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Animus captimente

von

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[04. Mai] "Gebt mich nicht auf, bitte."

„Doktor Fujida?“

 

„Ja?“

 

„Macht Uruha Fortschritte?“ Reita zupfte unbehaglich an der Nagelhaut seines Daumens und ließ seinen Blick immer wieder vom Krankenbett zu der Ärztin und zurückwandern. „Ich meine … er ist nun schon über vier Wochen bei Ihnen und …“

 

Doktor Fujida sah von dem Klemmbrett am Fußende des Krankenbetts hoch, auf dem sie soeben die Vitalwerte ihres Patienten notiert hatte, und lächelte die beiden Männer mitfühlend an.

 

„Der Zustand Ihres Freundes ist unverändert. Es tut mir leid, Suzuki-san, ich würde Ihnen gern etwas anderes sagen. Aber seien Sie sich versichert, dass wir hier alles tun, um Herrn Takashima genau die medizinische Versorgung zukommen zu lassen, die ein Patient im Wachkoma braucht. Er ist hier in den besten und erfahrensten Händen.“

 

„Aber …“

 

Aoi riss den Blick von der Betrachtung seiner Schuhspitzen los und fixierte Reita, der blass und angespannt nah am Krankenbett stand. Ohne sich Gedanken darüber zu machen, was die Ärztin von ihnen halten mochte, umfasste er seine Hand. Ein schwaches Lächeln legte sich auf Reitas Lippen, als er seinen Blick erwiderte, und in den glänzenden Augen erkannte Aoi die Tränen, die auch er am liebsten vergossen hätte.

 

„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Rei“, murmelte er und umfasste mit der freien Hand Uruhas, streichelte über die Finger, die warm und etwas geschwollen von all den Infusionen reglos auf der blaugeblümten Decke lagen.

 

„Sie wissen ja, wie wichtig es ist, mit ihrem Freund zu reden. Erzählen Sie ihm von seinen Kollegen, von Dingen, die er gerne tut. Sie sind doch Musiker?“ Reita und Aoi nickten zeitgleich, ersparten sich jedoch eine verbale Antwort. „Dann spielen Sie ihm etwas vor oder lesen ein Buch für ihn. Menschen im Wachkoma brauchen immer wieder Reize von außen, um zurückfinden zu können.“

Aoi lächelte die Ärztin dankbar an, auch wenn er diese Ratschläge in den letzten Monaten schon viel zu oft gehört hatte.

„Ich lasse Sie jetzt mit Herrn Takashima allein. Zögern Sie nicht, zu klingeln, wenn Sie etwas benötigen.“

 

Sie nickten mechanisch, während ihre verzweifelten Blicke auf ihren Freund und Geliebten gerichtet blieben, dessen Augen nichtssehend an die Decke starrten. Hin und wieder blinzelte er, zuckte, als würde er träumen, aber wenn man genau hinsah, erkannte man hinter dem dunklen Braun seiner Iris lediglich den verzweifelten Kampf eines gefangenen Geists.

 

~*~

 

„Wie geht es ihm?“ Rukis und Kais hoffnungsvolle Gesichter waren wie ein Schlag in die Magengrube und Reita musste sich zusammenreißen, nicht einfach stumm an ihnen vorbeizugehen. Er glaubte, ihre unausgesprochenen Fragen ebenso hören zu können, wie die Worte ihres Managers vor einigen Tagen.

 

„Wie soll es eurer Meinung nach weitergehen, wenn Uruha nicht bald das Bewusstsein wiedererlangt? Wir können die Aktivitäten der Band nicht auf unbestimmte Zeit auf Eis legen. Es gibt Verträge, an die wir uns halten müssen, Sponsoren, die nicht ewig auf den nächsten Gig warten werden.“

 

Matt schüttelte er den Kopf und rieb sich über die Schläfen, hinter denen sich Kopfschmerzen zusammenbrauten.

 

„Sein Zustand ist unverändert.“

 

„Aber ich dachte, sie könnten ihm hier besser helfen? Spezialklinik, pah, für ‘n Arsch!“

 

„Ruki.“ Kai legte ihrem Sänger beschwichtigend eine Hand auf die Schulter, was ihn zumindest ein wenig zu beruhigen schien. „Ich bin mir sicher, dass sie hier alles tun, um Uruha zu helfen.“ Ruki schnaubte, sagte jedoch nichts weiter und senkte den Blick zu Boden.

 

Reita betrachtete die schmale Gestalt seines langjährigen Freundes und fühlte sich mit einem Mal so schuldig, als läge es einzig und allein an ihm, dass er keine besseren Neuigkeiten für ihn hatte. Rukis Gesichtsausdruck zeugte noch immer von Zorn und Ärger, aber wenn er genau hinsah, erkannte er dieselbe Verzweiflung, die auch er in sich trug.

‚Alles nur Fassade, um nicht zu zerbrechen‘, dachte er und musste ein verzweifeltes Auflachen mit aller Macht zurückhalten.

 

„Er braucht Zeit“, murmelte Aoi und klang dabei so erschöpft, dass er unwillkürlich einen Schritt auf ihn zumachte. Sein Liebster lächelte nur und wieder schlossen sich Finger um seine Hand, drückten kurz zu, als würde er ihn mit dieser kleinen Geste aufmuntern wollen.

 

„Wenn das alles ist, was wir im Moment für ihn tun können, dann werden wir ihm genau diese Zeit verschaffen.“ Kai straffte sichtbar die Schultern und wirkte so, als würde er in den Kampf ziehen wollen – eine Feststellung, die gar nicht so weit hergeholt war. Zeit für Uruha und damit auch für die Band herauszuschlagen, würde eine nicht zu unterschätzende Herausforderung werden.

 

„Können wir noch zu ihm?“ Ruki hatte sich von Kai losgemacht und war bereits ein paar Schritte auf die Tür des Krankenzimmers zugegangen, als er sich noch einmal zu ihnen umdrehte.

 

„Ja, nur nicht mehr allzu lang. Die Besuchszeit ist bald vorbei.“

 

„Kai, wie immer die Vernunft in Person.“ Reita versuchte sich an einem schiefen Lächeln, als ihn der Seitenblick ihres Leaders streifte.

 

„Einer von uns muss es ja sein.“ Kai nickte ihm zu, mehr ein Zeichen des Verständnisses als der Zustimmung, und verschwand nach Ruki durch die unscheinbare, weiße Tür.

 

„Lass uns nach draußen gehen. Ich brauch frische Luft“, bat Aoi und wer wäre er, ihm diesen kleinen Wunsch nicht zu erfüllen? Dennoch fiel es ihm schwer, dem Krankenzimmer und damit Uruha den Rücken zu kehren und mit jedem Schritt, der ihn von seinem Geliebten trennte, wurde sein Herz schwerer.

 

„Ich fühl mich so hilflos“, wisperte er, als sie durch die automatischen Schiebetüren nach draußen auf den Vorplatz der Klinik traten.

 

„Ich auch, Rei … ich auch.“

 

Unweit von ihnen war ein kleiner Bereich für Raucher überdacht und sie schlugen den Weg dorthin ein, während er in der Innentasche seiner Lederjacke nach der Packung Zigaretten suchte. Stumm hielt er sie Aoi hin, der sich eine der Kippen herausnahm und anzündete.

 

„Er würde mir die Hölle heißmachen, wüsste er, dass ich wieder zu rauchen angefangen habe.“

 

„Sobald er wieder wach ist, hören wir einfach gemeinsam damit auf, was hältst du davon?“

 

Aoi erwiderte seinen Blick für einen langen Moment schweigend, bis sich ein schmales Lächeln auf seine Lippen legte, das Reita mehr schmerzte, als hätte er mitansehen müssen, wie sein immer so starker Geliebter vor ihm in Tränen ausbrach.

 

„Gute Idee“, murmelte er mit heiserer Stimme und nahm einen langen Zug. „Er versucht ja schon seit Jahren, dir das Rauchen auszureden. Das wird ihn sicher freuen.“

 

„Na, dann, abgemacht.“ Er hielt seinem Gegenüber die Hand entgegen, die Aoi ergriff, kurz drückte, nur um ihn in eine unerwartete Umarmung zu ziehen. „Er wird es schaffen, hörst du? Uruha wacht wieder auf.“

 

Reita schloss die Augen und wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, den Worten seines Partners einfach nur glauben zu können.

[09. Juni] "Ist heute mein Geburtstag?"

Munteres Vogelgezwitscher riss ihn aus einem unruhigen Schlaf. Sein erster und sehr missmutiger Gedanke galt ihrer defekten Klimaanlage, die sie seit Tagen dazu zwang, der sommerlichen Hitze dadurch zu entfliehen, nachts die Fenster geöffnet zu lassen. Er verkniff sich ein Stöhnen, das sich ohnehin nicht hätte entscheiden können, ob es frustriert oder schlichtweg erschöpft hätte klingen wollen, und öffnete die Augen. Sie brannten und sein Blick war verschwommen, als er für eine lange Weile lediglich an die weiße Schlafzimmerdecke starrte. Er fühlte sich, als wären seine Gedanken in zäher Gelatine gefangen und seine Gliedmaßen tonnenschwer. Wann hatte er das letzte Mal gut geschlafen? Wann war er aufgewacht, ohne sich ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte zu fühlen? Vermutlich Ende Januar, nach ihrer nicht enden wollenden Neujahrstour – definitiv noch vor Uruhas Unfall. Uruha. Seine Lider waren geschwollen, als er sie senkte und versuchte, nicht in der Trauer zu ertrinken, die wie eine Sturmflut über ihn hereinzubrechen drohte.

 

Er drehte den Kopf zur Seite, fixierte Aoi, der mehr als eine Armeslänge von ihm entfernt beinahe am Rand des Bettes lag. Er hatte die Decke wie einen Kokon um sich geschlungen, wirkte so schmal und verletzlich, dass er es kaum ertrug, ihn anzusehen. Das Bett war zu groß für sie beide und egal wie oft sie versuchten, in der Mitte, in den Armen des jeweils anderen, Ruhe und Frieden zu finden, über Nacht drifteten sie immer auseinander. Als wären sie zwei Planeten, denen ihr Stern genommen worden war und die nun ohne seine Gravitation haltlos durchs Weltall taumelten, sich immer weiter voneinander entfernten.

 

Plötzlich brannten seine Augen verräterisch. Er wendete sich ab, schlug die Decke zurück und schob die Beine über die Bettkante. Langsam erhob er sich, atmete tief durch. Sein Kreislauf war in letzter Zeit nicht der beste und so musste er für einen Moment innehalten, bis der Schwindel und die schwarzen Punkte vor seinen Augen verschwanden. Rukis besorgte Sticheleien, er wäre nur noch ein halbes Hemd, waren mittlerweile nicht mehr von der Hand zu weisen. Er strich über seinen Oberkörper, folgte seinen Fingern mit Blicken, die keine Mühe hatten, die sich abzeichnenden Rippen nachzufahren. Er war immer so stolz auf sein Aussehen gewesen, hatte Stunden im Fitnessstudio verbracht, aber seit Uruha nicht mehr hier war, erschien ihm das Training so sinnlos. Sinnloser fast als essen, wobei ihn sein Körper daran wenigstens regelmäßig erinnerte.

 

Die Dusche war eine unspektakuläre Angelegenheit, war doch auch sie, genau wie ihr Bett, plötzlich viel zu groß. Er wollte nicht an die vielen Momente der Leidenschaft denken, die sie hier gemeinsam verbracht hatten, aber die Erinnerungen lauerten überall in dieser Wohnung. Nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen erschien ihm die Möglichkeit, sich etwas Eigenes zu suchen, um Abstand von allem zu gewinnen, sehr verlockend. Er hasste sich für diese Schwäche, allein für den Gedanken, Aoi im Stich zu lassen, aber manchmal …

Energisch schüttelte er den Kopf, drehte das warme Wasser ab und begann, sich grob abzutrocknen. Es wurde Zeit, dass er sich wieder unter Kontrolle brachte. Aoi brauchte ihn und Uruha brauchte ihn … besonders heute.

 

Mit noch feuchten Haaren, geputzten Zähnen und einem Handtuch um die Hüfte geschlungen betrat er erneut ihr Schlafzimmer. Leise zog er die Jalousien auf und kniete sich vors Bett.

„Aoi“, wisperte er, zupfte an der Bettdecke, bis er das Gesicht seines Liebsten freigelegt hatte und hauchte einen sanften Kuss auf die spröden Lippen. „Aufstehen.“

 

„Uru, lass mich …“, nuschelte Aoi kaum verständlich, aber leider hatte er genug gehört. Reitas Herz zog sich schmerzhaft zusammen und nur ein beherzter Biss auf seine Unterlippe verhinderte, dass ihm ein verzweifeltes Wimmern entkam. Sein Partner hatte sich murrend von ihm weggedreht und obwohl er wusste, dass er im Begriff war, absolut irrational zu reagieren, konnte er nicht verhindern, dass für einen Augenblick unendliche Wut in ihm hochstieg. Wie konnte ihm Aoi das antun? Wie konnte er ihn so verletzen, ohne es überhaupt zu bemerken? Er atmete tief durch, kniff die Augen zusammen und presste Zeige- und Mittelfinger gegen seine Nasenwurzel. Es war dumm, so zu empfinden, dumm und kindisch und dem anderen gegenüber nicht fair. Sichtbar straffte er die Schultern, öffnete die Augen wieder und richtete sich auf, nur um sich vorsichtig auf die Bettkante zu setzen.

 

„Hey, alter Mann, erheb deine müden Knochen.“ Er streichelte Aoi über den Rücken, fühlte das kurze Erschauern, bevor sich der Körper vor ihm wie ein übergroßer Kater zu rekeln begann.

 

„Charmant wie immer.“ Sein Gegenüber drehte sich herum, legte einen Arm hinter seinen Nacken und zog ihn tiefer, um mit noch immer geschlossenen Augen seine Lippen zu finden. „Konntest du schlafen?“ Reita lächelte dünn, während er sich fragte, wann sie von ‚Gut geschlafen?‘ zu ‚Konntest du schlafen?'gewechselt waren.

 

„Nicht gut, aber besser als die letzten Tage.“ Sein Liebster musterte ihn stumm, eine steile Sorgenfalte zwischen den Brauen, die er mit dem Daumen zu glätten versuchte. „Mir geht es gut.“

 

„Ach, Rei …“ Aois Hand legte sich auf seine Schulter, zog ihn nach unten, bis er ihn richtig umarmen konnte. Er konnte spüren, dass seinem Partner etwas auf der Seele lag, aber der andere war noch nie gut mit Worten gewesen und Reita wusste, dass er ihm Zeit geben musste. Ihn zu drängen, würde nur den gegenteiligen Effekt haben. So seufzte er nur leise, schmiegte sich stärker gegen den schlafwarmen Körper und stellte sich für einen herrlichen Augenblick vor, Uruha wäre nur schon aufgestanden, während Aoi und er noch ein wenig dösten. Irgendwann würde ihr Geliebter auf bemüht leisen Sohlen hereinschleichen, wobei es nicht auszuschließen war, dass er vor lauter Übereifer mit dem Zeh an der Ecke der Kommode oder des Bettes hängen bleiben würde. Er konnte sein jammerndes Fluchen beinahe hören und das unterdrückte Lachen spüren, das nicht nur in seiner Brust kitzeln würde. Verflucht, er würde alles geben, um noch einmal so einen kostbaren Augenblick erleben zu dürfen. Seine Augen waren feucht geworden und beschämt wollte er sich erheben und wegdrehen, Aoi ließ das allerdings nicht zu.

„Ist okay“, wisperte er, streichelte über seine Wange und als er den Blick hob, erkannte er den gleichen, verräterischen Glanz in den dunklen Augen, der sich auch in seinen widerspiegeln musste. „Versteck dich nicht vor mir, bitte.“

 

Er nickte, schloss die Augen erneut und fand Aois Lippen, die ihm in dieser Sekunde wie ein rettender Anker vorkamen.

 

~*~

 

„Was machst du denn da Schönes?“ Aoi betrat die Küche und brachte den vertrauten Duft seines Duschgels mit sich. Unbewusst atmete Reita tief ein, bevor er sich von der Arbeitsplatte abwendete, um ihn ansehen zu können.

 

„Du wirst es nicht glauben, aber ich versuche mich an einem Erdbeerkuchen. Vermutlich wird es auf Dessert im Glas hinauslaufen, aber niemand kann mir vorhalten, ich hätte es nicht versucht.“

 

„Wie kann es sein, dass ich nach all den Jahren noch immer Facetten an dir entdecke, die mich sprachlos machen?“

 

„Du weißt doch, dich sprachlos zu machen, ist der Sinn meines Lebens.“ Er lächelte breit, als sich Aois Arme um seine Mitte legten und warme Lippen über seinen Hals kosten.

 

„Dann versprich mir, dass du diesen Sinn nie verlieren wirst.“

 

Reita schluckte, nickte jedoch und drückte Aoi ganz fest an sich, die unsinnige Angst verdrängend, er könnte wie einer dieser einsamen Exoplaneten davonfliegen, würde er ihn loslassen.

Nur widerwillig löste er sich eine ganze Weile später, hielt jedoch in jeder Bewegung inne, als sich schmale Finger um den Ehering schlossen, den er seit Uruhas Unfall an einer Kette um den Hals trug. Die Finger seines besten Freundes waren durch die vielen Infusionen immer zu geschwollen, um ihn noch länger tragen zu können und dafür, ihn im Krankenhaus zu lassen, war das Kleinod viel zu kostbar. Also hatten sie sich für die pragmatischste Lösung entschieden – einer von ihnen würde ihn tragen, solang Uruha es nicht konnte.

 

„Ich bin froh, dass du auf ihn aufpasst.“ Die Morgensonne, die durch das Fenster in der Küche fiel, spiegelte sich im Weißgold, als Aoi den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, und blendete ihn für einen Augenblick.

 

„Ich bin noch immer der Meinung, dass du ihn tragen solltest.“

 

„Unsinn“, entgegnete sein Partner beinahe unwirsch, zog die Finger zurück und legte stattdessen die Hand genau über das Schmuckstück auf seine Brust. „Uruha hätte das genau so gewollt.“

 

Reita lächelte, schob seine Hand über die Aois und schaute ihm für einen langen Moment tief in die Augen.

„Da wir das jetzt geklärt hätten …“, murmelte er fast ein wenig beschämt, „lass mich mal weiterarbeiten.“ Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück, nicht aber, ohne sich vorher noch einen Kuss zu stehlen. „Die Besuchszeit beginnt ab neun, ich will so früh wie möglich bei unserem Geburtstagskind sein.“

 

„Rei …“ Er hatte sich gerade wieder zur Arbeitsplatte drehen wollen, aber der seltsame Unterton in Aois Stimme ließ ihn innehalten.

 

„Was denn?“

 

„Mir ist bewusst, dass wir heute Uruha besuchen wollten, um seinen Geburtstag mit ihm zu verbringen, aber …“

 

„Was, aber? Kai hat uns extra deswegen den freien Tag herausgeschlagen. Ich weiß, dass Ruki ein Meeting mit seinem Designerteam für die neue Kollektion hat, aber selbst er will nachkommen. Wo liegt also das Problem?“

 

„Ich sag ja nicht, dass es ein Problem gibt. Es ist nur … die Aufnahmen sind wichtig und …“ Aoi hob beide Hände in einer Geste, die wohl beschwichtigend wirken sollte, die in Reitas ohnehin prekärer Verfassung jedoch genau die gegenteilige Wirkung hatte.

 

„Du willst mir nicht allen Ernstes sagen, dass irgendetwas wichtiger ist, als an Uruhas Geburtstag bei ihm zu sein?“ Aufgebracht hatte er Aois Rechtfertigungsversuche unterbrochen und funkelte ihn nun aus verengten Augen an.

 

„Reita, verdammt, hör mir doch mal zu!“ Er blinzelte, geschockt von Aois Ausbruch. Sein Partner wurde nie laut, nie, und doch stand er ihm nun gegenüber, schwer atmend und mit einer kaum unterdrückten Rage in den Augen. „Denkst du wirklich, ich tu das, um dir wehzutun? Oder weil es mir egal ist, dass Uruha heute Geburtstag hat? Hältst du wirklich so wenig von mir?“

 

„Aoi … ich … nein …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern und war einen Schritt auf den anderen zugegangen, wusste gerade jedoch nicht, wie er mit ihm umgehen sollte. Seine Hand war auf halber Höhe eingefroren, hing zwischen ihnen wie ein Friedensangebot, bis er sie unverrichteter Dinge wieder sinken ließ.

 

„Ich muss heute noch mal ins Studio, weil wir gestern mit den Aufnahmen nicht fertig geworden sind. Ich hatte so sehr gehofft, dass es kein Problem für mich sein würde, aber es fällt mir so verflucht schwer, Uruhas Parts einzuspielen.“ Aoi rieb sich über die Augen, ließ geschlagen die Schultern hängen. „Die Deadline ist morgen, Reita, das weißt du so gut wie ich.“

 

„Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“, wisperte er, öffnete die Arme und war unendlich erleichtert, als sich Aoi gegen ihn lehnte. Er küsste den schwarzen Schopf, vergrub das Gesicht an seiner Halsbeuge und versuchte, sein aufgewühltes Gemüt mit tiefen Atemzügen wieder zu beruhigen.

 

„Die neuen Lieder sind es nicht mal und es liegt auch nicht an seiner Technik, obwohl sie so anders ist als meine …“, redete Aoi weiter, als hätte er ihn nicht gehört. Das war es also, was ihm so schwer auf der Seele gelegen hatte. Reita schloss für einen tiefen Atemzug die Augen. Diese Momente, in denen ihm schmerzlich bewusst wurde, wie sehr Uruha in ihrer Mitte fehlte, waren unerträglich. Sein bester Freund hätte genau gewusst, was er tun oder sagen musste, um Aoi einen Teil seiner Last von den Schultern zu nehmen. Er hingegen fühlte sich in solchen Situationen nur schrecklich überfordert und wusste nie, was er tun konnte.

„Es ist so schwer, die Melodien spielen zu müssen, die nur die seinen sein sollten.“ Aois Finger bohrten sich in seine Schultern und er konnte das Zittern spüren, das den schmalen Körper durchfuhr. „Ich weiß, dass ich das schaffen muss, und ich werde es auch durchziehen, aber …. Reita, es tut einfach nur weh.“

 

„Lass mich dir helfen. Ich bin zwar kein Gitarrist, aber auch kein Anfänger. Ich kenne meine Saiten und die Begleitriffs hab ich in ein Paar Durchgängen drauf.“

 

Aoi hob den Kopf und sah ihm für einen langen Moment in die Augen, bevor er zögerlich verneinte.

„Versteh mich nicht falsch, ich weiß, dass du das draufhast, aber … Ich muss das für ihn tun, allein, das bin ich ihm schuldig.“

 

„Aber doch nicht nur du allein.“ Reitas Stirn legte sich in Falten, während er seinen Freund ungläubig musterte. „Wir alle wollen ihm mit dem Album Zeit verschaffen, da bist du doch nicht mehr oder weniger in der Pflicht.“ Reita löste sich ein kleines Stück, um Aoi in die Augen sehen zu können. „Wir hätten uns doch nach einem Support-Gitarristen umsehen sollen. Es ist einfach zu viel, was du dir zumutest.“

 

„Dafür ist es jetzt ohnehin zu spät. Außerdem … ich brauch das, so widersprüchlich sich das auch anhören mag.“

 

„Aber …“

 

Vehement schüttelte sein Partner den Kopf.

„Nimm mir das nicht, Reita.“ Das Flehen in Aois Stimme war so deutlich zu hören, dass er den verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht gar nicht hätte sehen müssen, um zu wissen, was gerade in ihm vorging. Und wieder wurde ihm nur zu deutlich vor Augen geführt, dass er ein Versager war, wenn es um soziale Interaktionen ging. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, aber sein Halt um Aois Schultern war schwacher geworden.

„Es ist das Einzige, was ich aktiv für ihn tun kann, Rei. Vermutlich ist das egoistisch von mir, aber ich muss das tun, so schwer es auch ist.“

 

„Bist du dir sicher, dass du dich damit nicht für etwas bestrafst, wofür du nichts kannst?“, versuchte er halbherzig an Aois Vernunft zu appellieren, hatte aber auch damit keinen Erfolg.

 

„Kann ich nicht?“ Sein Liebster lachte trocken auf und nun war Reita sich sicher, Tränen in seinen Augen erkennen zu können. „Hätte ich mich an diesem Abend nicht mit ihm gestritten, wäre er nie auf die dumme Idee gekommen, bei schlechter Witterung mit dem Fahrrad wegzufahren.“

 

~*~

 

Natürlich gab es keinen Erdbeerkuchen, was hatte er sich auch vorgemacht? Er war kein Ass in der Küche, wie Kai eines war, und nach dem Gespräch mit Aoi war er froh gewesen, überhaupt noch irgendetwas Vorzeigbares aus den Zutaten herauszubekommen. Die kleinen Gläser, in die er seine verunglückte Kreation gefüllt hatte, klirrten, als er den Plastikkorb von der rechten in die linke Hand nahm, um die Klinke des Krankenzimmers herunterdrücken zu können. Er atmete tief durch, zauberte von irgendwo ein Lächeln auf seine Lippen und betrat den Raum. Jedes Mal erwartete er steriles Weiß und war überrascht von den Farbklecksen, die sich hier und da verteilten. Über Uruhas weißes Bettzeug schlängelten sich grüne, lianenartige Muster, die Vorhänge waren sonnengelb und irgendwer hatte einen Strauß bunter Wiesenblumen geschickt.

 

„Hast du einen Verehrer, von dem ich nichts weiß?“, erkundigte er sich scherzend, stellte seine Mitbringsel auf den kleinen Tisch in der Ecke und ging an das Krankenbett heran. Sanft streichelte er über die dunkelblonden Haare mit dem bereits mehrere Zentimeter breiten schwarzen Ansatz. „Ach, Ducky, du brauchst wirklich einen Friseur.“ Sein Geliebter hätte beim Zustand seiner Haare die Hände über den Kopf geschlagen, hätte er sich so sehen können. Aber genau da lag das Problem. Uruha sah nichts, obwohl seine Augen geöffnet waren. Er bekam nichts um sich herum mit, obwohl sich Reita ab und an einbildete, in einem unbewussten Zucken oder Naserümpfen eine Antwort lesen zu können. Aber nein, das war alles nur Wunschdenken. Sein bester Freund war in sich selbst gefangen und es gab nichts, was er für ihn tun konnte. Er kniff die Augen zusammen, ballte die Rechte zur Faust und krümmte sich, als erneut grenzenlose Wut in ihm aufstieg. Er fühlte sich so verflucht hilflos.

 

Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis er wieder klar denken konnte. Aber irgendwann richtete er sich auf, straffte die Schultern und erkannte verwundert die vereinzelten, dunklen Flecken, die seine Tränen auf der Bettdecke hinterlassen hatten. Er hatte geweint? Unwirsch rieb er sich über die feuchten Wangen und räusperte sich.

 

„Sorry, kommt nicht wieder vor.“ Er verlieh seiner Stimme einen bemüht fröhlichen Unterton, als er sich für einen Moment von Uruha wegdrehte und die Blumen näher inspizierte. „Dann wollen wir doch mal sehen, wer dir diese Schönheiten hier geschickt hat. Ich würde dir ja beschreiben, welche Blumen es genau sind, aber dafür bräuchte ich erst einmal ein Lexikon.“ Er hielt inne, das dünne Kärtchen noch ungelesen in der Hand, auf dem vermutlich der Absender stand. „Gibt es so was überhaupt? Ein Blumen-Lexikon, mein ich? Wenn es so was gibt, hast du es bestimmt zu Hause. Ich schau heute Abend gleich mal nach, dann kann ich sie dir morgen beschreiben, was hältst du davon? Aber auf jeden Fall sind die Dinger echt schön. Rot und gelb und so ein verbranntes Orange, was mich irgendwie an unsere ersten Färbeversuche erinnert. Weißt du noch, als du dir in den Kopf gesetzt hast, dass mir blond unheimlich gut stehen würde? Ich hatte monatelang eine kahle Stelle am Hinterkopf.“ Er lachte, bildete sich fast ein, Uruhas verschmitztes Kichern hören zu können, aber als er den Blick auf seinen Freund richtete, hatte sich nichts an ihm verändert. Uruha blinzelte, nur ein Reflex, wie ihm die Ärzte ein ums andere Mal bestätigt hatten, blinzelte erneut und noch mal …

 

„Also …“ versuchte er weiterzureden, aber seine Stimme war so dünn und brüchig geworden, dass es ihn zwei Anläufe kostete. „Die Blumen sind von deiner Ma. Jetzt wo ich den Absender lese, fällt mir auch wieder ein, dass sie mir am Wochenende gesagt hat, dass sie dir welche schicken will.“ Er lachte gezwungen und schüttelte den Kopf. „Ich sag es dir, mein Hirn ist momentan wirklich ein Sieb. Sie wollen dich am Sonntag besuchen kommen, freust du dich schon?“ Er lächelte schief, wussten sie doch beide, dass Uruha mit seinen Eltern in der Vergangenheit nicht immer so gut ausgekommen war. Aber eines musste er ihnen lassen, seit ihr Sohn im Koma lag, kümmerten sie sich rührend um ihn und erkundigten sich mehrmals die Woche nach seinem Befinden, weil sie nicht selbst bei ihm sein konnten. Mittlerweile war auch das leidige Thema Uruhas unkonventioneller Partnerwahl komplett in den Hintergrund gerückt und wenn sein Unfall auch nur ein einziges Gutes hatte, dann das, dass Aoi und er nun zur Familie gehörten.

 

„Ich hab dir übrigens auch etwas mitgebracht“, sprach er weiter, nachdem er den Weg aus seinen eigenen Gedanken wiedergefunden hatte. „Es hätte ein Erdbeerkuchen werden sollen, aber na ja, du kennst mich und meine nicht vorhandenen Backkünste ja. Ich bin sowieso der Meinung, dass sich Erdbeerdessert im Glas viel nobler anhört, findest du nicht auch? Ich geh mal zum Pflegepersonal, besteche sie mit etwas Kuchen, und dann komm ich mit deinem Essen wieder, okay?“ Er küsste Uruhas spröde Lippen, griff nach dem kleinen Tiegel mit Balsam, der auf dem Nachttisch stand, und verteilte eine dünne Schicht auf ihnen. „Wir wollen ja nicht, dass dein Schmollmund verschrumpelt, nicht?“ Er grinste, wartete fast schon darauf, dass sich Uruhas Brauen empört zusammenziehen würden, aber das Gesicht vor ihm blieb glatt und ausdruckslos. Sein Lächeln war traurig, als er ihm noch einen Kuss auf die Stirn drückte und das Zimmer verließ. „Ich komm gleich wieder.“

 

„Ah, Reita-kun, bist du heute ganz allein hier?“ Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, sprach ihn eine vertraute Stimme von der Seite her an.

