen zu lassen. Ich hatte nicht zugehört, zu sehr war ich damit beschäftigt, mein geheimes Sorgenkind zu mustern. Doch anscheinend machte ich mir umsonst Gedanken. Er sah besser aus. Zwar weiterhin mit dunklen Schatten um die Augen, aber nicht mehr so fertig wie vor zwei Wochen. Vielleicht hatte ich mich wirklich getäuscht.

„Willst du auch noch eins?“

Ertappt schreckte ich aus meiner Betrachtung hoch und starrte direkt in Kyos fragendes Gesicht. Es dauerte einige Sekunden bis ich begriff, dass er die nächste Getränkerunde aufgeben wollte. Ohne es zu registrieren, war mein Bier verblüffend schnell zur Neige gegangen und allmählich merkte ich das auch. Mein Körper fühlte sich seltsam weich an.

„Nein, danke. Ich nehm erst einmal ein Wasser“, lehnte ich schmunzelnd ab. Man musste ja nicht gleich übertreiben.

Toshiya lachte auf, während Kyo schulterzuckend der Angestellten ein Zeichen gab.

„Mensch, Die, machst du schon schlapp oder was?“

„Nein, nein, aber ich muss erstmal etwas essen.“

Wie zur Bestätigung gab mein Magen ein lautes Grummeln von sich, was Toshiya erneut zum Lachen brachte. Verdammt, was hatte er für gute Ohren?

Leise kichernd leerte er sein Glas, ehe er das nächste in Empfang nahm. Unwillkürlich fragte ich mich, sein wievieltes das jetzt gewesen war, ich hatte nicht aufgepasst. So wie seine Augen glänzten und die Wangen von einer leichten Röte überzogen wurden, vermutlich nicht erst das zweite. Doch ich schob den Gedanken beiseite.

War das heute nicht egal? Schließlich stießen wir darauf an, dass meine Quarantäne zu Ende war. Sei's ihm gegönnt.
 

*
 

Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte ich mich auf der Sitzbank zurück und schloss für einen Moment die Augen. Ich war pappsatt, mir war warm und in meinem Kopf machte sich ein leicht schwummriger Nebel breit. Ich hatte definitiv zu viel getrunken, dafür dass ich zu spät angefangen hatte, zu essen. Selbst Schuld. Aber es war lecker gewesen. Sehr sogar.

Ein sanfter Tritt gegen mein Schienbein holte mich aus meinem Dämmerzustand zurück, gleich darauf begegnete ich Kyos schiefem Grinsen.

„Nicht einpennen. Ich schlepp dich nicht nach Hause.“

Er klang auch nicht mehr ganz nüchtern.

„Nein, nein. Bin grad nur kurz dem Fresskoma erlegen.“

„Also hatte ich recht mit meiner Empfehlung?“

Er deutete mit dem Kinn auf meinen Teller.

„Ja, absolut. Ich glaube, ich werde nie wieder auf Fertiggerichte zurückgreifen können.“

Die hatten mich zwei Wochen lang über Wasser gehalten.

„Du könntest einfach mal lernen zu kochen. Dann würde selbst aus dem Fertigfraß noch etwas rauszuholen sein“, bemerkte Kyo trocken, ein kleines Schmunzeln saß ihm dennoch im Mundwinkel. Wenn es um Essen ging, konnte man Kyo definitiv als Gourmet bezeichnen und Fertiggerichte kamen ihm schon seit Jahren nicht mehr ins Haus. Ich musste zu meiner Schande gestehen, dass ich, was Kochen anging, zur Faulheit neigte und lieber essen ging, als mich selbst an den Herd zu stellen.

„Du kannst ja bei Kyo in Nachhilfe gehen.“

Toshiyas Lachen war schon seit einer geraumen Weile zu einem dauerhaften Kichern geworden, auch sein Blick wirkte ähnlich verschwommen, wie sich mein Kopf anfühlte.

„Ach, tu doch nicht so, als wärst du so gut darin.“

Mehr als ein lautes Lachen bekam ich nicht zur Antwort.
 

*
 

Das Arbeitsleben hatte uns wieder. Zum Glück. Auch, wenn sich einiges verändert hatte. Während der Aufnahmen zur neuen Single arbeiteten wir selten alle gleichzeitig im Studio, auch von unserer Crew waren nur wenige vor Ort. Es war ein komisches Gefühl, aber es ging voran und mittlerweile harmonierten wir nach all den Proben wieder perfekt zusammen. Beinahe bekam ich das Gefühl, dass es nie anders gewesen sei. Es waren noch knapp zweieinhalb Monate bis zur Veröffentlichung von »Oboro« und wir hatten genug zu tun. Endlich flogen die Tage wieder nur so dahin.

Klar, waren wir auch während des letzten dreiviertel Jahrs nicht komplett untätig gewesen, alles war im Hintergrund irgendwie weitergelaufen, aber es war nicht dasselbe und die meiste Zeit hatten wir dann doch mit Nichtstun verbracht. Außerdem war da diese Ungewissheit, wie es überhaupt weitergehen sollte. Ab wann durften wir Konzerte spielen? Neue Musik veröffentlichen? Generell mit den Fans interagieren und in unser altes Arbeitsleben zurückkehren? Wenigstens erstens und zweitens hatten sich geklärt.

Zur neuen Single gab es neben dem Musikvideo, das wir bereits abgedreht hatten, noch ein Konzert auf DVD dazu. Das erste seit Ende März. Fast ein ganzes Jahr ohne richtige Auftritte – etwas, das ich bisher für unmöglich gehalten hatte und nun zur Realität geworden war. Aber wir würden es schon schaffen, wir hatten schon ganz andere Sachen gemeistert. Zwar war das jetzige Konzert leider wieder ohne Publikum, aber immerhin durften wir gemeinsam auf der Bühne stehen. Und das war Motivation genug, sich in die Arbeit zu stürzen. Außerdem würden zeitnah weitere Konzertfilme folgen.
 

Je mehr Zeit ich nun wieder mit der Band verbrachte, desto öfter erwischte ich mich dabei, wie ich unbewusst ins Grübeln geriet. Egal, was ich tat, meine Augen schienen Toshiya regelrecht zu verfolgen, jede kleine Veränderung an ihm aufspüren zu wollen. Körperlich wirkte er fitter – die zu scharfen Wangenknochen und kantigen Gesichtszüge vom Spätherbst wirkten normaler, auch wenn er immer noch deutlich schlanker als zuvor war und phasenweise sehr angespannt und neben der Spur schien. Besonders nach Tagen, an denen wir einmal nicht bis spät abends zusammengehockt hatten, sondern früher gegangen waren. Was trieb er zu Hause? Wie ging es ihm wirklich? Denn mehr als die übliche Standardantwort erhielt ich nie von ihm, wenn ich ihn fragte.
 

„Was ist los, Die?“

Erschrocken fuhr ich zusammen, hätte beinahe mein Wasserglas fallen lassen, als ich plötzlich Toshiyas fragendem Blick begegnete. Mist, hatte ich ihn schon wieder angestarrt, ohne es zu merken?

Bevor ich mir eine passende Antwort zurechtlegen konnte, war er bereits quer durch den Proberaum gegangen und setzte sich zu mir auf das Sofa. Stirnrunzelnd sah er mich an, schien regelrecht in meinen Kopf sehen zu wollen, so intensiv wie er mich musterte.

Schnell sah ich mich um, doch wir waren im Moment fast alleine, die anderen waren während der Pause hinausgegangen. Nur Shinya saß in der Ecke an seinem Schlagzeug und telefonierte leise.

„Du bist heute irgendwie komisch. Bist du krank?“

Das könnte ich ihn ebenso fragen. Tat ich aber nicht, sondern nahm dafür lieber einen großen Schluck aus meinem Glas, um etwas Zeit zu schinden. Außer einem vielsagenden „Nichts. Alles gut.“ fiel mir keine kreativere Antwort ein. Es war deutlich, dass Toshiya mir nicht glaubte. Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. Ich war gerade nicht viel besser als er, rückte ebenfalls nicht mit der Sprache raus, was mir durch den Kopf ging.

Stattdessen fragte ich: „Und wie geht's dir?“

Die Falte verschwand, dafür wanderten die Augenbrauen verwundert nach oben. Ja, es mochte vielleicht etwas seltsam anmuten, wie wir hier Smalltalk führten. Gut, Smalltalk war etwas übertrieben, aber hey, ich durfte mich ja wohl noch nach dem Befinden meines langjährigen Bandkollegen erkundigen, oder nicht?

Nach einigen Sekunden des Schweigens hatte Toshiya anscheinend seine Irritation überwunden, sein Blick wurde noch ein wenig forschender.

„Sag mal, Die, geht's dir gut? Du bist heut so anders. Starrst Löcher in die Luft und als wirklich geistig anwesend kann man dich auch nicht bezeichnen.“

Jetzt war ich es, der seine Augenbrauen nicht unter Kontrolle hatte. Was sollte das denn heißen?

„Ich bin geistig anwesend und ja, mir geht's gut.“

Da machte ich mir Sorgen um ihn und dann das.

Dass ich etwas zu schnippisch geantwortet hatte, wurde mir in dem Augenblick klar, als ich es bereits ausgesprochen hatte. Die Lippen zusammengepresst, rutschte er ein wenig zur Seite.

Shit, so hatte ich das nicht gemeint. Er war doch derjenige, um den man sich Sorgen machen musste. Wieso kümmerte er sich dann um mich statt um sich selbst?

Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und seufzte. „Tut mir leid. Ist wohl heute nicht ganz mein Tag.“

Er nickte, kurz darauf huschte schon wieder das typische Schmunzeln über sein Gesicht.

„Hab ich gemerkt.“

„Hm. Entschuldige.“ Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln, ehe ich auf meine Frage zurückkam. „Und wie geht's dir?“

Einige Herzschläge lang sah er mich an – einfach nur schweigend, das Schmunzeln war so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Keine Regung bewegte sein Gesicht, selbst der letzte Rest des Schalks, der sonst in seinen Augen wohnte, war weg. Da war nichts. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Stille und seine Reaktionslosigkeit verunsicherten mich.

War ich zu weit gegangen? War er jetzt doch sauer? Aber weswegen?

Gerade als ich mich erneut entschuldigen wollte, unterbrach er den Blickkontakt und stand auf, um zu seinem Bass zu gehen. Perplex saß ich da, wollte ihn zurückrufen, da drehte er sich noch einmal zu mir um. Da war es. Ein Lächeln. Eher matt, kaum erkennbar. Es erreichte seine Augen nicht. Mit einem Mal wirkte er so unglaublich müde.

„Mir geht's soweit gut, Die. Danke, dass du gefragt hast.“
 

*
 

Anfang Februar
 

Gebannt verfolgte ich das Interview auf dem Bildschirm, lauschte Joes Fragen und wartete ungeduldig auf Toshiyas Antworten. Mittlerweile lief der Stream schon über eine halbe Stunde und eigentlich hatte ich nur flüchtig reinklicken wollen, doch irgendwie war ich hängengeblieben und hatte jetzt sogar für den exklusiven Member-Teil bezahlt, der im Anschluss an den öffentlichen Part folgte. Innerlich konnte ich nur über mich selbst den Kopf schütteln. Wurde ich zum Stalker? Nein, eigentlich nicht. Vielmehr war meine Sorge um Toshiya in den letzten Wochen nicht weniger geworden. Es war ein ständiges Auf und Ab und nun, da wir uns wieder öfter sahen, war auch nicht zu leugnen, dass er sich verändert hatte. Ebenso wenig, dass es bei ihm wohl abends nicht immer nur bei einem kleinen Bier blieb. Warum sagte er nicht einfach, was mit ihm los war?
 

Heute war anscheinend ein guter Tag, auf den ersten Blick wirkte er normal und fit. Das helle Hemd, frisch aus seiner neusten Kollektion, schmiegte sich leicht an den Oberkörper und zeigte, dass er anscheinend kurzzeitig ein wenig zum Muskeltraining zurückgekehrt war – wenn auch nur von zu Hause aus und nicht in dem Maße wie früher. Aber es bekam ihm gut, was mich definitiv erleichterte. Nur das Gesicht verbarg er wie üblich hinter einer Sonnenbrille und in diesem Punkt musste ich den Fans, die den Livestream parallel kommentierten, beipflichten: Toshiya, setz deine Sonnenbrille ab. Wir wollen dein Gesicht sehen!

Eigentlich hatte ich gar nicht das Recht mich zu beschweren, da ich inzwischen ohne meine geliebten Sonnenbrillen kaum noch in der Öffentlichkeit anzutreffen war. Vielleicht sollte ich demnächst mal darauf verzichten, denn so wie ich es jetzt von der Zuschauerseite sah, war es wirklich schade, dass die Hälfte des Gesichts dahinter verschwand. Aber gut… bis zum nächsten Interview konnte ich ja das Ganze nochmal überdenken. Ich liebte meine Brillen einfach zu sehr.

In mir stieg ein seltsames Gefühl auf, als ich verfolgte, wie Joe eine der Bierdosen, die bereits die ganze Zeit über auf dem Tisch standen, öffnete und Toshiya anbot. Dabei wollte ich mich gar nicht wie eine überbesorgte Mutter aufführen – es war seine Entscheidung und er war erwachsen, dennoch… Irgendwie wollte der schale Geschmack auf meiner Zunge nicht weichen, als ich beobachtete, wie sie sich zuprosteten.

Wenigstens schien sich Toshiyas Befangenheit vom Anfang des Gesprächs gelöst zu haben. Immer wieder lachte er, brachte mich damit ebenfalls zum Lächeln. Er wirkte entspannt und hätte er vorhin nicht selbst zugegeben, dass er diese Art von Interviews nicht mochte, man hätte es nicht bemerkt. Er war Meister des Überspielens, hatte sich über die Jahre angewöhnt, sein Unwohlsein hinter einem Lachen zu verstecken und zwar so gut, dass selbst ich es immer wieder vergaß. Ganz anders als ich hatte er solchen Einzelinterviews, die vor Publikum stattfanden oder aufgezeichnet wurden, nie etwas abgewinnen können.

„Ich denke nicht, dass es überhaupt jemanden interessiert, was ich zu sagen habe. Oder was ich denke. Ich bin doch sowieso ein langweiliger Mensch.“

Das hatte er mir mal vor Jahren anvertraut. Ich hatte es völlig verdrängt, doch je länger ich dem Geschehen auf meinem Laptop folgte, desto mehr dieser Aussagen fielen mir wieder ein. Bei solchen Zweifeln war es kein Wunder, dass er vorher lieber zu etwas Prozentigem statt zum Wasser griff, um es für sich erträglicher zu machen. Er bevorzugte es einfach, während der Konzerte im Mittelpunkt zu stehen und damit unsere Fans zu begeistern, als sich jede Antwort bei den Interviews zweimal überlegen zu müssen. Unwillkürlich stieg in mir die Frage auf, wie es im März für ihn werden würde. Dann standen die nächsten Talk-Events an, diesmal auf großer Bühne und die Fans waren hautnah dabei.