 

„Schwester Karen, guten Morgen. Ja, Aoi und meine Kollegen müssen noch was erledigen, sie kommen aber später noch vorbei.“

 

„Oh, wie schön. Da wird sich das Geburtstagskind freuen.“ Sie setzten sich in Bewegung, Schwester Karen geschäftig auf das Klemmbrett in ihrer Hand sehend, während ihr Reita samt klapperndem Korb folgte. „Was trägst du hier denn Interessantes mit dir herum?“

 

„Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie und Ihre Kollegen leer ausgehen, wenn Uruha Geburtstag hat?“

 

„Oh.“ Die Augen der älteren Krankenschwester strahlten, während sie versuchte, einen Blick in den Korb zu erhaschen. „Sehe ich da Erdbeeren?“ Reita nickte und für einen Augenblick war ihre Freude ansteckend, als sich das erste, ehrliche Lächeln des Tages auf seine Lippen legte.

 

Im Schwesternzimmer angekommen stellte er seine Mitbringsel auf dem runden Besprechungstisch ab und wurde sogleich von zwei ihm mittlerweile nur allzu bekannten Pflegern umringt, die neugierig in den Korb spähten.

 

„So, wie ihr reagiert, möchte man meinen, die geben euch hier nichts zu essen.“

 

Einer mit Hornbrille, der seine schulterlangen Haare in einem strengen Pferdeschwanz trug und sich vor Wochen als Takeshi, nicht der Showmaster, vorgestellt hatte, blickte auf und ihm mit skeptisch hochgezogener Augenbraue ins Gesicht.

 

„Wenn du dich fast nur von Krankenhausessen ernähren müsstest, würdest du genauso gucken, glaub mir.“

 

„Oh, du armer Mensch.“

 

„Ich weiß.“

 

Sein Kollege, ein Schmächtiger mit kurz geschorenen Haaren, hatte derweilen kleine Löffel organisiert und hielt eine Tasse fragend hoch.

„Willst du Kaffee?“

 

„Unbedingt. Ich würde nur gern wieder zu Uruha zurück.“

 

„Kein Problem, bringst die Tasse einfach vorbei, bevor du gehst.“

 

„Klar.“ Er lächelte und war den Schwestern und Pflegern hier nicht zum ersten Mal dankbar dafür, dass sie sich nicht nur so gut um Uruha kümmerten, sondern auch ihn mehr oder weniger in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten.

 

Schwester Karen setzte sich seufzend und streckte die Beine aus, während sie über die Schulter zu dem Schmächtigen schaute.

 

„Umino? Schau mal, ob wir noch Sondennahrung mit Erdbeergeschmack dahaben.“ Zu ihm gerichtet meinte sie: „Dann hat dein Freund wenigstens annähernd was von seinem Geburtstagskuchen.“

 

Reita nickte, als ihm Umino das Fläschchen Sondennahrung und eine Tasse dampfenden Kaffees in die Hände drückte und hoffte, dass die anderen nicht sehen konnten, wie gerührt er gerade war.

„Danke“, setzte er mit rauer Stimme nach. „Dann lasst es euch mal schmecken.“

 

„Werden wir.“ Eine Hand klopfte ihm auf die Schulter und Takeshis grinsendes Gesicht schob sich in sein Blickfeld. „Aber ich komm schnell noch mit und serviere unserem Ehrengast den ersten Gang, okay?“

 

~*~

 

Wie geplant hatte er den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht. Er hatte Takeshi geholfen, Uruha zu waschen, hatte ihm die Haare gekämmt und dafür gesorgt, dass sich sein Geliebter hoffentlich etwas wohler in seiner Haut fühlte. Er hatte ihm vorgelesen, ihm von ihren Plänen die Band betreffend erzählt und sich mit ihm unterhalten, obwohl er natürlich nie eine Reaktion erhielt. In der Anfangszeit hatte er sich unglaublich gehemmt gefühlt, waren seine Versuche, ganz normal mit Uruha zu reden, eine wahre Kraftanstrengung gewesen. Mittlerweile jedoch störte er sich kaum noch daran, nie eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten. Wie an so vieles, das der Unfall verändert hatte, hatte er sich auch daran gewöhnt. Manchmal fragte er sich allerdings, ob das eine so gute Entwicklung war. Zeigte das Fehlen von Unwohlsein nicht, dass er sich mit der Situation arrangiert hatte? Hatte er unterbewusst womöglich schon die Hoffnung aufgegeben, dass sein bester Freund jemals wieder aufwachen würde?

Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, während seine Finger über die Saiten von Uruhas schwarzer Akustikgitarre huschten. Auch heute hatte er sie mitgebracht, wie er es immer tat, wenn er ihn besuchte, und entlockte ihr eine ruhige, fast traumwandlerische Melodie. Er überlegte nicht, was er spielte, sein Blick ging nachdenklich aus dem Fenster, wo die Sonne langsam hinter den hohen Mauern des Krankenhauses versank. Trotz der späten Stunde glaubte er, die Luft noch immer flirren zu sehen, aber vielleicht waren es auch nur Insekten, die die anhaltende Wärme genossen. Leises Summen begleitete sein Spiel – ein Lied ohne Worte. Plötzlich vibrierte sein Handy in seiner Hosentasche und ließ ihn abrupt innehalten.

„Ruki hat geschrieben“, durchbrach er reflexartig die eingetretene Stille im Raum und öffnete die Nachricht, nachdem er die Gitarre von seinem Schoß genommen hatte.

 

[19:32]

»Meeting beendet. Bin total am Ende. Migräne. Besuche Uruha am WE. Sorry. R.«

 

Es gab eine Zeit, in der er ausreichend Kraft gehabt hätte, sich nun Sorgen um ihren Sänger zu machen. Die Regelmäßigkeit von Rukis Kopfschmerzen hatte in den letzten Monaten im gleichen Maße zugenommen, wie sich die Sorgenfalten stetig tiefer in seine Haut gruben. Reita wusste, wie sensibel sein Kollege war, auch wenn er immer alles daran setzte, sich und die Welt vom Gegenteil zu überzeugen. Dennoch entlockte ihm seine Mitteilung gerade nur ein resigniertes Seufzen.

 

[19:36]

»Schon gut, ruh dich aus.«

 

Während er die Nachricht absendete, versuchte er diese nagende Empfindung, die sich ganz nach Verrat anfühlte, herunterzuschlucken. Uruha war es schließlich einerlei, ob er heute oder am Wochenende von Ruki Besuch bekam und nur das zählte. Er hatte also kein Recht, sich nun im Stich gelassen zu fühlen.

 

„Ruki kommt erst am Wochenende“, begann er mit bemüht fröhlicher Stimme seinen laufenden Kommentar, den er sich angewöhnt hatte, immer, wenn er bei Uruha war. Wie ein Moderator oder eine Schallplatte mit Sprung. Immer redend, immer bemüht aufgeweckt, nur um nicht heulend an seiner Seite zu sitzen und ihn anzuflehen, endlich wieder aufzuwachen. „Sei ihm nicht böse, er hatte den ganzen Tag mit seinem Designerteam zu tun und jetzt plagen ihn Kopfschmerzen.“ Reita erhob sich, stellte die Gitarre vorsichtig beiseite und beugte sich über Uruha, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Er fängt schon an wie du, mit diesen ekelhaften Migräneanfällen. Sobald du wieder wach bist, musst du ihm ein paar Tipps geben, mh?“

Ohne es zu wollen, wurden seine Augen erneut feucht und er musste sich abwenden, um sich zu sammeln. Verdammt, warum kam Aoi nicht? Er hatte es doch versprochen.

 

Sein Blick fiel auf ein kleines, rotes Buch, das neben Fläschchen und Tiegeln mit verschiedenen Tropfen und Salben auf dem Nachttisch lag. Eines der vielen Notizbücher seines Freundes. Er hob es hoch, strich über den Ledereinband, dessen Ecken bereits deutliche Abnutzungsspuren aufwiesen. Es gab so viele Gelegenheiten, an die er sich erinnerte, zu denen er Uruha mit diesem oder einem anderen Büchlein vorgefunden hatte. Sie waren ihm immer wie ein Schatz vorgekommen, ein Tor in die Gedankenwelt seines besten Freundes. Aoi hatte einmal scherzhaft gemeint, dass Uruha ohne diese Bücher nicht überleben konnte und so makaber es auch klingen mochte, vielleicht hatte er recht. Selbst in seiner kopflosen Wut, im Eisregen auf dem Fahrrad unterwegs, hatte er eines von ihnen dabei gehabt. Dieses hier, und Reita hatte darauf bestanden, dass es bei ihm bleiben musste. Denn was wäre, würde sich Aois flapsige Vermutung als Wahrheit herausstellen? Himmel, wenn sein Geliebter seine Gedanken nun hören könnte, würde er nur wieder den Kopf über seine abergläubischen Anwandlungen schütteln. Durch die Nase schnaubend legte er das Buch vorsichtig zurück.

 

„Tut mir leid, ich war in Gedanken“, murmelte er und drehte sich wieder zu Uruha um. „Ist bestimmt nicht angenehm für dich, wenn du weißt, dass jemand bei dir ist, aber nicht mit dir spricht. Kommt nicht wieder vor.“ Er zeichnete Uruhas rechte Braue mit dem Daumen nach und wischte vorsichtig ein Sandkörnchen aus seinem Augenwinkel. „Pfleger Takeshi meinte, ich kann dir noch deine Augentropfen geben, bevor ich gehe. Denkst du, wir zwei kriegen das hin?“ Er lächelte auf Uruha herab, der blinzelte und weiterhin ins Leere starrte. Was er wohl sehen mochte? Sah er überhaupt etwas oder befand er sich in der vollkommenen Schwärze eines Traums? „Hoffentlich helfen die Tropfen“, redete er vor sich hin und streichelte über die strohigen Haare. Uruha war immer so stolz darauf gewesen, dass sein Haar das viele Färben so gut mitmachte, dass es seidig und glänzend blieb, aber davon war mittlerweile nichts mehr zu spüren. „Ich hab wirklich Sorge, dass deine Augen zu trocken werden, gerade wo doch die ganze Zeit wieder Pollen in der Luft sind. Aber Takeshi-kun meint, sie haben hier gute Erfahrungen damit gemacht.“ Ohne den Blick von seinem Freund zu nehmen, tastete er nach dem weißen Plastikfläschchen, stieß dabei jedoch das rote Buch vom Nachttisch, das mit einem dumpfen Laut zu Boden fiel.

 „Mist“, maulte er und bückte sich, um es wieder aufzuheben. Als sein Blick jedoch auf die aufgeschlagenen Seiten fiel, hielt er wie erstarrt inne.

 

HELFT MIR!

 

Er blinzelte, ungläubig auf die beiden Worte starrend, die mit roter Farbe grob über beide Seiten geschrieben waren.

„Was zum …“ Mit zitternden Fingern griff er nach dem Buch, richtete sich wieder auf und hob wie in Zeitlupe den Kopf. Mit geweiteten Augen starrte er auf die reglose Gestalt im Bett, die nichts weiter tat als zu atmen, zu blinzeln und hin und wieder die Nase zu rümpfen. In seinen Ohren rauschte es, während er sich nicht traute, den Gedanken zuzulassen, der wie mit langen, spitzen Fingernägeln über die Innenwände seines Schädels zu kratzen schien.

 

‚Uruha hat das geschrieben!‘

 

Er schluckte, seine Knie zitterten so stark, dass er sich an der Ecke des Nachttischs festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wie betäubt ließ er sich auf die Bettkante sinken, den Blick nun starr auf die beiden Worte gerichtet, die sich wie rote Mahnmale in seine Retina brannten.

 

HELFT MIR!

 

Wie war das möglich?

Seit wann standen diese Worte hier?

Wieso?

 

Als sich die Tür öffnete, zuckte er so heftig zusammen, dass ihm das Buch aus den Fingern rutschte und unter das Bett fiel. Mit geweiteten Augen sah er auf, starrte den Pfleger an, als hätte er ihn noch nie gesehen.

 

„Tut mir leid, dass ich euch stören muss, aber die Besuchszeit ist bald vorbei.“ Takeshi lächelte ihn an, bis sich Verwirrung über sein Gesicht legte und er ihn prüfend zu mustern begann. „Reita-kun, geht es dir nicht gut? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

 

~*~

 

„Aber wenn ich es dir doch sage, es stand hier!“ Reita blätterte hektisch in dem roten Buch, hatte mittlerweile jede Seite bestimmt schon vier Mal angesehen, doch von der Nachricht war keine Spur mehr. Bis zur Hälfte waren die Seiten mit Uruhas kleiner, präziser Handschrift gefüllt, der Rest war weiß und eindeutig unbeschrieben. Kein Rückstand roter Farbe, kein Zeichen eines Hilferufs.

 

„Hör auf, Reita.“ Aois Hände lagen warm auf seinen Schultern und er drückte leicht zu, ließ ihn seine Verspannungen nur zu deutlich spüren. „Du bist übermüdet und … Das ist für uns alle nicht leicht. Komm schon, Rei, dort drin steht nichts außer Uruhas Gedanken.“

 

Er ließ das Buch sinken, legte es mit tauben Fingern auf den Wohnzimmertisch und sackte im Sessel in sich zusammen. Tränen sammelten sich in seinen Augen, tropften auf seine ineinander verschränkten Finger, doch er hatte keine Kraft mehr, sie zurückzuhalten.

 

„Ich weiß, was ich gesehen hab.“

 

„Ach, Rei …“

 

Aoi ging vor ihm in die Hocke, streichelte mit beiden Händen über seine Oberschenkel. „Das stelle ich doch auch nicht infrage. Aber vielleicht haben dir deine Augen nur einen Streich gespielt.“

Reitas Blick hob sich, fixierte sich auf die dunklen Augen seines Liebsten, die ihm besorgt entgegensahen. „Du kannst seit Wochen nicht mehr richtig schlafen, bist vollkommen ausgelaugt, da wäre das doch kein …“

 

„Was ist, wenn er unsere Hilfe braucht?“, unterbrach er ihn, wollte seine Erklärungen nicht hören, die nur versuchten, alles in ein nachvollziehbares Licht zu rücken. Aber an dem, was er erlebt hatte, war nichts Nachvollziehbares, nichts, was man mit Logik rationalisieren konnte. „Ich weiß, was ich gesehen habe“, wiederholte er, „das war Uruhas Handschrift, da bin ich mir sicher.“ Er nahm das Buch an sich, stand auf und ging an Aoi vorbei zu ihrem Bücherregal. Uruhas Tagebücher standen für alle sichtbar in der untersten Reihe. Ihr Geliebter hatte stets darauf vertraut, dass sie seine Privatsphäre wahren würden, und war nicht einmal auf den Gedanken gekommen, sie vor ihnen zu verstecken.

 

„Was tust du?“

 

Reita war vor dem Bücherregal in die Hocke gegangen und balancierte nun einen Stapel der dünnen Bände in beiden Händen.

 

„Weißt du, ob das alle sind?“

 

„Ich frag noch einmal, was machst du?“

 

„Ich bringe ihm seine Gedanken wieder.“ Er eilte in die Küche, nahm einen Jutebeutel aus dem Stauraum unter der Spüle und steckte die Bücher hinein. Sein Atem ging stoßweise und das Blut rauschte wie tosende Wellen in seinen Ohren. Er konnte nicht beschreiben, was er fühlte, wo diese Energie plötzlich herkam, die ihn sich lebendiger als in all den Monaten zuvor fühlen ließ. Er wusste nicht, was er vorhatte, warum es sich anfühlte, als würden ihm die Sekunden zwischen den Fingern hindurchrinnen. Zurück im Flur wollte er gerade in seine Jacke schlüpfen, nachdem er sich die Schuhe angezogen hatte, da ließ ihn die Stimme seines Partners in jeder Bewegung innehalten.

 

„Reita, ich versteh nicht, was in dich gefahren ist. Was machst du?“

 

„Ich hätte sein Tagebuch nicht nehmen sollen, ich muss es ihm zurückbringen … und die anderen auch.“

 

„Was? Wieso? Es ist mitten in der Nacht.“

 

„Weil er es braucht, darum.“ Reita fühlte sich wie im Wahn, wie fremdgesteuert und unerklärliche Panik stieg in ihm auf. Er hätte das Buch niemals mit hierher nehmen dürfen. Niemals!

 

„Jetzt hör aber auf, was soll denn der Unsinn?“ Aois Finger legten sich einem Schraubstock gleich um sein Handgelenk und hinderten ihn am Gehen. „Reita, komm schon“, versuchte er es mit sanftem Nachdruck in der Stimme und wollte ihn an sich ziehen, Reita stemmte sich jedoch dagegen. „Wir fahren morgen früh gleich zu ihm und bringen ihm die Bücher, in Ordnung?“

 

„Nein, nichts ist in Ordnung!“ Reita konnte nicht mehr an sich halten. Er riss sich los und funkelte Aoi wütend an. „Wenn du mir nicht glauben willst, schön, dann tu das nicht, aber schreib mir nicht vor, was ich zu tun und zu lassen habe! Ich fahr jetzt ins Krankenhaus und geb ihm zurück, was er braucht, mir egal, ob du mitkommst oder nicht.“

 

„Reita, das ist doch …“

 

„Was? Bockig? Kindisch? Was, Aoi?“ Er fuhr sich durch die Haare, während er versuchte, durch den Kloß in seinem Hals ausreichend Luft zu bekommen. „Ich sag dir, was das ist – Hoffnung. Ich weiß, was ich gesehen habe und egal, ob du mir glaubst oder nicht, ich werde alles tun, um Uruha zu helfen.“

 

„Aber was willst du denn tun? Was nutzt es dir denn, jetzt noch mal ins Krankenhaus zu fahren? Sie werden dich nicht zu ihm lassen, die Besuchszeit ist längst vorbei.“ Aoi schüttelte verständnislos den Kopf. „Reita, denkst du wirklich, er wacht plötzlich auf, nur weil du irgendwas gesehen hast und ihm seine Tagebücher bringst?“

 

„Vielleicht? Vielleicht auch nicht, aber wenigstens tue ich was. Anders als du!“ Reitas Augen weiteten sich im Schock, während er dabei zusehen konnte, wie Aois Gesicht sämtliche Farbe verlor. „Aoi, das … das hab ich nicht gewollt.“

 

„Schon gut.“

 

„Ich …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern, während er unbewusst das kleine, rote Buch, das er noch immer wie einen Rettungsanker umklammert hielt, in die Innentasche seiner Lederjacke steckte. „Ich hab nur den ganzen Tag auf dich gewartet und …“

 

„Du weißt, dass ich kommen wollte, dass ich es getan hätte, wären wir früher fertig geworden. Ich hab es versucht, Reita.“ Aoi biss sich auf die Unterlippe und ein verräterischer Glanz stieg in seine Augen. „Es war hart heute …“

 

„Ich weiß … das war es auch für mich. Ich hätte dich gebraucht …“

 

„Ja.“

 

Wie zwei Marionetten, deren Schnüre gekappt worden waren, standen sie sich plötzlich kraftlos im Flur ihrer Wohnung gegenüber. Ihr Schmerz schien sich in den Augen des jeweils anderen widerzuspiegeln, bis er sich in einer endlosen Zahl von Reflexionen verlor, unwichtig wurde. Alles war so unwichtig.

 

„Aoi.“ Er streckte eine Hand aus, fühlte sich, als müsste diese simple Geste eine unvorstellbare Distanz überwinden. „Bitte, komm mit mir.“ Eine unerträgliche Ewigkeit lang legte sich Stille über sie, bis Aoi die Schultern straffte und nickte.

 

„Er hat noch eine Schachtel mit alten Tagebüchern im Schlafzimmer unterm Bett. Ich hol sie schnell und dann fahren wir zu ihm.“

]10. Juni] "Irgendwie geht es mir nicht gut."

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

[20. Juni] "Manchmal habe ich das Gefühl, bei euch zu sein."

„Du ziehst eine Miene wie sieben Tage Regenwetter, was ist denn los?“ Gerade hatte er sich einen Parkplatz vor der Klinik gesucht, schaltete den Motor ab und drehte sich in seinem Sitz Aoi entgegen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Mitfühlend legte er ihm eine Hand auf den Oberschenkel, streichelte mit dem Daumen über den rauen Stoff der Jeans und lächelte ihn an. „Noch müde?“

 

„Das auch“, seufzte so Angesprochener, umfasste seine Hand und drückte sie kurz. „Lass gut sein, ist nicht so wichtig. Sollen wir reingehen?“

 

„Aoi~“, mahnend zog er den Namen seines Liebsten in die Länge und fixierte ihn aus verengten Augen. „Hör auf, wieder alles mit dir selbst ausmachen zu wollen, und sag mir, was los ist. Wir haben eine Vereinbarung, schon vergessen?“

 

Als Aoi lediglich die Lippen aufeinanderpresste und starr aus der Windschutzscheibe nach draußen sah, rechnete Reita fast damit, der andere würde wie so oft schweigen und sich darauf verlassen, dass er früher oder später die Geduld mit ihm verlieren und das Thema auf sich beruhen lassen würde. Aber da hatte er sich gewaltig geschnitten. Er hatte es so satt, immer mitansehen zu müssen, wie sein Liebster Sorgen und Probleme in sich hineinfraß, ohne dass er sich helfen ließ. Uruha hatte ein Händchen dafür, Aoi freiwillig dazu zu bringen, sich zu öffnen, aber da ihm dieses Feingefühl gänzlich fehlte, hatte er ihm vor einer ganzen Weile schon das Versprechen abgerungen, ihm zu sagen, wenn ihm etwas auf der Seele lag. Mit mäßigem Erfolg, wie er auch jetzt wieder feststellen durfte. Es war so lange still im Auto gewesen, das er tatsächlich zusammenzuckte, als seinem Freund ein langes Seufzen über die Lippen kam und er sich müde wirkend gegen die Kopfstütze sinken ließ. Mit geschlossenen Augen saß er da und sah so unbehaglich aus, dass es Reita beinahe leidtat, ihn so unter Druck gesetzt zu haben.

 

„Ich weiß nicht“, begann Aoi schließlich und biss sich auf die Unterlippe. „Es fühlt sich alles so sinnlos an. Seit Tagen verbringen wir jede freie Minute hier, jagen geisterhaften Botschaften nach, die seither nie wieder aufgetaucht sind, und klammern uns an eine Hoffnung, die es vielleicht gar nicht gibt.“

 

„Wir bilden uns das nicht ein, Blue, sag so was nicht. Irgendwas passiert mit Uruha, mit uns.“ Er hatte Mühe, nicht aufbrausend zu reagieren oder Aois Worte als Kritik an dem zu sehen, was sie so verzweifelt zu tun versuchten. Er wusste, dass sein Freund schwer daran zu knabbern hatte, an irgendetwas Übernatürliches zu glauben, und das war auch sein gutes Recht, aber – sah er denn nicht, dass sie auf dem richtigen Weg waren? Natürlich hatten sie seit diesen beiden Botschaften dem Tagebuch keine weiteren entlocken können, aber das hieß doch nicht, dass es falsch war, es wieder und wieder zu versuchen. Und was war mit diesem unerklärlichen Verlangen, das sie in jeder freien Minute heimsuchte? Wie sollten sie sich sonst diese geisterhafte Präsenz erklären, die immer anwesend zu sein schien, wenn sie …? Eine Erinnerung schob sich vor sein geistiges Auge, ließ ihn sacht erschauern.

 

Die raue Wand ihres Flurs an seiner Wange, ein erhitzter Körper, der sich hinter ihm, in ihm bewegte.

Aois Hände, die sich über seine schoben, ihn so effektiv an Ort und Stelle hielten, als hätte er ihm Fesseln angelegt.

Erregende Küsse in seinem Nacken, die heisere Stimme seines Liebsten, die süße Nichtigkeiten in sein Ohr raunte.

Ein kreisrunder Ring aus Hitze, der seine Brust zu versengen drohte, seine Lust dafür in neue Höhen katapultierte.

 

Er atmete schwer, als ihn die Bilder so plötzlich wieder losließen, wie sie aufgetaucht waren, und sah sich mit Aois dunklem blick konfrontiert. Er lächelte, leckte sich über die Lippen und erzitterte, als der andere ihm so nahe kam, dass er seinen Atem über sein Gesicht wispern fühlen konnte.

 

„Du hast gerade an dasselbe gedacht wie ich, oder?“, hauchte er nur eine Haaresbreite von Aois Mund entfernt, streifte mit jedem Wort die leicht spröden Lippen. „Wie kannst du nach diesen Erlebnissen noch glauben, dass wir nicht auf dem richtigen Weg sind? Wie erklärst du dir sonst diesen Kontrollverlust.“

 

„In deiner Gegenwart habe ich schon sehr oft die Kontrolle verloren.“

 

Noch bevor er seinen Liebsten darauf hätte hinweisen können, dass es ihm gerade sicherlich nicht darum gegangen war, pressten sich warme Lippen auf seinen Mund und verhinderten so effektiv jede Art von Protest. Er keuchte gedämpft, was Aois Zunge eindeutig als Einladung sah, ihn systematisch um den Verstand zu bringen. Aber nein, so sehr er seinen niederen Instinkten, die in den letzten Tagen eine wahre Renaissance zu erleben schienen, nachgeben wollte – sie hatten Wichtigeres zu tun.

 

„Aoi“, zischte er, als er sich endlich lösen konnte, presste beide Hände gegen die Brust seines Freundes und drückte ihn auf Abstand. Aois Augen glänzten fiebrig, die Pupillen derart geweitet, dass nur noch ein schmaler Rand der braunen Iris zu erkennen war. Die feine Röte, die seine Wangen überzog, machte seinen Anblick so unwiderstehlich, dass Reita für eine Sekunde die Augen schließen musste, um dieser menschgewordenen Versuchung nicht doch noch nachzugeben. „Siehst du, was ich meine? Wir können uns schon wieder kaum beherrschen, genau wie heute Morgen. Ach, was sag ich? Seit Uruhas Geburtstag verhalten sich unsere Hormone wie zu Teenager-Zeiten und da willst du mir sagen, dass das nicht alles irgendwie zusammenhängt?“

 

Aoi umfasste seine Hände, zog sie von seiner Brust und stattdessen gegen seinen Mund, um einen Kuss auf sie zu drücken.

„Du hast mich falsch verstanden, Rei“, wisperte er und ein feines Lächeln spielte um seine geschwungenen Lippen, das ihn für Reita nur noch attraktiver machte. „Ich hab gar nicht vor, alles infrage zu stellen. Ich hab eine der Botschaften mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib gespürt, dass irgendwas mit uns geschieht. Das ist ja nun wirklich nicht mehr von der Hand zu weisen.“ Oh, nein. Jetzt hob er auch noch eine Augenbraue und sah dadurch so verdammt überheblich aus, dass Reita am liebsten hier und jetzt vor ihm auf die Knie gegangen wäre, um alles für ihn zu tun, was er von ihm wollte. Tat Aoi das mit Absicht? „Ich denke nur, dass es an der Zeit ist, mehr zu tun.“

 

„Mehr?“, murmelte er, musste aber zugeben, dass er nicht wirklich zugehört hatte. Plötzlich schnippten Aois Finger vor seiner Nase und der eben noch so verführerische Ausdruck auf seinem Gesicht war einem besorgten gewichen.

 

„Reita? Alles in Ordnung?“

 

„J… ja.“ Reita räusperte sich und fuhr sich durchs Haar. „Wir sollten aussteigen, ich brauch frische Luft und eine Zigarette und …“ Er wartete nicht auf eine Reaktion, zog den Schlüssel ab und verließ den Wagen. Kaum wehte ihm der frische Wind eines sonnigen Sommermorgens um die Nase, schienen sich auch die letzten Nebelfetzen aus seinen Gedanken zu verziehen. Erleichtert atmete er durch, fand seine Zigaretten in der Innentasche seiner Jacke und steckte sich eine an. „Willst du auch eine?“

 

„Nein, ich passe fürs Erste.“ Aoi warf ihm einen forschenden Seitenblick zu, setzte sich jedoch ohne weiteren Kommentar in Bewegung.

 

„Also, was meintest du damit, dass wir mehr tun müssen?“

 

„Ich …“ Sein Liebster unterbrach sich selbst und schaute für einen langen Moment in die Ferne, als würde er scharf nachdenken. „Ich bin mir sicher, dass dir das nicht gefallen wird, aber vielleicht ist es an der Zeit, die Tagebücher zu lesen.“

 

„Was?“ Schockiert blieb er stehen, die brennende Zigarette auf halbem Weg zu seinen Lippen eingefroren und starrte Aoi ungläubig an. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Das sind seine intimsten Gedanken, die können wir nicht lesen. Das wäre der ultimative Vertrauensbruch.“

 

„Aber … überleg doch mal …“ Aoi hatte beschwichtigend beide Hände gehoben, nur um sich jetzt bei ihm unterzuhaken und ihn weiter voran in Richtung der Klinik zu dirigieren. „Du sagst doch auch immer, dass die Tagebücher beinahe ein Teil von ihm sind. Vielleicht waren die Botschaften ein Zeichen, dass wir ihm seine Erinnerungen wiedergeben müssen. Ich weiß, wie verrückt sich das anhört, aber sollen wir weiterhin einfach nur warten, bis sich von allein wieder etwas tut? Wer weiß, ob das nicht schon alles gewesen ist, und Uruha zu mehr einfach die Kraft fehlt. Himmel, ich höre mich an wie einer dieser Esoterik-Spinner.“ Aoi verstummte abrupt und schüttelte den Kopf. „Ich will doch nur irgendwas tun können“, wisperte er.

 

Mitfühlend griff Reita nach der Hand seines Freundes, drückte sie leicht.

„Es ist nicht so, dass ich deine Gedankengänge nicht nachvollziehen könnte“, entgegnete er leise, als sie die Schiebetüren durchquerten, und nickte der jungen Frau am Empfang grüßend zu. „Es sträubt sich nur alles in mir, ihn so zu hintergehen.“

 

„Das weiß ich doch. Ich denke seit Tagen schon darüber nach, hab aber nie etwas gesagt, weil ich wusste, dass du so reagieren würdest.“ Aoi hob den Blick und sah ihm bittend in die Augen. „Überleg es dir wenigstens, okay?“

 

„In Ordnung.“ Er nickte geschlagen und stopfte die Hände in die Hosentaschen, nachdem Aoi ihn losgelassen hatte, um die Tür zu Uruhas Krankenzimmer zu öffnen. Er hatte hinter ihm den Raum betreten wollen, aber der andere war wie angewurzelt mitten im Rahmen stehen geblieben.