Wobei… Es waren nur insgesamt drei Auftritte für ihn und vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden, da wir diese Veranstaltungen immer zu zweit und gemeinsam mit unseren Managern Fujieda und Takabayashi absolvierten. Und die planten solche Veranstaltungen gewöhnlich gut durch, damit es keine unangenehmen Überraschungen gab. Nun ja, es würde sich zeigen, wenn es soweit war.
 

Ich unterdrückte ein Seufzen, hob meine Katzendame vom Schoß, die darüber nicht sonderlich begeistert war, und stand auf, um mir einen Tee zu machen, während der Stream weiterlief. Über das Rauschen des Wasserkochers hinweg hörte ich, wie die beiden über Dirt, Toshiyas Kleidungslabel, sprachen, wie er die Designs selbst auswählte und anscheinend wirklich in dieser Arbeit aufging.

Ach, Toshiya, und da sagst du, du bist faul und langweilig?

Gerade wollte ich an meinen Schreibtisch zurücksetzen, da stockte ich mitten in der Bewegung und starrte auf meinen Bildschirm.

Oh, bitte nicht! Er würde doch hoffentlich nicht wirklich –

Da passte man einen Moment nicht auf und plötzlich geriet man in die Schussbahn, ohne überhaupt vor Ort zu sein. Wie auch immer sie auf das Thema gekommen war, Joe brannte gerade förmlich auf Sauf-Anekdoten innerhalb der Band und anscheinend wollten die Fans laut Umfrage unbedingt eine von Toshiya und mir hören. Himmel, es gab unzählige, besonders aus den Anfangsjahren, und eine war peinlicher als die andere. Ich konnte nur beten, dass Toshiya wenigstens bei diesem Thema nicht so ehrlich und offen war, wie er es bisher scheinbar das ganze Gespräch über gewesen war. Etwas, das mich gleich von Beginn des Interviews an überrascht hatte.

Dass er über seine früheren Gewichtsprobleme sprach, sogar über den Moment und die Folgen, als er während eines Konzerts mit dem Krankenwagen abgeholt werden musste, weil er sich aufgrund seines Rückens gar nicht mehr bewegen konnte. Selbst heute wurde mir noch flau im Magen, wenn ich daran zurückdachte. Das mitzuerleben, war schlimm gewesen. Umso mehr beeindruckte es mich, dass er in der Öffentlichkeit darüber sprach – etwas, das bisher in dieser Form nicht vorgekommen war.

Er war manchmal wirklich zu ehrlich. Kein Wunder, dass ihn solche Interviews in zusätzlichen Stress versetzten – die Gefahr, sich zu verplappern, war dabei sehr groß. Ich wünschte mir nur, dass er dieselbe Ehrlichkeit an den Tag legen würde, wenn ich ihn fragte, wie es ihm ging.
 

Mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen verfolgte ich das restliche Interview. Im Stillen gratulierte ich mir dafür, heute eingeschaltet zu haben. Denn egal, welche Sorgen und Gedanken ich mir um Toshiya machte, das Interview war interessant, brachte mir gute Laune und beschwor längst verdrängte Erinnerungen herauf: Das erste Zusammentreffen der Band mit ihm, wie wir anschließend in seiner Heimatstadt Nagano gemeinsam auf der Bühne gestanden hatten und uns später wie Kinder über den frischen Schnee gefreut hatten. Toshiya hatte uns sicher für bescheuert gehalten. Oder die Geschichte, wie wir nach einer Probe mit reichlich Alkohol im Blut auf die glorreiche Idee gekommen waren, Bowlen zu gehen und Toshiya seine Kugel kurzerhand auf die falsche Bahn geworfen hatte und hinterher stürzen wollte.

Oh Mann, war das alles lange her. Das waren Zeiten und aus heutiger Sicht vermisste ich sie ein bisschen. Es gab noch so viele andere, großartige Momente, die wir miteinander erlebt hatten – da wurde ich glatt nostalgisch.
 

Die kleine Uhr am unteren Bildschirmrand sprang auf 21 Uhr, als Joe allmählich das Ende des Interviews einleitete. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit verflogen war. Ich war selbst überrascht.

Gähnend verfolgte ich, wie die beiden abschließend einige Höflichkeitsfloskeln austauschten. Gedanklich war ich bereits im Bett verschwunden, denn ich war selten länger wach als um 9. Und außerdem –

Mit einem Mal war die aufkommende Müdigkeit wie weggeblasen. Mit klopfendem Herzen starrte ich auf den Bildschirm, sah, wie Toshiya dem Wunsch der Fans nachkam und zum Abschied die Sonnenbrille absetzte. Er sah fertig aus. Die Augen waren klein und halb verquollen. Und dass es im Studio zu warm für seinen Geschmack war, ließ sich nicht leugnen. Ich war mir sicher, dass er sich gerade nichts anderes wünschte als eine Dusche und sein Bett. Dennoch schenkte er der Kamera und den Zuschauern zu Hause ein kleines, letztes Lächeln und winkte, dann wurde das Bild dunkel.

2

Kapitel 2
 

Mitte Februar
 

Mit rasendem Herzen schreckte ich hoch. Im ersten Moment wusste ich nicht, was mich geweckt hatte. Das Trommeln des Regens hallte unnatürlich laut durch den Raum, der Wind drängte gegen die Scheiben. Desorientiert starrte ich in die Dunkelheit, versuchte meine Gedanken zu ordnen, als es klingelte. Erneut schoss mein Puls in die Höhe. Ein rascher Blick zum Wecker verriet mir, dass es mitten in der Nacht war.

Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, einfach liegen zu bleiben und darauf zu hoffen, dass wer auch immer vor meiner Tür stand, wieder gehen würde, wenn ich nicht reagierte. Gleichzeitig ergriff mich eine innere Unruhe, die mich schlussendlich doch aus dem Bett trieb. Ein vorwurfsvolles Miauen kommentierte mein Aufstehen, aber gerade konnte ich mich nicht darum kümmern, dass meine Katzendame ebenfalls um ihren Schönheitsschlaf gebracht wurde und sich beleidigt ins benachbarte Arbeitszimmer verzog. Ich bekam nicht allzu oft Besuch und ganz sicher nicht unangekündigt des Nachts und bei diesem Wetter.

Schlaftrunken wankte ich durch meine Wohnung, scheute mich davor, Licht zu machen, denn das hätte ich nach dieser Weckaktion definitiv nicht auch noch ertragen. Das diffuse Licht von draußen musste ausreichen um schadenfrei, ohne gestoßene Zehen, bis zur Tür zu gelangen. Umso ekliger war das Gefühl, als ich sie öffnete und mir der grelle Schein der Hausbeleuchtung unvermittelt in die Augen stach. Geblendet kniff ich die Lider zusammen und musste mich kurz abwenden. Es dauerte einige Sekunden bis ich wieder aufblicken konnte. Und hätte die Helligkeit nicht schon den restlichen Schlaf aus meinem übernächtigten Hirn getrieben, spätestens beim Anblick der Person, die an der gegenüberliegenden Wand lehnte, wäre ich hellwach gewesen.

„Toshiya!“

Wie unter einem Schlag zuckte er zusammen.

Erschrocken sah ich ihn an. Allerdings nicht erschrocken, weil er plötzlich hier aufgetaucht war, sondern vielmehr wegen der Art wie er verloren in meinem Treppenhaus stand – die kinnlangen, schwarzen Haare hingen ihm nass ins Gesicht, selbst das dunkle Hemd klebte an seinem Körper. Er wirkte kleiner als sonst, in sich zusammengesunken und mied meinen Blick. So kannte ich ihn gar nicht. Ein harter Klumpen bildete sich in meinem Magen, während ich ihn sekundenlang nur wie eine Erscheinung anstarrte.
 

Seit seinem Interview mit Joe vor fast zwei Wochen hatte ich ihm einige Male geschrieben. Zugegeben, eigentlich alle zwei Tage, denn im Moment sahen wir uns kaum, anders als noch im Januar.

Inzwischen war das erste der Talk-Events deutlich näher gerückt, übermorgen durfte ich mich mit Kyo in den Zug nach Yokohama setzen, um dort gemeinsam mit ihm die Konzertfilm- und Interview-Reihe zu eröffnen. Ich freute mich darauf, endlich Abwechslung. Außerdem hatte Kyo an diesem Tag Geburtstag und ich hoffte insgeheim darauf, eventuell anschließend mit ihm noch irgendwo anstoßen zu können, auch wenn er in den letzten Jahren ein ziemlicher Geburtstagsmuffel geworden war. Aber vielleicht könnten wir auch einfach nur auf unser Wiedersehen anstoßen, schließlich hatten wir in den letzten Wochen kaum gearbeitet, da Kaoru den endgültigen Feinschliff zur neuen Single am liebsten alleine vollendete. Und das hieß eben jede Menge freie Tage für uns.
 

Ein Grund mehr für mich nun öfter zum Handy zu greifen. Es war wie ein innerer Zwang, aber ich wollte einfach wissen, wie es Toshiya ging. Ich kam mir zwar ein bisschen blöd dabei vor, so oft nachzufragen, doch er beschwerte sich nie, sondern antwortete sogar auf jede meiner Nachrichten – manchmal nur kurz, aber immerhin. Falls ihn meine neue Mitteilsamkeit irritierte, ließ er sich nichts anmerken. Ich hatte sogar das Gefühl bekommen, dass er nach und nach offener geworden war und mich nicht mehr nur mit der Standardfloskel „Mir geht's gut. Danke der Nachfrage.“ abspeiste, sondern auch mal durchblicken ließ, wenn es ihm nicht gut ging. Was meist an unseren freien Tagen war und eben diese überwogen gerade.
 

„Toshiya, was machst du hier?“

Im ersten Moment bekam ich keine Antwort. Den Kopf abgewandt, atmete er tief ein und aus. Mit jeder verstrichenen Sekunde wurde ich unruhiger. Er tauchte doch nicht einfach ohne Grund hier auf und ganz sicher nicht in dieser Aufmachung. Generell kam es selten vor, dass wir uns gegenseitig besuchten. Wir arbeiteten zwar zusammen, waren auf eine spezielle, für andere schwer nachvollziehbare, Art und Weise befreundet, aber das hieß nicht, dass wir gewöhnlich auch noch unsere Freizeit miteinander teilten.

Plötzlich hob er den Kopf, in seinem Mundwinkel saß so etwas wie ein Lächeln, nur wirkte es seltsam verschwommen, geradezu zittrig.

„Entschuldige… dass ich dich geweckt habe. Ich war grad… irgendwie in der Nähe.“

Fahrig strich er sich die Haare aus dem Gesicht und rieb sich flüchtig mit einer Hand über den Nacken, ehe er sich von der Wand abstieß.

„War ne blöde Idee herzukommen. Ich sollte gehen.“

Ich handelte schneller, als ich denken konnte. Mit wenigen Schritten war ich bei ihm und griff nach seinem Arm. Sein dünnes Hemd war völlig durchnässt. Verdammt, es war Mitte Februar! Er holte sich noch den Tod!

„Nein, warte!“

Als hätte ihn meine Berührung unter Strom gesetzt, zuckte er erneut zusammen und sah mich aus aufgerissenen Augen an. Der Geruch von Regen und Bier stieg mir in die Nase.

„Toshiya, was soll das? Du stehst hier mitten in der Nacht vor meiner Tür, durchfroren, und doch nicht nur, weil du gerade zufällig in der Nähe warst. Das kannst du mir nicht erzählen!“

Mein Tonfall klang härter, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, doch meine Sorge um ihn war gerade übermächtig geworden. Ich erkannte ihn nicht wieder. In den über zwanzig Jahren, in denen wir in einer Band spielten, hatte ich ihn noch nie so fertig erlebt. Und dass er hier vor mir stand…

Mein Griff wurde fester.

„Gehen lasse ich dich definitiv nicht.“

Ehe er sich wehren konnte, hatte ich ihn bereits in meine Wohnung gezerrt, geradewegs ins Wohnzimmer. Meine Gedanken rasten, während ich ihn kurz neben dem Sofa stehen ließ, um ins Bad zu flitzen, auf der Suche nach einem großen Handtuch.

Shit, warum war er hier?
 

Ich war immer noch völlig aufgewühlt, als ich zurückkehrte und Toshiya genau an derselben Stelle vorfand, an der ich ihn zurückgelassen hatte.

„Hier.“

Ich reichte ihm das Handtuch, das er wie in Zeitlupe annahm.

„Vielleicht solltest du kurz unter die Dusche steigen. Nicht, dass du krank wirst.“

Ein undefinierbarer Blick traf mich, als er begann sich langsam abzutrocknen. Dröhnende Stille legte sich über uns, nur unterbrochen von dem leisen Rascheln des Handtuchs. Ich hatte so viele Fragen, doch ich wagte es nicht, auch nur eine davon zu stellen. Da war dieses Gefühl im Glashaus zu sitzen. Ein falsches Wort konnte zu dem Stein werden, der alles zum Einsturz brachte. So wartete ich mit klopfendem Herzen.

Bis ich es nicht mehr aushielt.

„Wieso hast du keine Jacke mitgenommen oder mindestens einen Schirm? Es ist Winter!“

Er wandte den Blick ab und ließ das Handtuch sinken.

„Weiß nicht.“

Auf weitere Erklärungen brauchte ich wohl nicht zu hoffen. Er machte nicht den Anschein, weiterreden zu wollen. Lautlos seufzend nahm ich ihm das Handtuch ab.

„Willst du nicht doch duschen?“

„Nein… danke. Ich… sollte gehen.“

Die Worte kamen derart genuschelt, dass ich mich fragte, wie viel er wirklich getrunken hatte. Er roch zwar leicht nach Bier, aber richtig betrunken schien er nicht zu sein.
 

Dennoch – allmählich reichte es mir. Da tauchte er nach all den Wochen hier auf, komplett neben der Spur, schien sogar Hilfe zu wollen – denn anders konnte ich mir sein Auftauchen bei mir nicht erklären – nur um sofort wieder einen Rückzieher zu machen.

„Toshiya, was redest du? Du bleibst heute Nacht hier! Keine Widerrede.“

Er sah mich aus diesen großen, dunklen Augen an und wirkte dabei so unglaublich verletzlich, dass ich ihn diesmal sanfter am Arm nahm und behutsam Richtung Schlafzimmer dirigierte. Als Toshiya bemerkte, wo ich hinwollte, versteifte er sich in meinem Griff.