 

„Ah, guten Morgen Herr Shiroyama“, hörte er die bekannte Stimme Doktor Fujidas und späte an Aoi vorbei ins Zimmer. Als er erkannte, was dort vor sich ging, verstand er, weshalb sein Freund sich noch immer nicht bewegt, geschweige denn den Gruß der Ärztin erwidert hatte. Drei Personen standen vor dem Bett, eine von ihnen Doktor Fujida, während Pfleger Takeshi ein netzartiges Geflecht aus Kabeln von Uruhas Kopf zog, an dem kleine, weiße Elektroden befestigt waren.

 

„Guten Morgen“, hatte schließlich auch Aoi seine Stimme wiedergefunden und er schloss sich dem Gruß an, während sie beide langsam in das Zimmer traten, das ihm plötzlich viel zu beengt erschien.

 

„Sollen wir später wiederkommen?“, fragte er, den Blick unverwandt auf Uruha gerichtet.

 

„Nein, nein, wir sind mit den Aufzeichnungen bereits fertig.“

 

„Darf ich fragen, was genau das für Aufzeichnungen sind?“, hakte Aoi ein und beobachtete den Pfleger skeptisch bei seinem Tun. Zwei der Ärzte verabschiedeten sich und schoben ein unhandliches Gerät vor sich her auf den Flur, nachdem Takeshi das Kabelnetz zu einem Knäuel geschlungen darauf abgelegt hatte. Doktor Fujida blickte von einem langen Streifen Endlospapier auf, faltete ihn zusammen und lächelte ihnen freundlich entgegen.

 

„Uns sind in den letzten Tagen Veränderungen an Herrn Takashima aufgefallen, denen wir nachgehen wollen. Wir haben ihn über Nacht an einen Elektroenzephalografen angeschlossen und erhoffen uns davon Rückschlüsse auf seinen derzeitigen Zustand.“

 

„Elektroenze… was für ein Graf?“ Aoi runzelte die Stirn und schaute erst die Ärztin, dann ihn fragend an.

 

„Ein Gerät, mit dem man die Gehirnströme messen kann“, murmelte Reita mit tauben Lippen und erhielt ein zustimmendes Nicken der Ärztin. „Heißt das …“ Sein schneller gewordener Herzschlag hämmerte in seinem Kopf und sein Mund wurde trocken, als Tausende Gedanken gleichzeitig auf ihn einstürmten. „Wacht er wieder auf?“

 

„Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich ihnen nur sagen, dass sich sein Zustand verändert hat. Ob zum Positiven, werden uns weitere Untersuchungen hoffentlich bald zeigen. Ich werde das EEG mit meinen Kollegen auswerten. Sobald es Neuigkeiten gibt, werde …“

 

„Wir sind heute den ganzen Tag bei ihm“, unterbrach er Doktor Fujida aufgeregt, fand es jedoch nicht in sich, sich für diese Indiskretion schlecht zu fühlen. Uruha war womöglich im Begriff, aufzuwachen, was kümmerten ihn da Höflichkeitsfloskeln?

 

„In Ordnung.“ Die Ärztin lächelte noch immer. „Ich denke, heute Nachmittag wissen wir mehr. Ich melde mich bei Ihnen.“ Mit gemäßigten Schritten verließ sie das Zimmer und schloss leise die Tür. Die eingetretene Stille dröhnte in Reitas Ohren, schien sich exponentiell auszubreiten, bis er das Gefühl hatte, seine Trommelfelle würden dem Druck keine Sekunde länger standhalten.

 

„Mach dir nicht zu viele Hoffnungen, Rei“, schnitt Aois ruhige Stimme durch sein Unbehagen und Reita wäre ihm dankbar dafür gewesen, hätte ihm nicht so missfallen, was er zu sagen hatte.

 

„Bitte? Nicht zu viele Hoffnungen? Hast du gerade nicht gehört, was sie gesagt hat?“

 

„Doch, genau deswegen.“

 

„Aoi hat recht“, schaltete sich nun auch Takeshi ein, der sich derweilen darum gekümmert hatte, dass es Uruha in seinem Bett wieder bequem hatte. Gerade strich er die Bettdecke glatt, deren Muster heute aus vielen, kleinen Sonnenblumen bestand, und richtete sich auf. „Solche Phasen erhöhter Hirntätigkeit sind nichts Ungewöhnliches. Wir verstehen die Vorgänge in den Gehirnen von Wachkomapatienten noch zu wenig, um genau sagen zu können, wann und weshalb diese Aktivitäten auftreten, aber sie sind nicht immer ein Zeichen dafür, dass der Betroffene bald aufwacht. Ich will euch nicht entmutigen, aber das muss euch bewusst sein.“

 

Reita spürte, wie seine Mundwinkel ebenso wie seine Schultern herabsanken, als sich erneut das Gewicht der Ungewissheit über ihn legte.

„Verstehe“, murmelte er und ging zum Fenster hinüber, um es zu öffnen. Er brauchte frische Luft.

 

„Wollt ihr später mit Uruha in den Park? Ich kann euch einen Rollstuhl vorbeibringen. Ein Tapetenwechsel und Sonnenschein würden ihm sicherlich guttun.“

 

Er hörte Aois zustimmenden Tonfall, hatte jedoch ausgeblendet, was genau sein Freund sagte und starrte stattdessen wie betäubt aus dem Fenster. Wie war es möglich, dass er in einer Sekunde vor lauter Hoffnung schier zu platzen schien, nur um sich nun erneut am Grund eines Sees aus Verzweiflung wiederzufinden? Verflucht, das war nicht fair.

 

„Rei.“ Er fühlte eine zögerliche Berührung an seiner Schulter und ohne näher darüber nachzudenken, wirbelte er herum, schlang die Arme um seinen Partner und vergrub sein Gesicht im weichen Stoff seines T-Shirts.

 

„Das ist nicht fair“, wisperte er immer wieder, während seine Augen verräterisch zu brennen begannen.

 

„Schsch.“ Sanft streichelte Aoi über seinen Rücken, küsste seine Schläfe, seinen Schopf und summte immer wieder beruhigend. „Er wird zu uns zurückkommen, Rei, wir müssen nur Geduld haben.“ Wieder spürte er die warmen Lippen auf seiner Haut und fühlte die nächsten Worte mehr, als dass er sie hörte. „Gib die Hoffnung nicht auf, für ihn … und für mich, bitte.“

 

~*~

 

Es war surreal neben Aoi her über die Kieswege des Krankenhausparks zu gehen und sich die warme Sommersonne auf den Kopf scheinen zu lassen. Nicht, weil er sich bei seinem Freund untergehakt hatte und ihm die teilweise sehr neugierigen Blicke der anderen Patienten und ihrer Besucher gänzlich egal waren. Vielmehr lag es daran, dass Aoi einen Rollstuhl mit hoher Lehne langsam vor sich her schob, in dem Uruha saß. Sie hatten ihm eine Sonnenbrille aufgesetzt, um seine Augen vor der UV-Strahlung und den vielen Partikeln in der Luft zu schützen. Patienten im Wachkoma blinzelten deutlich seltener als üblich und die Gefahr einer Bindehautentzündung war allgegenwärtig. Reita schaute für einen Moment in den babyblauen Himmel, über den sich weiße Quellwolken zogen. Es war schon erstaunlich, wie viel man Lernen konnte, wenn man sich jede freie Minute mehr oder weniger freiwillig mit medizinischem Wissen umgab.

 

„Bleib mal kurz stehen, bitte“, bat er Aoi und ging um den Rollstuhl herum, nachdem er seiner Bitte nachgekommen war. Vorsichtiger, als es vermutlich nötig wäre, schob er die Decke, die über Uruhas Schoß lag, ein Stück beiseite und überprüfte zum unzähligen Mal den Sitz des Brust- und Beckengurts, die seinen Freund aufrecht hielten. „Wir wollen ja nicht, dass dir was weh tut, nicht wahr?“ Gewissenhaft deckte er Uruha wider zu, tastete mit den Fingern die Nackenfixierung ab, die an der Lehne des Rollstuhls angebracht war, und wischte einige freche Strähnen fort, die seinem Schatz in die Stirn gefallen waren. „So.“ Er hob den Blick und lächelte, als er bemerkte, das Aoi ihn die ganze Zeit über stumm gemustert hatte. „Tut mir leid, ich weiß, dass ich es etwas übertreibe, aber …“

 

„Alles gut, wir haben Zeit. Außerdem soll der Spaziergang nicht nur unserem Dornröschen guttun.“

 

„Dornröschen?“ Reitas Lächeln weitete sich. „Warum glaube ich, dass er diesen Spitznamen nie wieder losbekommt?“

Sein Gegenüber schenkte ihm eines seiner Mona-Lisa-Lächeln, sagte jedoch nichts darauf. Sanft streichelte er ein letztes Mal über Uruhas Schopf, bevor er Aoi einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte. Auf eine kuriose Art und Weise war es befreiend, wie sehr die Sorge um ihren Geliebten die um das Bekanntwerden ihrer Beziehung zueinander in den Hintergrund gerückt hatte. Nicht, dass hier im Park einer Privatklinik die ernsthafte Gefahr bestand, von Fans oder Personen ihrer Branche erkannt zu werden, dennoch hatte Uruhas Unfall so manches in ein vollkommen neues Licht gerückt.

„Was täte ich nur ohne dich?“

 

„Hey, ihr drei!“

 

Er hatte gesehen, dass Aoi noch etwas hatte sagen wollen, aber das plötzliche Rufen hatte dies erfolgreich verhindert. Hatte er nicht eben noch gedacht, dass sie hier sowieso niemand erkennen würde? Verwundert drehte er sich um und sah Ruki mit schnellen Schritten auf sie zukommen. Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Einerseits, weil er sich über den unerwarteten Anblick ihres Sängers freute, andererseits, weil er sich fragte, ob Ruki bewusst war, dass er ein Händchen dafür hatte, in unpassenden Momenten zu stören. Aber bei dem strahlenden Lächeln, dass der Kleinste ihnen gerade schenkte, konnte er ihm nicht eine Sekunde lang böse sein.

 

„Ruki? Das ist ja eine Überraschung“, meinte er und hielt mit seiner Freude nicht hinterm Berg. „Was machst du denn hier?“

 

„Wir. Ich hab Kai auch gleich mitgebracht, aber der hat sich mal wieder festgequatscht, wie eigentlich immer.“

 

„Ach?“

 

„Ja. Wir waren zuerst in Uruhas Zimmer und als wir euch dort nicht gefunden haben, haben wir diesen netten Pfleger mit dem Pferdeschwanz gefragt, wo ihr seid. Ich befürchte, seine Hilfsbereitschaft ist ihm zum Verhängnis geworden, weil sich Kai von ihm gerade im Detail die Heilungsansätze und Therapien der Klinik hier erklären lässt.“

 

„Typisch“, stellten Aoi und er fast zeitgleich fest und grinsten sich an. „Vermutlich würde er auch Einsicht in Uruhas Krankenakte verlangen, wenn er das könnte“, murmelte Reita kopfschüttelnd und erntete ein zustimmendes Augenrollen ihres Sängers. Er war nicht zum ersten Mal froh darüber, dass sich Uruhas Eltern nicht quergestellt hatten, als es darum ging, dass Aoi und er sich vor Ort um ihren Son kümmern würden. Das hätte in Anbetracht des nicht immer einfachen Verhältnisses auch ganz anders ausgehen können.

 

 „Schön, dass ihr gekommen seid“, redete sein Liebster weiter, während sich Reita eine Zigarette aus der Schachtel zog und sie anzündete.

 

„Ja“, nuschelte er, den Glimmstängel zwischen den Lippen und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf Ruki. „Ich dachte, ihr hättet heute Nachmittag das Interview?“

 

„Nein, das hatten wir schon. Manager-san hat gestern noch Bescheid gegeben, dass es vorverlegt wurde. Ist mir ganz recht, wer sagt schon Nein zu einem freien Nachmittag, mh?“ Ruki kam näher, ging vor Uruhas Rollstuhl in die Hocke und legte seine leicht verschränkten Arme auf seinem Schoß ab. „Und du? Wird Zeit, dass du wieder aufwachst, hörst du? Ich fange schon an, deine dummen Sprüche zu vermissen.“ Ruki grinste und stippte ihrem Gitarristen angedeutet in den Bauch, als würde er damit rechnen, dass er zusammenzucken und sich beschweren würde. Zwei Herzschläge lang verharrten sie alle regungslos, bis Ruki seufzte und sich wieder erhob.

„Gibt es irgendwas Neues?“

 

„Möglich, wir wissen noch nichts Genaues“, antwortete Aoi, nachdem er selbst noch zu sehr damit beschäftigt war, den Kloß, der sich in den letzten Augenblicken in seiner Kehle gebildet hatte, wider herunterzuschlucken.

„Sie hatten Uruha die Nacht über an irgendein Gerät angeschlossen, das seine Gehirnströme misst und werten gerade die Ergebnisse aus.“

 

„Hey, das hört sich doch großartig an.“

 

„Kann man so pauschal nicht sagen, sie …“

 

Reita blendete Aois Worte aus, zu sehr hatte ihn die Trauer in Beschlag genommen, die so plötzlich wieder aufgeflammt war. Seinem Liebsten dabei zuzusehen, wie zärtlich er mit Uruha umging, war an schwachen Tagen schon kaum auszuhalten, gerade jedoch das nahezu gleiche Verhalten an Ruki zu beobachten, war fast unerträglich gewesen. Verdammt, er war es gewohnt, dass sich die beiden regelmäßig gegenseitig auf die Palme brachten, aber doch nicht das hier. Verstohlen wischte er sich über den Augenwinkel und zog heftiger, als es nötig gewesen wäre, an seiner Kippe. Einige Momente gönnte er sich noch, in denen er bemüht ruhig und tief durchatmete, bevor er sich wieder in Bewegung setzte, um den anderen zu folgen, die inzwischen langsam vorangegangen waren. Diese beinahe lähmenden Episoden, in denen ihn bodenlose Traurigkeit übermannte, dauerten zwar mittlerweile wenigstens nicht mehr so lange an, aber sie kamen gefühlt viel zu regelmäßig. In einem Punkt konnte er Ruki wirklich nur zustimmen – es wurde höchste Zeit, dass Uruha wieder aufwachte.

 

Ihr Sänger berichtete gerade von dem Interview, als sich von hinten schnelle Schritte näherten.

„Hallo zusammen“, erklang Kais Stimme gefolgt von einem langen Ausatmen, als wäre er den ganzen weg von der Klinik bis hierher gerannt.

 

„Na, kommst du auch mal“, stellte Ruki lapidar fest, runzelte jedoch die Stirn, als er Kai genauer musterte. „Ist was passiert?“

 

„Nein, ich dachte nur, ich muss mich mal wieder sportlich betätigen.“

 

„Dein Ernst?“

 

„Ja, warum denn nicht?“

 

„Ich hätte gern einen neuen Freund.“ Ruki rollte übertrieben mit den Augen, was Reitas Mundwinkel unwillkürlich zucken ließ. Ob den beiden schon mal jemand gesagt hatte, dass sie sich wie ein altes Ehepaar verhielten?

„Na, Reita, wie wär’s? Willst du den Job?“

 

„Nee, lass mal. Ich bin mit meinen beiden Grazien genug ausgelastet.“

 

„Wer ist hier eine Grazie?“ Aoi funkelte ihn aus verengten Augen an und ohne es zu wollen, rann ihm bei diesem Anblick ein prickelnder Schauer über den Rücken.

 

„Also, wenn das kein Grund ist, weiß ich auch nicht.“ Ruki deutete mit dem Daumen seitlich nach hinten auf Aoi und zwinkerte frech. „Stell dir nur vor, wie entspannt dein Leben mit mir wäre.“

 

„Ach, Ruki.“ Er legte dem Kleinsten ihrer Runde einen Arm um die Schultern und schaute auf ihn herab. „Würden wir uns nicht schon so lange kennen, würde ich dir das vielleicht sogar abkaufen, aber so? Keine Chance.“

 

Kais gackerndes Lachen war in der friedlichen Ruhe des Parks mit einem Mal so laut, dass sich einige der Flanierenden verwundert nach ihnen umdrehten.

 

„Mann, Leader, mit dir fällt man echt überall auf“, tadelte Aoi gespielt und schob Uruha neben eine freie Bank, auf der sie alle mehr oder weniger bequem Platz fanden.

 

„Tschuldigung“, meinte Kai und rieb sich über den Nacken, sein Lächeln war jedoch ungebrochen und zauberte tiefe Grübchen auf seine Wangen. „Aber jetzt erst mal: Hallo, zusammen, ich hab euch was mitgebracht.“

 

Reita, der noch etwas abseits stand, um fertigrauchen zu können, ohne mit Rukis missbilligenden Seitenblicken konfrontiert zu werden, horchte auf und schaute interessiert dabei zu, wie Kai seinen übergroßen Rucksack von den Schultern nahm.

 

„Leader, Leader“, murmelte Aoi kopfschüttelnd, während Kai diverse Behältnisse hervorzog und den anderen in die Hände drückte.

„Hat dein Tag mehr als vierundzwanzig Stunden?“

 

„Du weißt doch, dass ich koche, wenn ich nicht schlafen kann. Und so wie ihr zwei schon wieder ausseht, habt ihr sicher noch nichts Anständiges gegessen heute, oder?“

 

„Gott, wenn das nicht so gut aussehen würde, hätte ich dir das gerade echt übel genommen.“ Aoi klang abgelenkt, während er sein Lunchpaket entpackte und die Köstlichkeiten musterte, die sich förmlich zu stapeln schienen. Reita trat seine Kippe aus, entsorgte sie in einem nahe stehenden Abfalleimer und quetschte sich neben Ruki auf den Rand der Parkbank.

 

„Das sieht … wow aus“, lobte er, als auch er ein Bento im Schoß liegen hatte und nahm dankend die Stäbchen entgegen. „Danke, Kai.“

 

„Ach, nichts zu danken. Ich bin ja froh, wenn ich Abnehmer für das Essen finde.“

 

Ruki tat so, als würde er den etwas biestigen Seitenblick seines Freunds nicht bemerken, als er sich eine kleine Portion Reis mit Fisch in den Mund schob. Zu ihm gelehnt meinte er jedoch: „Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, auf seine Figur zu achten, wenn man ständig so was vorgesetzt bekommt?“

 

„Ich würde dich ja bedauern“, murmelte Reita leise zurück, „aber ich bin mit Essen beschäftigt.“ Den Rippenstoß hatte er sich verdient, störte sich aber nicht wirklich daran. Für den Moment wollte er sich der Illusion hingeben, dass alles in Ordnung war. Sie saßen hier, in einem Park bei schönstem Sommerwetter, genossen Kais selbst gemachtes Essen und Uruha war bei ihnen. Es war nicht optimal, aber mehr, als er von diesem Tag erwartet hatte. Außerdem, wie lange war es her, dass sie sich die Zeit genommen hatten, zusammen etwas zu unternehmen, das nicht in der einen oder anderen Form mit ihrer Arbeit in Zusammenhang stand? Vermutlich war das letzte Mal schon Jahre her.

 

Aoi und Ruki hatten begonnen, sich hinter Kais Rücken zu unterhalten. Es schien um irgendetwas zu gehen, was die Interviewerin zu ihrem Leader gesagt hatte, was diesen jetzt noch erröten ließ. So genau hörte er nicht zu, auch wenn Kais gesunde Gesichtsfarbe schon interessant war. Aber er war von seinem Liebsten abgelenkt, der mit einem Mal so voller Leben und Elan wirkte – beinahe als wäre wieder alles beim Alten. Es tat gut, ihn so zu sehen, obwohl er, wenn er genau hinsah, erkennen konnte, dass Aoi Uruhas Finger die ganze Zeit über fast zu fest umschlossen hielt.

‚Oh, Blue, du tust es schon wieder.‘

 

„Ach, da fällt mir noch was ein“, meldete sich Kai eine ganze Weile später zu Wort, während er die ersten, leeren Boxen wieder zurück in seinen Rucksack packte. "Takeshi-kun lässt euch beiden ausrichten, dass Frau Doktor Fujida euch gegen drei Uhr sehen will. Wir sollten also langsam zurückgehen, damit ihr nicht zu spät kommt.“

 

~*~

 

Doktor Fujida bemühte sich seit über zwanzig Minuten redlich, ihnen die neuesten Erkenntnisse über Uruhas Zustand nahezubringen, doch in Aois Gesicht spiegelte sich dieselbe Frage wider, die auch ihn nicht losließ – Warum redete sie nicht endlich Klartext mit ihnen?

 

„Sehen Sie hier“, meinte sie nun und deutete auf eine Stelle des Endlospapiers, über das sich eine gezackte Linie mit minimalen Ausschlägen nach oben und unten zog. Eine sehr gleichmäßige Linie, bis auf die Stelle, auf die Doktor Fujida tippte, die mehrere deutliche Ausschläge nach oben aufwies. „Wir konnten eindeutige Aktivitäten im Bereich des Großhirns nachweisen.“

 

„Ja …“ Reita rieb sich über die Stirn und versuchte, sich weiterhin zu konzentrieren. Aber sein permanenter Schlafmangel schien gerade mit Nachdruck seinen Tribut zu fordern und die Helligkeit in Doktor Fujidas Büro ließ seine Augen tränen. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das doch ein gutes Zeichen, oder? Uruha liegt doch nur deswegen im Wachkoma, weil die Funktionen seines Großhirns quasi ausgefallen sind.“

 

„Dann wacht er doch wieder auf, nicht?“, hakte nun auch Aoi ein und wirkte mit einem Mal ungeduldig. „Ich versteh nicht, wo das Problem liegt. Sollte uns das nicht freuen?“

 

„Herr Shiroyama.“ Frau Fujida lächelte und zog ihre Hand zurück, die bislang auf einer der Spitzen auf dem Ausdruck gelegen hatte. „Grundsätzlich ist eine Aktivität im Großhirn ein Zeichen dafür, dass der Patient wieder ein Bewusstsein entwickelt. Aber …“ Das Wort war mit Nachdruck über ihre Lippen gekommen und Aoi schloss den Mund, schluckte herunter, was er wohl hatte anmerken wollen. „In Herrn Takashimas Fall können wir uns diesen Anstieg an Aktivität noch nicht erklären.“

 

„Wie meinen sie das?“ Reita blickte stirnrunzelnd auf das weiße Papier herab.

 

„Es gab zum Zeitpunkt des Auftretens keinerlei Reize von außen. Wir hatten Herrn Takashima zwar über Nacht an das EEG angeschlossen, waren aber zum Zeitpunkt der Anomalien gerade erst dabei, die Tests vorzubereiten, von denen wir uns derartige Ausschläge erhofft hatten.“

 

Wie in Trance hatte Reita die Kette unter seinem T-Shirt hervorgezogen und damit begonnen, den Ring zwischen Zeige- und Mittelfinger zu drehen. Über das glänzende Metall hinweg suchte er Aois Blick, dessen Augen sich weiteten, als er den Gedanken, der ihm gerade durch den Kopf ging, wohl von seiner Mine ablesen konnte.

 

„Entschuldigen Sie, Doktor Fujida“, setzte sein Partner zögerlich an, als müsse er erst noch seine Gedanken sortieren. „Können Sie mir sagen, wann genau diese Spitzen aufgetreten sind? Also, ich meine, die genaue Uhrzeit?“

 

Frau Fujida schien diese Frage zu überraschen, aber sie war professionell genug, um es sich nur einen Sekundenbruchteil anmerken zu lassen. Im nächsten Moment hatte sie bereits lächelnd genickt und damit begonnen, etwas in ihrem Computer nachzusehen.

 

„Einen Augenblick, ich suche mir die Aufzeichnungsübersicht heraus … und~ hier ist es. Die Unregelmäßigkeiten begannen um 06.47 Uhr und die meiste Aktivität konnten wir gegen 07.08 Uhr verzeichnen.“

 

Reita spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen rann, gleichzeitig begann sein Herz jedoch aufgeregt, ja, beinahe hoffnungsvoll zu schlagen.

 

Die raue Wand ihres Flurs an seiner Wange, ein erhitzter Körper, der sich hinter ihm, in ihm bewegte.

Aois Hände, die sich über seine schoben, ihn so effektiv an Ort und Stelle hielten, als hätte er ihm Fesseln angelegt.

Erregende Küsse in seinem Nacken, die heisere Stimme seines Liebsten, die süße Nichtigkeiten in sein Ohr raunte.

Ein kreisrunder Ring aus Hitze, der seine Brust zu versengen drohte, seine Lust dafür in neue Höhen katapultierte

Und eine Präsenz, die ihn von allen Seiten her einzuhüllen schien.

 

Sein Blick ging von Aois geweiteten Augen zu dem Ring und blieb letzten Endes erneut an dem Ausdruck hängen. Falls sie wirklich noch einen Beweis dafür gebraucht hatten, dass Uruhas Geist, seine Energie oder wie auch immer man es nennen wollte, zu ihnen gefunden hatte – hier lag er schwarz auf weiß.

 

Nach dieser Erkenntnis hatte er kaum noch etwas von ihrem Gespräch mit der Ärztin mitbekommen. Er fühlte sich wie betäubt und gleichzeitig so aufgekratzt, dass er die Wände hätte hochgehen können. Sie hatten sich verabschiedet, Doktor Fujida hatte ihnen versichert, dass sie Uruha noch weiter untersuchen und sie informieren würden, sobald es neue Erkenntnisse gab. Sie hatte ihnen Mut gemacht, sie aber auch davor gewarnt, sich zu große Hoffnungen zu machen. Reita hätte bei diesen Worten am liebsten gelacht. Sie hatte ja keine Ahnung.

 

Aoi und er waren zurück in das Krankenzimmer ihres Geliebten gegangen, hatten sich die beiden unbequemen Plastikstühle ans Bett gezogen und saßen nun hier, als würden sie auf etwas warten. Worauf genau, hätte Reita jedoch nicht sagen können. Mit rasenden Gedanken im Kopf streichelte er beständig über Uruhas Hand und starrte auf die kleinen Sonnenblumen, die sich in einem wirren Muster auf der Bettdecke tummelten.

 

„Reita, rede mit mir.“ Aois Worte waren kaum ein Flüstern, doch in der dröhnenden Stille des Zimmers so laut, dass sie ihn unsanft aus seinen Überlegungen rissen.

 

„Ich …“, begann er und verfluchte sich dafür, nicht einfach aussprechen zu können, was er längst entschieden hatte. „Ich glaube, du hast recht, Aoi.“ Es kostete ihn etwas, diesen Entschluss zu fassen, zuzulassen, dass sie tun würden, was vielleicht ihre einzige Chance war, ihren Geliebten zurückzuholen. Ob es Skrupel waren oder eine Grenze des Vertrauens, die er nie hatte überschreiten wollen, konnte er nicht sagen, aber allein der Gedanke schmerzte in dem Teil seines Herzens, der für Uruha und ihre tiefe Freundschaft reserviert war.

„Wir sollten ihm seine Erinnerungen wiedergeben. Lass uns die Tagebücher lesen.“

[21. und 22. Juni] "Irgendwas hält mich hier."

Ich fasse es nicht. Ich KANN es einfach nicht glauben! Ich sollte dieses Solo spielen. Ich bin der bessere Gitarrist, nicht dieser gepiercte Schönling. Was finden die nur alle an ihm? Sogar Reita, MEIN Reita, steht rauchend mit ihm vorm Studio und grinst sich einen ab. Sieht denn niemand, wie … wie … Ach, verdammt, ich finde nicht einmal die richtigen Worte, um ihn zu beschreiben. Was auch nicht wichtig ist, weil – was interessiert er mich schon? Hätte sich Yune nicht über meinen Kopf hinweggesetzt und entschieden, dass ausgerechnet dieser Hochstapler das Solo spielen soll, müsste ich überhaupt nicht über ihn nachdenken. Das ist sowieso nur passiert, weil die beiden miteinander verbandelt sind. Wir hätten uns nie mit zwei anderen zusammentun sollen, die auch schon gemeinsam in einer früheren Band waren. Und wir hätten Yune nie zum Leader machen sollen. Warum hat Ruki sich nur so vehement gegen den Job gewehrt? Verdammt, ich hasse es, über all das nachdenken zu müssen, über IHN nachdenken zu müssen! Außerdem hab ICH den Löwenanteil für das Solo getan, von mir waren die meisten Ideen und ich könnte im Schlaf das umsetzen, wofür sich der ach so tolle Gitarrist nun erst mal zwei Tage Zeit erbeten hat. FUCK OFF, Aoi! Das ist mein Solo!

 

Reita ließ das Tagebuch sinken, in dem er bis eben gelesen hatte, und rieb mit der freien Hand über seine müden Augen. Als er zur Seite schielte und Aois etwas verkniffenes Gesicht betrachtete, zupfte ein Schmunzeln an seinen Mundwinkeln.

„Wow, das waren noch Zeiten, was? Ich erinnere mich daran, dass ich Uruhas Beschwerden über dich irgendwann nicht mehr hören konnte, weil es für ihn gar kein anderes Gesprächsthema mehr gab. Wenn ich das jetzt so lese, tut es mir richtig leid, dass du so schlecht wegkommst“, murmelte er, „aber wenn ich ehrlich bin, ist es auch unglaublich unterhaltsam.“

 

„Ja, ja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“

 

„Ach, jetzt komm schon.“

 

Sein Freund murrte gespielt genervt, als er den Kopf gegen seine Schulter lehnte, drückte ihm jedoch einen kurzen Kuss auf die Stirn.

„Ich hab bis heute nicht verstanden, was ich falschgemacht hab oder besser, wo sein Problem mit mir lag. Es war ja nicht so, als hätte ich mir jedes Solo unter den Nagel gerissen oder hätte mir sonst irgendwas zu Schulden kommen lassen. Zumindest nicht, dass es mir bewusst gewesen wäre … aber vielleicht hat mich Yune zu der Zeit tatsächlich bevorzugt, ohne dass es mir aufgefallen ist?“

Aoi verstummte und fixierte die weiße Wand ihm gegenüber, als würde er scharf über etwas nachdenken müssen.

 

„Nun mach dir nicht so viele Gedanken über Dinge, die schon ewig in der Vergangenheit liegen. Außerdem … sieh es doch mal so, hättest du damals nicht schon auf eine gewisse, wenn vielleicht auch noch unbewusste Weise Uruhas Interesse geweckt, hätte er sich nie so an dir gerieben, glaub mir“, murmelte Reita, drückte seinem Liebsten noch einen kurzen Kuss auf die Wange und richtete sich wieder auf. „Er war schon immer ein Meister darin, die Leute in seiner Umgebung zu ignorieren, die ihm einfach egal waren. Zu denen hast du definitiv nie gehört.“

 

„Seine Art, sein Interesse zu zeigen, war schon immer sehr speziell, was?“

 

„Das ist Uruha für dich, mittlerweile sollte dich das nicht mehr wundern.“ Mit einem liebevollen Lächeln betrachtete er seinen besten Freund, der unverändert mit geschlossenen Lidern im Bett lag und so aussah, als würde er schlafen. Ob er dies tatsächlich tat, wusste er nicht, aber seine Augen waren ihm beinahe im selben Moment zugefallen, in dem Reita zu lesen begonnen hatte. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass sie nur noch eine Stunde hatten, bevor die Besuchszeit auch für diesen Tag vorüber sein würde, und noch hatte ihr Geliebter keine weitere Reaktion auf die Tagebücher gezeigt.

„Denkst du, es hilft was?“

 

„Ich hab das Gefühl, er ist ruhiger als sonst“, murmelte Aoi und streichelte über Uruhas linke Hand. „Aber das kann auch nur Wunschdenken sein.“

 

„Mh“, brummte er und streckte sich. Sein Rücken gab ein unschönes Knacken von sich, was nicht verwunderlich war, bedachte man, wie unglaublich unbequem diese Plastikstühle waren. „Ich hätte wirklich gute Lust, uns ein kleines Sofa hier reinzustellen, damit wir es beim Lesen wenigstens ein bisschen gemütlicher haben.“ Er lächelte schief, stutzte aber, als von Aoi keine weitere Reaktion kam. „Aoi? Ist alles in Ordnung mit dir?“

 

„Wie?“ Sein Freund sah auf und ihm ins Gesicht, wo seine Augen zuvor noch wie gebannt das Buch in seiner Hand fixiert hatten.

„Ich weiß nicht, ob alles in Ordnung ist. Wenn ich mich so zurückerinnere, vermutlich eher nicht. Ich bekomme tatsächlich Angst davor, nun herauszufinden, was Uruha noch so alles über mich geschrieben hat. Ich verstehe jetzt, warum du so gezögert hast, die Tagebücher zu lesen.“

 

„Das war nicht der einzige Grund, aber ja, einer von ihnen.“

 

„Ich will nicht, dass mein Wissen über seine intimsten Gedanken irgendwas zwischen uns ändert, verstehst du?“

 

„Mhmh, ja. Ich denke zwar, dass deine Befürchtung unbegründet ist, aber ich kann auch absolut nachvollziehen, wo sie herkommt, glaub mir.“ Reita seufzte, ließ das Buch auf Uruhas Bettdecke sinken und legte seinem Partner einen Arm um die Schultern.

„Sollen wir mit späteren Einträgen weitermachen? Wir könnten uns das Jahr eurer Hochzeit heraussuchen, was hältst du davon? In dem Jahr hat er bestimmt einige sehr schöne Erinnerungen festgehalten und …“

 

„Nein“, unterbrach Aoi ihn und schüttelte den Kopf, bevor er fast zögerlich nach dem Buch griff und den nächsten Eintrag aufschlug. „Wenn, dann machen wir das richtig.“ Reita lächelte, drückte seinem Liebsten einen kurzen Kuss auf und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Hat Uruha eigentlich erst mit dem Tagebuchschreiben angefangen, als wir uns für Gazette zusammengetan haben?“ Aoi blätterte die Seiten durch, den Zeigefinger an der Stelle, an der Reita zu lesen aufgehört hatte, und schaute sich die Datumsangaben genauer an. „Alles von 2002.“

 

„Ja, mehr oder weniger.“ Das Gute an Uruhas Tagebucheinträgen war, dass sie nie sonderlich lang waren und dass sein bester Freund so pedantisch penibel war, dass er für jedes Jahr ein neues Buch begonnen hatte. So hatten sie dieses hier, das Erste aus der kleinen Schachtel, bereits fast durchgelesen.

„Ich erinnere mich zwar, dass er zu Schulzeiten manchmal geschrieben hat, und später, als wir uns eine Wohnung geteilt haben, weil wir selbst mit Ma'die Kusse und unseren Nebenjobs zu wenig hatten, um uns was Eigenes leisten zu können, hat er ständig ein Notizbuch mit sich herumgetragen. Aber er hat nie so regelmäßig geschrieben wie jetzt, glaube ich, und ich weiß nicht mal, ob diese uralten Aufzeichnungen seine vielen Umzüge in den letzten Jahren überlebt haben. Ich würde mal behaupten, eher nicht.“

 

Aoi brummte verstehend und begann zu lesen, während Reita seine Arme auf dem Bett verschränkte, sich vornüberbeugte und seinen schweren Kopf auf ihnen ablegte. Er hörte nicht wirklich zu, was sein Partner vorlas, einerseits, weil er unendlich müde war, andererseits, weil ihn noch immer Skrupel plagten, so deutlich in Uruhas Privatsphäre einzudringen. Erst, als Aoi ein grunzendes Schnauben von sich gab, drehte er den Kopf zur Seite und schielte ihn aus nur einem geöffneten Auge fragend an.

 

„Was war das gerade?“

 

„Hör zu.“

 

Heute gab es eine extragroße Salamipizza mit Peperoni und Oliven und allen Schikanen. Gott, wie lang hab ich keine Pizza mehr gegessen? Vermutlich seit wir bei Matina unter Vertrag stehen. Warum muss eigentlich nur ich diese hautengen Klamotten tragen? Scheiß auf gutes Aussehen und Erfolg, wenn ich deswegen auf Pizza verzichten muss!

 

Reita drehte den Kopf und dämpfte sein Prusten in der Bettdecke.

„Sag ihm nur nie, dass wir das gelesen haben.“

 

„Ich werde mich hüten.“ Aoi rieb sich über die plötzlich feucht glänzenden Augen, während Reita so tat, als hätte er diesen kurzen Anflug der Schwäche nicht gesehen.

„Sobald du aufwachst …“, sagte sein Freund deutlich leiser an Uruha gerichtet, „bekommst du so viele, extragroße Salamipizzen mit Peperoni, Oliven und allen Schikanen, wie du magst, das versprech ich dir.“

 

„Ganz genau“, hakte er ein, griff nach Aois Hand, die erneut über Uruhas lag und drückte zu. „Du musst uns nur noch verraten, was du mit ‚allen Schikanen‘ meinst.“

 

Wie lange sie so dasaßen, ihren Geliebten stumm betrachteten und versuchten, den Schmerz auszuhalten, der erneut in ihren Herzen aufgeflammt war, hätte er nicht sagen können. Irgendwann räusperte sich Aoi, setzte sich etwas gerader hin und begann erneut zu lesen, ohne jedoch seine Hand zurückzuziehen. Reita seufzte unhörbar, blieb in seiner vornübergebeugten Position halb auf Uruhas Bett liegen und gab dem Drang nach, seine schweren Lider zu schließen. Aois Stimme war wie ein warmer Frühlingswind, der ihn in eine andere Welt zu wehen schien. Er hatte das Gefühl zu fallen, langsam, getragen von den Worten seines Liebsten, der Uruhas Gedanken und Erinnerungen eine Stimme verlieh. Lange schwebte er in Finsternis – einer warmen, einhüllenden Schwärze – bis sich vor seinen Augen ein heller Lichtpunkt zeigte. Erst war er so klein wie ein Stecknadelkopf, wuchs jedoch rasend schnell an, bis ihn ein Tunnel aus Helligkeit einhüllte. Er fühlte sich noch immer ruhig, beinahe wie in Trance, als seine Füße harten Marmorboden berührten und ihm ein unerwartet vertrauter Geruch in die Nase stieg. Es roch nach Staub, der von der Sonne aufgeheizt worden war, nach alten Büchern und etwas, dass er immer mit Uruha in Verbindung gebracht hatte, ohne es benennen zu können. Verwundert blickte er sich um, fand sich in einem breiten, lichtdurchfluteten Korridor mit hoher Decke wieder. Ihm gegenüber schienen sich bodentiefe Fenster bis in die Unendlichkeit aneinanderzureihen, während er hinter sich nur eine einsame, schwarze Tür erblickte.

Wo war er hier? Träumte er etwa?

 

Langsam ging er auf die Tür zu.

„Uruha?“, wisperte er, doch seine Stimme hallte so blechern und laut von den Wänden wider, als befände er sich in einem viel größeren, viel leereren Raum. Er erschrak sich, der Schall dröhnte in seinen Ohren, schien sich zu vervielfältigen, bis er abrupt verstummte, als auch er in jeder Bewegung innehielt. Sein Atem ging stoßweise, eine unbestimmte Vorahnung breitete sich in ihm aus, bis er die Anspannung kaum noch ertragen konnte. Mit einem Ruck hob er die Hand, stand nun genau vor der schwarzen Tür. Ob er den Messingknauf hatte drehen wollen oder nur anklopfen, hätte er nicht mit Bestimmtheit sagen können, doch …

 

… die anderen schienen heute alle Spaß an unserem Videodreh gehabt zu haben. Bin ich wirklich der Einzige, der das unendlich anstrengend gefunden hat? Ruki wollte hinterher sogar noch …

 

Das anhaltende Hintergrundrauschen, zu dem Aois beständiges Vorlesen geworden war, verstummte, und mit einem Mal veränderte sich seine Umgebung drastisch. Wo ihn eben noch das Sonnenlicht gewärmt hatte, das durch die Fenster gefallen war, erhellte nun nur noch silbriges Zwielicht den Korridor. Das Gefühl der Vertrautheit war verschwunden und klamme Kälte ließ ihn frösteln. Er hörte stolpernde Schritte auf sich zukommen, sah die Umrisse einer Gestalt, die sich aus den Schatten schälte.

„Uruha? Bist du das?“

 

„So, ich muss euch leider bitten, nun zu gehen. Die Besuchszeit ist vorbei und Herr Takashima braucht Ruhe.“

 

Schwester Karens Stimme, die Reita bislang immer als angenehm, wenn auch ein wenig laut beschrieben hätte, explodierte in seinem Kopf und ließ seine Trommelfelle schmerzen. Er verzog das Gesicht und würgte. Die Luft um ihn herum schien sich zu komprimieren, der Druck lastete so schwer auf seinen Knochen, dass er glaubte, jeden Moment in die Knie gehen zu müssen. Und immer noch hörte er diese Schritte, sah Bewegungen in den tiefen Schatten.

„Uruha!“

Er rief so laut, dass sein Kopf zu zerspringen drohte, als er glaubte, eine weitere Gestalt erkennen zu können. Sie packte die Erste, schleifte sie fort, während er sich wie von Dutzenden Händen zurückgezogen in der Realität von Uruhas Krankenzimmer wiederfand.

 

„Oh Gott“, keuchte er, sprang auf und presste die Hand vor den Mund, während er halb blind zu der kleinen Nische hinüberstolperte. An ihrem Ende führte eine Tür zur Toilette, die er mit letzter Kraftanstrengung aufzog. Gerade so schaffte er es noch, den Deckel hochzuklappen, bevor er sich auf die Knie fallen ließ und sich geräuschvoll in die Schüssel übergab.

 

„Reita!“ Aois erschrockenen Ausruf hörte er nur am Rande und auch die vorsichtigen Berührungen erst an seiner Schulter, dann in seinem Nacken, nahm er kaum war. Seine Gedanken rasten und fanden doch kein Ziel, während sein Kopf derart schmerzte, als würde er jeden Moment in zwei Hälften zerbrechen. Er verstand nicht, was gerade geschehen war, ob überhaupt etwas geschehen war und weshalb er sich nun so elend fühlte.

Lange Momente, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, konnte er nichts anderes tun, als zu würgen, und als sein Magen nichts mehr in sich hatte, was er hergeben konnte, ließ er sich von Aoi zurück in seine Arme ziehen. Er hatte kaum noch genug Kraft, die Augen zu öffnen, geschweige denn seinem Freund auf die immer dringlichere Frage, was mit ihm los sei, eine Antwort zu geben.

Irgendwann fühlte er etwas Kaltes in seinem Nacken, eine im Kontrast zu der Agonie seines Kopfes so wohltuende Empfindung, dass er beinahe geschluchzt hätte.

 

„Reita-kun“, begann Schwester Karen betont leise auf ihn einzureden, „versuch dich aufzusetzen und mich anzusehen, in Ordnung?“

Nein, nichts war in Ordnung. Er wollte sich einfach nur hinlegen, sich nicht bewegen und hoffen, dass so diese fürchterlichen Kopfschmerzen verschwinden würden. Aber er gehorchte, versuchte es zumindest, und schaffte es mit Aois Hilfe in eine einigermaßen aufrechte Sitzhaltung. Seine Augen begannen unvermittelt zu tränen, als er die Lider auch nur ein Stück anhob und die Helligkeit stach und brannte. Nicht einmal die Zähne konnte er zusammenbeißen, weil die Schmerzen dadurch nur noch unerträglicher wurden.

„Sieh mich an“, bat Schwester Karen erneut und drehte seinen Kopf vorsichtig in ihre Richtung. „Siehst du irgendwas Ungewöhnliches?“

 

„Alles ist … verschwommen …“ Himmel, reden war so anstrengend. „An den Rändern … wabert es? So viele Farben …“, nuschelte er, fühlte sich beinahe wie betrunken… Was war denn nur los mit ihm? Verflucht, wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären.

 

„Hat er in der Vergangenheit auch schon so schwere Migräneanfälle gehabt?“ Die Frage war offensichtlich nicht an ihn gerichtet, so schloss er die Augen wieder und lehnte sich gegen Aoi, der ihm in diesem Augenblick wie die einzige Stabilität in einer taumelnden und sich ständig neu arrangierenden Wirklichkeit vorkam.

 

„Reita? Nein, noch nie, denke ich. Uruha hat oft Probleme mit Migräne, aber er …“

 

Reita spürte, wie Aoi den Kopf schüttelte, bekam von Schwester Karens Reaktion allerdings nichts mit.

 

„Mh, das ist zwar selten, aber nicht ungewöhnlich. Sie stehen beide im Moment unter großem seelischem und vermutlich auch beruflichem Stress. Ich hole ihm erst einmal etwas gegen die Übelkeit und sag unserem Stationsarzt Bescheid, dass er sich Reita-kun kurz ansieht. Keine Sorge, das wird wieder. Bleiben Sie vorerst einfach mit ihm hier sitzen – Bewegung ist gerade Gift für ihn, genau wie Lärm und Licht.“

 

Er hörte es rascheln, als sich Schwester Karen aufrichtete, das viel zu laute Klicken, als sie die Beleuchtung im Toilettenraum ausschaltete und ihre leisen und doch für seine empfindlichen Ohren unerträglich lauten Schritte, als sie das Zimmer verließ. Er stöhnte, ein Laut, den er sich besser verkniffen hätte, und verbarg sein Gesicht an Aois Brust.

 

„Was machst du nur?“, flüsterte sein Partner, worauf er ihm nicht einmal eine Antwort geben konnte. Einerseits, weil ihm dazu die Kraft fehlte, andererseits, weil er die Antwort darauf selbst nicht wusste.

 

~*~

 

„Brauchst du noch was?“ Aoi saß neben ihm auf dem Bett und strich zum dritten Mal die Decke glatt, die er wie einen Kokon um ihn drapiert hatte. Reita verkniff sich ein Seufzen und verneinte mit einem matten Lächeln auf den Lippen.

 

„Du könntest mir Gesellschaft leisten, es ist doch sowieso schon recht spät?“ Das Schmerzmittel, das ihm der Arzt gespritzt hatte, machte ihm das Denken schwer und ließ seine Worte lallend und etwas unkoordiniert aus seinem Mund taumeln. Er konnte diesem Gefühl des Kontrollverlusts zwar nichts abgewinnen, besonders, wenn nicht er es war, der ihn mit Alkohol herbeigeführt hatte, aber eines musste man dem Zeug lassen – es wirkte. Schmerzen verspürte er tatsächlich keine mehr, wobei ein dumpfer Druck hinter seinen Schläfen davon zeugte, dass seine Synapsen noch immer ordentliches Fehlfeuer produzierten.

 

„Ich brauch noch ein paar Momente, um runterzukommen“, murmelte Aoi in diesem Augenblick und hauchte einen kaum fühlbaren Kuss auf seine Stirn. „Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt, wenn ich das mal so sagen darf.“

 

„Tut mir leid.“ Tat es wirklich, besonders weil er noch immer nicht begriff, was eigentlich mit ihm geschehen war. Solche Kopfschmerzen hatte er noch nie in seinem Leben ertragen müssen und niemand konnte ihm sagen, was diese ausgelöst hatte. Selbst der Arzt hatte sich diesen Anfall mit Stress und Übermüdung erklärt, aber Reita wusste, dass das nicht alles war. Da war sein Traum gewesen, dieser lichtdurchflutete Korridor, der mit einem Mal so bedrohlich gewirkt hatte, und dann dieser Zug, wie Dutzende Hände, die erbarmungslos an ihm gezerrt hatten. Er verzog das Gesicht, als ein stechender Schmerz durch seine Grübeleien schnitt und beschloss im Stillen, das Denken lieber auf morgen zu verschieben.

 

„Alles in Ordnung? Ich wollte dir damit wirklich kein schlechtes Gewissen einreden … Ich brauch nur noch ein paar Momente für mich. Nimm mir das nicht übel, bitte.“

 

„Nein, nein, alles gut.“ Er versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln, wühlte seine Rechte unter der Decke hervor und fuhr Aoi durch die wirren Haare. „Versprich mir nur, dass du nicht wie so oft die ganze Nacht auf dem Sofa verbringst und über deinen Gedanken brütest. Das würde dir dein Rücken nur wieder übel nehmen. Mir geht es gut, du hast den Arzt doch gehört. Ich brauch nur ein bisschen Ruhe, das ist alles.“

 

„Wer neigt hier zum Brüten, ich sicherlich nicht.“ Aoi grinste und zwinkerte ihm zu, während er diese dreiste Lüge nur mit einem Schnauben quittierte. „Aber ja, ich versprech dir, dass ich bald ins Bett komme, okay?“

 

„Mhmh, okay.“ Er ließ sich zurück in die Kissen sinken, als sich Aoi über ihn beugte und ihn unendlich zärtlich zu küssen begann. Dass sein Partner nur wenige Momente später das Schlafzimmer verließ, hatte er schon gar nicht mehr mitbekommen. In dieser Nacht träumte er von Gängen, die sich in die Unendlichkeit erstreckten, Türen, die nirgendwohin führten und einem Haus, das zu atmen schien.

 

~*~

 

Am nächsten Tag hatte Reita das Gefühl, eben erst die Augen geschlossen zu haben, obwohl er beinahe zehn Stunden durchgeschlafen hatte. Auch zwei Tassen Kaffee machten ihn nicht sonderlich munter und so saß er zur Mittagszeit eher schlecht als recht an ihrem Besprechungstisch im Studio und versuchte, Kais Ausführungen zu folgen, mit denen er ihnen gerade ihre Pläne für die nächsten Tage nahelegte. Wenigstens war er nicht der Einzige, dessen Aufmerksamkeitsspanne heute nicht vorhanden war, denn Ruki tippte schon die ganze Zeit über auf seinem Smartphone herum, während sich Aoi mit verbissener Miene krampfhaft an seinem Energydrink festhielt. Reita würde wetten, dass sein Liebster doch die halbe Nacht auf dem Sofa verbracht und seinen Gedanken beim Kreisen zugesehen hatte. Aber da er heute Morgen brav neben ihm gelegen hatte, als er aufgewacht war, ließ sich das nur schwer beweisen.

 

„So, jetzt noch mal für alle zum Mitschreiben …“, durchbrach Kais Stimme seine Gedanken und das dumpfe Geräusch, mit dem seine Dokumentenmappe auf dem Tisch aufkam, riss sogar Ruki aus seiner geschriebenen Unterhaltung. Manchmal tat ihm ihr Leader fast leid … aber nur fast. Reita verkniff sich ein Schmunzeln und griff nach der Flasche Wasser, die vor ihm auf dem Tisch stand, um sich einen großen Schluck zu genehmigen. Vielleicht machte ihn ja das kühle Nass munter. Er bezweifelte es, aber wenigstens konnte ihm niemand vorwerfen, er hätte nicht alles versucht.

„Ihr drei fahrt heute nach Osaka …“ Tja, da waren seine Gedanken also schon wieder abgedriftet und so brauchte er ein paar Sekunden, bis er begriff, dass Kais ‚ihr drei‘ auch ihn miteinschloss – großartig.

„Organisiert ist schon alles, ihr müsst also nur pünktlich vor Ort sein. Euer Zug geht in knapp zwei Stunden. Interview, Bilder, kurzes Fanmeeting, ihr kennt das ja.“

 

„Oh nein“, jammerte Reita und konnte sich gerade so noch davon abhalten, seinen Kopf auf die Tischplatte knallen zu lassen. Das hätte ihm sein angeschlagener Schädel sicherlich übel genommen. „Können wir uns nicht fahren lassen?“

 

„Nein, weil ich heute Abend noch eine Besprechung wegen der neuen Schmuckkollektion hab und deshalb früher als ihr zurückfahren muss.“

 

Dezent verwirrt musterte er Ruki, der direkt neben ihm saß und von dem diese Erklärung gekommen war. Nicht nur, dass das die meisten Worte waren, die ihr Sänger bislang aneinandergereiht hatte, sie ergaben auch absolut keinen Sinn.

 

„Sorry, aber bin ich gerade zu blöd, dich zu verstehen, oder liegt das an dir?“

 

„Ehm …“ Nun war es an Ruki konfus zu blinzeln. „In meinem Kopf hat sich das irgendwie nachvollziehbarer angehört.“

 

„Aoi, rück die Gehirnzelle raus, die beiden haben sie gerade mehr als nötig.“ Kai schüttelte den Kopf, konnte sein Schmunzeln jedoch nicht verbergen, während es ihren Gitarristen aus seiner Starre riss, als ihm ein herzhaftes Lachen entkam. Derweilen grinsten sich Ruki und er nur verschmitzt an und verständigten sich mit stummen Blicken darauf, lieber nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kais Geduldsfaden in allen Ehren, aber sie sollten ihn besser nicht überstrapazieren.

„Ihr müsst leider mit dem Zug fahren“, begann ihr Leader seine Erklärung, nachdem sich Aoi wieder beruhigt hatte, „… weil ich heute einiges an Organisationskram zu erledigen hab und deshalb sowohl den Van brauche, als auch nicht mitkommen kann.“

 

„Ja, das klingt logisch“, meinte Ruki im Brustton der Überzeugung, als hätte er gerade ganz allein den Sinn des Lebens entschlüsselt.

 

„Hey, dann haben wir ja quasi sturmfrei … ehm … kann man das so sagen?“

 

„Jeder weiß, was du meinst, Rei.“ Aoi grinste ihn an, während Kai ihm einen mahnenden Blick schenkte und Ruki ihm die flache Hand entgegenhielt, damit er einschlagen konnte.

 

~*~

 

Der Zug lag so leise auf den Schienen, dass er beinahe den Eindruck gewinnen könnte, sie würden sich gar nicht bewegen, würde die Landschaft nicht in rasendem Tempo an seinem Fenster vorbeiziehen. Reita gähnte hinter vorgehaltener Hand und war froh über das Wetter, das sich kurz vor ihrer Abfahrt eingetrübt hatte und Regen versprach. Irgendwie war er heute für Sonnenschein nicht in der Stimmung. Aoi ihm gegenüber hatte die Augen geschlossen, aber als er vorsichtig sein Bein ausstreckte und mit den Zehenspitzen gegen seinen Fuß tippte, öffnete sich ein Lid und das feine Lächeln, das sich auf seine Lippen schlich, ließ seine müden Züge gleich viel frischer wirken.

 

„Mh? Alles gut?“

 

Reita nickte und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als ihn ihr Sänger unerwartet unterbrach.

 

„Nein, eigentlich ist nichts gut. Wann wollt ihr mir sagen, was mit euch los ist?“ Verblüfft starrten sie Ruki an, der jetzt erst das Display seines Handys aus den Augen ließ, um stattdessen ihn und Aoi streng zu mustern.

„Seit wir eingestiegen sind, habt ihr kein Wort gesprochen und heute bei der Besprechung saht ihr aus, wie zwei halbverweste Zombies.“ Reita verzog bei dieser bildhaften Beschreibung ihres Anblicks das Gesicht, konnte dem Kleinsten ihrer Runde diesen Vergleich aber nicht mal übel nehmen.

„Dass wir momentan alle nicht auf der Höhe sind, ist klar, aber ihr könnt mir nicht weismachen, dass nicht irgendwas zusätzlich vorgefallen ist.“

Nach all den Jahren, die er Ruki nun schon kannte, sollte es ihn wahrhaftig nicht mehr wundern, mit welchem Feingefühl er seine Umgebung und seine Mitmenschen wahrnahm, und dennoch war er nun derart verblüfft, dass ihm für einige Augenblicke die Sprache fehlte.

„Geht es Uruha schlechter?“

 

„Nein.“ Schnell schüttelte er den Kopf, konnte die Furcht, die in diesen wenigen Worten mitgeschwungen war, kaum ertragen. „Sein Zustand ist … unverändert, zumindest wenn man die Ärzte fragt.“

 

Rukis fein gezupfte Augenbrauen wanderten nach oben, während sich ein fragender Ausdruck auf seine Züge legte. Aoi und er wechselten einen Blick, bevor sein Partner es war, der mit der Sprache herausrückte.

 

„Mir ist bewusst, dass sich das wie aus einem schlechten Fantasy-Roman zitiert anhören wird, aber …“ Aoi unterbrach sich selbst, um einmal tief durchzuatmen. Seine Finger malten nervöse Muster auf seiner Jeans und alles in allem wirkte er auf Reita so unbehaglich, als wäre er gerade am liebsten überall nur nicht hier. „Also, was ich damit sagen will, ist … Reita und ich … wir glauben, da auf etwas gestoßen zu sein.“

 

„Mensch Aoi, mach es bitte noch spannender, mein Puls hat die zweihundert noch nicht erreicht“, schnappte Ruki deutlich irritiert.

 

„Sorry, ich versuch ja nur, irgendwie die richtigen Worte zu finden. Das ist gar nicht so einfach …“

 

„Lass mich das machen, mh?“, bot Reita an, weil er das Herumdrucksen seines Freundes nicht mehr mitansehen konnte. „Ich weiß ja, wie schwer du dir damit tust.“

 

„Wunderbar, wenn wir das jetzt geklärt hätten – Aoi betüddeln kannst du später auch noch.“ Ruki war eindeutig am Ende seines ohnehin immer sehr kurzen Geduldsfadens angekommen, aber in Anbetracht dessen, dass er wohl schon den ganzen Tag über bemerkt hatte, dass Aoi und ihm etwas auf der Seele brannte, konnte er ihm seine Ungeduld nicht einmal übel nehmen.

 

„Schon gut, schon gut.“ Beschwichtigend hob Reita beide Hände und begann kurz und knapp zu erzählen, was in den letzten Tagen geschehen war. Angefangen von den Botschaften in Uruhas Tagebuch, über die geisterhafte Präsenz, die nicht nur er bereits mehrmals gespürt hatte, bis hin zu dem Moment, als es ihrem Geliebten nicht gut ging, bis sie ihm eben jenes Tagebuch zurückgebracht hatten. Eines musste man Ruki lassen, er hatte ihn die ganze Zeit über, in der er geredet hatte, kein einziges Mal unterbrochen und schaute ihn auch jetzt nur nachdenklich an, obwohl bestimmt schon seit einer Minute Stille zwischen ihnen eingekehrt war.

„Du hältst mich für komplett durchgeknallt, stimmt’s?“

 

„Das sowieso“, winkte Ruki ab und rieb sich über die Oberlippe.

 

„He~!“

 

„Pscht, ich denke nach.“

 

„Dann geh ich derweilen mal etwas zu trinken holen oder brauchst du mich gerade?“ Aoi schaute ihn fragend an und er konnte das anhaltende Unbehagen erkennen, das seine Miene fast wie versteinert wirken ließ, immer wenn sie über dieses Thema sprachen.

 

„Nein, geh nur. Bringst du mir eine Pocari Sweat mit?“

 

„Ja, mir auch, bitte.“

 

„Klar mach ich.“

 

Für einen langen Moment sah er seinem Liebsten hinterher, der sich durch die Sitzreihen schlängelte, bis er durch die Tür des Großraumabteils verschwand.

„Nun sag schon was“, bat er, als er Rukis anhaltendes Schweigen nicht mehr länger ertragen konnte.

 

„Ich weiß zwar nicht, was das über mich aussagt – vermutlich, dass ich schon zu lang mit euch Spinnern in einer Band bin – aber ich kann mir das tatsächlich vorstellen. So sehr, wie Uruha an seinen Tagebüchern hängt, sind die doch beinahe ein Teil von ihm.“

 

„Du glaubst mir?“

 

„Hab ich doch gesagt.“

 

Reita schluckte, als sich sein Hals mit einem Mal wie zugeschnürt anfühlte. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht geahnt, wie wichtig es ihm war, dass Ruki seinen Worten Glauben schenkte. Einfach so, ohne Beweise, nur weil er es war, der ihm davon erzählt hatte. Eine feingliedrige Hand legte sich auf seinen Unterarm, drückte kurz zu, bevor er sich erneut mit einem musternden Blick aus wachen Augen konfrontiert sah.

 

„Und jetzt erzähl mir den Rest.“

 

„Manchmal machst du mir mit deiner Art wirklich Angst, weißt du das?“

 

„Das sagt Kai in letzter Zeit auch sehr häufig. Mh, vielleicht sollte mir das zu denken geben. Aber genug von mir … Was hast du mir noch nicht gesagt?“

 

Schmunzelnd schüttelte Reita über das Verhalten seines Freundes amüsiert den Kopf, wurde aber schnell wieder ernst, als er versuchte, seine Erlebnisse von gestern in Worte zu fassen. Was nicht so leicht war, wie es sich anhören mochte, bedachte man, dass er selbst keine Ahnung hatte, was genau überhaupt vorgefallen war.