„Nein, Die, das geht doch nicht. Ich kann -“

Ich blieb kurz in der Tür stehen, um Licht zu machen.

„Hör mal, Totchi.“ Bewusst wählte ich seinen früheren Spitznamen. „Was auch immer passiert ist, du bleibst hier. Mein Bett ist groß genug für drei Leute und ich fang nicht an, jetzt noch mein Sofa vorzubereiten. Wie gesagt: keine Widerrede.“

Die Sekunden verstrichen, nichts passierte. Dann spürte ich, wie der Widerstand in ihm schwand.

Er nickte.
 

*
 

Ich brauchte lange zum Einschlafen. Mit gespitzten Ohren lag ich da und lauschte auf Toshiyas leise Atemzüge, während ich mir gleichzeitig das Hirn zermarterte. Es wollte nicht begreifen, dass diese völlig fertige Gestalt vor meiner Tür genau dieselbe gewesen war wie unser energiegeladener Bassist, der meist ein Schmunzeln oder lautes Lachen auf den Lippen trug. So konnte es doch nicht weitergehen. Natürlich schaffte die aktuelle, weltweite Situation, die uns so lange Zeit zur Untätigkeit verdammte, jeden von uns. Aber das konnte doch nicht alles sein.
 

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal aufwachte, war es bereits hell. Wenn ich befürchtet hatte, dass Toshiya weg wäre oder ich den nächtlichen Besuch nur geträumt hatte, so hatte ich mich getäuscht.

Da lag er, gerade einmal eine Armlänge entfernt, die Decke wie einen Kokon um sich geschlungen, die Augen zusammengepresst, mit einer tiefen Falte zwischen den Brauen. Kurz war ich versucht, sie glatt zu streichen, ließ es aber. Jetzt im Tageslicht wurde sein Zustand noch deutlicher. In meiner Brust zwickte es, als ich ihn betrachtete. Er war ohne Zweifel immer noch ein gutaussehender und attraktiver Mann und dennoch ein Schatten seiner Selbst. Ich wollte ihm helfen – musste ihm helfen, nur wie?
 

„Die?“

Die leise Stimme ließ mich blinzeln und ich brauchte einige Sekunden, um aus meinen Grübeleien herauszufinden. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er aufgewacht war. Aus kleinen, müden Augen sah er mich an und unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. Himmel, so wie er aussah, konnte er definitiv noch einige Stunden Schlaf vertragen.

„Guten Morgen“, antwortete ich ihm ebenso leise und zauberte mir sogar ein halbes Lächeln auf die Lippen. Wieder herrschte Stille, nur begleitet vom leichten Rauschen des immer noch währenden Regens.

Statt etwas zu sagen, erwiderte Toshiya stumm meinen Blick. Er schien irgendetwas in ihm zu suchen oder eine bestimmte Reaktion zu erwarten. Schließlich seufzte er, löste die Decke um seine Schultern etwas, um sich mit einer Hand über das Gesicht zu fahren, ehe er erneut meinen Blick suchte.

„Es tut mir leid, Die.“

Ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Was tut dir leid?“

Abermals seufzte er und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

„Dass ich heute Nacht so reingeplatzt bin. Ich weiß nicht, was mich getrieben hat, hierher zu kommen. Vielleicht… ich hatte was getrunken, aber ich wollte dich nicht stören und –“

„Du störst nicht, Totchi.“

Wieder einmal war mein Mund schneller als mein Hirn, als ich ihn unterbrach, aber ich meinte es genauso. Wie kam er darauf, dass er mich störte? Er hatte mich in all den Jahren noch nie mit seiner Anwesenheit gestört. Natürlich waren wir auch mal genervt voneinander, aber wirklich stören? Nein.

Verwundert sah er mich an, ein Schatten huschte über sein Gesicht, den ich nicht zu deuten wusste. Sein gemurmeltes „Okay.“ ging im Regengeräusch beinahe unter, dennoch verstand ich ihn. Ich wollte weiter nachbohren, wollte endlich wissen, was los war und schluckte doch alle Fragen unausgesprochen hinunter. Ich konnte nicht – nicht, wenn er so zerbrechlich wirkte wie in diesem Moment.

So lagen wir noch eine Weile da, sahen uns an und gleichzeitig wieder nicht. Jeder hing seinen Gedanken nach. Von außen betrachtet, mochte es ziemlich seltsam wirken, wie zwei erwachsene Männer gemeinsam im Bett lagen und sich gedankenverloren anstarrten, aber in diesem Moment empfand ich das nicht so. Es war okay.
 

*
 

Die Stunden vergingen wie im Flug. Nachdem wir zum späteren Vormittag aufgestanden waren, hatten wir gemeinsam gefrühstückt.

In der gesamten Zeit hatte ich Toshiya kein einziges Mal gefragt, wie es ihm ging oder was los war. Nicht, weil ich seinen Zustand ignorierte, sondern weil ich befürchtete, er würde mir schlussendlich wieder einmal mit einem „Gut“ antworten und dann wüsste ich nicht, wie ich darauf reagierte. Ich hatte genug von Halbwahrheiten und Ausreden, ich wollte eine ehrliche Antwort und am besten sollte sie freiwillig von ihm kommen. Denn zu etwas drängen wollte ich ihn trotz allem nicht. Nicht, dass ich irgendwelche weiteren Wunden in ihm aufriss, sollte ich zu sehr nachfragen.

Ich konnte seinen Zustand nicht ignorieren, gleichzeitig verunsicherte mich die Situation komplett. Auf seine leise Frage nach dem Frühstück, ob er noch etwas bleiben dürfte, konnte ich natürlich mit nichts anderem als einem Ja antworten. Es ehrte mich insgeheim, dass er sich anscheinend in meiner Wohnung wohl genug fühlte, um nicht sofort die Flucht zu ergreifen. Er blieb zwar für seine Verhältnisse recht schweigsam, aber schien nicht mehr so stark durch den Wind zu sein wie in der Nacht, was mich ein wenig beruhigte.
 

Um trotzdem nicht in völliges Schweigen zu verfallen und ihn etwas abzulenken, drückte ich ihm irgendwann einen meiner Controller in die Hand und startete die Playstation.

„Ähm, Die?“

„Ja?“

Kritisch beäugte ich mein Regal, auf der Suche nach einem passenden Spiel für uns beide. Vielleicht das hier? Oder ein Shooter?

„Ich hoffe, du weißt, dass ich in sowas miserabel bin.“

Überrascht drehte ich mich zu ihm um, zwei Spielhüllen in der Hand. Anscheinend sah ich etwas schockiert aus, weshalb er schnell hinzufügte: „Ich besitze doch keinen Fernseher mehr und eine Konsole noch weniger.“

Jetzt war ich wirklich schockiert, was Toshiya zum Schmunzeln brachte.

„Aber… jeder hat einen Fernseher“, war das Erste, was ich hervorbrachte, nachdem ich umsonst darauf gewartet hatte, dass er seine Worte als Scherz abtat. Ein amüsiertes Schnauben antwortete mir.

„Ich habe schon seit Jahren keinen mehr. Hab ihn einfach nicht gebraucht. Wenn ich einen Film schauen will, nutze ich den Laptop und sonst… es geht auch ohne.“

Oh Mann.

Einen Moment lang starrte ich ihn noch verdattert an, bis ich seine Offenbarung verdaut hatte. Warum hatte ich das nicht gewusst? Kannte ich meine Kollegen überhaupt oder war das wirklich so ein unwichtiges Thema für Toshiya, das er es nie erwähnt hatte?

Langsam ging ich zurück zum Sofa und während mein Hirn weiter vor sich hin arbeitete und versuchte die neue Information irgendwo einzuordnen, entschied ich mich kurzerhand für das simplere der beiden Spiele. Autorennen konnte jeder.
 

*
 

Es stellte sich heraus, dass Toshiya besser war, als er wohl selbst von sich erwartet hatte. Wie gesagt: Autorennen konnte jeder.

Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Hatte Toshiya am Morgen noch relativ in sich gekehrt gewirkt, so war er über die letzten Stunden sichtlich aufgetaut und hatte sogar fast zu seiner alten Form zurückgefunden. Das hatte mich überrascht – besonders zu spüren, wie sehr ich sein Lachen vermisst hatte.

Doch nun, je mehr die Zeit voranschritt und es allmählich draußen zu dämmern begann, desto schweigsamer und gleichzeitig aufgekratzter wurde er wieder.
 

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich war innerlich zerrissen – ich wollte ihn nicht zwingen und konnte doch nicht länger ertragen, ihn so zu sehen. Mit Schwung setzte ich mich neben ihn auf das Sofa, stellte die beiden Flaschen Bier und Wasser, die ich gerade aus dem Kühlschrank geholt hatte, mit einem leisen Klonk auf dem Tisch ab, ehe ich mich zu ihm wandte. Er schien unter meinem Blick kleiner zu werden.

„Toshiya, was ist los?“

Beinahe erwartete ich, dass er schweigen würde. Sein Blick haftete an den beiden Flaschen auf dem Tisch, ehe er sich eine griff. Die mit dem Wasser.

„Die, ich glaube, ich weiß, was du von mir denkst.“

Meine linke Augenbraue zuckte nach oben, während ich ihn weiter von der Seite musterte.

„Okay… dabei weiß ich das meist selbst nicht.“

Seufzend lehnte er sich zurück, legte den Kopf auf die Lehne und sah mich aus den Augenwinkeln an.

„Ich habe kein Problem damit.“

Mit dem Kinn deutete er auf die einsame Bierflasche, die auf dem Tisch stand. „Jedenfalls kein direktes.“

Abwartend saß ich da, hoffte darauf, dass er weitersprach. Als er es schließlich tat, brachte er mich etwas aus dem Konzept.

„Kann ich heute Nacht hier bleiben? Ich geh morgen. Du fährst ja mittags sowieso mit Kyo nach Yokohama, oder?“

Irritiert blinzelte ich, musste den abrupten Themenwechsel erst einmal einordnen.

„Toshiya, was soll das?“

Ich richtete mich ein Stück weit auf und sah ihm fest in die Augen.

„Wieso lenkst du ab? Ich reiß dir doch nicht den Kopf ab, egal, was es ist.“

Er fühlte sich sichtlich unwohl unter meinem Blick. Dennoch hielt er ihm stand. Da war etwas in seinen Augen, das mich erweichte, seiner Bitte nachzugeben.

„Du kannst bleiben, aber Toshiya… ich will endlich wissen, was los ist. Und wenn du auf die Frage, wie es dir geht, mit ‚Gut‘ antwortest, werf ich dich raus.“

Natürlich brächte ich das nie übers Herz, aber ich war es leid, in Unwissenheit und der ständigen Sorge um meinen Freund zu sein. Ich wollte ihm helfen, aber dazu musste er mit mir reden.

Es dauerte, bis er schließlich nickte, dennoch fühlte es sich wie ein kleiner Schritt in die richtige Richtung an. Er warf mir einen zweifelnden Blick zu, ehe er die Flasche ungeöffnet zurückgestellt und sich etwas seitlicher zu mir drehte. Das rechte Bein zog er an den Körper, um es mit den Armen zu umschlingen und den Kopf auf das Knie zu betten. Er mied meinen Blick, seine Augen wanderten ziellos umher und blieben schlussendlich erneut an den beiden Flaschen auf dem Tisch hängen.

„Ich halte es zuhause kaum mehr aus. Es erdrückt mich alles.“

Seine Augen richteten sich erneut auf mich.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich gestern reingeplatzt bin, aber ich konnte nicht mehr. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, wenn ich dort geblieben wäre. Und mir ist niemand anders eingefallen, zu dem ich gehen konnte außer dir. Du hast immer gefragt, wie es mir ging, deshalb… ich weiß nicht.“

Gegen Ende war er immer leiser geworden, bis er schließlich abbrach und sein Gesicht in den Armen verbarg.

Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Er hatte das Gefühl zu Hause zu ersticken?

„Wie –“ Ich setzte an, ohne zu wissen, was ich fragen wollte. Da war so vieles, das ich nicht verstand.

„Hast du das öfter?“

Er sah nicht auf, als er antwortete.

„In letzter Zeit häufiger. Immer dann, wenn ich allein bin.“

„Wie lange geht das insgesamt schon?“

So wie er klang, konnte das nicht erst im Dezember angefangen haben.

Sein Zögern ließ mich ein „Sei ehrlich.“ hinzufügen. Was auch immer er hatte antworten wollen, er ließ es und seufzte stattdessen.

„Seit etwa zehn, zwölf Jahren. Schau nicht so schockiert, Die. Es ist so.“

Seine dunklen Augen lagen auf mir, ein schmales Lächeln umspielte die Lippen.

„Ich hatte es die meiste Zeit ganz gut im Griff, sodass diese Panikattacken nur sehr selten oder bei längeren Pausen auftraten. Aber seit einem Jahr sind sie wieder mehr geworden.“

Die neue Situation hatte unser aller Leben verändert, aber dass es so schlimm für ihn war, hatte ich nicht erwartet. Warum hatte er nie etwas gesagt? Und warum hatte ich erst Ende letzten Jahres bewusst gemerkt, dass etwas nicht stimmte?

„Es ist nicht so, dass ich es zu Hause gar nicht aushalte. Prinzipiell mag ich meine Wohnung. Solange ich arbeiten kann, mit euch zusammen bin und dadurch abgelenkt werde oder etwas habe, auf das ich mich freuen kann, ist alles gut. Doch jetzt erscheint alles so… sinnlos.“

Das verstand ich. Das Gefühl der Perspektivlosigkeit hatte mich letztes Jahr ebenso kurzzeitig ergriffen, doch ich hatte mich schnell wieder davon lösen können, hatte mir neue Ziele gesucht, mich in den Sport gestürzt. Aber Toshiya war anders als ich – schon immer gewesen. Seit ich ihn kannte, war er der Emotionalste aus der Band, auch wenn er es in den letzten Jahren besser versteckt hatte. Er nahm sich Dinge immer mehr zu Herzen als andere. Und zehn, zwölf Jahre, wie er sagte…

Ein harter Kloß bildete sich in meinem Hals, als mir bewusst wurde, wann es angefangen hatte, dass es Toshiya schlechter ging. Eine Zeit, an die keiner aus der Band gerne zurückdachte, in der es mehr Konflikte und Streits gegeben hatte als normale Treffen und zu der es sogar fraglich gewesen war, ob wir als Dir en grey weitermachen konnten oder es beendeten. Glücklicherweise waren wir aus unserer persönlich schwersten Krise gestärkt hervorgegangen, deshalb hatte ich nicht erwartet, dass sie Toshiya anscheinend so stark mitgenommen hatte, dass er auch heute noch indirekt darunter litt. War es die Angst, plötzlich komplett allein dazustehen?
 