 

„Wir haben begonnen, seine Tagebücher zu lesen. Sieh mich nicht so an, mir ist bewusst, was für ein großer Vertrauensbruch das ist. Ich oder besser wir haben uns diese Entscheidung auch wirklich nicht leicht gemacht und ich fühl mich dabei noch immer nicht gut …“ Reita hatte abwehrend beide Hände gehoben, als ihn Rukis unzufriedener Blick gestreift hatte, fuhr sich nun übers Gesicht und atmete einmal tief durch. „Aber ich hab da so eine Theorie, auch wenn ich ehrlich nicht sagen kann, ob ich mir das alles nicht nur einbilde. Irgendwie hängt alles mit Uruhas Tagebüchern zusammen …“

 

„Ja, soweit waren wir schon, aber was hat das nun damit zu tun, dass ihr sie lest?“

 

„Wir lesen sie nicht nur, wir lesen sie ihm vor … weil wir glauben, ihm dadurch seine Erinnerungen zurückgeben zu können. Ich weiß doch auch nicht. Aber da sind diese Hirnaktivitäten, die Doktor Fujida aufzeichnen konnte, die immer mit den Zeiträumen übereinstimmen, in denen Aoi und ich das Gefühl haben, Uruha wäre bei uns. Und die Art, wie er auf das Tagebuch reagiert hat, als wir es ihm zurückgebracht haben. Außerdem …“ Reitas Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er all seinen Mut zusammenkratzte, um endlich das zu erzählen, was er selbst noch immer nicht fassen konnte. „Außerdem glaube ich, dass ich bei ihm war.“

 

„Bitte?“ Nun zeichnete sich zum ersten Mal so etwas wie Skepsis in Rukis Gesicht ab und Reitas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Wie meinst du das, du warst bei ihm?“

 

„Gestern, als wir ihm vorgelesen haben …“ Himmel, warum war es nur so schwer, darüber zu reden? Er hatte das Gefühl, die Erinnerungen würden vor ihm davonlaufen, immer wenn er versuchte, das Geschehene in Worte zu fassen. „Ich war so unglaublich müde, also hat mich Aoi mit dem Vorlesen abgelöst. Ich muss eingeschlafen sein, glaube ich zumindest. Es hat sich angefühlt, als würden mich Aois Stimme und Uruhas Worte irgendwohin tragen, ein Haus – ein Schloss vielleicht? – mit ewig hohen Decken und Böden aus Marmor. Alles war so weitläufig und leer, aber auch vertraut? Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir das beschreiben soll. Auf jeden Fall hatte ich das Gefühl, als wäre ich Uruha in dem Moment ganz nah und ich glaube, ich habe ihn auch gesehen … Dann hat Aoi zu lesen aufgehört und alles hat sich verändert. Die Umgebung ist bedrohlich geworden, irgendwas war dort, etwas … Gefährliches.“ Als er sich durch die Haare fuhr, um sich ein wenig Zeit zu verschaffen, fühlte er, wie klamm seine Stirn war und wie stark seine Hand zu zittern begonnen hatte.

 

„Reita, was ist los? Alles in Ordnung?“ Rukis Blick war beinahe erschrocken, als er nach seiner freien Hand griff und zudrückte.

 

„Ja, alles in Ordnung. Es ist …“ Er schüttelte den Kopf, atmete tief durch und ließ die Hand kraftlos sinken. Noch einmal drückte Ruki seine Finger, bevor er ein wenig auf Abstand ging, um ihn kritisch zu mustern.

 

„Bist du dir sicher, dass du das alles nicht nur geträumt hast?“

 

„Ich weiß nicht.“ Verzweifelt erwiderte er erst Rukis Blick, bevor er seine Finger fixierte, die fest ineinander verschränkt in seinem Schoß lagen. „Es war zu real für einen Traum – viel zu real. Ich … ich finde nicht einmal die richtigen Worte, um dir zu beschreiben, wie ich mich gefühlt habe. Das Ding, diese unsichtbare Gefahr ist mir immer näher gekommen und plötzlich war da ein unerträglich starker Sog, der mich zurückgerissen hat. Als ich wieder im Krankenzimmer war, hat sich mein Kopf angefühlt, als würde er jeden Moment zerspringen. Der Arzt meinte, es wäre ein Migräneanfall gewesen, ausgelöst durch Stress, aber ich sag dir, das ist Schwachsinn. Ich hatte noch nie in meinem Leben Migräne. Ich war bei ihm, Ruki. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass ich einen Weg gefunden habe, ihn zurückzuholen.“

 

„Und die Kopfschmerzen? Diese Gefahr, die du beschrieben hast, was hat es damit auf sich?“

 

„Keine Ahnung. Vielleicht ist ja dieses Ding der Grund, warum Uruha nicht aufwacht?“ Erst, als er diese Vermutung ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, wie wahr sie sich anhörte. „Es konnte nicht verhindern, dass ich reinkam, aber es konnte wenigstens versuchen, mich nicht wieder wegzulassen.“ Seine Lippen waren taub geworden und ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken, während er Ruki aus geweiteten Augen ansah.

 

„Verdammt, Rei, was ist, wenn du recht damit hast?“

 

„Du glaubst mir also?“

 

„Nicht, dass ich will, aber das hört sich alles so abgefuckt an, dass ich nicht anders kann, als es zu glauben. Das sieht Uruha mal wieder ähnlich, wenn es um ihn geht, kann es wirklich nicht einmal einfach sein, oder?“

 

Ohne es zu wollen, entkam ihm ein kurzes, fast schmerzhaftes Lachen und er presste Daumen und Zeigefinger gegen seine geschlossenen Lider, als seine Augen verräterisch zu brennen begannen.

„Du hast recht, das passt wirklich zu ihm. Aber was mach ich jetzt?“

 

„Ich denke, in erster Linie solltest du Aoi erzählen, was du erlebt hast.“

 

„Woher weißt du, dass ich das nicht längst getan habe.“ Rukis rechte Braue wanderte ein Stück gen Haaransatz und strafte seine Worte damit Lügen. Reita ließ die Schultern hängen und rieb sich erneut übers Gesicht. „Du hast doch gerade selbst gesehen, wie unangenehm ihm das Thema ist. Wenn ich ihm nun auch noch damit komme …“

 

„Was dann, mh? Das Schlimmste, was in dieser Situation passieren könnte, ist, dass sich irgendetwas zwischen euch stellt. Ganz ehrlich, Reita, wenn an deinen Erlebnissen auch nur ein Fünkchen Wahrheit haftet, braucht Uruha euch beide. Aoi muss da durch und du über deinen Schatten springen. Das ist nicht die Zeit für Alleingänge oder Geheimnistuereien.“

 

Reita hatte noch etwas sagen wollen, aber in dem Moment sah er, wie die Tür zum Großraumabteil aufging und Aoi auf sie zukam.

„Ich rede mit ihm – heute Abend“, murmelte er noch, bevor er dankbar die gekühlte Flasche mit seinem gewünschten Energydrink entgegennahm, die sein Partner ihm reichte. Während Aoi sich lebhaft über eine Schulklasse beschwerte, die das gesamte Bordrestaurant in Beschlag genommen hatte, wanderte sein Blick erneut aus dem Fenster. Die Wolkendecke hatte sich zu einer undurchdringlichen Masse aus Grau verdichtet und erste Regentropfen hinterließen lange Schlieren auf der Scheibe. Ruki hatte recht, nun war nicht die Zeit für Alleingänge. Er wollte, musste Uruha erreichen, kostete es, was es wolle, und dafür würde er Aoi brauchen. Mehr als jemals zuvor.

[26. und 27. Juni] "Ihr wart bei mir, oder?"

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

[27. Juni] „Oh nein, was tust du?“

„Ach Rei, was ist, wenn die Bosse wirklich entscheiden, dass wir mit der Band pausieren? Ich hab doch absolut keine Ahnung, was ich mit so viel Freizeit anstellen soll.“ Ruki öffnete die Tür zu Uruhas Zimmer und betrat den Raum, während sich Reita ein herzhaftes Augenrollen verkneifen musste.

 

„So, wie du gerade herumjammerst, möchte man meinen, es wäre die Höchststrafe für dich, wenn du mal nicht arbeiten kannst.“ Er ging zum Besuchertisch hinüber und stellte die beiden Pappbecher mit Kaffee für sich und Tee für Ruki darauf ab.

 

„Ich arbeite halt gern, tu nicht so, als wäre es dir noch nie so gegangen.“ Der Sänger klang ein wenig eingeschnappt, als er sich auf den Stuhl vor Uruhas Bett setzte und ihm somit den Rücken zukehrte.

 

Reita schüttelte den Kopf. Der Kleine war heute wirklich nicht sonderlich gut drauf. Womöglich hätte er sich den nächsten Kommentar verkneifen sollen, aber die Worte waren schon über seine Lippen gekommen, bevor er es hatte verhindern können.

„Du könntest natürlich auch einfach froh über die freie Zeit sein, dir Kai schnappen und all das nachholen, wozu ihr schon viel zu lange nicht gekommen seid. Wäre auf jeden Fall eine produktivere Lösung, als immer nur das Negative zu sehen.“ Er biss sich auf die Unterlippe in Erwartung eines Ausbruchs, der jedoch nie kam.

„Ruki?“ Stirnrunzelnd ging er die wenigen Schritte auf ihren Sänger zu, der wie versteinert auf seinem Platz saß und etwas zu fixieren schien, das auf dem Bett lag.

„Ist was nicht in Ordnung?“, fragte er, mit einem plötzlich unwohlen Gefühl in der Magengegend.

 

„Schau selbst.“ Rukis Antwort schien wie aus weiter Ferne zu kommen, als er ihn im selben Moment erreicht und über seine Schulter gesehen hatte. Es war das Tagebuch, welches die Aufmerksamkeit des anderen fesselte. Genauer wohl die roten Buchstaben, die sich erneut über eine sonst leere Doppelseite zogen.

 

FINDET MICH!

 

„Oh, Gott“, entkam es ihm gedämpft, eine Hand vor den Mund geschlagen, während er sich mit der anderen an der Stuhllehne festhalten musste, weil ihn seine Beine kaum noch trugen.

„Uruha.“ Seine Augen brannten, als sich Tränen in ihnen sammeln wollten, die er jedoch rigoros fort blinzelte. Seit der letzten Botschaft waren Tage vergangen und er hatte angenommen, dass sein Geliebter schlichtweg keine Kraft für einen weiteren Kontakt dieser Art hatte. Wie dumm und naiv er doch war. Diese Worte nun zu lesen, war wie ein Schlag ins Gesicht und fachte seine Schuldgefühle von Neuem an. Hätte er mehr tun sollen? Schneller versuchen, Uruha in dieser eigenartigen Welt zu finden, so wie das Geschriebene es von ihm verlangte? Verdammt, diese zwei Worte – sie klangen auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte, noch dringlicher als die Vorangegangenen. Es fühlte sich an, als würden ihm die Sekunden zwischen den Fingern hindurchrinnen und gleichzeitig war er wie gelähmt.

Reita beobachtete, wie der Sänger mit zitternder Hand das Buch an sich nahm, mit dem Zeigefinger die roten Zeichen nachfuhr, als erwartete er, sie würden verschwinden, sobald er sie berührte. Aber sie blieben bestehen wie Mahnmale, die ihn unerbittlich antrieben, bis die Paralyse endlich brach. Er drehte sich weg, zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte Aois Nummer.

 

„Hallo.“

 

„Aoi, du musst sofort …“

 

„… ich kann gerade nicht ans Telefon gehen, aber lass mir eine Nachricht da und ich ruf zurück.“

 

„Verdammt“, zischte er, wartete jedoch geduldig auf den Signalton, bevor er mit bemüht ruhiger Stimme fortfuhr: „Hallo, Blue. Komm bitte in die Klinik, sobald du das abhörst, ja?“ Reita beendete das Telefonat, rief jedoch gleich noch mal an. Nur, weil er bereits eine Nachricht hinterlassen hatte, hieß das nicht, dass er es nicht noch einmal versuchen konnte, oder? Ganze fünf Mal trieb er dieses Spielchen, ohne Erfolg. Erst, als Stuhlbeine unsanft laut über den Kunstharzboden kratzten und Ruki auf ihn zukam, ließ er das Handy sinken.

 

„Aoi meldet sich schon, sobald er sieht, dass du angerufen hast.“

 

„So lang kann ich nicht warten.“ Er steckte das Telefon zurück und drehte sich zum Tisch, neben dem seine Umhängetasche stand. Gut, dass er alles Notwendige eingepackt hatte, obwohl ihm die Pläne seines Liebsten heute Morgen einen Strich durch die eigenen gemacht hatten.

„Dann musst eben du mir helfen, zu ihm zu kommen“, nuschelte er, während er das Migränemedikament und ein kleines Tütchen mit fein gemahlenem Pulver aus der Tasche zog.

 

„Wie meinst du das?“ Wieder war Ruki nähergekommen und schaute ihm interessiert bei seinem Tun zu. „Was ist das für Zeug?“

 

„Medizin, die mir der Arzt nach meinem angeblichen Migräneanfall verschrieben hat.“ Er hob den Kopf und erwiderte Rukis Blick. „Was? Du schaust mich an, als hätte ich gerade Drogen ausgepackt. Das ist irgendein Kräutergemisch, keine Ahnung was genau, aber es soll müde machen. Also genau das, was ich jetzt brauche.“

 

„Halt, halt, halt“, verlangte der Sänger nachdrücklich und hob abwehrend beide Hände. „Erklär mir erst einmal, was du jetzt vorhast und wofür genau du meine Hilfe brauchst.“

 

War sein Vorhaben für einen Fast-Außenstehenden tatsächlich nicht sofort nachvollziehbar oder stellte sich Ruki mit Fleiß dumm?

„Ich will noch einmal versuchen, zu Uruha zu gelangen, und du sollst mir dabei helfen. Letztes Mal war ich unglaublich müde, als Aoi vorgelesen hat. Ich muss fast eingeschlafen sein …“ Er schüttelte den Kopf, halb genervt davon, dass er keine anständigen Antworten für seinen Freund parat hatte. Warum machte Ruki es ihm so schwer?

„Ich kann es nicht genau erklären, aber ich brauch dich, um zu lesen, in Ordnung?“

 

„Und vorher willst du dieses Medikament einnehmen?“ Beim letzten Wort zeichnete Ruki mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft, als würde er ihm noch immer nicht glauben, dass ihm die Sachen verschrieben worden waren.

„Damit du schläfrig genug wirst, um was genau zu tun?“

 

„Weiß ich nicht“, fauchte er, nahm die Präparate vom Tisch und ging zu der Waschnische hinüber, um sich ein Glas mit Wasser zu füllen. Die Tablette war schnell hinuntergeschluckt – er hoffte nur, dass sie auch prophylaktisch eingenommen ihre Wirkung zeigen würde.

„Ich sagte doch schon, dass ich dir nicht erklären kann, was beim letzten Mal passiert ist. Vielleicht bin ich eingeschlafen, vielleicht war es eine Art Trance. Was auch immer es war, so aufgedreht, wie ich mich gerade fühle, schaffe ich es sicher nicht, zu ihm zu gelangen. Also hör auf, mir die ganze Zeit Fragen zu stellen, die ich dir nicht beantworten kann, und hilf mir lieber!“

Er schüttete sich den Inhalt des kleinen Briefchens in den Mund, verzog bei dem bitteren Geschmack das Gesicht und spülte das sandige Pulver mit viel Wasser hinunter.

„Was ist nun?“

 

„Mir ist wirklich nicht wohl dabei. Was, wenn dir diesmal mehr passiert als nur ein brummender Schädel? Außerdem … Ich soll Uruhas Tagebucheinträge lesen? Es ist ja schon grenzwertig, wenn du und Aoi das machen, aber ich? Ganz ehrlich, Reita, ich hänge an meinem Leben und hätte gerne auch dann noch einen Kopf, sobald Uruha aufwacht.“

 

„Er kommt womöglich nie zurück, wenn wir nichts unternehmen.“

 

„Das weißt du nicht.“

 

„Ebenso wenig wie du!“ Er atmete tief durch, ließ die Schultern sinken und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, ich wollte nicht laut werden.“

 

„Schon gut.“ Ruki kam auf ihn zu, griff mit beiden Händen nach seinen Oberarmen und hielt ihn so fest, als befürchtete er, Reita würde einfach verschwinden.

„Warum hast du es so eilig? Warum kannst du nicht warten, bis Aoi hier ist?“

 

„Ich …“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Du hast es doch selbst gelesen. Findet mich. Das … Klingt das denn nur für mich danach, als würde Uruha die Zeit davonlaufen?“

Ruki presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie nur noch zwei dünne, farblose Linien in seinem Gesicht waren.

„Ruki, bitte. Vielleicht bilde ich mir die Dringlichkeit gerade nur ein, vielleicht aber auch nicht. Was ich jedoch weiß, ist, dass ich es mir nie verzeihen könnte, jetzt nicht gehandelt zu haben. Bitte, ich brauch deine Hilfe.“

 

„Verflucht, Reita.“ Der Sänger drehte sich weg, ging auf das Bett zu und setzte sich. „Du weißt nicht, was du da von mir verlangst.“ Mit verkniffener Miene nahm er das Tagebuch an sich, betrachtete für einen langen Moment die geisterhafte Botschaft, bevor er die Seite aufschlug, die mit dem Kassenzettel markiert war.

„Nun setz dich schon, bevor du dir den Schädel einschlägst, weil dich die Kräuter ausgeknockt haben.“

 

„So funktionieren die nicht.“

 

„Mir egal, hock dich auf deine fünf Buchstaben und halt die Klappe.“

 

Unwillkürlich musste er schmunzeln, wusste er doch nur zu gut, dass Ruki immer schnippisch wurde, wenn er sich sorgte.

„Danke“, flüsterte er, machte erneut einen kurzen Abstecher zum Tisch in der Ecke des Raumes, um ein weiteres Tagebuch in die Hand zu nehmen. „Egal, was passiert“, meinte er und legte den dünnen Band neben seinen noch immer unwillig wirkenden Freund auf den Nachttisch, „du darfst nicht zu Lesen aufhören. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das war beim letzten Mal der Grund, weshalb ich so unsanft zurückgerissen wurde.“ Er zog den zweiten Stuhl ans Bett, Ruki gegenüber und setzte sich. Die Kräuter zeigten bereits Wirkung und machten seine Glieder schwer. Wow, mit einer so deutlichen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Vielleicht hätte er vorher noch einmal nachlesen sollen, wie viel von dem Pulver eine Dosis war? Tja, jetzt war es zu spät.

 

„Ich erwarte von dir, dass du mich verteidigst, sollte Uruha auf die Idee kommen, mir das hier übel zu nehmen.“

 

Reita erwiderte den scharfen Blick seines Freundes mit einem kleinen Lächeln, während er versuchte, es sich einigermaßen bequem zu machen. Seine Rechte über das Bett streckend wartete er darauf, bis Ruki seinen kleinen Finger mit dem eigenen umschloss.

„Du hast mein Ehrenwort.“

 

„Na schön.“ Für eine Sekunde zögerte der andere noch, bevor er die Verbindung ihrer Finger löste, um erneut nach dem Tagebuch zu greifen.

„Er hat eine erstaunlich schöne Handschrift“, stellte er fest. „Ist mir nie aufgefallen.“ Ruki räusperte sich, schloss kurz die Augen und begann zu lesen.

 

Reita tat es ehrlich leid, seinen Freund um diesen Gefallen bitten zu müssen. Immerhin wusste er, welch großen Wert der Sänger auf seine eigene Privatsphäre legte und wie schwer es ihm fallen musste, diese nun in Uruhas Fall zu ignorieren. Er biss sich auf die Unterlippe, schob das schlechte Gewissen jedoch rigoros beiseite. Nachdrücklich versuchte er, sich ausschließlich auf die Worte zu konzentrieren, die ihn hoffentlich erneut in die Gedankenwelt seines besten Freundes bringen würden. Für Gewissensbisse würde er später noch ausreichend Zeit haben.

 

Interviews, Shows, Autogrammstunden. Interviews, Shows, Autogrammstunden.

Jeden Tag dasselbe und das schon seit vier Wochen. Die vereinzelte freie Zeit, die wir zwischendrin haben, kann ich schon gar nicht mehr genießen, weil ich so müde bin. Ich wünsche mir mit jeder verstreichenden Sekunde dringlicher, dass die Tour endlich endet. Ich brauche einfach eine Pause, von allem hier.

Im Moment habe ich wirklich das Gefühl, dass die einzigen Momente, in denen ich mich kurzfristig nicht wie erschlagen fühle, die sind, in denen Aoi und ich aneinandergeraten. Verdammt, ich sehne diese Augenblicke schon fast herbei. Ach was sag ich? Ich provoziere sie regelrecht. Ich bin nicht so naiv, dass mir das nicht längst aufgefallen wäre. Aber es ist jedes verfluchte Mal ein wahrer Hochgenuss, ihn so zu reizen. Zugegeben, er ist längst nicht mehr der überhebliche Idiot, der er noch vor einigen Jahren war. Dennoch regt es mich auf, wie er es schafft, mit jeder Faser seines Körpers diese unerschütterliche Selbstsicherheit auszustrahlen. Das reibt mich einfach an der falschen Stelle, auch wenn ich nicht sagen kann, warum genau.

Vielleicht bin ich neidisch?

Anfänglich wollte ich ihn nur etwas von seinem hohen Ross schubsen, wenn ich ihm nach einer Show unter die Nase gerieben habe, dass die Fans auf meiner Seite deutlich aufgedrehter waren als auf seiner. Aber mittlerweile liebe ich es, wenn einer meiner Kommentare ins Schwarze trifft und ich sehe, wie ich seine eiserne Kontrolle zum Wanken bringe. Diese kurzen Momente, in denen er nicht der überlebensgroße Rockstar ist, für den er sich selbst gerne hält, in denen ich seine weichere, verletzliche Seite aufblitzen sehe, machen irgendwas mit mir. Es ist wie ein Zwang, wie eine Droge, die ich immer und immer wieder haben will.

Bin ich grausam, weil ich ihm das antue?

Vielleicht.

Kann ich damit aufhören?

Ich glaube nicht.

Was sagt das über mich aus?

 

Diesmal trieben ihn die Worte nicht langsam in die andere Welt hinüber. Gerade hatte er sich noch nach vorn gelehnt, um seinen schweren Kopf auf dem Bett abzulegen, und im nächsten Augenblick stand er in dem Korridor mit den bodentiefen Fenstern.

„Das … ging schnell“, murmelte er und verzog das Gesicht, als seine Worte vom unnatürlichen Hallen des Gangs in tausend Fragmente zersplittert und zurückgeworfen wurden. Gut, reden sollte er sich fürs Erste also lieber verkneifen.

Er konnte Rukis Stimme wie aus weiter Ferne hören, musste sich jedoch anstrengen, um einzelne Worte verstehen zu können. Unschlüssig schaute er nach rechts und links, bevor er auf die schwarze Tür ihm gegenüber zuging und die Hand nach dem Knauf ausstreckte. Beinahe rechnete er damit, dass etwas geschehen würde, als seine Finger das kühle Metall berührten, aber alles blieb unverändert. Es bedurfte nur einer leichten Drehung, um das Türblatt nach innen aufspringen zu lassen. Der Raum dahinter war fensterlos und nur schwach von einer nackten Glühbirne beleuchtet, die von der Decke hing. Das Bett mit dem verschnörkelten Metallrahmen war nicht bezogen, Kissen und Decke fehlten. Ob Uruha hier schlief? Brauchte er in dieser Welt überhaupt Schlaf?

„Oh, Ruha“, formten seine Lippen den Namen seines Geliebten, ohne dass ihm jedoch ein Laut entkommen wäre. Ein weiterer Rundumblick bestätigte ihm, dass es in dieser Kammer nichts für ihn zu finden gab. Also verließ er sie wieder, schloss leise die Tür und begann, dem Korridor nach links zu folgen.

 

Er hatte keine Ahnung, ob der Weg, den er eingeschlagen hatte, der richtige war. Je länger er einen Fuß vor den anderen setzte, desto mehr bekam er das Gefühl, er würde sich überhaupt nicht von der Stelle bewegen. Alles sah gleich aus. An seiner Rechten reihten sich die Fenster in einer unendlichen Abfolge aneinander, auf der linken Seite unterbrach nichts das uniforme Weiß der Wand. Der einzige Hinweis, dass er sich doch fortbewegte, war die Tür, die er mittlerweile nicht mehr erkennen konnte, wenn er sich nach hinten umsah.

 

„Uruha!“, rief er irgendwann, als ihm die Monotonie zu viel wurde und begann zu rennen. Der Lärm, den der Schall seiner Stimme und Schritte verursachte, schmerzte in den Ohren und erst, als es nicht mehr auszuhalten war, hielt er erneut inne. Verflucht, was sollte das? Wie sollte er Uruha finden, wenn es einfach nichts zu finden gab?

Mit einem Mal wirbelte er herum, als er hinter sich das Weinen eines Kindes vernahm. Statt jedoch der Quelle des Geräusches gegenüberzustehen, fand er sich urplötzlich am Absatz eines steilen Treppenabgangs wieder.

 

„Ach du Schei…“ Gerade so konnte er nach dem hölzernen Handlauf greifen, bevor ihn sein Schwung zu Fall bringen konnte. Wie war das möglich? Er war doch eben noch … Mit wild pochendem Herzen starrte er in das tiefer liegende Stockwerk, während er zu verstehen versuchte, wie eine Treppe aus dem Nichts erscheinen konnte.

„Das …“ Reita schüttelte den Kopf, während ihn das ungute Gefühl beschlich, dass er die ganze Sache hier womöglich doch zu unbedarft angegangen war. Was, wenn Aoi und Ruki recht hatten und er sich, statt Uruha zu finden, selbst in Gefahr brachte? Er litt nicht unter Höhenangst, aber je länger er in die Tiefe starrte, desto unwohler wurde ihm, bis er die Augen schließen musste. Bewusst ruhig atmete er ein und aus, konzentrierte sich auf Rukis Stimme und widerstand dem Drang, einfach wieder umzukehren. Wo hätte er auch hinsollen, wenn sich das Haus um ihn herum von allein zu verändern schien? Gott, wie er es verabscheute, nicht zu wissen, was hier vor sich ging. Wieder hörte er dieses hohe Wimmern, das ihm diesmal eine dicke Gänsehaut über den Rücken jagte. Fest presste er die Lippen aufeinander, öffnete die Augen und ging die ersten Stufen hinunter. Nun war nicht die Zeit für Zweifel. Er musste Uruha finden, das war das Einzige, was zählte.

Das unangenehme Echo, das ihn bislang begleitet hatte, schien im gleichen Maße nachzulassen, wie Rukis Stimme leiser wurde. Ob das ein Hinweis darauf war, dass er tiefer in die Gedankenwelt seines besten Freundes eintauchte, je weiter er sich vom Punkt seiner Ankunft entfernte? Nachdenklich runzelte er die Stirn und wollte gerade wieder einige Schritte nach oben gehen, um seine Theorie zu bestätigen, als er erneut die Kinderstimme vernahm.

 

„Uruha?“, rief er, hastete die letzten Stufen nach unten, die ihn in eine große Eingangshalle führten. Hier unten war es deutlich schummriger und er brauchte einige Sekunden, bis sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Dennoch lagen die Ecken des weitläufigen Saals weiterhin in tiefen Schatten, die beinahe lebendig wirkten.

„Fuck“, wisperte er und wünschte sich das Gefühl der Vertrautheit zurück, welches er bei seinem ersten Besuch hier verspürt hatte. Warum erschien ihm dieser Ort heute nur so feindselig? Wollte Uruha etwa nicht, dass er ihn fand, oder sorgte diese andere Präsenz dafür, dass er sich so unwohl fühlte? Aufmerksam blickte er sich um. Unter anderen Umständen hätte ihn die altertümliche Optik mit Sicherheit beeindruckt, so schüchterte sie ihn lediglich ein.

An den mit Stoff bezogenen Wänden hingen große Ölgemälde in schweren, goldenen Rahmen. Er konnte das viel zu laute Ticken einer Uhr hören, deren Standort er jedoch nicht ausmachen konnte. Unheimlich. Ihm gegenüber ragte ein Portal aus dunklem mit Schnörkeln und wirren Mustern verziertem Holz empor, das ihn wie magisch anzuziehen schien.

Was ihn jedoch am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass er, so sehr er sich auch bemühte, die Motive der Ölbilder nicht erkennen konnte. Er hatte das vage Gefühl, es könnte sich um Personen handeln, aber egal wie nah er herantrat, die Gemälde blieben unscharf.

Beinahe als befände er sich inmitten einer Filmkulisse, in der aus Kostengründen auf Details verzichtet worden war.

„Wie in einem Horrorfilm“, flüsterte er und rieb sich über die Unterarme. „Ducky, komm schon, wo bist du?“ Er näherte sich dem Portal und umfasste den Knauf, aber anders als die schwarze Tür im Obergeschoss blieb diese hier fest verschlossen.

„Verdammt!“ Reita schlug mit der Faust gegen das Holz und versuchte, der Verzweiflung Herr zu werden, die sich mit langen Fingern erneut um sein Herz zu legen begann. Wohin sollte er nun gehen?

 

„Ich hab Angst.“

 

Er zuckte zusammen und drehte den Kopf nach links, von wo erneut die Kinderstimme zu hören gewesen war.

„Hallo? Wer ist da?“ Eine Antwort blieb aus, doch vor seinen Augen schälte sich ein Korridor aus den Schatten, wo zuvor mit Sicherheit keiner gewesen war. „Ernsthaft jetzt?“

Reita schluckte und versuchte, das ungute Gefühl in seiner Magengegend zu ignorieren, als er sich zögerlich in Bewegung setzte. Gut, dann würde er eben nach den Spielregeln dieses Hauses spielen. Wäre nur nett gewesen, wenn ihm diese vorab jemand erklärt hätte.

„Ich bin es, Reita“, rief er. „Du brauchst keine Angst haben, ich tu dir nichts. Ich bin nur hier, um meinen Freund zu finden.“

Der Steinboden der Eingangshalle ging in einen Teppich über, der so weich war, dass er das Geräusch seiner Schritte fast gänzlich schluckte. Seine Ohren knackten, als hätte sich der Luftdruck um ihn herum verändert, während das Hintergrundmurmeln, zu dem Rukis Vorlesen geworden war, noch eine Nuance leiser wurde. War das ein gutes Zeichen? Hieß das, er war auf dem richtigen Weg?

 

„Ich bin so allein“, hörte er die Kinderstimme plötzlich hinter sich und als er sich umdrehte, hätte er beinahe aufgeschrien. Da stand ein Junge, kaum älter als fünf oder sechs Jahre, in dem Flur, der eben noch menschenleer gewesen war. Seine schwarzen, kinnlangen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und von seinem weißen T-Shirt lächelte ihm eine Comic-Ente entgegen. Die nackten Beine steckten in kurzen Hosen, die Reita an die Uniform seiner Grundschulzeit erinnerten. Noch während er sein Gegenüber aus großen Augen anstarrte, schob sich der Knirps seinen kleinen Daumen in den Mund. Okay, das Kind schien doch deutlich jünger zu sein, als er auf den ersten Blick angenommen hatte.

 

„Hey, Kleiner“, murmelte er und ging in die Hocke, um so hoffentlich weniger einschüchternd zu wirken. „Mein Name ist Reita und wer bist du?“

Der Junge blieb stumm, aber seine Unterlippe begann zu beben, und noch bevor er etwas hätte sagen können, begannen dicke Tränen über die rundlichen Wangen zu laufen.