„Die?“

Fragend sah er mich an und erst jetzt bemerkte ich, wie lange ich geschwiegen hatte.

Unwirsch fuhr ich mir mit einer Hand durch die langen Haare, einfach um noch etwas Zeit zu schinden und meine Gedanken zu ordnen.

„Ich… es tut mir leid. Dass -“

Ich brach ab, wusste nicht, was ich sagen wollte. Diesmal war es Toshiya, der mich verwirrt anblickte.

„Wofür entschuldigst du dich? Dass ich mich nicht im Griff habe und anscheinend nicht mit mir selbst klarkomme? Das muss dir nicht leidtun, denn es ist mein Problem.“

„Nein… dass ich nicht eher etwas bemerkt und gefragt habe.“

Einen Moment lang erwiderte er stirnrunzelnd meinen Blick, ehe er sich aufrichtete und bequemer hinsetzte.

„Vielleicht solltet ihr einfach nichts merken. Schon mal daran gedacht?“

„Ja. Dennoch.“

„Ach, Die.“

Da war es wieder. Dieses kleine, matte Lächeln, das sein Gesicht erhellte.

„Es ist einfach, wie es ist. Ich will es nicht jedem auf die Nase binden, von daher…. Es reicht schon, dass mein Vater hartnäckig der Meinung ist, dass ich den falschen Lebensweg eingeschlagen habe und geradewegs versage und mir das gerne jede Woche unter die Nase reibt. Besonders momentan. Das ist wenig hilfreich dabei, sich nicht runterziehen zu lassen. Aber wie gesagt, meistens komme ich klar. Wäre das letzte Jahr nicht gewesen, hätte ich sicher auch keinen Rückfall bekommen.“

„Hm.“
 

Es waren so viele Informationen, die ich verarbeiten musste. Mir schwirrte der Kopf, ein ungewohnter Druck machte sich hinter meiner Stirn breit.

Wie sollte ich ihm helfen? Er wirkte so abgeklärt, war sich seines Problems definitiv bewusst und konnte trotzdem nicht dagegen ankommen. Was sollte ich da tun? Ich, der gerade erst begriff, wogegen Toshiya seit Jahren ankämpfte.

Mein Blick fiel auf die Bierflasche auf dem Tisch, die nach wie vor unberührt ihr Dasein fristete.

„Trinkst du?“

Er schwieg lange, starrte ebenfalls auf die Flasche, als würde sie für ihn antworten.

„Manchmal. Öfter als gut für mich ist, oder?“

Den Blick, mit dem er mich bedachte, konnte ich nicht deuten, so antwortete ich nur mit einem „Hm, scheint so.“ und bekam ein Schnauben dafür.

„Es ist nicht so, dass ich süchtig bin oder unbedingt Alkohol brauche. Er macht nur alles weniger schlimm, wenn ich allein bin, und damit erträglicher. Manchmal kann ich damit besser einschlafen.“

Wobei das mit Einschlafen wohl wirklich nur manchmal funktionierte, wenn ich mich an seine Dauermüdigkeit erinnerte.

„Die.“ Seine Stimme war leise. „Was denkst du jetzt von mir?“

Hatte er in den vergangenen Minuten recht abgeklärt und selbstreflektiert gewirkt, so war jetzt die Unsicherheit zurück. Unruhig kaute er auf seiner Unterlippe, während er auf eine Reaktion wartete.

„Ich… Ich verurteile dich für nichts, was du tust, falls du das glaubst. Du bleibst immer noch derselbe.“

Seine Schultern sackten ein wenig nach unten, als wäre ihnen eine Last abgenommen worden, doch vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.

„Ich muss das erst einmal verdauen. Aber ich bin sehr froh darüber, dass du so ehrlich zu mir warst.“

Ein kleines Lächeln wanderte über meine Lippen und wurde von Toshiya augenblicklich erwidert.

„Wie gesagt, du kannst gerne hierbleiben. Ich fahr vermutlich erst übermorgen wieder zurück, außer natürlich Kyo weigert sich, auf seinen Geburtstag anzustoßen. Mal sehen. Nur damit du Bescheid weißt, falls du länger bleiben möchtest.“
 

*
 

Mitte März
 

Mit einem leisen Schnauben ließ ich mich in das weiche Polster fallen und atmete tief durch. Im selben Moment setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Das war knapp gewesen. Und es hatte eindeutig nicht an mir gelegen, dass der Zug beinahe ohne uns nach Sendai abgefahren wäre.

Mit einem missbilligenden Blick schielte ich zu meinem Sitznachbarn, der die Ruhe selbst zu sein schien und sich gerade aus seiner Jacke schälte. Es war nicht das erste Mal, dass Toshiya fast irgendwohin zu spät gekommen war, doch eine Minute vor Abfahrt auf dem Bahnsteig zu erscheinen, war selbst für ihn ein neuer Rekord. Fujieda hatten deutlich die Schweißperlen auf der Stirn gestanden und selbst jetzt schien er sich nicht sicher zu sein, ob er sauer sein sollte oder einfach froh, dass es sein Schützling doch noch pünktlich geschafft hatte und ihm nicht neue Arbeit eingebracht hatte, weil er die Fahrt umbuchen musste.

Allmählich spürte ich, wie ich ebenfalls ruhiger wurde. Mit einem lauten Seufzen streckte ich die Beine von mir, ehe ich das Basecap abnahm und die Jacke auszog. Im Abteil war es angenehm warm, die Sitze bequem – vielleicht könnte ich sogar auf der dreistündigen Fahrt ein wenig schlafen, denn der Tag würde anstrengend werden.

Laut Fujiedas Planung trafen wir gegen Mittag in Sendai ein und hatten dann noch etwa zweieinhalb Stunden, um uns auf das Konzertfilm-Screening-Event und die anschließende Gesprächsrunde vorzubereiten. Ich freute mich darauf, denn bisher waren alle Auftritte, die ich mit den anderen absolviert hatte, super gelaufen und die Fans waren begeistert von den Konzertfilmen gewesen, die wir im Laufe der letzten Monate aufgezeichnet hatten. Klar, war es etwas anderes, direkt vor Publikum zu spielen oder nur einen Film zu zeigen, der wie ein langer Videoclip wirkte, aber immerhin war es eine Möglichkeit trotz allem unsere Musik nach außen transportieren und teilen zu können.

Und war ich vor dem ersten Member-Talk noch skeptisch gewesen, so war die Skepsis schnell der Überraschung gewichen. Irgendwie hatte ich erwartet gehabt, immer die gleichen Fragen nach den Aufnahmen, Songwriting, Freizeitbeschäftigung und so weiter gestellt zu bekommen. Doch die Fragen, die die Fans stellen durften und die unser Management vorbereitet hatte, waren angenehm neuer Natur gewesen. Bisher hatten wir über viel Privates geredet, ohne allerdings dabei zu sehr ins Detail zu gehen oder hatten in Erinnerungen geschwelgt. Eine wirklich gute Mischung. Umso gespannter war ich, was uns heute erwartete. Es war erst Toshiyas zweites Talk-Event – das erste mit Kyo vor zwei Tagen schien ihm gefallen zu haben, jedenfalls laut seiner Nachricht, die er mir anschließend geschickt hatte.

Ich war neugierig darauf, wie es heute für ihn war. Das letzte Mal, dass ich ihn in so einer Situation erlebt hatte, war bei dem Interview mit Joe gewesen, vor über einem Monat. Zwei Wochen später war er bei mir eingezogen.

Gut, eingezogen war übertrieben.
 

Aus einem Tag waren zwar drei geworden und schließlich fast ein ganzer Monat, aber irgendwie fühlte es sich nicht so an. Es war nicht so, dass Toshiya meine Wohnung seither gar nicht mehr verlassen hatte. Ab und zu verbrachte er die Nächte bei sich zu Hause, nur überwog die Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, deutlich. Ich hatte sogar das Sofa, auf das er in der zweiten Nacht umgezogen war, einfachheitshalber bezugsfertig belassen, sollte er abends wieder vor meiner Tür stehen. Was er auch tat. Mehr als einmal. Meine Wohnung war glücklicherweise groß genug für uns beide, ohne dass wir uns gegenseitig auf die Füße traten. Wenn mich es gestört hätte, hätte ich mich auch in mein Arbeitszimmer verziehen können, aber bisher war das nicht der Fall gewesen – ganz zu meiner eigenen Überraschung. Obwohl ich sonst alleine lebte, störte mich Toshiyas Anwesenheit nicht, geschweige denn, dass mich eingeengt hätte. Es war okay. Und ab und zu erwischte ich mich sogar dabei, dass mir meine Wohnung seltsam leer vorkam, wenn er einmal nicht da war.

Ein weiterer, guter Nebeneffekt, dass ich einen neuen Dauergast hatte, war, dass ich jemanden hatte, der sich um meine pelzige Mitbewohnerin kümmern konnte, wenn ich unterwegs war. Ich musste ein wenig schmunzeln, als ich daran dachte, wie entgeistert Toshiya mich angeschaut hatte, als ich sie ihm am ersten Tag offiziell vorgestellt hatte.

„Du nennst deine Katze allen Ernstes ‚Neko‘? Was Besseres, als sie nach ihrer Spezies zu benennen, ist dir nicht eingefallen?“

Ich hatte nur gelacht.

„Na ja, sie hört eben darauf. Ich wollte sie nicht erst umgewöhnen müssen.“

Wider Erwarten hatte meine Katze sehr schnell einen Narren an ihm gefressen, obwohl sie für gewöhnlich Fremden gegenüber recht eigen war.
 

„Was grinst du so?“

Ich unterdrückte ein ertapptes Zusammenzucken, als ich Toshiyas fragendem Blick begegnete.

„Ich musste nur gerade daran denken, wie sehr meine Katze dich anschmachtet.“

Für einen kurzen Augenblick wirkte er verblüfft, dann lachte er laut auf.

„Als anschmachten hätte ich das nicht bezeichnet, aber wenn du das so sagst. Ich mag sie auch. Anscheinend war es gegenseitige Liebe auf den ersten Blick.“

„Scheint so“, schnaubte ich amüsiert.

„Wer kümmert sich eigentlich um sie, wenn wir erst morgen wieder da sind?“

Mit einem Schmunzeln nahm ich zur Kenntnis, wie selbstverständlich er plante morgen mit zu mir kommen, wenn wir zurück in Osaka waren.

„Die ältere Dame aus dem ersten Stock, Frau Yumida. Weiß nicht, ob du sie schon getroffen hast.“

Toshiya gab ein unbestimmtes Schulterzucken von sich und wollte gerade etwas entgegnen, als Fujieda seinen Kopf zwischen unseren Sitzen hindurchsteckte.

„Wohnst du gerade bei Die?“

Ich sah in der Art, wie Toshiyas Miene sich verhärtete, dass er wohl die falsche Frage gestellt hatte.

Durch die viele Zeit, die wir miteinander verbrachten, konnte ich inzwischen einigermaßen abschätzen, was ihm durch den Kopf ging – wie zur Anfangszeit von Dir en grey, wo wir uns beinahe blind verständigt hatten. Und gerade wirkte er nicht so, als würde er über seine neue Wohnsituation reden wollen. Das hätte garantiert nur weitere Fragen aufgeworfen, so übernahm ich das Antworten.

„Sowas in der Art. Momentan kann man ja außerhalb sowieso nicht viel machen, deshalb haben wir angefangen, uns durch meine Spielesammlung zu zocken. Toshiya besitzt ja keine Konsole.“

„Oh, wirklich? Das ist ja super. Was zockt ihr? Ich will vielleicht ein neues Spiel anfangen, denn ich komme gerade bei meinem nicht weiter. Ist das…“

Der Rest von Fujiedas Wortschwall ging in einem leisen Rauschen unter, als ich den dankbaren Blick von Toshiya auffing. Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer.

3

Kapitel 3
 

Mitte März
 

Ich fuhr mir noch einmal mit den Fingern durch die Haare und warf einen letzten Blick in den mannshohen Spiegel. Alles saß, wie es sein sollte. Der lange, rote Mantel sah zwar nicht so aus, war aber angenehm dünn und leicht, sodass ich nachher auf der Bühne hoffentlich nicht ins Schwitzen geriet. Für meine geliebten Wellen hatte ich heute weder Zeit noch Muße gehabt, aber ich mochte meine Haare ebenso glatt. Die große Sonnenbrille verdeckte die Augenringe, denn zum Schlafen war ich während der Fahrt nicht mehr gekommen, nachdem Fujieda einmal angefangen hatte, in seiner Liebe für Konsolenspiele aufzugehen.
 

„Siehst gut aus, schöner Mann.“

Toshiyas frech grinsendes Gesicht tauchte neben mir im Spiegel auf und warf mir über meine Schulter hinweg einen amüsierten Blick zu. Es gab keine bessere Reaktion darauf, als ihm wenig erwachsen die Zunge rauszustrecken, was ihn zum Lachen und mich zum Grinsen brachte. Augenblicklich löste sich der Knoten in meinem Magen ein wenig, der sich vor lauter Anspannung gebildet hatte und wich einem leichten Kribbeln. Egal, wie viele Jahre ich diesen Job bereits ausübte, die Nervosität vor jedem Auftritt war immer die gleiche, auch wenn ich sie recht gut im Griff hatte. Soweit ich wusste, ging es Toshiya ähnlich, aber er ließ sich selten etwas anmerken.

Im Moment stand er so dicht hinter mir, dass ich glaubte, seine Wärme sogar durch meinen Mantel spüren zu können, und zupfte sich einige Strähnen zurecht. Er war etwas legerer als ich gekleidet, trug heute wieder ein Hemd aus der neuesten Dirt-Kollektion und wie üblich eine enge, schwarze Jeans. Ausnahmsweise verzichtete er, anders als ich, auf seine Sonnenbrille, aber um sich zu verstecken, bräuchte er sie sowieso nicht. Die Schatten unter den Augen wurden gut vom Make-up kaschiert, er wirkte gelassen und gut gelaunt. Ich hatte nicht mitbekommen, ob er heute etwas anderes außer Wasser und Kaffee getrunken hatte, um eventuell entspannter zu werden. In den letzten Wochen hatte ich generell den Eindruck gewonnen, dass er deutlich weniger trank als zuvor und wenn dann nur mal eine Dose Bier, während wir zusammensaßen und zockten oder Filme anschauten. Hoffentlich hatte er auch heute einen guten Tag und die Situation war okay für ihn.
 

„Sag mal, Toshiya…“

Er hielt in seinem Tun inne und hob er fragend eine Augenbraue, als ich mich unterbrach und räusperte, ehe ich fortfuhr.

„Wie geht's dir gerade?“

Jeder andere hätte in der Situation wohl dezent verwirrt gewirkt, schließlich wurde man nicht sehr häufig aus heiterem Himmel nach seinem Wohlbefinden gefragt. Doch Toshiya kannte das inzwischen – es war zu einem kleinen Ritual zwischen uns geworden – und lächelte nur milde.

„Ich würde sagen, gut.“ Er lauschte kurz in sich hinein, bevor er bestätigend nickte. „Ja, gut.“

Nur am Rande bekam ich mit, wie unsere beiden Manager Fujieda und Takabayashi auf den Bühnenaufgang zusteuerten, wo sie mit lautem Applaus empfangen wurden. Ich betrachtete Toshiya weiterhin im Spiegel, suchte in seinem Gesicht Anzeichen dafür, dass er etwas verschwieg oder log, doch da war nichts. Er sah mich nur lächelnd an, bis er sich schließlich aus seiner Position löste und einen Schritt zurücktrat. Mit ihm schwand die angenehme Wärme in meinem Rücken.

„Kommst du? Wir müssen gleich raus.“
 

*
 

Bedächtig strich ich mir mit den Fingern durch die Haare und überlegte dabei, wie sehr ich ins Detail gehen sollte. Fujiedas Frage, wann ich die anderen Bandmitglieder das erste Mal getroffen hatte, war gar nicht so leicht zu beantworten wie gedacht, denn teilweise waren wir uns mehrfach begegnet, ohne es damals richtig registriert zu haben. Die Geschichten mit Kaoru und Shinya war zwar schnell erzählt, aber bei unserem Sänger musste ich weiter ausholen.

„Kyo habe ich das erste Mal auf einer Toilette getroffen. Während eines Bandwettbewerbs, bei dem unsere damaligen Bands nacheinander auftraten. Ich weiß noch, dass sich Kyo vor dem Auftritt die Haare im Bad gerichtet hat und als ich hinter ihm vorbeiging, sagte ich so etwas wie „Schön, dich zu treffen“. Er wollte, dass wir uns nach dem Live unterhalten, aber ich dachte, dass er das nur höflich daher gesagt hatte, so im Sinne: ‚Lass uns irgendwann mal was zusammen trinken gehen.‘“

Ich musste lachen, denn mittlerweile wusste ich, dass Kyo niemals irgendetwas einfach nur aus Höflichkeit, oder weil es erwartet wurde, vorschlug. Wenn er etwas sagte, meinte er es auch so. Immer.

„Deshalb bin ich nach dem Auftritt heimgegangen, ohne noch einmal mit ihm zu reden. Beim nächsten Mal hat er mich gefragt, warum ich plötzlich weg war und ich hab ihm gestanden, dass ich es nur für eine nette Floskel gehalten hatte.“

Toshiya lachte leise neben mir, vermutlich dachte er dasselbe, wie ich gerade eben.

„Schließlich haben wir uns dann auf irgendeiner Fluchttreppe unterhalten – wie auch immer wir dort gelandet sind. Jedenfalls war Kyo zu dem Zeitpunkt keiner Band verpflichtet und so habe ich gemeint, ob er nicht in unsere eintreten möchte. Das war ein bedeutender Wendepunkt für uns, würde ich sagen.“

Und einer, den ich bis heute nicht bereute.

Mir gegenüber an dem runden Stehtisch nickten Fujieda und Takabayashi bedächtig und ich konnte regelrecht spüren, wie die Fans gespannt den Atem anhielten und den nächsten Anekdoten entgegenfieberten. Sie liebten solche Geschichten und ich hatte nichts dagegen, ihnen noch weitere zu liefern.

Bisher verlief die Gesprächsrunde ausgesprochen gut und locker und auch wenn ich den Hauptredeanteil übernahm, schien es allen zu gefallen.

„Und wann habt ihr beide euch getroffen? Toshiya kam ja erst später dazu.“

Nachdenklich sah ich meinen Sitznachbarn an, der gerade seinen Kaffeebecher vom Tisch nahm und mir über den Rand hinweg einen langen Blick zuwarf.

„Tja, wo haben wir uns nochmal getroffen?“

Toshiya trank einen Schluck und schürzte anschließend nachdenklich den Mund.

„War das nicht in Sugamo? In einem Café?“

„Nein, da war's nicht das erste Mal. Haben wir uns nicht zuvor im Club Gio in Ichikawa getroffen?“

„Könnte sein…“

Allmählich kam die Erinnerung Stück für Stück zurück, das Bild wurde klarer und ich fing an zu grinsen.

„Ach genau, ich hab dich ein paar Mal dort gesehen und kurz Hallo gesagt, aber richtig unterhalten haben wir erst in einem Coffeeshop in Sugamo, zusammen mit Kyo. Also kein Café. Sag mal, hast du zu der Zeit nicht in Tokio gewohnt?“

„Ja, hab ich.“

Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen, als er einen Blick zu Fujieda und Takabayashi warf, die unser Gespräch ebenso interessiert verfolgten wie die Fans. Für einen kurzen Moment hatte ich die anderen komplett ausgeblendet und war in der Vergangenheit stecken geblieben. Ich lachte etwas verlegen auf, ehe ich, an die anderen gewandt, fortfuhr.

„Wir haben irgendwie schon immer in Osaka gelebt. Und Tokio… na ja, wir wussten damals noch weniger über Tokio als jetzt, deshalb kannten Kyo und ich auch Sugamo nicht. Ich weiß nur noch, dass wir eigentlich woanders hin wollten und in die Yamanote Linie gestiegen sind, allerdings in die verkehrte Richtung. Als ich Kyo fragte, ob wir nicht falsch wären, meinte er nur schulterzuckend: „Vielleicht.“ Als es dann klar war, dass wir tatsächlich meilenweit vom eigentlichen Ziel entfernt waren, sind wir einfach ausgestiegen und in den Coffeeshop in Sugamo gegangen und haben uns einfachheitshalber dort mit Toshiya getroffen. Irgendwie haben wir ihm Bescheid gesagt. Ich glaube, Kyo hatte Toshiyas Telefonnummer von irgendwoher, er kannte ihn ja vorher schon gewissermaßen.“

Allgemeines Gelächter erklang.

„Und warum seid ihr nicht zurückgefahren, sondern in Sugamo geblieben? Hast du damals dort gelebt, Toshiya?“

Toshiya lachte leise und zuckte anschließend nur vielsagend mit den Schultern.

„Nein, hab ich nicht, aber meine Wohnung war nicht weit entfernt, deshalb hab ich mich nicht beschwert und bin dann dorthin gekommen, als sie angerufen haben.“
 

So entspannt ging das Gespräch weiter. Hätten wir nicht mitten auf einer Bühne gesessen und mit uns mehrere hundert Fans im Saal, hätte ich beinahe geglaubt, einfach in einem netten Café zu sitzen und mit Toshiya und unseren Managern unbeschwert über Gott und die Welt zu plaudern. Gut, ganz so weit gingen die Themen doch nicht, aber angenehm abwechslungsreich waren sie trotzdem. Von jüngeren Bands, die uns interessierten, über die erste Festival-Erfahrung, die wir in Deutschland gemacht hatten und die alles andere als toll gewesen war, bis hin zu meiner Haarpflege-Routine, die einstimmig als sehr aufwendig bezeichnet wurde. Aber hey, ich liebte meine Haare und wollte sie auch gerne noch eine Weile so schön lang behalten. Toshiya hatte bei der Thematik nur leise gelacht, da er meine Pflegegewohnheiten in den letzten Wochen hautnah miterlebt hatte und auch ich konnte mir ein verstecktes Grinsen nicht verkneifen, als ich mich an seine allmorgendlichen Beschwerden erinnerte. Mehr als einmal hatte es an der Badezimmertür geklopft, ob ich denn nicht langsam mal fertig wäre. Na ja, es konnte schließlich nicht jeder nur das Shampoo benutzen, das er von Fans geschenkt bekam, und seine Haare Lufttrocknen lassen.

Den größten Lachanfall während der Gesprächsrunde erlitt ich, als Toshiya beim Durchblättern der Fragebögen auf einen, uns allzu bekannten, Schreibfehler stieß. Ein Fan hatte in einer Frage statt ‚Dir en grey‘ ‚Dir en Geri‘ geschrieben. Sehr wahrscheinlich war es eine Anspielung auf den Fehler gewesen, den eine Zeitung vor Jahren auf ihre Titelseite gedruckt hatte, aber ich konnte in diesem Moment nicht mehr vor Lachen. Vermutlich hatte jeder von uns fünf diese Zeitschrift zu Hause und blätterte von Zeit zu Zeit darin, wenn er etwas zum Lachen brauchte.
 

„Oh, das find ich interessant.“

Toshiya hielt einen Zettel aus dem Stapel mit den Fragen hoch, in dem er gerade gestöbert hatte. Schmunzelnd sah er uns an.

„Es ist ein Selbsttest und mich würde echt interessieren, was bei euch rauskommt. Bereit?“

Ohne unsere Zustimmung abzuwarten, begann er vorzulesen: „An welchen Ort würdet ihr am wenigsten gern gehen wollen? In einen dunklen Wald, ein verlassenes Haus, einen Friedhof oder einen Tunnel?“

Er stockte und überlegte.

„Bei mir wäre es der Wald.“

Abwartend blickte er in die Runde, während wir über die Frage nachdachten.

„Bei mir ist es auch der Wald. Definitiv“, meinte Takabayashi schließlich, während sich Fujieda für den Friedhof entschied. Ich brauchte noch einen Augenblick länger, da ich alles nicht besonders toll fand.

„Ich glaube, ich nehm den Tunnel.“

Toshiya grinste, während er begann die Auswertung vorzulesen.

„Also es geht darum, dass das, was ihr gewählt habt, zeigt, wovor ihr am meisten Angst habt. Der Tunnel bedeutet: Die Zukunft. Sie haben Angst, ihre Zukunft nicht sehen zu können.“

Ich schnaubte wortlos und fing dabei Toshiyas vielsagenden Blick auf, ehe er weiterlas.

„Der Friedhof: Sie haben keine Angst. Wenn Sie glücklich leben können, ist alles in Ordnung.“

Fujieda lachte kurz und warf einen triumphierenden Blick ins Publikum, das sichtlich beeindruckt von unserem furchtlosen Manager war.

„Und zum Schluss: der Wald.“

Toshiya hielt kurz inne.

„Einsamkeit. Sie müssen immer jemanden in der Nähe haben.“

Takabayashis Kommentar überhörte ich schlicht, während mich Toshiya sekundenlang ansah. Ein verstecktes Lächeln ließ seine Mundwinkel zucken, das kleine Schulterzucken hatte etwas Ergebenes an sich. Der Test war erschreckend treffsicher, was ihn betraf.

Eine seltsame Unruhe machte sich in meinem Inneren breit.
 

*
 

Die leise Hintergrundmusik, die über die letzten Stunden ununterbrochen vor sich hin gedudelt hatte, war verstummt und ließ eine wohltuende Stille zurück. Der Tag war aufregend und aufwühlend zugleich gewesen, da durfte es jetzt gern etwas ruhiger zugehen.

Takabayashi und Fujieda hatten sich bereits vor zwei Stunden in ihre Zimmer verabschiedet, mittlerweile waren Toshiya und ich die einzigen Gäste an der Hotelbar. Es war sicher weit nach Mitternacht, selbst der Barkeeper war schon gegangen, somit waren wir wirklich die Letzten. Aber das störte nicht. Wir hatten viel geredet und gelacht und obwohl wir inzwischen in einstimmiges Schweigen verfallen waren und jeder an seinem sonst wievielten Glas festhing, herrschte weiter diese vertraute und angenehme Stimmung zwischen uns. Ich konnte mich kaum erinnern, wann wir das letzte Mal nach einem Auftritt so lange zusammengesessen hatten. Das war sicher Jahre her und erst jetzt merkte ich, wie sehr es mir eigentlich fehlte. In letzter Zeit hatten wir auch bei mir zu Hause öfter bis spät in die Nacht auf dem Sofa gehockt, aber hier – das war irgendwie etwas Anderes und das Letzte, was ich wollte, war, dass dieser Abend zu Ende ging. Natürlich merkte ich allmählich den Alkohol und die Müdigkeit, aber dennoch…
 

Ich schielte zu Toshiya, der so dicht neben mir an der Bar saß, dass sich unsere Arme berührten. Er wirkte ebenso müde und erschöpft, wie ich mich fühlte, dennoch hielt sich die ganze Zeit über ein feines Lächeln auf seinen Lippen. Auch er schien noch nicht aufs Zimmer gehen zu wollen. Gedankenverloren starrte er auf den letzten Rest seines Gin Tonics.

„Woran denkst du?“, murmelte ich leise in die Stille.

„Hm.“ Er blinzelte kurz und warf mir aus den Augenwinkeln einen Blick zu, ehe er sich wieder auf seinen Drink konzentrierte.

„Hab gerade an den Auftritt heut Nachmittag gedacht. Es war besser, als ich erwartet hatte. Weiß auch nicht, was ich vorher dachte, mit Kyo war‘s auch lustig gewesen. Und heute war es wieder anders, aber sehr unterhaltsam.“

„Das ist gut. Meinetwegen könnten wir das auch in den nächsten Monaten und Jahren ab und zu wiederholen.“

Ein heiseres Lachen verließ Toshiyas Kehle, als er leicht den Kopf schüttelte.

„Na ja, so würde ich das nicht sehen. Da spiel ich trotzdem viel lieber Konzerte, als solche Interviews zu führen. Aber da du die Show ja heute fast alleine bewältigt hast, war es sehr angenehm für mich.“

Ungewollt zuckte meine linke Augenbraue nach oben.

„Oh. Hab ich wirklich so viel geredet?“

„Schon, aber das ist nicht schlimm.“ Sein Lächeln vertiefte sich, während er mich ansah. „Ich höre dir gerne zu… und die anderen auch.“

Mein Herz geriet kurz ins Stolpern und ein leichtes Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus, sodass ich schnell den Blick abwandte und zu meinem Weinglas griff.

„Na dann bin ich beruhigt.“

Der Rotwein schmeckte mit einem Mal etwas fad, aber gut, ich hatte bereits so einiges getrunken. Kein Wunder also, wenn ich mich allmählich komisch fühlte.