„Ist doch alles gut.“ Langsam streckte er eine Hand aus, berührte das weiche Haar und streichelte darüber. Als wäre seine Geste mehr gewesen, als dieser kleine Mensch dort vor ihm noch ertragen konnte, hallte plötzlich ein lautes Wehklagen von den Wänden wider. Noch bevor Reita die Chance bekam, irgendwie darauf zu reagieren, stürzte sich der Kleine in seine Arme. Vollkommen überrumpelt konnte er nichts weiter tun, als das zitternde Bündel Mensch zu halten und unsinnige Phrasen vor sich hin zu murmeln.

„Alles gut, schsch, ist doch alles gut“, wiederholte er immer und immer wieder. Irgendwann hatte er sich aufgerichtet, als ihm die Beine einzuschlafen drohten, und trug den Jungen nun auf den Armen. „Du brauchst keine Angst haben. Alles wird gut.“

 

„Weiß nicht …“ Das Weinen war verstummt, dafür wurden die leisen Worte von beharrlichem Schniefen begleitet.

 

„Was weißt du nicht?“ Er lehnte sich etwas zurück, um den Jungen ansehen zu können, der sein Gesicht jedoch gegen seine Brust gelehnt versteckte.

 

„Name.“

 

„Oh, du weißt nicht, wie du heißt?“ Das Kind schüttelte den Kopf und begann erneut zu wimmern. „Das macht doch nichts.“

 

„Nicht?“ Große braune Augen blickten auf einmal direkt in seine eigenen und es war, als würde sich ein Schleier lüften. Reitas Wahrnehmung schärfte sich, Tausende Erinnerungen stürmten gleichzeitig auf ihn ein. Er hatte diesen Jungen noch nie gesehen, ihre Leben hatten sich erst einige Jahre später gekreuzt, und dennoch wusste er mit unumstößlicher Sicherheit, wer er war.

 

„Ruha“, entkam es ihm krächzend und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Oh Gott, ich hab dich gefunden.“ Er drückte das Kind noch fester an sich und verbarg sein Gesicht gegen den kleinen Körper. Er hinterfragte nicht, warum ihm Uruha ausgerechnet in der Gestalt seines kindlichen Selbst erschien, im Moment zählte nur, dass er ihn endlich gefunden hatte.

 

„Nnnh“, murrte der Knirps plötzlich und sofort lockerte Reita seinen Klammergriff.

 

„Tut mir leid.“ Er lächelte ihn an. „Ich bin nur so froh, dich gefunden zu haben.“

 

„Warum?“

 

„Weil ich dich ganz fürchterlich lange gesucht habe. Was hältst du davon, wenn wir jetzt nach Hause gehen, mh?“

 

„Wir würden sagen, wir halten gar nichts davon.“

 

Erschrocken wirbelte Reita herum und konnte nichts weiter tun, als erneut mit offenem Mund eine Gestalt anzustarren, die aus dem Nichts aufgetaucht war. Nun jedoch fühlte es sich so an, als stünde sein Verstand kurz davor, in tausend Scherben zu zerbrechen, weil er nicht begreifen konnte, was er sah. Sein Kopf begann zu schmerzen, der Druck in seinen Schläfen wurde beinahe unerträglich. Das konnte nicht sein. Er trug Uruha auf den Armen, wie war es also möglich, dass er dort stand? Das Kind hatte erneut zu wimmern begonnen. Die dünnen Ärmchen lagen so fest um seinen Hals, dass er nicht wusste, ob sie es waren, die ihm die Luft raubten oder doch sein Gegenüber.

„U… Uruha? Wie kann das sein?“

 

„Uruha. Ist das also unser Name?“ Die Erscheinung lächelte, einen raubtierhaften Ausdruck im Gesicht, den er in dieser Form bei seinem besten Freund noch nie gesehen hatte. Die schwarz umrandeten Augen fixierten ihn, die roten Lippen wirkten in dem unnatürlich blassen Gesicht wie klaffende Wunden. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“ Langsam kam der Mann näher – Reita weigerte sich, Uruha in ihm zu sehen. Seine schwarze, uniformähnliche Kleidung raschelte, als würden sich zahllose Vögel in die Lüfte erheben und das Leder seiner Reitstiefel knarrte, wie tote Bäume im Wind. Reita erschauderte, als er spürte, wie sich sämtliche Härchen an seinem Körper gleichzeitig aufrichteten. Er fühlte sich wie ein Beutetier, gefangen im hypnotischen Blick einer Schlange.

 

„Wer bist du?“, brachte er kaum lauter als ein Wispern über seine taub gewordenen Lippen.

 

„Wir? Wir sind Uruha, das sagtest du doch gerade.“ Ohne, dass er es bewusst bemerkt hatte, war ihm das Wesen so nahe gekommen, dass es mit ausgestrecktem Arm seine Wange berühren konnte. Wieder wimmerte das Kind in seinen Armen, begann zu zappeln und bevor er es verhindern konnte, hatte der Junge sich aus seinem Halt befreit.

 

„Ruha“, rief er erschrocken aus. Statt jedoch unsanft zu Boden zu fallen, fing der Kleine sich geschickt ab, krabbelte eine kurze Strecke auf allen vieren, bevor er sich soweit gefangen hatte, dass er davonlaufen konnte. „Uruha, bleib hier!“ Er drehte sich um und wollte ihm hinterher, da legte sich eine Hand wie ein Schraubstock um seinen Oberarm und riss ihn zurück.

 

„Du wirst doch nicht schon gehen wollen?“

 

„Was?“ Das Wesen, dieser Nicht-Uruha, war ihm plötzlich so nah, dass er seinen warmen Atem über sein Gesicht wispern fühlen konnte. Ohne dass er es wollte, reagierte sein Körper auf die Nähe zu dem Trugbild des Mannes, den er so lange vermissen musste. Für eine Sekunde wurden ihm die Knie weich und die Erscheinung nutzte diese Schwäche, riss ihn herum und drängte ihn mit dem Rücken gegen die Flurwand.

„Mmmh, so gefällt uns das schon viel besser. Wir wollten schon immer mal wissen, wie das so ist.“ Unnatürlich warme Lippen pressten sich auf seinen Mund, raubten ihm Verstand und Atem gleichermaßen. Zu seiner Schande musste er gestehen, dass er keinen Widerstand leistete. Selbst als der Druck um seine Oberarme verschwand, mit dem ihn das Wesen festgehalten hatte, versuchte er nicht, zu entkommen. Er dachte nicht, reagierte nur auf das, worauf er so lange hatte verzichten müssen. Sein Herzschlag pochte in seinem Kopf laut wie Donnerschläge, der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen, und dennoch konnte, wollte er sich nicht lösen. Das hier war Uruha, oder nicht? Sein bester Freund, sein Geliebter, den er so lange vermisst hatte. Was konnte also falsch daran sein, ihn zu küssen?

 

„…ta, …ita, Reita!“ Wie aus weiter Ferne glaubte er, plötzlich Aois Stimme zu hören. Die Gestalt – Uruha – vertiefte ihren Kuss, wischte den Moment der Klarheit fort, als hätte es ihn nie gegeben. Er schmeckte Blut, fühlte ein unangenehmes Kribbeln in seinen Ohren und der Nase. Was?

„Reita! Verdammt, tu mir das nicht an.“

 

Plötzlich riss er die Augen auf, drehte den Kopf zur Seite und stemmte sich mit aller Macht gegen das Wesen. Der andere schien von seiner Gegenwehr derart überrumpelt, dass er ihn gewähren ließ. Schwer atmend stolperte Reita einige Schritte zur Seite, brachte Abstand zwischen sich und dem, was vorgab Uruha zu sein.

Er wischte sich über die Nase, sah Blut an seinen Fingern.

 

„Was bist du?“, keuchte er heiser, während er weitere Schritte nach hinten taumelte. Er fühlte sich unheimlich schwach, seine Glieder schmerzten, als wäre er Stunden gerannt.

„Was hast du mit mir gemacht?“

 

Wieder teilten sich die roten Lippen, entließen ein manisches Lachen, das ihm durch Mark und Bein ging.

 

„Dachtest du, du könntest einfach in unser Reich eindringen, ohne einen Preis zu zahlen? Wie naiv du doch bist. Du wirst nie das finden, wonach du suchst. Du bist zu schwach, hörst du? Mach es dir nicht schwerer, als es sein muss. Komm her, wir werden uns gut um dich kümmern.“ Der lockende Finger erinnerte ihn auf unangenehme Weise an den intimen Morgen, den er heute mit Aoi verbracht hatte, und diese Erkenntnis war es, die ihn unendlich wütend machte.

 

„Du bist nicht Uruha“, fauchte er. „Was hast du mit ihm gemacht? Sag mir sofort, wo er ist.“

 

„Wir haben gar nichts gemacht. Er ist ein Teil von uns. Wir kümmern uns um ihn, genau wie wir uns um dich kümmern werden.“ Mit geschmeidigen Schritten kam das Trugbild erneut auf ihn zu, den Kopf geneigt wie ein Vogel, der nicht recht wusste, ob das vor ihm Nahrung oder eine Gefahr darstellte.

„Komm zu uns, wir haben doch gespürt, wie gut wir dir tun.“

 

Ich liebe dich, Reita, mit allem, was ich bin und mit allem, was mich ausmacht.

 

Reita japste nach Atem, als er mit einem Mal wieder hören konnte, was in Uruhas Tagebuch geschrieben stand. Er kannte diesen Eintrag, hatte ihn vor einer gefühlten Ewigkeit selbst lesen dürfen. Ihm war nicht aufgefallen, dass das beständige Vorlesen verstummt war. Oder hatte er es nur ausgeblendet, abgelenkt von dem Ding, das vorgab Uruha zu sein? Er spürte, wie gut es ihm tat, diese Worte zu hören, wie sehr er sie in dieser Welt brauchte. Sie erdeten ihn, waren wie ein Anker, der ihn in der Realität hielt. Das Wesen vor ihm verzog das Gesicht, Ärger ließ die bislang schönen Züge zu einer hässlichen Fratze werden. Reita blinzelte, als sein Blick auf eine Silberkette fiel, welche die Kreatur um ihren Hals trug. Vermutlich wäre ihm das Schmuckstück nie aufgefallen, hätte der daumengroße Edelsteinanhänger nicht plötzlich zu glühen begonnen.

 

„Was ist das?“, zischte sein Gegenüber und starrte an die Decke des Korridors, als könnte er so sehen, woher die Worte kamen.

 

Die längste Zeit habe ich versucht, diese Gefühle mit unserer tiefen Freundschaft zu begründen, denn wie sollte es auch angehen, dass ich für gleich zwei Menschen nahezu dasselbe empfinde?

 

„Das sind Uruhas Erinnerungen. Die Gedanken und Gefühle meines besten Freundes, meines Geliebten, des Menschen, der mir alles bedeutet“, erwiderte Reita, seine Stimme mit jeder Sekunde fester, selbstsicherer werdend.

 

Der Edelstein schien im Rhythmus der gelesenen Worte zu pulsieren, immer heller zu strahlen. Er ging weitere Schritte nach hinten, wollte so viel Abstand zwischen sich und dem anderen bringen, der mit jeder verstreichenden Sekunde bedrohlicher wirkte. Er konzentrierte sich auf das, was vorgelesen wurde, und bemerkte irritiert, dass es nicht mehr Rukis Stimme war, die er hörte. War das Kai?

 

Vielleicht hätte ich behaupten können, dass dein Verhalten mich erst dazu gebracht hatte, dich mit anderen Augen zu sehen. Dass sich mein Interesse an dir erst nach und nach entwickelt hatte und ich mich nun so in meiner Obsession verloren habe, dass ich mir die Gefühle für dich nur einbilde. Und glaub mir, ich habe versucht, mir genau dies einzureden, wieder und wieder und bin dennoch daran gescheitert.

 

Seine Wangen wurden heiß, als ihn die Erkenntnis traf, dass es tatsächlich ihr Leader war, der diese Dinge vorlas. Aber noch bevor er darüber nachdenken konnte, was das zu bedeuten hatte, und ob er vorhin tatsächlich Aois Stimme gehört hatte, begann sich das Wesen vor ihm zu verändern. Es schien größer zu werden, beinahe den gesamten Korridor auszufüllen, während seine Umrisse an den Rändern zu verschwimmen begannen.

 

„Komm zu uns!“, dröhnte die kratzige Stimme der Erscheinung plötzlich viel zu laut in seinen Ohren. „Du gehörst uns, wir werden dich nicht gehen lassen. Dich nicht und ihn auch nicht.“ Linien zogen sich über das verzerrte Gesicht, bis es wie eine zersprungene Porzellanmaske wirkte. Blut sickerte aus den Rissen, ließ Panik und Abscheu in gleichem Maße in ihm aufsteigen.

„Komm! Komm! Komm her!“, kreischte das Wesen, machte einen Satz auf ihn zu und endlich löste sich seine Starre.

 

Reita drehte sich um und begann zu rennen. Weg, weg, nichts wie weg von diesem Albtraum. Kopflos lief er den Gang entlang, spürte, wie Teppich in Marmorboden überging, als er die Eingangshalle erreichte. Für einen Moment fragte er sich, weshalb das Wesen ihn davonkommen ließ, die Umgebung nicht einfach nach seinen Wünschen veränderte und ihn einsperrte. Aber er würde sich davor hüten, diese glückliche Fügung des Schicksals nicht einfach als gegeben hinzunehmen. Noch immer hörte er die unnatürlich lauten Schritte hinter sich, bildete sich beinahe ein, heißen Atem in seinem Nacken spüren zu können. Der Boden unter seinen Füßen schien zu vibrieren, als er die Treppe ins Obergeschoss nahm. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte, wie er wieder in seine Welt gelangen konnte. Ob die Kammer Schutz bot?

 

Plötzlich packte ihn etwas, riss ihn zur Seite und eine starke Hand presste sich auf seinen Mund. Er wehrte sich mit Leibeskräften, die jedoch im Hinblick auf seinen dröhnenden Schädel und die Schwäche seiner Glieder nicht sonderlich beeindruckend waren.

 

„Schsch, ruhig, ich bin es.“

 

‚A… Aoi?‘

[27. Juni] "Ich bin bei dir."

Kaum hatte Reita begriffen, wer hinter ihm stand, löste sich ein Teil seiner Anspannung. Er wurde weich in den Armen, die ihn hielten, schloss erleichtert die Augen. Sein Mann zog ihn daraufhin nur noch stärker gegen sich und nahm die Hand von seinem Mund. Lippen pressten sich in seinen Nacken, während sie ansonsten weiterhin reglos in dem Zimmer standen, in das Aoi sie gezogen hatte. Die schweren Schritte waren jedoch verstummt, ohne dass sein Verfolger ihr Versteck bemerkt zu haben schien. Sekunden verstrichen, bevor sich der Halt um seine Mitte soweit lockerte, dass er sich umdrehen konnte.

 

„Aoi“, wisperte er und nun war er es, der die Arme fest um seinen Liebsten legte. „Du bist es wirklich, oder? Kein Trugbild?“ Die schönen Lippen seines Mannes verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, bevor sie sich auf die seinen legten. Er war es wirklich. So konnte nur Aoi ihn küssen.

„Wie bist du hier her gekommen?“, murmelte er eine ganze Weile später, bevor er sein Gesicht gegen die Halsbeuge des anderen vergrub.

„Oh Gott, ich bin so froh, dass du da bist. Ich hab ihn gefunden. Uruha – er ist …“ Er schüttelte den Kopf, spürte noch immer den Unglauben in sich, obwohl er mit eigenen Augen gesehen hatte, in welcher Gestalt sein bester Freund ihm erschienen war.

„Ich … ich begreife das alles nicht …“

 

„Schsch, ruhig.“ Die samtene Stimme war wie Balsam für seine aufgewühlte Seele und ließ seinen unzusammenhängenden Redeschwall verstummen.

„Du hast ihn wirklich gefunden?“

 

Er nickte und spürte, wie ein Beben durch Aois Körper ging. Kaum verständlich wisperte sein Liebster Uruhas Namen, bescherte ihm damit eine dicke Gänsehaut. In diesen drei Silben lagen so große Verzweiflung und gleichzeitig Hoffnung, dass Reita sich auf die Unterlippe beißen musste, um keinen Laut von sich zu geben. Für den Moment konnte er nichts weiter tun, als gegen Aoi gelehnt hier zu stehen und der Erschöpfung nachzugeben, die sich wie Blei in seinen Knochen festgesetzt hatte. Erst, als sein Mann ihn ein Stück auf Abstand schob, um ihm ins Gesicht sehen zu können, öffnete er die Augen wieder.

 

„Erzähl mir, was mit dir passiert ist.“ Aois Daumen rieb über seine Oberlippe, wodurch das getrocknete Blut dort unangenehm an seiner Haut zog.

„Himmel, Reita, ich hatte solche Angst um dich. Du hast plötzlich gekrampft und wir wussten nicht, was wir tun sollten.“

 

„Es tut mir leid.“ Er senkte den Blick. „Ich hätte auf dich warten und mir diesen Alleingang verkneifen sollen. Mein kopfloses Handeln hat uns Uruha keinen Schritt näher gebracht.“

 

„Schon gut, sei nicht so hart zu dir.“ Aoi küsste seine Stirn. „Ich bin nur froh, dass dir weiter nichts passiert ist.“

 

Er seufzte leise, nickte aber und sah seinen Liebsten fragend an, als ihm wieder einfiel, was ihm vorhin schon aufgefallen war.

„Kai ist auch hier, oder?“

 

„Ja, er kam quasi genau zur rechten Zeit. Frag mich nicht, wie er es angestellt hat, aber Pfleger Takeshi ist nun in alles eingeweiht und unterstützt uns, soweit es ihm möglich ist. Ihm haben wir es vermutlich zu verdanken, dass dir nichts Schlimmeres zugestoßen ist.“

 

„Was? Wie hat Kai das angestellt? Und wieso überhaupt?“

 

Aoi schüttelte den Kopf.

„Nicht jetzt, ich erzähl dir später alles, in Ordnung? Verrat du mir lieber, was hier vor sich geht.“

 

„Gott, wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll.“ Reita fuhr sich durch die Haare. Einige Strähnen waren verklebt und auch an seinem Hals in der Nähe seiner Ohren konnte er Spuren getrockneten Blutes fühlen. Verdammt, dieses Wesen hatte ihm wirklich zugesetzt.

„Wo sind wir hier eigentlich?“ Er blickte sich um, konnte jedoch außer den Umrissen von mit Stoff abgedeckten Möbeln nicht viel erkennen.

 

„Keine Ahnung, ich bin in diesem Raum angekommen und hatte kaum Zeit, mich umzusehen, als ich Schritte gehört habe, die sich mir näherten. Was war das für ein Ding, das dich verfolgt hat? Viel hab ich ja nicht gesehen, aber …“

 

„Es war Uruha. Oder etwas, das behauptet, Uruha zu sein. Ich weiß nicht.“ Er schüttelte den Kopf, fasste sich an die Schläfen, hinter denen der Druck noch immer nicht nennenswert nachgelassen hatte.

 

„Setz dich“, verlangte Aoi und führte ihn zu einem der Möbelstücke. Mit wenigen Handgriffen hatte er es vom Tuch befreit und ihn auf das Polster gedrückt. Der aufgewirbelte Staub kitzelte in seiner Nase, aber er unterdrückte das reflexartige Niesen mit aller Macht. Er wollte sich die Schmerzen in seinem Kopf gar nicht vorstellen müssen, die es mit sich bringen würde.

„Erzähl mir alles, okay?“

 

Er nickte, während Aoi vor ihm in die Hocke ging, die Hände auf seine Oberschenkel legte und ihn von unten her ansah.

„Als ich hier ankam, bin ich eine Ewigkeit dem Korridor dort draußen gefolgt.“ Reita machte eine deutende Kopfbewegung in Richtung der geschlossenen Tür und dem dahinterliegenden Flur.

„Ich dachte schon, ich würde auf immer umherirren und nie irgendwo ankommen, aber dann hörte ich plötzlich ein Kind weinen.“ Er lachte kurz, trocken auf und rieb sich über die Stirn.

„Ausgerechnet hier, ein Kind? Genau wie du muss ich auch geguckt haben. Ich hab Uruha tatsächlich gefunden, in Gestalt seines kindlichen Selbst und dann …“ Er erschauerte, als er sich an die Erscheinung zurückerinnerte. An ihren alles durchdringenden Blick, ihr manisches Lachen.

„Ich bin mir mittlerweile sicher, dass dieses Ding Uruha hier gefangen hält …“ Es fiel ihm alles andere als leicht, aber er versuchte, sich an so viele Details wie möglich zu erinnern. Er wollte Aoi alles sagen, alles, was er erlebt und gefühlt hatte. Nur so würden sie weiterkommen – das hoffte er zumindest.

 

~*~

 

Wie lange er geredet hatte, hätte er hinterher nicht sagen können. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an und seine Stimme versagte immer öfter.

 

„Scheiße“, zischte Aoi und fuhr sich übers Gesicht. „Das hört sich wie die Handlung eines schlechten Horrorfilms an. Wie kann das sein?“

Reita wusste, dass die Frage nicht an ihn gerichtet war und dennoch krampfte sein Magen, als er den verlorenen Ausdruck im Gesicht des anderen erkannte. Er konnte beinahe die Anstrengung spüren, die es Aoi kostete, den rationalen Teil seines Verstandes über Bord zu werfen, einfach zu akzeptieren, ohne jedes Detail zu hinterfragen. Für einen Augenblick verbarg sein Mann das Gesicht hinter beiden Händen, bevor ein sichtbarer Ruck durch ihn ging, als er die Schultern straffte. Dunkle Augen fixierten ihn plötzlich, eine Entschlossenheit in ihnen, für die er Aoi unendlich beneidete.

„Gut, okay. Wie machen wir jetzt weiter?“

 

„Wir müssen Uruha finden und hier wegholen, aber ich weiß nicht wie.“ Mit einem Mal fühlte sich Reita unendlich müde, seelisch wie körperlich. Mit geschlossenen Augen beugte er sich vor, bis er die Stirn gegen die Schulter seines Liebsten lehnen konnte.

„Ich weiß einfach nicht, wie wir das anstellen sollen“, wiederholte er, die Verzweiflung in seinem Herz wie ein greifbares Ding, das ihn zu ersticken drohte.

 

„Du hast ihn einmal gefunden, dann werden wir es nun auch ein zweites Mal schaffen.“ Finger strichen über seinen Nacken, brachten ihn dazu, den Kopf wieder zu heben und Aoi ins Gesicht zu sehen. Warme Lippen legten sich für einen viel zu kurzen Moment auf die seinen, bevor der andere sich erhob.

„Mir wäre es zwar lieber, ich könnte sagen, dass du hierbleiben und dich ausruhen sollst, aber das ist unter diesen Umständen viel zu gefährlich.“ Mit einem verkniffenen Zug um den Mund streckte sein Mann die Hand nach ihm aus und wartete, bis er sie ergriffen hatte. Ihm wurde für einen Moment schwindlig, sobald er wieder in der Senkrechten war, aber Aois Arme waren da, um ihn zu stützen.

 

„Mist“, zischte er halblaut, genervt von seiner Schwäche und den Schmerzen in seinem Körper.

 

Sein Liebster lächelte nur gequält, streichelte ihm übers Haar.

„Ich sag es nur ungern, aber beiß die Zähne zusammen, Rei, ich schaff das hier nicht ohne dich.“

 

Reita nickte und als wären Aois Worte genau das gewesen, was er hatte hören müssen, ließ das anhaltende Unwohlsein ein wenig nach und seine Sicht schärfte sich. Seine Männer brauchten ihn. Sobald Uruha wieder bei ihnen war, würde er noch genug Zeit haben, sich auszuruhen.

 

„Worauf warten wir also noch, lass uns Uruha finden und nach Hause bringen.“

 

~*~

 

Sie rannten den Korridor entlang. Die Helligkeit und Wärme eines sonnigen Sommertages, die Reita noch bei seiner Ankunft begrüßt hatte, war verschwunden. Nun zogen sich lange Schatten über den Marmorboden und die untergehende Sonne tauchte ihre Umgebung in rötliches Zwielicht. Die Treppe war unauffindbar – mit nichts anderem hatte er gerechnet – und verwehrte ihnen somit jede Möglichkeit, ins untere Stockwerk zu gelangen.

 

„Uruha!“, rief Aoi und er stimmte mit ein, aber wie auch schon die Male zuvor blieb ihr Rufen unbeantwortet.

 

„Verflucht.“ Reita hielt inne, vornübergebeugt und beide Hände auf die Knie abgestützt. Sein Atem kam nur stoßweise und der Schwindel schlug erneut mit voller Macht zu.

„Wie sollen wir ihn finden, wenn sich dieses Haus ständig verändert?“

 

„Pscht, sei mal kurz still“, zischte Aoi und legte den Kopf schief, als würde er angestrengt lauschen. Reita richtete sich wieder auf, ein Ächzen unterdrückend und tat es dem anderen gleich. Für einen langen Moment hörte er nichts weiter als seinen rasenden Herzschlag, dann jedoch schälte sich Rukis Stimme aus dem Rauschen in seinen Ohren.

‚Ruki liest wieder?‘, fragte er sich noch, bevor er sich auf die Worte konzentrierte.

 

… Antrag gemacht.

Ich kann es noch gar nicht fassen. Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, aber heiraten? Ich? Ausgerechnet ich, der sein Leben lang Angst davor hatte, sich an jemanden zu binden? Der nie abhängig sein, sich nie auf diese Art verletzlich machen wollte?

Zu meiner grenzenlosen Überraschung kann ich dazu nur Ja sagen. Es ist, als würde ich mich selbst nicht mehr kennen. Als hätte ich über die Jahre, die ich mit Aoi verbracht habe, eine Stärke in mir erlangt, derer ich mir bis heute nicht bewusst war.

Der Gedanke daran, mein Leben mit ihm zu verbringen, alles mit ihm zu teilen, was ich bin und was mich ausmacht, ist weitaus weniger erschreckend, als ich immer angenommen hatte.

Es ist, als würde ich ihm den wertvollsten Teil meiner Selbst darbieten, nur um einen noch Wertvolleren von ihm zurückzubekommen.

Und das … Ja, das fühlt sich genau richtig an.

Habe ich schon gesagt, dass ich es nicht fassen kann?

 

„Das muss er geschrieben haben, kurz nachdem ich ihm den Antrag gemacht habe“, murmelte Aoi und sah verloren aus einem der hohen Fenster. Reita trat nahe an ihn heran, legte seine Hand an die Wange seines Liebsten, aber noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Aoi fort: „Das heißt, wir haben nicht mehr viel Zeit.“

 

„Wie?“ Er blinzelte, konnte dieser Logik gerade nicht folgen.

 

„Der Antrag ist jetzt etwas mehr als ein Jahr her.“

 

Reitas Augen weiteten sich, als er begriff, worauf Aoi hinaus wollte.

„Das vorletzte Tagebuch.“

 

„Ganz genau. Ich hab keine Ahnung, was passiert, wenn Kai und Ruki alle Tagebücher fertig gelesen haben. Ich denke, sie fangen dann zwar wieder von vorne an, aber …“

 

„Ob das dann noch dieselbe Wirkung hat, ist fraglich.“ Er ging etwas auf Abstand und presste Zeige- und Mittelfinger gegen seine Nasenwurzel.

„Verdammt, wie viel Zeit haben wir hier schon mit sinnlosem Umherrennen verschwendet?“ Es war zum Haareraufen. Sie wussten noch immer nicht, wie sie Uruha finden sollten, und jetzt saß ihnen auch noch die Zeit im Nacken. Er biss sich auf die Unterlippe, starrte vor sich an die weiße Wand und verstand erst mit einigen Sekunden Verspätung, was genau er dort sah.

„Trägst du eine Uhr?“

 

„Bitte?“

 

„Trägst du eine Armbanduhr, in der sich das Licht spiegeln könnte?“

 

„N… Nein, wieso?“

 

„Ich auch nicht.“ Er deutete auf einen kreisrunden Lichtpunkt ungefähr so groß wie eine Hundert-Yen-Münze, der schwach vibrierend vor ihm an der Wand hing. „Sieh doch.“

 

Mit gerunzelter Stirn ging Aoi näher heran, streckte eine Hand aus und berührte mit dem Zeigefinger den Lichtkreis. Wie, als wäre er ein lebendiges Wesen, glitt er einige Zentimeter beiseite, nur um beinahe neugierig wirkend langsam wieder näher zu kommen. Er umkreiste Aois Finger, machte einen Satz nach vorn und glitt an der Wand den Flur weiter entlang.

 

„Ich denke, wir sollen ihm folgen“, stellte Reita trocken fest und rechnete beinahe damit, nun mit Aois berühmter, hochgezogener Augenbraue konfrontiert zu werden. Sein Liebster ließ jedoch nur leise seufzend die Hand sinken und nickte.

 

„Ich bin wirklich gespannt, wann ich mich an all das Übernatürliche gewöhne und nicht mehr ständig davon überrascht werde.“

 

Reita lachte kurz, nahm Aois Hand in die seine und setzte sich in Bewegung. Das Licht begann immer schneller vor ihnen an der Wand entlang zu schweben, bis sie erneut laufen mussten, um mitzuhalten. Plötzlich machte der Flur vor ihnen einen scharfen Knick nach rechts, bevor sich Reita erneut am Absatz der steilen Treppe wiederfand.

 

„Oh, danke, Ruha“, entkam es ihm keuchend. Fest umfasste er den Handlauf, bevor sich die Treppe entschließen konnte, sich wieder in Luft aufzulösen. Ihr Geliebter war dort unten und auch wenn ihm ein eiskalter Schauer bei dem Gedanken an das Untergeschoss über den Rücken lief, war er entschlossen, Uruha endlich zu finden.

 

„Ich gehe davon aus, wir sollen die Treppe runtergehen, oder?“ Aois Miene sprach Bände und als er nickte, seufzte sein Liebster nur langgezogen. „Kommt nur mir das nicht ganz koscher vor?“

 

„Definitiv nicht, aber alles ist besser, als noch länger einen Gang entlangzulaufen, ohne irgendwo anzukommen.“

 

Aoi nickte und verzog seine Lippen zu einem grimmigen Grinsen, das Reita unter anderen Umständen tierisch anziehend gefunden hätte. So jedoch erwiderte er seinen Blick nur stumm, bevor er entschlossen die ersten Stufen hinabstieg. Das Untergeschoß wirkte noch düsterer als beim ersten Mal, als er hier gewesen war, und die Schatten schienen länger, bedrohlicher. Obwohl ihm Aois Präsenz ein gewisses Gefühl der Sicherheit vermittelte, rann ihm ein kalter Schauer über den Rücken, als er den ersten Fuß auf den Marmorboden der Eingangshalle setzte. Er trug einfache Sneaker, also eigentlich Schuhe mit weicher Sohle, und dennoch hallten seine Schritte von den Wänden wieder.