„Ich hoffe einfach, dass es zu meinem Geburtstag genauso gut wird. Wobei ich nicht glaube, dass Kaoru an dein Redepensum rankommt.“

„Ich denke auch nicht, allerdings hält er bei seinem Podcast ab und zu einige Monologe.“

Ich spürte Toshiyas verwunderten Blick und verkniff mir ein Grinsen.

„Du guckst dir den an?“

„Manchmal. Ich lass ihn gerne nebenbei laufen, wenn ich aufräume.“

Die Vorstellung amüsierte ihn sichtlich. Lachend schüttelte er den Kopf, ehe er den Gin Tonic in einem Zug hinterkippte. Mein Glas war leider leer, ich konnte nur noch hineinstarren und mich daran festhalten. Kurz atmete ich tief ein und fragte dann: „Wo seid ihr an dem Tag nochmal genau?“

„Im Zepp Sapporo.“

„Oh. Schade.“ Etwas verlegen, weil mein Mund mal wieder zu schnell gewesen war, biss ich mir auf die Unterlippe.

„Na ja, also ich dachte… wir hätten ja sonst auch auf deinen Geburtstag anstoßen können.“

Unsicher sah ich auf und begegnete einem undefinierbaren Blick, der etwas in mir zum Klingen brachte. Lange hielten wir den Blickkontakt, der mich immer unruhiger werden ließ, je länger er andauerte, bis ein Ruck durch Toshiya ging. Ehe ich mich versah, lehnte seine Stirn an meiner Schulter. Er war mir so unglaublich nah, dass es mich aus dem Konzept brachte. Mein Puls schoss in die Höhe, seine leisen Worte gingen im Rauschen meiner Ohren beinahe unter.

„Ja, das ist wirklich schade.“

Er seufzte und drückte sich noch etwas stärker an meine Schulter. Ich bekam eine Gänsehaut, sein warmer Atem drang durch mein dünnes Shirt.

„Ich glaube, ich habe zu viel getrunken“, hörte ich ihn leise nuscheln. Wie ich. Mein Körper fühlte sich seltsam weich und aufgewühlt an und von der Stelle, wo Toshiya mich berührte, breitete sich ein angenehmes Prickeln aus. Das letzte Glas war eindeutig zu viel gewesen.

„Aber…“

Ob es Toshiya bewusst war, dass er gerade direkt gegen meine Schulter murmelte, seine Lippen mein Shirt streiften und ich das Gefühl bekam, ihn direkt auf meiner Haut zu spüren? Anscheinend nicht.

„… wir können gerne zusammen anstoßen, wenn ich wieder da bin. Also wenn ich dann bei dir vorbeikommen darf.“

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals runter und umklammerte mein Glas fester.

„Darfst du, Toshiya. Darfst du.“

„Das ist schön.“ Seine Stimme an meiner Schulter wurde immer leiser. Es wirkte beinahe, als würde er jeden Moment wegdämmern.

„Weißt du, Die, auch wenn es jetzt vielleicht komisch klingt: Ich bin gerne bei dir.“

4

Kapitel 4
 

Juni
 

Lautlos seufzte ich auf und sah zum wiederholten Mal auf die Uhr am unteren Bildschirmrand meines Laptops. Die Zeit wollte und wollte nicht vergehen und gleichzeitig sollte sie das auch gar nicht, wenn es nach mir ging. Ich wusste selbst nicht, was ich wollte.

Seit zwei Stunden klickte ich mich sinnlos durchs Netz, versuchte mich auf Musikvideos diverser Bands oder wahlweise Artikel über neue Veröffentlichungen zu konzentrieren, aber mein Hirn macht einfach nicht mit. Ich war viel zu nervös.

Es war zum Haare raufen. Doch statt sie durcheinander zu bringen, glitt ich nur mit den Fingern durch sie hindurch, um mich selbst etwas zu beruhigen.

Wieso machte ich es mir so schwer? Beziehungsweise, warum hatte es erst so schwer werden müssen? Wirklich zum Verzweifeln.
 

Ein leises Miauen riss mich aus meiner Lethargie. Blinzelnd sah ich auf, das letzte Video war erneut, ohne eine Spur zu hinterlassen, an mir vorbeigegangen. Neko lag auf ihrem angestammten Platz neben dem Fenster und beobachtete mich aus wachen Augen. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sie ins Arbeitszimmer geschlichen war.

Wieder konnte ich das Seufzen nicht unterdrücken – es wurde allmählich zur schlechten Angewohnheit – und wandte mich vollends zu ihr um.

„Entschuldige, es wird sicher bald besser.“

Was besser werden sollte, konnte ich selbst gar nicht sagen. Aber sie schien meine innere Aufgekratztheit zu spüren. Träge blinzelnd ließ sie mich nicht aus den Augen.

„Was soll ich denn machen?“

Toll, jetzt redete ich schon mit meiner Katze. Aber es war sonst niemand hier, mit dem ich sprechen konnte. Und schon waren meine Gedanken ganz von selbst wieder dort hingewandert, wo ich sie eigentlich gar nicht haben wollte.

Bei Toshiya.
 

Inzwischen waren fast genau fünf Monate vergangen, dass er eines Nachts durchnässt vor meiner Tür gestanden hatte und dann mehr oder weniger geblieben war. Ich konnte gar nicht sagen, wie viele Tage und Wochen wir auf diese Art und Weise zusammengewohnt hatten, obwohl er auch gelegentlich in seiner Wohnung übernachtet hatte. Dennoch verbrachten wir die meiste Zeit gemeinsam und so war es auch den gesamten Frühling über geblieben. Erst im vergangenen Monat war es weniger geworden, da ab Mai die Vorbereitungen für unser erstes Konzert vor Publikum seit über einem Jahr begonnen hatten. Nebenher liefen unzählige Interviews und Promo-Events zu »Oboro«, mit einem Mal versanken wir in Arbeit. Nicht, dass ich mich beschwerte. Es war toll, wieder ein Gefühl von Normalität zu haben. Selbst für einen Außenstehenden war erkennbar, wie wir alle für unsere Verhältnisse aufblühten. Das war gut.

Der Nebeneffekt war nur, dass Toshiya in seine eigenen vier Wände zurückgekehrt war.

Und ich ihn vermisste.

Shit.
 

Es war nicht so, dass wir uns nur noch bei der Arbeit begegneten. Wir trafen uns ab und zu zum Zocken oder Kochen. Das hieß, Toshiya kochte und ich versuchte mein Möglichstes, mir beim Versuch zu helfen, nicht die Finger abzuschneiden. In den Monaten unseres Zusammenlebens hatte ich entdeckt, was für ein guter Koch er war. Etwas, das mir vorher völlig entgangen war. Er bezeichnete sich zwar selbst als faulen Mensch, aber was das Kochen anging, schaffte er es sogar mit wenig Aufwand, etwas Leckeres zuzubereiten. Bei ihm fand ich selbst Meeresgetier nicht mehr so eklig, dass ich sie nicht runterbekam. Etwas, wofür mich Toshiya in den letzten Jahren mehr als einmal aufgezogen hatte. Aber geschält oder auf eine Weise zubereitet, dass ich keine Details vom eigentlichen Lebewesen mehr erkannte, waren sie durchaus genießbar für mich und Toshiya wusste das.

Generell war er ein sehr aufmerksamer Mensch. Ich konnte es nicht an Details festmachen, aber da war stets das Gefühl, dass er ein Auge auf mich hatte – als hätten wir plötzlich die Rollen getauscht.

Es war irritierend – auch wie viel Neues ich plötzlich über ihn lernte, obwohl ich immer gedacht hatte, ihn gut zu kennen. Er las gerne. Ich hatte nicht einmal geahnt, dass er sich überhaupt für Bücher interessierte. Tierdokumentationen begeisterten ihn und er ging gerne nachts spazieren, am liebsten in Begleitung. Und das waren nur ein paar Dinge, die auf den ersten Blick nicht einmal besonders wichtig erschienen.
 

Seine Probleme mit Alleinsein und die daraus resultierenden Panikattacken waren da schon etwas anders. Es war mir ein Rätsel, wie mir das die ganzen Jahre hatte entgehen können. Inzwischen hatte ich eine Ahnung bekommen, wann genau diese Panikanfälle bei ihm zutage traten. Es war nicht das allgemeine Alleinsein, das ihn triggerte, sondern vielmehr die Angst davor im Nichts und der Bedeutungslosigkeit zu versinken, wenn niemand da war und ihm Halt gab. Bis er sich schließlich immer weiter hineinsteigerte. Toshiya wusste selbst, dass diese Angst unbegründet war, dass wir ihn nicht fallen ließen, keiner ihn vergaß, weder die Menschen, die ihm nahe standen, noch die Fans oder sonst wer, aber sein Hirn sah das zu seinem Leidwesen anders. Was die genaue Ursache war, ließ sich schwer sagen. Sicher wäre professionelle Hilfe diesbezüglich sinnvoller gewesen, aber das wollte er nicht und ich würde ihn nicht zwingen. Er lebte schon so lange damit und wollte es alleine schaffen und hätte das vergangene Jahr ihn nicht aus seinem gewohnten Leben herausgerissen, wäre es wohl auch nicht so schlimm geworden. Aber anscheinend hatte ihm meine Gegenwart über die schlimmsten Tage hinweg geholfen – etwas, das mich sehr glücklich machte – und aktuell ging es ihm sowieso besser.
 

Ach, verdammt! Da war wieder dieses Ziehen in meiner Brust. So vieles hatte sich verändert. Gefühlt alles.

Seit Sendai, um genau zu sein.

Unzählige Male hatte ich mir seither den Kopf zerbrochen, ob ich Toshiya darauf ansprechen sollte, ob er auch spürte, dass etwas anders war – zwischen uns. Gleichzeitig war da diese Befürchtung, mir das Ganze nur einzubilden und ihn damit gegebenenfalls zu überfordern oder zu verwirren.

Nach unserem gemeinsamen Auftritt im März war mir relativ schnell klar geworden, was gerade mit mir passierte und ich hatte Panik bekommen. Ich verstand nicht, warum so plötzlich und wusste bis heute keine Antwort darauf. Ich kannte Toshiya seit Jahrzehnten, wir arbeiteten zusammen und trafen uns in den letzten Jahren auch manchmal privat. Wieso veränderten dann einige Wochen intensiven Zusammenlebens alles? Gab es so etwas wie Liebe auf den hundertsten Blick? Nein, vielmehr tausendsten?

Es war erschreckend. Nicht, weil ich mich in einen Mann verliebt hatte – das war nichts Neues – sondern dass es Toshiya war, der meine Gedanken beherrschte. Ich war besorgt um ihn gewesen, hatte gewollt, dass es ihm besser ging und jetzt das. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich ihn zwar immer noch als Freund und Kollegen ansah, aber gleichzeitig auch als viel mehr. Dass ich ihn am liebsten immer um mich haben wollte, noch so viel mehr von ihm wissen wollte, mir wünschte, ihn zu berühren und anders für ihn da zu sein.

Zu Beginn hatte ich versucht gegen diese Gefühle anzukämpfen, einfach weil es nicht sein durfte. Wie sollte ich ihm ein guter Freund sein, ihm zuhören und aufbauen, wenn mein Körper etwas anderes wollte? Aber es half nichts, die Gedanken und Bilder in meinem Kopf blieben. Ich hatte sogar kurzzeitig versucht, etwas auf Abstand zu gehen, um mit mir selbst klarzukommen, doch Toshiya ließ es nicht zu.

So wie er der Emotionalste der Band war, war er auch immer derjenige gewesen, der die wenigsten Berührungsängste kannte. Früher waren wir oftmals von einer seiner berühmten Umarmungen überrumpelt worden. Diese waren zwar nach und nach weniger geworden und nach dem großen Bandkrach vollkommen verschwunden, was aber nicht hieß, dass er nicht auch heute noch gelegentlich jeden von uns auf die Pelle rückte. Etwas, dass mir erst jetzt durch die neue Gefühlssituation auffiel. Da gab es so viele flüchtige Berührungen, die ich vorher nie bemerkt hatte, denen ich mich nicht entziehen konnte und die nun meinen Körper umso mehr unter Strom setzten. Ein kurzes Streichen über den Oberarm, eine warme Hand auf meiner Schulter oder dem Rücken, das Zupfen einer langen Haarsträhne in die richtige Position. Er suchte meine Nähe. Hatte er das früher auch schon getan und ich hatte dem keine Bedeutung beigemessen?
 

Das Ganze überforderte mich. Es war nicht so, dass es mir mit diesen Gefühlen schlecht ging. Sie verwirrten mich in erster Linie und brachten mich durcheinander. Das alles war so neu, ungewohnt und beinahe schockierend intensiv, dass es mich teilweise schon aus dem Konzept brachte, wenn ich nur seinen Blick auffing.

Aber da sich dagegen wehren, nichts brachte, musste ich sie akzeptieren und damit leben. Vielleicht verschwanden sie irgendwann, wenn ich ihnen keine Beachtung schenkte. Wobei das eher reines Wunschdenken war, so gut kannte ich mich selbst.

Aber was sollte ich tun? Ich war kein guter Schauspieler. Meist sah man mir sehr schnell an der Nasenspitze an, wenn etwas nicht stimmte. Ein Wunder, dass er mich bisher noch nicht darauf angesprochen hatte. Aber vermutlich würde er das bald und vielleicht schon heute.

Das war der eigentliche Grund, warum die Nervosität in mir einfach nicht weniger wurde.

Er hatte mir geschrieben. Gestern. Ob er heute Abend vorbeikommen durfte. Natürlich durfte er. Immer, denn selbst wenn ich in seiner Nähe unruhiger wurde und nicht wusste, wohin mit meinen Händen und Gedanken, änderte es nichts daran, dass ich ihn gerne in meiner Nähe hatte und er im Endeffekt ja nichts für meine Gefühlssituation konnte.
 

Wir hatten uns das letzte Mal vor fünf Tagen gesehen, am Tag des Konzerts. Es schien ihm gut zu gehen, sein Lächeln war ehrlich gewesen, seine Energie während des Auftritts ungebändigt wie früher. Sicher hatte ich mich spätestens an diesem Tag verraten, so wie ich ihn mit Blicken verfolgt hatte. Selbst Kaoru war es aufgefallen, denn warum sonst hatte er mir nach dem Encore, über die Bühne hinweg, breit grinsend einen Blick zugeworfen und Toshiya gleich darauf einen Klaps auf den Hintern gegeben? Das war eine sehr untypische Aktion für unseren Leader gewesen und dass die kochenden Emotionen nach den Konzert schuld daran waren, glaubte ich nicht. Nein, ich hatte mich nicht gut genug im Griff gehabt, meine Augen hatten sich einmal zu oft selbstständig gemacht. Warum hatte Toshiya auch so eine verdammt enge Hose tragen müssen? Da hatte mein Körper keinerlei Chancen dagegen anzukommen.