 

„Was ist das?“, wisperte Aoi und rückte ein kleines Stück näher an ihn heran.

 

„Ich schätze, wir sind nicht unbemerkt geblieben. Vielleicht will uns das Wesen damit verunsichern?“ Er sah sich um, doch augenscheinlich hatte sich bis auf das Echo hier unten nichts verändert. Die Ölgemälde waren noch immer unscharf, die Schatten in den Ecken waberten und tanzten, und das Portal am anderen Ende war fest verschlossen. Er ging weiter voran, fragte sich, ob der Korridor wieder auftauchen würde, wenn er sich der Stelle von vorhin näherte.

 

Plötzlich knackte es in seinen Ohren, als hätte sich der Luftdruck in der Halle verändert. Statik knisterte um ihn herum, während sich sämtliche Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Verflucht, er kannte dieses Gefühl und wusste, was es zu bedeuten hatte. Sein Verstand schien wie eingefroren, genau wie sein Körper, als ihm auffiel, dass er die erdende Präsenz seines Mannes im Rücken nicht mehr spüren konnte.

‚Aoi? Nein!‘

Erst ein eigenartig gedämpfter Aufschrei, der das Blut in seinen Adern gefrieren ließ, riss ihn aus seiner Erstarrung.

 

„Aoi?“ Langsam drehte er sich herum, inständig hoffend, seine böse Vorahnung würde sich als falsch herausstellen. „Aoi!“

 

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Erscheinung an, die Aoi in ihre Gewalt gebracht hatte. Erneut gab sein Mann einen erstickten Laut von sich, aber seine Gegenwehr schien mit jeder verstreichenden Sekunde schwächer zu werden. Noch während Reitas Schrei von den Wänden widerhallte, verzog sich das Gesicht des Nicht-Uruhas zu einer grausam amüsierten Fratze. Blaues Licht umgab die beiden, das von einem ovalen, pulsierenden Durchgang direkt hinter ihnen zu kommen schien. Die rechte Hand des Wesens lag fest auf Aois Mund, während es mit der Linken beinahe zärtlich über seine Wange streichelte.

 

„Wir sollten uns bedanken. Nachdem du vorhin so Hals über Kopf vor uns weggelaufen bist, hätten wir nicht gedacht, dass du uns ein Spielzeug mitbringst. Und noch dazu so ein hübsches. Damit werden wir sicher unseren Spaß haben.“

 

„Nimm deine Pfoten von ihm!“ Endlich fiel die Erstarrung von Reita ab und er machte einen Satz nach vorn, auf seinen Liebsten und das Ding zu. Oder er hätte es getan, hätte sich nicht plötzlich irgendetwas um seine Oberarme gelegt und ihn nach hinten gerissen. Das manische Lachen der Erscheinung schrillte in seinen Ohren, während er hilflos mitansehen musste, wie Aois Gegenwehr endgültig versiegte.

„Wehr dich“, schrie er, betete, dass Aoi ihn hören würde, aber sein Mann starrte nur blicklos vor sich hin. Seine Augen waren glasig geworden und es schien, als würden ihn nur noch die Arme des Wesens aufrechthalten. Reita hatte am eigenen Leib spüren müssen, wie stark dieses Ding war, wie vereinnahmend es sein konnte, und Aoi schien seinem Zauber vollkommen erlegen.

„Aoi, bitte!“ Mit aller Macht stemmte er sich gegen das, was ihn hielt. Er sah blattlose Ranken, wie knorrige Äste toter Bäume, die sich schmerzhaft fest um seine Arme und den Oberkörper geschlungen hatten. Erst verspätet begriff er, dass seine Fesseln die lebendig gewordenen Verzierungen waren, die sich bis eben noch über das Holz des Portals gezogen hatten.

„Lass ihn los, verdammt noch mal!“

 

„Nein“, entgegnete der Nicht-Uruha trocken. Das Amüsement war von seinen Zügen verschwunden und hatte einem fast trotzigen Ausdruck Platz gemacht. „Wir sind es leid, allein zu sein.“

 

Reita hörte auf, gegen die Fesseln zu kämpfen, und sah dem Wesen direkt in die Augen. Täuschte er sich, oder konnte er tatsächlich so etwas wie Trauer in den dunklen Tiefen erkennen? Er öffnete den Mund, ohne zu wissen, was er sagen wollte. Doch eine Chance bekam er ohnehin nicht, denn die Kreatur machte plötzlich einen Schritt nach hinten, Aoi noch immer gegen sich gepresst haltend.

 

„Nein!“, entkam es ihm. Er hörte das Reißen der Ranken, als er sich mit einer schier unmenschlichen Kraftanstrengung gegen sie stemmte. Stück für Stück gaben sie nach, bis er endlich frei war. Er flog die wenigen Schritte beinahe, die ihn von seinem Mann trennten, doch er war zu spät. Die Erscheinung war verschwunden und mit ihr … Aoi.

„Nein!“, schrie er erneut, hielt nicht an, obwohl das blaue Tor aus Licht vor ihm zu schwinden begann. Er hechtete nach vorn, seine Fingerspitzen berührten Luft, die sich wie elektrisch aufgeladen anfühlte … Dann begann er, zu fallen.

 

~*~

 

Er landete hart auf Händen und Knien, spitze Kieselsteine bohrten sich in seine Haut. Er ächzte, rappelte sich hoch und schaute sich hektisch um.

„Aoi! Wo bist du?“, rief er, aber von seinem Liebsten und dem Wesen war nichts zu sehen. „Verflucht.“ Er biss sich auf die Unterlippe, für einen Moment vollkommen überfragt, was er nun tun sollte. Er stand auf einer Anhöhe, das Herrenhaus, in dem Aoi und er sich bis eben noch aufgehalten hatten, war in der Ferne kaum noch zu sehen. Vor ihm erstreckte sich ein Labyrinth aus Hecken, saftig grün und dennoch bedrohlich wirkend. Die Sonne war längst untergegangen, ein silbriger Mond stand am Himmel und der kühle Wind spielte mit seinen Haaren. Als er über die Schulter nach hinten sah, verlor sich die Landschaft in einer undurchdringlichen Nebelwand. Schön, dann würde er eben nicht dort entlanggehen. Wieder wollte ihm ein Fluch über die Lippen kommen, doch er schluckte ihn herunter, genau wie seine anhaltende Panik. Was hatte dieses Wesen mit Aoi vor? Er musste daran glauben, dass sein Uruha und diese Gestalt tatsächlich irgendwie zusammengehörten, so wie sie es behauptet hatte, und ihrem Mann nichts antun würde. Was hatte sie noch gleich gesagt? Sie hatte es leid, allein zu sein? Reitas Herz schmerzte bei dem Gedanken, dass es wirklich ein Teil von Uruha sein könnte, der sich so allein und einsam fühlte.

‚Ich hol euch zurück‘, dachte er, bevor er sich in Bewegung setzte.

 

Der Eingang des Labyrinths kam in Sicht – eine unspektakuläre Lücke zwischen zwei Hecken. Reita war gerade kurz davor, den ersten Schritt ins Innere zu setzen, als ihm etwas auffiel. Er konnte Ruki noch immer vorlesen hören, leise zwar, aber eindeutig. Hoffentlich war das ein Zeichen, dass er die Verbindung zur Realität trotz allem noch immer nicht verloren hatte. Dieses Wesen, dieser unheimliche, einsame Uruha konnte die Traumwelt hier zwar manipulieren und nach seinen Wünschen gestalten, aber er hatte keinen Einfluss auf die Realität. Das hoffte er zumindest. Und solange er diesen Gedanken festhielt, würde er auch Aoi wiederfinden können. Entschlossen betrat er das Labyrinth und erschauerte, als die Temperatur um weitere Grade zu fallen schien. Er schlug ein brüskes Tempo an, war sich beinahe sicher, dass er wieder zurück zum Herrenhaus finden musste. Er hatte versucht, sich von seiner erhöhten Position auf dem Hügel aus so viele Abzweigungen wie möglich einzuprägen. Kaum war er jedoch einige Hundert Meter vom Eingang entfernt, fand er sich in der ersten Sackgasse wieder.

 

„Mist“, zischte er, drehte sich herum und sah gerade noch, wie der Eingang, durch den er gekommen war, zuwuchs und dafür einen anderen freigab. „Echt jetzt?“, seufzte er, nicht einmal mehr wütend. Warum wunderte er sich überhaupt noch, dass die Umgebung sich ständig veränderte? Nichts anderes hatte das Herrenhaus schließlich getan. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, als würde sein böser Blick die Hecken davon abhalten, ihr Spielchen erneut mit ihm zu spielen. Mangels anderer Alternativen nahm er also den neu erschaffenen Weg und spurtete in die Richtung, in der er noch immer das Haus vermutete.

 

Mehrere Male veränderte sich das Labyrinth, bis er atemlos an einer Weggabelung stehen blieb. Er hatte vollkommen die Orientierung verloren. Aus lauter Verzweiflung hatte er versucht, durch die Hecken zu kriechen, oder irgendwie auf sie zu steigen, aber sie waren wie lebendige Wesen und ließen das nicht zu. Er schrie frustriert auf, schlug mit den Fäusten auf das Grün ein, das jedoch auswich wie Wasser, nur um sich neu zu formen.

 

„Uruha, bitte“, flehte er, „du kennst mich doch und weißt, dass ich dir nie was Böses will. Ich will dich doch nur zu uns zurückholen. Bitte, wieso machst du es mir so schwer? Du musst nicht allein sein, nie.“ Er verstummte, plötzlich unglaublich erschöpft, und lauschte in die Stille. Keine Tiere waren zu hören, nicht einmal der Wind, der noch immer mit seinen Haaren spielte, schien ein Geräusch zu machen.

„Ducky, bitte.“

 

Ruckartig hob er den Kopf. Da war doch etwas gewesen?

Ja, da war es wieder!

Zunächst konnte er das rhythmische Klopfen, das einen eigenartig hohlen Unterton hatte, nicht zuordnen. Dennoch ging er in die Richtung, aus der er es zu hören glaubte. Er bog nach rechts ab, folgte dem Weg einige Hundert Meter und erneut einer rechten Biegung, bis er einer Wand aus Grün gegenüberstand.

„Verdammt, nicht schon wieder“, zischte er und wollte sich gerade umdrehen, als sich die dünnen Äste vor seinen Augen teilten. Sein Herz begann schneller zu schlagen und so etwas wie Hoffnung keimte in ihm auf. War er zu seinem besten Freund durchgedrungen? War das Uruhas Art, ihm zu zeigen, dass er ihn gehört und verstanden hatte? Ohne weiter darüber nachzudenken, durchquerte er den entstandenen Durchgang und fand sich auf einer weitläufigen Rasenfläche wieder.

 

Reita hatte so sehr gehofft, nun das Herrenhaus vor sich aufragen zu sehen, dass er die schmale Gestalt einige Meter von ihm entfernt beinahe übersehen hätte. Mitten auf dem saftig grünen Rasen, der zu allen Seiten von den Hecken umgeben war, stand ein Junge. Er war schlank, mit langen Gliedmaßen, die so aussahen, als wären sie schneller gewachsen als der Rest seines Körpers. Unwillkürlich schlich sich ein Grinsen auf Reitas Lippen. Er erinnerte sich noch gut genug an dieses seltsame Stadium seiner eigenen Teenagerjahre, in dem irgendwie nichts an ihm zusammenpassen wollte. Aber so ungelenk der Junge vor ihm auch aussehen mochte, seine Kontrolle über den Fußball, den er auf den Knien oder dem Kopf balancierte, war unbestritten.

 

Eine Welle der Nostalgie überkam ihn, je länger er dem anderen bei seinem Tun zusah. Er trug sogar das Trikot ihrer früheren Highschool-Fußballmannschaft, aber selbst ohne diesen Hinweis hätte Reita seinen besten Freund in ihm wiedererkannt. Wie oft hatte er Uruha früher so gesehen? Ganz versunken in seiner Interaktion mit dem Ball, für nichts anderes einen Blick übrig.

 

„Hallo, Uruha“, rief er halblaut aus und winkte. Er hatte ihn nicht erschrecken wollen und dennoch zuckte der Junge heftig zusammen. Der Fußball prallte auf seinem Kopf auf, aber ohne den nötigen Schubs nach oben landete er in einem ungewollten Bogen auf dem Rasen. Große Augen schauten verdutzt in Reitas Richtung, bevor sich so etwas wie Unbehagen über die jugendlichen Züge legte.

 

„Ja? Meinen Sie mich?“

 

‚Erkennst du mich denn nicht?‘, wollte er fragen und sein Herz krampfte. Schon bei dem kleinen Jungen hatte er eine Vermutung gehabt und auch das Verhalten des düsteren Uruhas schien diese bestätigt zu haben. Aber jetzt zu sehen, dass auch bei dieser Version seines besten Freundes weder die Erwähnung seines Namens noch Reitas Anblick irgendeine Form des Erkennens zur Folge hatte, war niederschmetternd. Uruha schien vergessen zu haben, wer er selbst war und auch, wie viel ihn mit Reita verband.

 

„Ja, ich meine dich“, erwiderte er mit belegter Stimme und schluckte den Kloß herunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte. Mit einem bemüht freundlichen Lächeln auf den Lippen trat er langsam näher, um den anderen nicht zu verschrecken.

„Aber mir scheint, ich hab dich verwechselt“, log er. „Tut mir leid.“

 

„Oh, wirklich? Mit wem denn?“ Der Junge bückte sich nach seinem Ball und hob ihn auf, bevor er seinen Kopf neugierig schief legte.

 

„Ich …“ Reita überlegte einen langen Moment, was er sagen sollte. „Mit meinem besten Freund, Uruha. Er hatte früher das gleiche Trikot wie du. Du erinnerst mich sehr an ihn. Er ist auch so fußballbegeistert. Wir haben früher oft zusammen gespielt.“

 

„Ehrlich?“ Die großen Augen strahlten, bevor Reita mitansehen musste, wie sich ein Schatten über sie legte. „Ich bekomme hier nie Besuch“, murmelte sein Gegenüber, setzte sich im Schneidersitz auf den Rasen und bedeutete ihm, es ihm gleichzutun.

„Ich weiß ja, dass ich viel trainieren muss, um in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden, aber manchmal fühle ich mich einsam … so ganz allein.“

 

„Bist du schon lange hier?“ Reita setzte sich und schloss für einen Moment die Augen, als die Schwäche seines Körpers mit aller Macht zuschlagen wollte. Aber, verdammt, dafür hatte er nun wirklich keine Zeit. Er straffte die Schultern und schaute sein Gegenüber an, der seinen Blick noch immer neugierig erwiderte.

„Also?“

 

„Ich glaube schon. Ich weiß es nicht so genau. Ich trainiere viel …“ Der Junge verstummte und sein Blick verlor sich für einen Moment im Nichts.

 

„Ich bin noch nicht sehr lange hier“, sagte Reita. „Ich will meine Geliebten nach Hause zurückbringen.“

 

„Deine… Geliebten?“, echote der andere und Reita erkannte die Röte, die sich plötzlich über die noch rundlichen Wangen zog.

 

„Ja, Uruha ist einer von ihnen.“

 

„Und der andere?“

 

„Aoi.“

 

„Aoi“, wiederholte der Junge und für einen Sekundenbruchteil glaubte er, einen Funken des Erkennens in den schönen Augen aufflammen zu sehen.

„Warum ist dieser … Aoi hier? Wollte er auch euren Geliebten zurückholen?“

 

„Ja. Er hat mir geholfen, nach Uruha zu suchen, aber dann wurde er entführt. Darum muss ich ihn wiederfinden, bevor ihm noch was passiert. Aber ich finde den Weg aus diesem Labyrinth nicht.“

 

„Ihm passiert nichts.“

 

Reita zuckte zusammen, als die etwas piepsige Stimme des Teenagers dunkler geworden war und mit einem Mal der seines Uruhas glich.

 

„Was?“, hauchte er, wurde jedoch nur mit einem weiteren, fragenden Blick bedacht.

 

„Mh? Ich hab nichts gesagt.“

 

„Nicht? Ich dachte … Ach, nicht so wichtig.“ Er zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, während seine Gedanken rasten. Hatte er sich das nur eingebildet oder hatte ihm Uruha, sein Uruha, gerade gesagt, dass Aoi nicht in Gefahr war? Himmel, er hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren.

„Sag mal …“, begann er, bevor er noch vollends in seinen Gedanken versinken würde. „Kannst du mir helfen, den Weg zum Haus zu finden?“

 

„Ich weiß nicht …“, zierte sich der Junge und stand auf. „Ich muss trainieren.“ Wieder begann er geschickt kleine Kunststücke mit dem Fußball aufzuführen, als wäre das Leder ein Teil seines Körpers. War Uruha früher auch so verdammt talentiert gewesen?

„Ich muss noch richtig gut werden, verstehst du?“

 

„Bitte, ich schaff das nicht allein und mir läuft die Zeit davon.“

 

„Wieso? Hast du noch etwas vor?“

 

„Ja, so könnte man es nennen.“ Reita lächelte den Jungen von unten her an, bevor er sich ebenfalls erhob. „Ich gehöre nicht hierher, dieser Ort tut mir nicht gut.“

 

„Oh, das ist schade.“ Der Teenager hörte auf, mit seinem Ball zu spielen, und drückte ihn stattdessen gegen seine Brust. Beinahe als wäre er ein Kuscheltier, das ihm Geborgenheit schenkte.

„Ich hatte gehofft, du würdest vielleicht mal mit mir spielen.“

 

Reita musste sich bemühen, nicht mitfühlend das Gesicht zu verziehen. Wie gerne hätte er diese jüngere Version seines besten Freundes nun in den Arm genommen und gesagt, dass er nicht allein war. Aber er vermutete, dass sein Gegenüber dieses Zeichen der Zuneigung nicht ganz so gut auffassen würde.

 

„Ehm … Hallo?“

 

„Wie? Tschuldige, ich war gerade in Gedanken.“

 

 

„Macht ja nichts.“ Plötzlich lachte der Junge, fuhr sich durch die Haare und die Röte auf seinen Wangen schien sich zu vertiefen.

 

„Sag ruhig noch mal, was du wolltest.“

 

„Nein, nein, das war nicht so wichtig, ehrlich.“

Bevor Reita noch etwas sagen konnte, dribbelte der Junge einige Meter von ihm weg, bevor er in einem Bogen wieder näherkam.

„In Ordnung. Ich hab mich entschieden, dir zu helfen. Aber wir müssen uns beeilen. Ich …“

 

„Du musst noch trainieren, das hab ich verstanden.“ Reita erwiderte das Lächeln und streckte beide Arme aus. „Kann ich den Ball mal haben?“ Verdutzt schaute ihn der junge Uruha an, zuckte dann jedoch nur mit den Schultern und warf ihm den Ball zu. Reita ließ ihn von seiner Brust abprallen, schubste ihn mit dem Knie nach oben, bis er ihn mit dem Kopf in die Luft befördern konnte. Der überraschte Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen blieb bestehen, während er ihn bei seinem Tun musterte.

„Wir können den Weg für ein wenig Training nutzen, was hältst du davon?“

 

~*~

 

Reita versuchte, nicht aus dem letzten Loch zu pfeifen, aber so sehr, wie Uruha neben ihm lachte, gelang ihm das nicht wirklich. Sie hatten das Labyrinth in Rekordzeit durchquert – ein Vorteil, wenn man jemanden an seiner Seite hatte, der alle Abkürzungen kannte – und standen nun vor einem großen Springbrunnen. Das Herrenhaus ragte dahinter in den Nachthimmel auf und so erleichtert er war, es endlich erreicht zu haben, so verunsichert war er auch. Was ihn wohl erwarten würde? Würde er überhaupt eingelassen werden? Und wie um alles in der Welt sollte er seine Männer nach Hause bringen?

 

„Du bist ziemlich aus der Übung, was?“

 

„Das darfst du laut sagen.“ Reita gab es auf, sich und dem Jungen noch länger etwas vormachen zu wollen, lehnte sich vornüber und stützte die Hände auf die gebeugten Knie ab.

„Sobald wir wieder zu Hause sind, muss sich das ändern.“ Er sah mit einem breiten Grinsen auf den Lippen auf, das jedoch verblasste, als er den verlorenen Ausdruck im Gesicht seines jungen Gegenübers erkannte.

 

„Ich hätte gern einen Trainingspartner wie dich“, murmelte Uruha und senkte für einen Moment den Blick. „Auch wenn du noch etwas fitter werden müsstest.“ Das verschmitzte Grinsen auf den vollen Lippen war zwar nicht ganz ehrlich, aber dennoch brachte es Reita zum Lachen.

 

„Ach, Kleiner.“ Er richtete sich auf und strubbelte dem Jungen durch die ohnehin zerzausten Haare. „Du bist schon so gut, ich glaube kaum, dass du noch lange hier trainieren musst.“

 

„Nicht?“

 

Er schüttelte den Kopf.

„Sobald wir alle wieder in der R…“ Mist, da hätte er doch beinahe Realität gesagt, ohne zu wissen, welche Auswirkungen das auf den Kleinen vor ihm haben würde. Obwohl er langsam begann, diese Welt hier zu verstehen, glichen seine Taten noch immer eher einer Aneinanderreihung von Improvisationen. Was, wenn er einen Fehler machte? Was würde das mit Uruha, mit Aoi und ihm tun?

„Tut mir leid, ich hab gerade den Faden verloren. Was ich eigentlich sagen wollte … Sobald wir wieder zu Hause sind, spielen wir mal richtig gegeneinander, was hältst du davon?“

 

„Ehrlich?“ Der glückliche Ausdruck in den Augen des Jungen brachte sein gesamtes Gesicht zum Strahlen, ein Anblick, dem Reita schon als Teenager hilflos verfallen war. Für einen Moment schloss er die Augen und spürte dem Ziehen nach, das sich durch sein Herz zog.

 

„Mein Ehrenwort“, erwiderte er und streckte die Hand aus, damit sein Gegenüber einschlagen konnte. „Aber jetzt muss ich gehen.“ Uruha nickte, ließ seine Hand beinahe unwillig los und bückte sich nach seinem Fußball. Statt diesen jedoch aufzuheben, richtete er sich noch einmal auf und sagte seinen Namen.

 

„Ja?“

 

„Ich … will dir noch was geben“, nuschelte er und wieder konnte Reita mitansehen, wie sich eine feine Röte über die jugendlichen Wangen legte.

 „Damit du mich nicht vergisst, wenn du deine Freunde gefunden hast.“

 

‚Das werde ich nie, Ruha‘, wollte er sagen, aber seine Aufmerksamkeit wurde von dem Kristall abgelenkt, den der Junge soeben unter seinem Trikot hervorgezogen hatte. Wie auch schon bei der Kette, die die unheimliche Version seines besten Freundes um den Hals trug, war der Edelstein an einer Lederschnur fixiert und leuchtete in einem sanft pulsierenden Blau. Reflexartig streckte er die Hand aus, als Uruha ihm den Stein entgegenhielt. Er war eigenartig warm, seine Ecken beinahe scharfkantig, als wäre er aus einem weitaus größeren Kristall herausgebrochen worden.

 

„Das …“, wisperte er, als ihn eine schmerzlich vertraute Präsenz einzuhüllen begann.

 

‚Ich bin bei dir‘, schien der Stein ihm zuzuflüstern. Das Pulsieren ging auf seinen Körper über, passte sich dem Schlagen seines eigenen Herzens an. Wärme flutete ihn, vertrieb Müdigkeit und Schmerzen gleichermaßen. Ein unendlich erleichtertes Ausatmen kam ihm über die Lippen, als wäre er nach Tagen der Dunkelheit endlich wieder ins Licht getreten. Doch so gut es sich anfühlte, so sicher, wie er sich war, dass er Uruha, seinem Uruha, in der ganzen Zeit hier noch nie näher gewesen war, so unumstößlich war die Gewissheit, dass der Kristall nicht für ihn bestimmt war. Für eine Sekunde drückte er ihn gegen seine Brust, genau über seinem Herz, bevor er seine Hand ausstreckte.

 

„Das kann ich nicht annehmen.“ Es schmerzte ihn beinahe körperlich, als der Junge den Stein wieder an sich nahm und ihn aus großen, enttäuschten Augen ansah.

 

„Willst du ihn nicht? Ich habe nichts anderes, was ich dir geben könnte.“

 

„Ach, du.“ Reitas Stimme brach beinahe, als er seine Hand in den Nacken des anderen legte und ihn gegen sich zog. In dieser Gestalt war Uruha tatsächlich noch etwas kleiner als er, was sich gleichermaßen ungewohnt wie vertraut anfühlte.

„Diese Kette ist viel zu wertvoll, du solltest sie nicht einfach hergeben, hörst du? Du musst gut auf sie aufpassen.“ Der Junge nickte, verbarg sein Gesicht an seiner Halsbeuge und schlang die dünnen Arme um seine Mitte.

 

„Aber ich will dir etwas schenken, damit du mich nicht vergisst.“

 

„Ich habe dich nie vergessen und werde es auch nie tun.“ Er drückte einen Kuss auf den wirren Schopf, bevor er den Kleinen sanft aber mit Nachdruck auf Abstand schob.

„Wenn du mir wirklich etwas schenken willst, dann vertrau mir, wenn es soweit ist, okay?“

 

„Vertrauen? Wie meinst du das?“

 

„Ich kann es dir nicht erklären, aber du wirst es wissen. In Ordnung?“

 

Uruha nickte, bevor er sich räuspernd wegdrehte und seinen Ball aufhob.

„Wir sehen uns!“, rief er, die Hand winkend gehoben, als er davonlief.

 

Reita sah ihm hinterher, bis die schmale Silhouette zwischen den Hecken verschwand. Er ballte die Hände zu Fäusten, drehte sich zum Herrenhaus um und stieg entschlossen die Stufen zum Eingangsportal empor. Er hoffte inständig, dass er gerade das Richtige getan hatte. Oh bitte, er durfte es nicht noch schlimmer gemacht haben.

Kaum hatten seine Fingerspitzen das verzierte Holz berührt, sprang es nach innen auf und gab den Blick auf eine ihm nur allzu bekannte Eingangshalle frei.

‚Ich komm euch holen, Uruha, Aoi, haltet nur noch ein bisschen durch.‘

[28. Juni] "Wir schaffen es nur gemeinsam." (Teil 1)

Er befand sich erneut in dem Korridor, in dem ihm Uruha als Kind erschienen war. Trotz seines anhaltenden Unbehagens ging er eilig voran, das untrügliche Gefühl im Nacken, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Rukis Vorlesen war verstummt und an seiner Stelle war es nun wieder Kai, dessen Stimme er als seichtes Hintergrundrauschen vernehmen konnte. Seine beiden Kollegen mussten im letzten Tagebuch angekommen sein, denn die selbst durch die Entfernung erschöpft klingenden Worte Uruhas beschrieben gerade das Ende ihrer Neujahrstour. Verflucht, wie viele Einträge ihnen wohl noch bleiben mochten? Und wie viel Zeit war in der realen Welt bereits vergangen?

Vor ihm an der Wand blitzte etwas auf, ein Spiegel, wie er bei näherer Betrachtung feststellte. Der metallene Rahmen schien verkratzt, als hätte jemand versucht, etwas von der Oberfläche zu tilgen. Doch so interessant er dieses Objekt unter anderen Umständen auch gefunden hätte, für eine nähere Inspektion war nun definitiv nicht genug Zeit.

 

Vor allem nicht, als sich am Ende des Gangs eine Tür aus dem vorherrschenden Zwielicht schälte. Ohne Zögern ging er darauf zu und drückte die Klinke nach unten. Nach sich ständig verändernden Wegen, einem düsteren Wesen, das das Gesicht seines besten Freundes trug, und einem Labyrinth aus Hecken hätte er gedacht, ihn würde nichts mehr überraschen. Die riesige Bibliothek, in der er sich nun wiederfand, bewies ihm jedoch auf eindrucksvolle Weise das Gegenteil. Zu seiner Rechten füllten Reihen hoher Bücherregale aus rötlichem Holz den ausladenden Raum bis unter die Decke, kein Regalbrett war frei, überall stapelten sich Bücher. Dicke Wälzer neben schmalen Broschüren, alt aussehende, in Leder gebundene Bände neben modernen Taschenbüchern – und das war nur der kleine Teil, den er auf den ersten Blick erkennen konnte.

Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf seine Züge, während er umsichtig leise die Tür hinter sich ins Schloss drückte. Er fühlte sich, als wäre er nun wirklich mitten in Uruhas Kopf gelandet. Sein bester Freund war schon immer eine Leseratte gewesen. Science-Fiction, historische Romane, wissenschaftliche Abhandlungen oder Liebesgeschichten – es war Uruha egal, was er las, Hauptsache, es weckte auf irgendeine Weise sein Interesse. Wenn das sich stets verändernde Haus die Seele seines Geliebten und das Labyrinth sein Herz verkörperten, dann musste diese Bibliothek die Manifestation seines Geists sein, da war sich Reita sicher.

 

„Da bist du also, ich hab mich schon gefragt, wann du deinen Weg auch zu mir finden wirst.“

Reita zuckte zusammen und blickte sich hektisch nach der Quelle der Stimme um, die ihn so unsanft aus seinen Gedanken gerissen hatte. Er war so überwältigt von all den Büchern gewesen, dass er den Schreibtisch einige Meter vor ihm gar nicht beachtet hatte. Ebenso wenig wie die Gestalt, die hinter ihm saß, nun jedoch aufstand und auf ihn zukam. Ein schmales, aber höfliches Lächeln lag auf den vertrauten Zügen, als der andere kurz vor ihm innehielt und sich angedeutet verbeugte.

„Hallo, Reita.“

 

„U… Uruha“, wisperte er mit tauben Lippen und fühlte sich gleichzeitig wie erstarrt. Der Mann vor ihm war barfuß, trug lockere Bluejeans und ein ebenso weichfließendes, weißes Hemd mit kurzen Ärmeln. Auf seiner Nase thronte eine Lesebrille mit dünnem, silbernem Gestell und die Haare fielen ihm in einem warmen Blond ungestylt ins Gesicht. Reita blinzelte und widerstand nur knapp dem Drang, sich über die Augen zu reiben. Befand er sich tatsächlich noch in der Gedankenwelt seines Geliebten oder war das alles nur ein schrecklicher Albtraum gewesen, aus dem er soeben aufgewacht war? An wievielen Morgen in den letzten Jahren war er noch schlaftrunken in ihr Wohnzimmer getaumelt, nur um Uruha genau so vorzufinden? Entspannt auf dem Sofa sitzend, ein Buch in der Hand oder wahlweise in eines schreibend? Die Vertrautheit dieser Erscheinung war gleichermaßen so wohltuend und schmerzvoll, dass er gepeinigt für einen Moment die Augen schließen musste.