Aber vielleicht war es ja besser, wenn Toshiya dadurch etwas gemerkt hatte. Warum sonst hatte er mich nach dem Konzert so seltsam gemustert, sich bis gestern in Schweigen gehüllt, nur um mich dann zu fragen, ob er vorbeikommen durfte, um etwas zu klären? Ja, es war wirklich besser. Damit endlich etwas passierte. Damit ich gezwungen war, etwas zu sagen. Und vielleicht durfte ich mir sogar Hoffnung machen, dass diese knisternde Stimmung zwischen uns, die ich in den letzten Monaten geglaubt hatte zu spüren, keine Einbildung gewesen war.
 

Vergangene Nacht hatte ich stundenlang wach gelegen, die ganze Zeit hin und her überlegt, ob ich einfach mit der Tür ins Haus fallen oder mich doch rausreden sollte. Schlussendlich gab es aber nur einen Weg: Er verdiente Ehrlichkeit. Hatte er nicht ein Recht darauf zu erfahren, was er in mir auslöste? Wir hatten uns so lange um Ehrlichkeit bemüht – es endlich zu etwas Normalem werden lassen, zu sagen, wie es einem ging – und darüber war ich unendlich dankbar. Da käme Verschweigen definitiv einer Lüge gleich.

Es war gut so. Jedenfalls versuchte ich mir das einzureden, auch wenn es mein Herz gleichzeitig an den Rand des Stillstands brachte. Wann war ich das letzte Mal vor einem Geständnis so nervös gewesen? Mit 16 vielleicht? Damals hatte ich dem hübschesten Mädchen unseres Schuljahrs meine Liebe gestanden und sie hatte mich eiskalt abblitzen lassen. Etwas, worüber ich heute nur noch müde schmunzeln konnte.

Doch nun war es Toshiya. Wir kannten uns schon so lange, standen uns näher denn je und ich wollte nicht, dass sich etwas zwischen uns änderte. Dass er mich plötzlich mit anderen Augen sah oder anders über mich dachte. Jetzt konnte ich ein wenig nachvollziehen, wie Toshiya sich gefühlt haben musste, als er mit mir das erste Mal über seinen Zustand gesprochen hatte.
 

Seufzend wandte ich mich von meiner Katzendame, die mir gerade sowieso nicht weiterhelfen konnte, ab, schaltete den Laptop aus und stand auf.

Im benachbarten Schlafzimmer war es angenehm kühl, die Klimaanlage lief auf Hochtouren, um die Hitze, die von draußen hereindrückte, auch dort zu belassen.

In Osaka war inzwischen der Hochsommer ausgebrochen und wie die Zeitungen verkündeten, waren es nur noch wenige Tage bis zum Beginn der Olympischen Sommerspiele in Tokio. Mit den Athleten wollte ich nicht tauschen, es genügte mir völlig, mich in regelmäßigen Abständen im Fitnessstudio an den Rand der Erschöpfung zu bringen. Selbstgewähltes Leid, aber ich brauchte das.

Auch zur Ablenkung.

Geistesabwesend betrachtete ich mich im großen Spiegel meines Kleiderschranks. Ich konnte definitiv stolz darauf sein, was ich bisher erreicht hatte. Ich hatte selbst Toshiya überholt, was den Muskelaufbau anging. Wiederum hatte er nicht mehr trainiert, seit die Fitnessstudios das erste Mal schließen mussten. Danach hatte ihm laut eigener Aussage die Motivation gefehlt bei jeder kurzzeitigen Öffnung hinzugehen, um wenige Wochen später erneut zu Hause trainieren zu müssen. Und zu meinem privaten Trainer wollte er nicht. Kein Wunder also, dass er in den vergangenen Monaten weiter abgenommen und an Muskelmasse verloren hatte. Dennoch sah er besser aus als Anfang des Jahres, wirkte ungebrochen attraktiv, trotz seiner sehr schlanken Erscheinung.

Allerdings war ich momentan der Falsche, um Toshiyas Äußeres neutral zu beurteilen.
 

Ich riss mich von meinem Spiegelbild los, das mich die ganze Zeit aus müden, umschatteten Augen angestarrt hatte, und ging in die Küche, um erstmal für Neko und mich etwas zum Mittagessen zuzubereiten. Mein Kühlschrank war erschreckend leer, doch irgendwo ließen sich hoffentlich noch Sobanudeln auftreiben.
 

*
 

Der restliche Tag rann träge vor sich hin. Mit jeder verstrichenen Stunde nahm meine Nervosität weiter zu. Und kein Ablenkungsversuch fruchtete, weder mein Versuch zu kochen, noch Fernsehen oder Zocken. Alles erinnerte mich an Toshiya.

Wie ich es drehte und wendete: ich musste es ihm sagen, selbst wenn er es nicht von sich aus ansprach, sonst würde ich noch durchdrehen. Ich war egoistisch. Und ich konnte nur hoffen, dass, selbst wenn diese Gefühle nicht auf Gegenseitigkeit beruhten, er weiterhin zu mir kommen würde, wenn es ihm nicht gut ging. Diese Angstzustände konnten immer wieder auftreten, obwohl sie aktuell durch die viele Arbeit und Ablenkung komplett verschwunden waren und es hoffentlich für lange Zeit blieben. Dennoch hatte Toshiya hin und wieder schlechte Tage, wie jeder andere Mensch auch, und besonders in solchen Momenten stand ihm meine Tür immer offen.
 

Unruhig biss ich auf die Unterlippe, während ich aus dem Wohnzimmerfenster starrte und beobachtete wie allmählich die Straßenlaternen angingen und den Asphalt darunter in orangefarbenen Schein tauchten. Jeden Augenblick konnte Toshiya kommen. Ich hatte ihm bereits im Februar meinen Ersatzschlüssel gegeben und seither nicht zurückgefordert.

Mein Puls raste, die Hände waren schweißnass.

Als schließlich die Wohnungstür gut vernehmlich ins Schloss fiel, zuckte ich zusammen. Das Herz sackte mir in die Kniekehlen.

Mist, jetzt hatte ich mir gar nicht überlegt, was ich wie sagen wollte. Hoffentlich fing er von sich aus an.

Unbeweglich stand ich da, starrte blicklos und mit flatterndem Herzen aus dem Fenster, ohne irgendetwas anderes wahrzunehmen als die Geräusche im Flur.

„Die?“

Gedämpfte Schritte erklangen hinter mir und stockten am Eingang zum Wohnbereich. Unwillkürlich verkrampfte ich mich. Ich konnte mich nicht umdrehen, wollte ihm nicht ins Gesicht blicken, denn ich war mir sicher, dass er selbst im Halbdunkel des Zimmers sofort gemerkt hätte, dass etwas nicht stimmte. Gut, das hatte er ja sowieso mitbekommen. Und er zögerte nicht.

„Die? Was ist los?“

Bildete ich es mir ein oder hatte seine Stimme einen angespannten Unterton? Er stand unmittelbar hinter mir, ich spürte seine Wärme auf meiner Haut. Ein sanfter Druck legte sich zwischen meine Schulterblätter, wanderte langsam nach oben und hielt schließlich in meinem Nacken inne. Hauchzart spielten seine Finger mit einigen, kurzen Strähnen, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten. Es half nicht wirklich dabei, dass ich ruhiger wurde, eher im Gegenteil. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, sicher hörte er es und bemerkte die Gänsehaut, die seinen Fingern gefolgt war. Ich wollte fliehen und mich gleichzeitig in seine Berührung lehnen. Er brachte mich völlig aus dem Konzept.
 

Als ich meine Stimme endlich einigermaßen wiedergefunden hatte, klang sie zu meinem Leidwesen verdächtig sehr nach einem heiseren Seufzen.

„Toshiya.“

Zu mehr reichte es nicht, denn in meinem Kopf herrschte Leere. War er sich bewusst, was er gerade in mir anrichtete?

Erneut setzte ich an, versuchte mich zu sammeln und wusste gleichzeitig nicht, was ich überhaupt sagen wollte. Seine Finger tanzten weiter über meinen Rücken und er stand immer noch viel zu nah hinter mir. Warum tat er das?
 

Ach verdammt.

Ruckartig entzog ich mich seiner Berührung, drehte ich mich um und lehnte den Rücken gegen die kühle Scheibe, als könnte ich so dem Prickeln auf meiner Haut entkommen. Konnte ich nicht. Ebenso wenig, wie sich mein Herz nicht entscheiden konnte, ob es ungerührt weiter rasen oder einfach aussetzen sollte, als ich ihn ansah.

Er stand direkt vor mir, war keinen Schritt zurückgetreten. Mit leicht gerunzelter Stirn betrachtete er mich, das schwache Licht von draußen zeichnete sein Gesicht und die Konturen nach und verliehen ihm eine gewisse, sehr attraktive Weichheit. Ich schluckte, wusste immer noch nicht, was ich außer einem matten „Hey“ sagen sollte.

„Du siehst müde aus.“

Er beugte sich noch ein Stück näher zu mir, sein Parfüm wehte mir um die Nase. Ich starrte ihn sicher an, wie das berühmte Reh vor dem Scheinwerfer. Wahrscheinlich bemerkte er meine Anspannung, denn kurz darauf lehnte er sich zurück und sah mich nachdenklich an.

„Wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen?“

„Weiß nicht? Vor zwei Tagen.“

Oder zwei Wochen? Ich konnte mich nicht erinnern, da ich mir in letzter Zeit zu oft nachts den Kopf zerbrochen hatte.

„Die, nochmal: Was ist los? Ich merk doch, dass da was ist. Und nicht erst seit heute.“

Ich war für eine Zehntelsekunde versucht, mit „Da ist nichts. Alles gut.“ zu antworten, aber dafür hätte ich mir persönlich in der Allerwertesten getreten.

„Ich… Ich bin froh, dass du hier bist.“

Das war schon einmal ein Anfang in die richtige Richtung, nur die Fortsetzung war schwieriger. Toshiya ließ mir Zeit und wartete geduldig, dass ich fortfuhr. Am liebsten hätte ich ihn gebeten, sich auf das Sofa zu setzen, denn seine Nähe erschwerte mir das Denken. Doch gleichzeitig genoss ich sie zu sehr, um die Bitte schlussendlich auszusprechen.

So sah ich einfach weg, an seiner Schulter vorbei, ins dunkle Wohnzimmer und sprach mir selbst Mut zu.

„Weißt du, Toshiya, es war mir bisher nie bewusst gewesen, dass mir etwas fehlte oder dass ich etwas in meinem Leben vermisste.“ Kurz blickte ich zu ihm. Sein zusammengepresster Kiefer zeigte, dass er jetzt ebenfalls angespannt war. „Bis zu dem Tag, an dem du vor meiner Tür standest. Es war – Ich weiß nicht. Ich hab lange alleine gewohnt und gedacht, dass es okay ist, wie es ist. Doch nun, seit du hier bist… warst, ist es anders.“

Ich unterbrach mich erneut, biss mir kurz auf die Unterlippe, um mich auf meine nächsten Worte zu konzentrieren. War Toshiya noch ein Stück näher gekommen?

„Ich – Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es mich sehr glücklich macht, wenn du hier bist? Bei mir. Und dass ich… dass ich dich in den letzten Wochen vermisst habe?“

Das war nur ein winziger Teil von dem, was ich hatte sagen wollen, dennoch wartete ich innerlich zitternd auf eine Antwort. Ich war wirklich nicht gut darin, meine Gedanken und Gefühle in Worten zu fassen, meist handelte ich aus dem Bauch heraus, doch diesmal funktionierte das nicht. Wusste Toshiya, worauf ich hinaus wollte?

Einen langen Moment herrschte Schweigen, dann –

„Ja.“

Seine Stimme klang mit einem Mal so rau, dass ich ihn ansehen musste. Seine dunklen Augen wanderten unruhig über mein Gesicht, als würden sie nach etwas Bestimmten suchen.

„Ich… Ich bin auch sehr glücklich, hier bei dir sein zu können.“

Er hatte mich verstanden. Mein Magen machte einen Purzelbaum, als er näher trat. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass es ihm genauso ging wie mir, oder wie hätte ich das warme Lächeln, mit dem er mich betrachtete und mein Herz noch schneller schlagen ließ, sonst deuten sollen?

„Ich -“

Der Rest meiner Worte wurde von weichen Lippen erstickt, die sich fest auf meine legten. Ein überraschtes Keuchen entfloh mir, während Toshiya mich an sich zog, seine Finger in mein Shirt krallte.

„Und ja, ich habe dich auch vermisst.“
 

*
 

Juli
 

Die ersten Sonnenstrahlen mogelten an den flachen, gegenüberliegenden Einfamilienhäusern vorbei und tauchten das Schlafzimmer in sanftes Licht. Träge blinzelte ich dagegen an. Es war eindeutig zu früh, doch ich konnte nicht mehr weiterschlafen. Mein Körper war darauf eingestellt, immer gegen um 7 aufzuwachen und ließ sich durch nichts vom Gegenteil überzeugen, selbst wenn ich erst mitten in der Nacht ins Bett gegangen war. Die aufgehende Sonne war ein viel zu zuverlässiger Wecker. So wie heute. Kurz erwog ich aufzustehen und das Fenster zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen, doch der schöne Sonnenaufgang war trügerisch. Draußen war es sicher bereits unangenehm schwül, da genoss ich lieber die kühle Luft der Klimaanlage.

Und die vertraute Wärme des Körpers, der sich an meinen Rücken schmiegte.

Toshiya schien die aufkommende Helligkeit wenig zu stören, er schlief friedlich weiter, den gleichmäßigen Atemzügen nach zu urteilen.

Und seine Nähe war Entschädigung genug für das frühe Aufwachen.

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, während ich die Sonne dabei beobachtete, wie sie sich ganz langsam weiter aus ihrer Deckung schob. Von meinem Bett aus hatte ich nicht so eine schöne Aussicht, aber dafür Vorhänge, die die Helligkeit draußen hielten. Etwas, das Toshiya nicht wichtig war, da er sonst lieber auf dem schmalen Sofa übernachtete als im Bett, wenn er alleine zu Hause schlief. Was inzwischen nur sehr selten vorkam.

Hätte mir jemand vor einem halben Jahr gesagt, dass ich eines Tages die Nächte mit Toshiya, meinem langjährigen Freund und Bandkollegen, verbrachte und ihm näher war als jemals zuvor, ich hätte denjenigen für verrückt erklärt. Gerade, weil ich mich nicht mehr für besonders beziehungsfähig gehalten hatte – mal von meiner ersten Ehe abgesehen, aber die lag jetzt auch schon länger als fünfzehn Jahre zurück, und der Rest ließ sich an einer Hand abzählen.
 

Doch nun lag ich hier, wie so viele Nächte zuvor, mit einem garantiert dümmlichen Grinsen auf den Lippen, und genoss das Gefühl, das Toshiya in mir auslöste. Eine Mischung aus zufriedener Aufgekratztheit und einem angenehmen Kribbeln, das meinem Körper beherrschte. Es fühlte sich einfach so richtig an. Und so leicht.

Auch hätte ich nicht gedacht, dass unsere übrigen, drei Bandkollegen die neue Konstellation nur mit einem Schmunzeln und einem lapidaren Schulterzucken zur Kenntnis nahmen, das so viel sagte wie „Das wussten wir doch alles längst.“ Manchmal waren sie mir echt ein wenig unheimlich, dafür dass wir sonst immer irgendwie aneinander vorbei zu leben schienen.
 

Plötzlich kam Unruhe in den Körper hinter mir, die Wärme verschwand. Dafür hörte ich ein Rascheln und spürte, wie die dünne Decke, die bisher lose über unseren Beinen gelegen hatte, höher gezerrt wurde.

Gleich darauf war Toshiya wieder hinter mir, ein Arm schlang sich fest um meine Mitte, das Gesicht drückte er gegen meine Schulter.

Unwillkürlich wurde mein Grinsen breiter und vertrieb die restliche Müdigkeit aus mir. Auch wenn ich es hätte ahnen können, war es dennoch eine Überraschung gewesen, wie anschmiegsam Toshiya wirklich war, wenn man ihn ließ. Am liebsten schlief er so wie jetzt, eng aneinander gekuschelt, besonders in den Morgenstunden. Nachts hatte jeder seinen Freiraum, doch sobald er in den Halbschlaf hinüberglitt, suchte er unbewusst meine Nähe und dem zu entkommen, war schwierig. Wobei ich nicht wirklich etwas dagegen hatte. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt und das Gute war, wenn die Decke nachts doch irgendwann am Fußende verschwand, kalt wurde es nicht, denn Toshiya gehörte zur Kategorie Heizdecke.
 

Allerdings jetzt gerade nicht.

Ich zuckte ein wenig zusammen, als sich eine kalte Nase an meiner Schulter rieb.

„Ich glaub, du hast die Klimaanlage zu kalt eingestellt“, hörte ich ihn schlaftrunken nuscheln. Wie zur Bestätigung fühlte ich eine leichte Gänsehaut unter meinen Fingerkuppen. Ohne es zu bemerken, hatte ich angefangen sanft über den Arm, der mich umschlungen hielt, zu streicheln.

„Soll ich sie ausmachen?“

Er schnaubte, sein Atem ließ mich schaudern.

„Ne, lass mal. Ich wärme mich einfach an dir.“

Die Hand, die bisher auf meinem Bauch geruht hatte, wanderte höher und blieb mittig auf meinem Brustkorb liegen, kratzte mit den Nägeln leicht darüber, während er ein Bein zwischen meine schob.

Himmel! Kalt wurde mir so definitiv nicht. Das Kribbeln, das die ganze Zeit unterschwellig in meinem Bauch gewohnt hatte, wurde stärker und rutschte langsam eine Etage tiefer.

Das machte er doch mit Absicht, Schlaftrunkenheit hin oder her!

Seufzend schloss ich die Augen, gab dem sehnsüchtigen Gefühl in mir nach. Ich war mir sicher, dass seine Mundwinkel wissend zuckten, während seine Lippen hauchzart über meinen Nacken glitten und mir eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Um ein Haar hätte ich angefangen zu schnurren. Er wusste inzwischen zu gut, wie ich auf jede seiner Berührungen reagierte. Und nutzte das gerne schamlos aus. Ich sah vor meinem geistigen Auge, wie ein Schmunzeln seine Lippen zierte, während die Schläfrigkeit vollends aus seinem Blick verschwand. Auch wenn er gerne länger schlief – erst einmal wach war Toshiya morgens immer der Aktivere von uns.
 

Nach einer kleinen Weile löste ich mich aus seiner Umarmung und drehte mich zu ihm herum. Wie ich es mir vorgestellt hatte, sah er erschreckend wach aus. Seine Mundwinkel zuckten, ein wissendes Funkeln lag in seinen Augen und verstärkte das Ziehen in meiner Mitte noch mehr. Die kurzen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, verliehen ihm etwas Schelmisches.

Er war gestern beim Friseur gewesen und hatte mich damit sehr überrascht. Seine sonst glatten, dunklen Haare, die sein Gesicht immer so elegant eingerahmt hatten, waren ab und bedeckten nun kaum mehr die Ohren. Es war Jahre her, dass er sie derart kurz getragen hatte. Aber es stand ihm und ließ ihn auf eine gewisse Weise jünger wirken. Dennoch musste ich mich an den neuen Anblick noch etwas gewöhnen.

Wie von selbst fanden meine Finger den Weg in seine Haare, fuhren sacht durch sie hindurch und brachten sie noch ein wenig mehr durcheinander, um sie gleich darauf wieder in Ordnung zu bringen.

„Gefällt dir, hm?“

Es war keine wirkliche Frage, sondern vielmehr eine Feststellung. Die gleiche Prozedur hatte er schon gestern Abend über sich ergehen lassen dürfen. Nicht, dass er es nicht genoss. Schmunzelnd spürte ich, wie er sich etwas mehr in meine Berührung lehnte und genießerisch die Augenlider schloss.

„Ja. Obwohl mir deine bisherige Frisur auch immer gefallen hat.“

„Na ja, sie wachsen ja wieder nach. Aber momentan ist es einfach zu heiß, deshalb mussten sie runter. Weiß gar nicht, wie du das aushältst.“

„Das Geheimnis nennt sich Dutt und Handventilator.“

Meine Antwort brachte ihn zum Lachen. Ich liebte es, ihn so zu sehen, sein Lachen hatte immer etwas herrlich Befreiendes an sich, das mich niemals losließ.

„Und das Gute ist, jetzt brauchst du noch weniger Zeit im Bad.“

„Ach, damit du noch länger rumtrödeln und dir noch mehr Locken ins Haar drehen kannst?“

„Vielleicht?“

Ich versuchte mich an einem unschuldigen Blick, der nicht sonderlich glaubhaft war, so wie Toshiyas Augenbraue amüsiert nach oben zuckte.

„Ich glaube, darüber reden wir nochmal, mein Lieber.“
 

Ehe ich mich versah, zog mich Toshiya in einen festen Kuss, der jede Entgegnung im Keim erstickte und das leicht abgekühlte Kribbeln in mir erneut entfachte. Und der mir bewies, dass er das letzte bisschen morgendlicher Müdigkeit spätestens jetzt endgültig abgeschüttelt hatte. Statt den Kuss so schnell enden zu lassen, wie er gekommen war, wurde er immer tiefer und drängender.

Der Kerl schaffte es immer wieder mein Hirn in Sekundenschnelle in andere Richtungen zu treiben.

Ein kurzes Keuchen entfloh mir, als er mich unmissverständlich auf den Rücken drückte und sich über mich schob, ohne sich auch nur eine Sekunde von meinen Lippen zu lösen. Der Kuss, der schon fast nicht mehr als solches zu bezeichnen war, und das Gefühl nackter Haut auf meiner verstärkten die Hitze in meinen Unterleib. Fest schloss ich die Arme um Toshiya, zog ihn nachdrücklich an mich, was ihn leise in meinen Mund lachen ließ. Ihm entging nicht, was er in mir auslöste, was ihn natürlich noch mehr in seinem Tun bestärkte.

Seine Lippen wanderten über meinen Kiefer hinauf zum Ohr, unter das er einen kurzen Kuss setzte, bevor er sich meinem Hals widmete.

Mit geschlossenen Augen spürte ich seine Hände, die über meine Seiten strichen und seinen Mund, der immer tiefer über mein Schlüsselbein zu meiner Brust wanderte, noch intensiver.

Mit Mühe hielt ich den Atem unter Kontrolle, entließ nur hin und wieder ein zittriges Luftholen. Wenn das so weiterging, würden wir heute wieder nicht aus dem Bett kommen. Nicht, dass mich das sonderlich störte, aber…
 

„Toshiya?“

Sein bestätigendes Raunen vibrierte über meine Haut und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln und nicht von seinen Lippen ablenken zu lassen, obwohl ich diesen zu gerne nachgab. Auch auf die Gefahr hin, dass ich zum Stimmungstöter wurde, eine Frage brannte mir gerade auf der Zunge.

„Was… was hast du heute noch vor?“

Ich musste doch wissen, ob ich ihn heute teilen musste und wie lange ich das hier genießen durfte.

Der Blick, der mich von unten traf, war halb vorwurfsvoll, halb amüsiert.

„Du meinst hier nach?“

Ein Kuss landete knapp neben meinem Nippel, ehe er provokant mit der Zunge über ihn leckte, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Schief grinsend drückte ich mich leicht hoch und atmete kurz tief durch.

„Auch?“

„Oder meinst du nach dem Livestream-Interview, das ich mit Higuchi-San habe?“

Oh, das hatte ich glatt vergessen. Ein wissendes Lächeln traf mich, doch netterweise überging Toshiya meine kurzzeitige Gedächtnislücke, richtete sich ebenfalls ein Stück weit auf und rutschte zu mir nach oben.

„Ich vermute, ich bin hier. Oder in deiner Wohnung. Deine Katze fällt sonst noch vom Fleisch. Und wir kochen. Und…“ Er stahl sich einen schnellen Kuss, ehe er gegen meine Lippen raunte. „… dann machen wir noch ganz andere Dinge.“

Nicht ohne ein übertriebenes Augenzwinkern hinten ran zu setzen.

„Find ich gut und ja, machen wir.“

Ich spürte das Lächeln in unserem Kuss, als er den letzten Abstand überbrückte. Seine Worte prickelten auf meinen Lippen.

„Sehr gut. Denn wie ich schon mal sagte: Ich bin gerne bei dir. Wirklich gerne.“
 

Ende


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nachwort:
Hallo ^^ ich hoffe, das erste Kapitel hat euch gefallen und neugierig gemacht auf den Rest. Es wird insgesamt vier Kapitel geben.
Die Geschichte ist eine Mischung aus realen Ereignissen, beginnend November/Dezember 2020, und natürlich viel Fiktion, entsprungen aus meiner Interpretation und so wie ich es gerne möchte *lach* Wer wissen möchte, was davon alles real passiert ist, darf gern fragen.

Feedback wäre wie immer sehr hilfreich ^^
Liebe Grüße
Luna
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Nachwort:
Und da haben wir nun das zweite Kapitel ^^ ich hoffe wie immer, dass es gefallen hat. Es ist etwas Klarheit in Toshiyas Zustand gekommen, hoffentlich ist keiner enttäuscht, weil es kein riesiges dramatisches Geheimnis ist - also finde ich ^^" Ich wollte es einigermaßen realistisch halten.
Auch hier haben ich wieder einige reale Fakten eingebaut, wer mehr wissen will, darf ruhig fragen.

Über Feedback würde ich mich wie immer freuen <3

Liebe Grüße
Luna
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Nachwort
So, Ende ^^ es wurde vollbracht und ich hoffe sehr, es hat gefallen und war stimmig. Ich muss ja gestehen, dafür, dass sich die FF spontan aufgedrängt hat, lief sie für mich ganz gut und ich hänge auch an ihr, da sie die Geschichte ist, für die ich bisher am meisten recherchiert habe. Das heißt, es ist auch wirklich die Geschichte mit dem größten Bezug zur Realität. Eigentlich haben alle meine aktuelleren Geschichten immer mal eine kleine Verknüpfung dazu, aber bei der hier macht es gefühlt über die Hälfte aus *lach* Wenn nicht gar mehr. Nun ja. Ich hoffe, man liest sich mal wieder ^^

Liebe Grüße
Luna
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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  motti
2021-09-23T13:14:17+00:00 23.09.2021 15:14
Hi 🙃 ich bin nun durch und muss sagen, dass deine FF zwar leicht vorherschaubar war, aber so schön und fluffig geschrieben, dass es keinen Moment langweilig war.

Dankeschön! Hast du echt gut geschrieben und ich fand Dais Perspektive mal erfrischend anders.
Antwort von:  QueenLuna
23.09.2021 20:47
Na das freut mich wenns dir gefallen hat ^^danke für dein Feedback
Von:  yamo-chan
2021-08-11T17:03:32+00:00 11.08.2021 19:03
Hi ^^

"... hatte sich nebenbei ein, zwei Bierchen mehr gegönnt, als es für ein Interview gut war..." Die muss gerade reden XD

Oh ja, ich habe ein Bild gesehen, von dem Interview. Wirklich besorgniserregend 🙁

Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Antwort von:  QueenLuna
13.08.2021 08:28
Hallo ^^
Ich muss ja gestehen, dass ich das Interview von Mai letzten Jahres recht unterhaltsam fand, da Toshiya trotz seines Bierchens ziemlich Spaß hatte ^^ Im Dezember war das dann doch etwas anderes U_U und das hat mich nicht los gelassen.

In den nächsten Tagen kommt das nächste Kapitel.

Liebe Grüße
Luna
Von:  motti
2021-08-05T14:14:43+00:00 05.08.2021 16:14
Schön, dass es mal was neues gibt 😊👍 als ungeduldiger Leser warte ich aber mit dem Lesen, bis die FF abgeschlossen ist.
Antwort von:  QueenLuna
05.08.2021 23:23
Ah es freut mich, dass du Interesse an der FF hast ^^ mein Plan ist jede Woche ein Kapitel hochzuladen also kann du bestimmt Ende des Monats lesen ^^
Antwort von:  QueenLuna
27.08.2021 01:17
So die FF ist abgeschlossen xD
Von:  MarryDeLioncourt
2021-08-05T06:25:02+00:00 05.08.2021 08:25
Ui, das klingt sehr vielversprechend. Der arme Toshiya und Die macht sich sicher nicht ganz zu Unrecht Sorgen um seinen Bassisten. Ich mag diese beiden zusammen sehr 😍.
Liebe Grüße Marry
Antwort von:  QueenLuna
05.08.2021 23:26
Hey ^^ Es freut mich, dass es dir gefällt. Und ja, Die ist sicher auf feinfühliger als man denkt und hat bestimmt den richtigen Riecher. Und ich komm auch nie von den beiden los xD kann ja mittlerweile fast ein kleines Buch mit ihnen füllen *lach*
LG
Luna ^^


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