„Auch du bist nicht mein Uruha, nicht wahr?“, fragte er, als er seine Stimme wiedergefunden hatte und sah seinem Gegenüber in die Augen. Sie waren es, die das wohlbekannte Bild zerstörten, denn sie waren auf eine eigenartige Weise kalt. Nicht grausam, nicht bösartig, nur abgeklärt, bar jeder tiefergehenden Emotion.

 

„Ich bin ein Teil von ihm. Genau wie die anderen, die du bislang getroffen hast.“

 

„Ja, das dachte ich mir.“ Es war beinahe erschreckend, wie wenig überrascht er sich fühlte, wie logisch ihm alles mittlerweile erschien.

„Du erinnerst dich an meinen Namen?“, fragte er, als er sich verspätet daran erinnerte, wie ihn der andere angesprochen hatte. So etwas wie Hoffnung wollte in ihm hochsteigen, die sein Gegenüber jedoch mit einem kurzen Kopfschütteln im Keim erstickte.

 

„Ich bin nur ein guter Zuhörer.“

 

„Wie meinst du das?“

 

„Du hast deinen Namen mehrmals erwähnt, als du mit den anderen gesprochen hast.“

 

„Ah.“ Das … klang einleuchtend, wobei er sich fragte, wie diese Version von Uruha ihn hatte hören können, wenn er die ganze Zeit über hier in der Bibliothek gewesen war. Hatte er ihn beobachtet? Reita kniff misstrauisch die Augen zusammen, als ihm noch eine ganz andere Frage in den Sinn kam.

„Wie viele von euch gibt es in dieser Welt?“

 

„Du hast uns alle bereits kennengelernt … vorerst.“

 

„Vorerst? Was meinst du damit?“

 

„Komm mit, ich will dir etwas zeigen.“ Einladend hob der andere die Hand und wies ihn an, ihm zu folgen. Es hatte eine Zeit in dieser Welt gegeben, in der Reita nun gezögert hätte. Mittlerweile jedoch war der Wunsch in ihm, gemeinsam mit seinen Männern endlich in die Realität zurückzukehren, so dringlich geworden, dass er seine Vorsicht über Bord geworfen zu haben schien. Der abgeklärte Teil Uruhas führte ihn an einem Kamin vorbei, in dem ein munteres Feuer prasselte, das jedoch keine Wärme abgab. Immer tiefer folgte Reita ihm in den Wald aus Bücherregalen, bis sie an einem Gemälde innehielten, das beinahe die komplette Rückwand der Bibliothek vereinnahmte.

 

„Wow“, entkam es ihm ehrfürchtig, auch wenn er im ersten Moment nicht hätte beschreiben können, was er sah.

 

„Gefällt es dir?“

 

Gefallen wäre nun nicht das Wort gewesen, das Reita verwendet hätte, dennoch nickte er.

„Es ist … beeindruckend.“ Was auf den ersten Blick wie ein gewittriger Nachthimmel wirkte, in dem sich die Wolken in zahllosen Grauschattierungen türmten, stellte sich als abstrakte Darstellung eines menschlichen Totenkopfes im Profil heraus. Die knöcherne Struktur schien in der Mitte geteilt und der Hirnschädel überdimensioniert groß, um ausreichend Platz für die Segmente zu bieten, die sich in ihm befanden. In der unverkennbar hübschen Handschrift seines besten Freundes waren vier Teilbereiche beschriftet worden. Der Größte, unmittelbar an der Schädelbasis Beginnende nannte sich Beschützer. Direkt über ihm wurde ein fast kreisrundes Teilstück als Intellekt betitelt. Rechts davon, etwas kleiner konnte er den Perfektionisten ausmachen und der kleinste, gleichzeitig hellste Bereich verkörperte das Kind.

„Ist das … Uruha?“

 

„Ja.“ Die Gestalt lächelte, ein Ausdruck der künstlich, fast wie einstudiert auf dem ernsten Gesicht saß. „Das ist das Ich, von dem wir abstammen.“

 

„Du bist der Intellekt, nehme ich an?“ Sein Gegenüber nickte. Reita legte Daumen und Zeigefinger an sein Kinn, rieb nachdenklich über die Haut dort. Beiläufig bemerkte er, dass er noch immer glatt rasiert war und das, wo mittlerweile sicherlich mehr als nur ein paar Stunden vergangen sein mussten. Diese Welt war schon erstaunlich.

„Das hier …“ Er deutete auf den Bereich, der mit Perfektionist betitelt war, „… das ist der Fußball spielende Junge, oder?“ Er wartete auf eine Bestätigung, bevor er fortfuhr: „Das Kind ist selbsterklärend und dieses düstere, einsame Wesen …“

 

„Ist unser Beschützer. Er war vor mir hier.“

 

Reita betrachtete den dunkelsten Bereich, der den gesamten oberen Teil des Schädels vereinnahmte, und musste ein Erschaudern unterdrücken.

„Ihr seid also alle nach und nach erst entstanden?“

 

„Ja. Der Perfektionist hat sich geformt, nachdem ich das erste Mal versucht habe, von hier zu verschwinden.“

 

„Du wolltest fliehen?“

 

„Ja, ein sowohl dummes wie auch sinnloses Unterfangen.“

 

„Was? Warum?“

 

„Weil ich hierher gehöre.“ Er wies auf das Bild des Schädels, auf den nahezu kreisrunden Teil in der Mitte, der ihn repräsentierte. „Ich bin ein Fragment, ein Splitter. Ich würde ebenso wenig in der realen Welt überleben können wie du hier.“

Reita schluckte, für den Moment sprachlos, während er versuchte, den Schwall an Informationen zu verarbeiten. Einiges davon hatte er sich mittlerweile selbst zusammengereimt, anderes war ihm neu.

„Es hat gedauert, bis ich begriffen habe, was meine Rolle hier ist, bis ich keine Angst mehr hatte. Immer wieder bin ich aufgewacht, ohne zu wissen, wer ich bin oder wo ich mich befinde. Jedes Mal habe ich meinen Weg in diese Bibliothek gefunden, bis Bruchstücke von Erinnerungen an einen Unfall mich erneut in kopfloser Panik haben fliehen lassen. Ich begriff nicht, was mit mir geschah, warum mich dieses Haus und sein Wächter nicht gehen lassen wollten.“

 

„Meinst du mit Wächter den Beschützer?“

 

Der andere nickte.

„Ich war so oft schon kurz davor …“ Der Blick des Intellekts schweifte in die Ferne, als würde er sich an etwas erinnern. „Na, nicht so wichtig.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich konnte euch sehen, dich und die Freunde unseres Ichs.“ Reita blinzelte, als das Lächeln des anderen tatsächlich an Wärme gewann, wodurch die Ähnlichkeit zu seinem Uruha beinahe unerträglich wurde.

„Ich konnte es kaum glauben, als du zum ersten Mal hier aufgetaucht bist. Ich wollte unbedingt mit dir reden, aber …“

 

„Du warst es, den ich gesehen habe? Und der andere, der dich weggezerrt hat … war der Beschützer?“

 

„Ja.“

 

„Aber warum?“

 

„Das kann nur er dir beantworten.“

 

„Warum meintest du eben, dass vorerst nur ihr vier … Fragmente hier seid?“

 

„Nachdem du hier gewesen bist, ist das Kind zu uns gestoßen. Meine Theorie ist, dass wir immer mehr werden, je länger unser Ich ohne Kontakt zur Realität hier verweilt.“

 

„Das kann ich nicht zulassen“, murmelte Reita und biss sich auf die Unterlippe. „Weißt du, wie ich zu Uruha komme und wie ich ihn nach Hause holen kann?“

 

„Ich kann dich zu ihm bringen, aber alles andere entzieht sich meiner Kenntnis.“ Der Intellekt drehte den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. „Kannst du dir vorstellen, wie frustrierend es für mich ist, etwas nicht zu wissen?“ Auf dem hübschen Gesicht regte sich kein Muskel, der die Mimik passend zur offenkundigen Empörung geformt hätte. Ganz im Gegenteil, die puppenhafte Ausdruckslosigkeit wirkte fast komisch deplatziert und hätte Reita beinahe auflachen lassen.

 

„Du hast mein vollstes Verständnis“, entgegnete er angemessen ernst, was wohl die richtige Reaktion gewesen sein musste, denn der andere nickte einmal kurz, als würde er sich bedanken.

 

„Dann bringe ich dich nun zu ihm.“

 

„Warte. Aoi, mein Freund, der kurz nach mir in diese Welt gekommen ist … Der Beschützer hat ihn entführt und …“

 

„Er wird dort sein.“

 

„Wie?“

 

„Der Beschützer ist meist bei unserem Ich. Ich schätze, Aoi wird bei ihm sein.“

 

Wie auch schon während seines Gesprächs mit dem Perfektionisten fiel ihm auf, dass der Intellekt über Aois Namen stolperte. Das Zögern war nur für einen Bruchteil einer Sekunde zu bemerken gewesen, dennoch schien sein Liebster irgendetwas in Uruhas Geist auszulösen. So zersplittert dieser im Moment auch sein mochte, diese kleinen Reaktionen seiner Fragmente machten Reita Mut.

 

„Gut, dann lass uns zu ihnen gehen.“

 

~*~

 

Kaum hatten sie die Bibliothek verlassen, lag eine Spannung in der Luft, die die feinen Härchen an Reitas Unterarmen steil emporstehen ließ. War das das Werk des Beschützers, der sein Eintreffen erwartete oder war es Uruha selbst? Wie dem auch sei, er rechnete nicht damit, dass sein Tun unbemerkt bleiben würde. Die Wände des schmalen Korridors begannen zu knarzen, die Böden zu ächzen, als – und er konnte kaum fassen, dass er das wirklich dachte – würde das Haus atmen. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, als er sich an seinen Albtraum erinnerte, den er nach seinem ersten Blick in diese Welt durchlebt hatte. Sie kamen an dem Spiegel mit dem verkratzten Rahmen vorbei und für den Bruchteil einer Sekunde bildete Reita sich ein, das herrische Gesicht des Beschützers daraus hervorbrechen zu sehen. Er zuckte zusammen, die Hände wie zur Abwehr gehoben und sein Herz wie wild pochend. Doch der Intellekt vor ihm zeigte sich gänzlich unbeeindruckt und so beschloss er nach einer Sekunde des Durchatmens, dass er sich diese Erscheinung nur eingebildet haben musste. Doch als sie die Eingangshalle durchquerten und ein dumpfes Pochen in der Ferne die Luft zum Vibrieren brachte, konnte er die Veränderungen nicht länger ignorieren.

 

„Was ist das?“, wisperte er und zu seiner Schande musste er zugeben, dass seine Stimme zitterte.

 

„Du wirst erwartet“, entgegnete Uruhas Fragment monoton, drehte sich kurz zu ihm um und schenkte ihm ein hölzernes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Reita schluckte und hätte sich gewünscht, lieber keine Antwort bekommen zu haben. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen, das Gesicht seines besten Freundes so mechanisch ausdruckslos zu sehen.

 

„Ach du Schei…“, entkam es ihm in einem fassungslosen Hauchen, als er ein Detail bemerkte, das ihm bislang noch nicht aufgefallen war. Er erkannte nun, was die Ölgemälde darstellten. Es waren Bildnisse der Fragmente. Links von ihm der Perfektionist und das Kind, rechts der Intellekt und die Darstellung einer Person, deren Gesicht in tiefen Schatten lag. Das Bild, was ihn jedoch am meisten beunruhigte, war das, welches genau vor ihm über der Treppe emporragte. Der Beschützer in all seiner dunklen Pracht. Seine Arme waren zu beiden Seiten ausgestreckt und in den Händen hielt er dunkelrote Fäden, die zu den anderen Gemälden zu führen schienen.

„Wie ein Puppenspieler“, flüsterte er. Wieder streifte ihn der Blick des Intellektes, diesmal verzichtete er jedoch auf eine verbale Reaktion. Lediglich ein Schatten verdunkelte für einen Moment das puppenhafte Gesicht. Reita blinzelte, doch der undefinierbare Ausdruck war verschwunden.

 

„Komm, unser Ziel liegt dort oben.“

 

„Das hatte ich befürchtet.“

 

Er konnte den Blick kaum von dem Bildnis des Beschützers lösen und je länger er es betrachtete, desto mehr Ähnlichkeiten zu seinem Uruha fielen ihm auf. Die Augen, die er bei ihrer ersten Begegnung für grausam gehalten hatte, schienen in einem unheiligen Feuer der Leidenschaft und Hingabe zu glühen. Der Mund, zu einer herrischen Linie gepresst, ließ dennoch die Sinnlichkeit erahnen, mit der er Worte zu Waffen machen konnte. Die Haltung, stolz und aufrecht, einen Hauch der Arroganz verströmend, die ihn schon so oft willenlos gemacht hatte.

Reita biss sich auf die Unterlippe und verbat sich an all ihre intimen Momente zu denken, in denen er sich seinem Geliebten aus freien Stücken vollkommen ausgeliefert hatte.

 

„Finde mich.“

Er zuckte zusammen, als ihn ein mehrstimmiges Wispern von allen Seiten aus seinen Gedanken riss. Hektisch sah er sich nach der Quelle der Worte um und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Sein fassungsloser Blick haftete an einer der Holzkugeln, die das Geländer der Treppe schmückte und die sich vor seinen Augen zu einem Gesicht formte. Ein ihm nur allzu vertrautes Gesicht – Uruhas Gesicht.

Die kleinen Lippen teilten sich und erneut erklang dieses geisterhafte Wispern, das er nie wieder vergessen würde.

„Finde mich.“

 

„Mh, du scheinst recht damit zu haben, dass euch nicht mehr viel Zeit bleibt.“ Der Intellekt wirkte gänzlich unbeeindruckt von dem Horror, der Reita deutlich anzusehen sein musste. Er rieb sich übers Kinn, zischte wortlos und machte eine scheuchende Handbewegung, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen. Augenblicklich verstummte das Wispern, die Münder schlossen sich und die Gesichter wurden erneut zu regungslosen Holzkugeln.  Nichts rührte sich, selbst das Ächzen und Knarzen, das Pochen in der Ferne waren verstummt. Nur die Spannung schien zugenommen zu haben. Es knisterte hörbar, als Reita den letzten Schritt ins Obergeschoss trat. Beinahe rechnete er damit, die elektrisierte Luft würde sich entladen und ein gewaltiger Blitzschlag ihn treffen. Aber nichts geschah, was seine Anspannung jedoch kein bisschen zu mindern vermochte.

 

„Warum machst du es mir so schwer? Warum jagst du mir Angst ein?“, murmelte er halblaut und rieb sich übers Gesicht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Intellekt ihn verstehen würde, geschweige denn, dass er eine Antwort erhalten würde, und blinzelte dementsprechend ertappt.

 

„Warum glaubst du, dass wir Fragmente existieren? Warum bleibt dein Uruha hier, obwohl seine körperlichen Verletzungen längst geheilt sind?“

Reita öffnete den Mund, ohne zu wissen, was er darauf hätte sagen sollen.

„Die Zeit wird knapp, folge mir, wir sind gleich da.“

 

Noch während sich seine Gedanken immer schneller im Kreis zu drehen begannen und er versuchte, die Worte des Intellekts zu begreifen, hatte er sie an der schwarzen Tür vorbei bis zu einem kreisrunden Fenster geführt. Reita erstarrte und blinzelte ungläubig der Szenerie entgegen, die ihn hinter dem Glas erwartete. Er konnte Ruki sehen, der müde und abgespannt auf einem der Besucherstühle in Uruhas Krankenzimmer saß. Vor dem Bett ging Kai auf und ab, ein Buch in den Händen. Seine Lippen bewegten sich und als er sich konzentrierte, konnte er erneut die Worte ausmachen, die der Leader vorlas. Es war dunkel im Zimmer, nur das Nachtlicht brannte.

 

„Schön, nicht wahr?“ Er hatte nicht bemerkt, dass der Intellekt neben ihn getreten war und beinahe wehmütig durch die Scheibe schaute. „Ich war schon sehr oft hier und habe euch zugesehen.“

Uruhas Fragment legte den Zeigefinger auf das Glas und folgte Kais Schritten damit.

 

„Das ist Kai, unser Leader.“

 

„Und er hier?“ Der Intellekt deutete auf Ruki, der eingeschlafen war.

 

„Unser Sänger, Ruki.“

 

„Mh.“ Der andere legte den Kopf schief, betrachtete das Geschehen noch einige Momente lang, bevor er sich abwandte.

„Wir sollten keine Zeit mehr vergeuden.“

Zustimmend nickte Reita, aber noch bevor er etwas dergleichen sagen konnte, hatte der Intellekt eine wischende Handbewegung vollführt. Wo bis eben noch das Fenster in die reale Welt gewesen war, formte sich nun ein Torbogen.

„Hier entlang.“

 

Reitas Mund stand offen und schnell schloss er ihn, bevor er noch einen kompletten Idioten aus sich machen würde. Wann zum Geier würde er endlich begreifen, dass in dieser Welt nichts so war, wie es schien? Und hey, warum auch nicht? Torbögen tauchten doch immer aus dem Nichts auf. Er schüttelte seicht den Kopf und verkniff sich ein erschöpftes Seufzen, als er dem Fragment nach kurzem Zögern folgte.

 

Der Raum hinter dem Torbogen erinnerte ihn an ein mittelalterliches Burggewölbe. Die Mauern bestanden aus unregelmäßigen, dunkelgrauen Steinquadern, der Boden aus festgetretener Erde. Das alles nahm er jedoch nur am Rande wahr, denn all seine Aufmerksamkeit lag auf der Gestalt, die auf einem Thron aus massivem, schwarzem Marmor saß.

 

„Du hast uns also hintergangen“, stellte das Wesen beinahe gelangweilt fest und seine Stimme hallte lauter, als es hätte möglich sein dürfen, von den Wänden wider. Reita verzog das Gesicht, als seine Ohren erneut zu schmerzen begannen. Der Intellekt neben ihm jedoch trat ungerührt weitere Schritte vor, bis er direkt vor dem Thron innehielt.

„Aber gerade von dir haben wir auch nichts anderes erwartet.“

 

„Es ist gut, Beschützer, es ist an der Zeit, loszulassen.“

 

„Sei still!“ In einer herrischen Bewegung riss der Beschützer seinen rechten Arm zur Seite, als würde er etwas Lästiges hinfort wischen. Noch bevor Reita reagieren konnte, flog der Intellekt einige Meter durch die Luft und schlug unsanft auf dem Boden auf.

 

„Oh, verdammt!“, entkam es Reita, während er mit schnellen Schritten an die Seite des anderen eilte. Der Intellekt stöhnte, als er ihn unter den Schultern fasste und in eine sitzende Position zog. „Geht’s?“, wollte er wissen, doch seine Aufmerksamkeit wurde von dem Edelstein abgelenkt, den er wie die anderen Fragmente auch um den Hals trug, und der schwach zu glühen begonnen hatte.

 

„Es geht schon.“ Der Intellekt ließ sich von ihm hochhelfen und verzog gepeinigt das Gesicht, als er die Hand gegen seine Rippen presste.

„Kümmere dich nicht um mich. Du musst versuchen, zu ihm durchzudringen.“

 

Reita biss sich auf die Unterlippe, nickte aber. Der Intellekt hatte recht. Er straffte die Schultern und drehte sich langsam um, bis er dem dunklen Wesen gegenüberstand.

„Wo sind Uruha und Aoi?“, verlangte er zu wissen und ballte die Fäuste. Er rechnete mit einem Angriff ob seiner Dreistigkeit, als er sich ebenfalls dem Thron näherte. Aber nichts geschah, nur ein erwartungsvolles Lächeln hatte sich auf die vollen Lippen des Beschützers gelegt.

„Lass sie frei.“

 

„Und was dann? Nimmst du sie mit in deine Welt, wo Uruha nur wieder verletzt wird? Wir glauben nicht.“

 

„Uruha hatte einen Unfall, dafür kann niemand etwas.“

 

„Ach nein? Und wie erklärst du dir dann das alles hier?“ Das Wesen machte eine ausladende Handbewegung und plötzlich wurde der Bereich hinter dem Thron von schwach bläulichem Licht erhellt.

 

„Uruha.“ Der Name seines besten Freundes war nicht mehr als ein Wispern, obwohl Reita schreien wollte, als er ihn endlich zu Gesicht bekam. Aber sein Anblick war auf eine grausame Weise so schön, dass ihm die Luft zum Atmen fehlte. Dort stand er, nackt, eingeschlossen in einem Kokon aus schimmerndem Kristall, der direkt aus seiner Brust gewachsen zu sein schien. Selbst während er ihn fassungslos anstarrte, wuchs der Stein weiter und begann zu pulsieren … wie die Anhänger der Fragmente. Seine Augen weiteten sich, als er die gezackten Enden des Kristalls näher betrachtete und die Risse bemerkte, die sich wie Adern durch sie zogen. Krampfend formte sich sein Magen zu einem festen Knoten, als er begriff, dass er Zeuge der Geburt neuer Splitter war, die kurz bevorstehen musste.

‚Himmel, nein, das kann ich nicht zulassen. Uruha!‘

 

„Siehst du nun, dass wir ihn beschützen müssen?“

 

„Das, was du tust, hat nichts mit beschützen zu tun“, fauchte Reita und riss sich vom Anblick seines Geliebten los. „Du hältst ihn hier gefangen, du bist schuld, dass er nicht aufwacht.“

 

„Du dummes, dummes Ding.“ Die Gestalt lachte, ein Geräusch wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzten. „Wir sind ein Teil von Uruha, geboren aus seinen Ängsten und Sehnsüchten.“

 

„Aber …“ Verzweiflung wusch über Reita hinweg wie eine Sturmflut, als ihm bewusst wurde, dass er keine Ahnung hatte, was er nun tun sollte. Er war nicht gut mit Worten, war ein Mann der Taten, doch das würde ihm hier nun auch nichts helfen. Das Wesen war stärker als er und er bezweifelte, dass er Uruha einen Gefallen tun würde, würde er nun wie ein Berserker auf den Kristall einschlagen, der ihn umgab.

 

„Sie haben recht, weißt du?“ Reita wirbelte herum, als er die samtene Stimme hinter ihm vernahm. Erst sah er nur den Intellekt, der gegen eine Wand lehnte und sich noch immer die Rippen hielt. Dann jedoch schälte sich ein Mann aus den Schatten, dessen Anblick ihm vor Erleichterung die Tränen in die Augen treiben wollte.

 

„Aoi?“

[28. Juni] "Wir schaffen es nur gemeinsam." (Teil 2)

„Aoi?“

Sein Mann lächelte und Himmel, Reita war so froh, ihn zu sehen. Je näher er ihm jedoch kam, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Aoi trug schwarze Stoffhosen und ein ebenso schwarzes, aufgeknöpftes Hemd mit langen Ärmeln. Nichts weiter und definitiv nicht die Kleidung, die er bei seiner Ankunft in dieser Welt getragen hatte.

„Wie meinst du das, sie haben recht?“ Jede Faser in Reitas Körper schrie danach, auf seinen Liebsten zuzugehen, ihn in seine Arme zu nehmen, um sich zu versichern, dass es ihm gut ging. Stattdessen kniff er lediglich die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und musterte ihn mit einem unruhigen Ziehen in der Magengegend. Aois Augen wirkten glasig, beinahe verträumt und so, als wäre er meilenweit weg.

 

„Ich bin schuld, dass Uruha verletzt wurde. Ich hab ihn fortgestoßen, war nicht für ihn da, als er mich brauchte.“

 

„Was? So ein Blödsinn!“, schnappte er, plötzlich am Ende dessen angekommen, was er noch ertragen konnte. „Ihr habt euch gestritten, na und? Das passiert, dafür sind wir Menschen. Uruha war auch kein Unschuldslamm. Natürlich hättest du deine schlechte Laune nicht an ihm auslassen sollen, aber ebenso wenig war es fair von ihm, einfach davonzulaufen, ohne dir eine Chance zur Klärung zu geben.“

 

„Nein, nein, ich …“

 

Reita schnalzte ungeduldig mit der Zunge, um den Protest seines Mannes sogleich im Keim zu ersticken.

„Aoi, bitte, hör mir zu. Der Unfall ist schuld, dass Uruha verletzt wurde, nicht du! Außerdem kann niemand garantieren, dass es nicht passiert wäre, hättest du anders reagiert. Gerade in solchen Phasen braucht Uruha manchmal auch seinen Freiraum, das wissen wir beide. Also wer sagt, dass er nicht so oder so weggefahren wäre?“

Die ganze Zeit, in der er gesprochen hatte, hatte Aoi nur seicht den Kopf verneinend geschüttelt, was ihn schier zur Verzweiflung brachte.

„Wir sind diesen Abend schon so oft gemeinsam durchgegangen, warum fängst du ausgerechnet jetzt wieder damit an, dich für alles verantwortlich zu fühlen?“

 

„Weil ich es bin. Ich bin schuld. Deine Worte sollen mich nur beruhigen, aber ich kenne die Wahrheit“, säuselte sein Mann mit abwesendem Tonfall und wiegte seinen Kopf erneut von links nach rechts, als würde er sich zu einer Melodie bewegen, die nur er hören konnte. „Ich bin schuld, ganz allein ich, und ich werde dafür büßen.“

Plötzlich verdrehte er die Augen, bis nur noch das Weiß zu sehen war. Er stolperte zur Seite, der verträumte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwunden, als Blut aus seiner Nase über sein Kinn zu rinnen begann.

 

„Aoi, nein!“, schrie Reita, machte zwei große Sätze auf ihn zu und bekam ihn gerade so noch zu fassen, bevor er fallen konnte.

„Oh, bitte nicht“, wisperte er, war mit seiner Last auf den Boden gesunken und hatte Aois Kopf auf seinem Schoß gebettet. Die Augen seines Mannes waren geschlossen, sein Mund stand leicht offen. Er atmete flach, während das Blut noch immer seine untere Gesichtshälfte rötete.

„Hör auf damit!“, rief er, seinen wilden Blick auf das Wesen gerichtet, das vollkommen entspannt noch immer auf seinem Thron saß. „Lass ihn in Ruhe!“

 

„Wir tun ihm nichts.“ Die vollen Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln. „Die Zeit ist es, die gegen euch läuft.“

 

„Fuck.“ Reita biss sich auf die Unterlippe, um das Wimmern zurückzuhalten, das in seiner Kehle brannte. Er hatte geahnt, dass der Beschützer an Aois seltsamem Verhalten schuld war und auch, wenn er gerade das Gegenteil behauptet hatte, er glaubte ihm kein Wort. Verflucht, was hatte er ihm angetan?

 

„Du spürst es doch selbst, nicht wahr?“, redete der dunkle Wächter weiter. „Eure Anwesenheit in dieser Welt ist eine enorme, mentale Belastung für euch. Ihr seid dafür nicht gemacht. Irgendwann werden eure Körper das nicht mehr aushalten.“ Die vollen Lippen verzogen sich zu einem selbstgerechten Grinsen, als er sich auf seinem Thron zurücklehnte und die langen Beine überschlug.

 

„Von wegen, du tust ihm nichts“, zischte Reita und funkelte den anderen an. „Hör auf, in seinem Kopf herumzustochern.“

 

„Pfff“, war alles, was das Wesen dazu zu sagen hatte und betrachtete ungerührt seine schwarzen Fingernägel, als hätte es ihm nicht einmal zugehört.

 

Verzweifelt wandte Reita sich ab, hin und hergerissen zwischen der Sorge um seinen Mann und dem unbändigen Drang, seine Wut an irgendjemandem auslassen zu wollen. Mit brennenden Augen betrachtete er Aois regloses Gesicht, fühlte sich erneut schrecklich hilflos.

 „Komm schon, Aoi, mach mir hier nicht schlapp, bitte.“ Vorsichtig tätschelte er die Wange seines Liebsten, wisperte Beschwörungen und Nichtigkeiten, bis ein Schatten über sie fiel. Mit feuchten Augen sah er auf, erkannte den Intellekt, der zu ihnen gekommen war und sich nun neben sie kniete.

„Was soll ich tun? Er stirbt, wenn ich nichts unternehme.“

 

Der Intellekt blinzelte langsam, als würde er scharf über etwas nachdenken, hob den Kopf und richtete seinen Blick auf Uruhas im Kristall gefangenen Körper.

„Der Beschützer kann zwar in eure Gedanken eindringen, euch Schmerzen zufügen, aber er kann euch nicht vernichten, weil Uruha das nie zulassen würde.“

 

‚Ihm passiert nichts‘, erinnerte sich Reita plötzlich an die Worte, die der Perfektionist mit der vertrauten Stimme seines besten Freundes zu ihm gesagt hatte.

„Ja, aber …“

 

„Er schindet Zeit, verstehst du? Du musst zu ihm durchdringen, nur so könnt ihr gemeinsam mit Uruha in die reale Welt zurückkehren.“

 

Unendliche Verzweiflung stieg in Reita hoch. Was sollte er tun? Wie sollte er dieses Wesen umstimmen, wenn es davon überzeugt war, Uruha um jeden Preis hierbehalten und schützen zu müssen? Sein Blick glitt vom Intellekt zu seinem besten Freund und dessen dunklem Wächter, der sich soeben erhoben hatte und mit bedächtigen Schritten auf den Kristall zuging.

 

„Es dauert nicht mehr lange.“ Beinahe liebevoll glitten die langen Finger über eine Ecke des Steins, die nur noch an einer dünnen Spitze mit dem Rest verbunden war. „Bald wird ein neuer Splitter geboren.“

 

„Geh“, verlangte der Intellekt, mit einem Mal einen drängenden Unterton in der bislang so monotonen Stimme. „Ich bleib bei ihm.“ Die ernsten Augen sahen für einen Sekundenbruchteil direkt in die seinen, bevor er den Kristall unter seinem Hemd hervorzog, ihn über den Kopf streifte und auf Aois Brust legte. „Ich verschaffe euch so viel Zeit, wie ich kann.“ Ein bläuliches Glühen hüllte die beiden ein, begann zu pulsieren und Reita erinnerte sich an den Moment, als er den Stein des Perfektionisten in den Händen gehalten hatte. In diesem Augenblick war etwas von Uruhas Stärke auf ihn übergegangen, hatte ihm neue Kraft verliehen.

 

„Ich danke dir.“ Der Intellekt nickte nur und als Reita sich erhob, formte sich das blaue Glühen zu einer Sphäre, die die beiden Männer von allem abschirmte. Es kostete ihn unendliche Willensstärke, den Blick von ihnen abzuwenden und sich dem Beschützer zu stellen. Beinahe, als könne er das Unbehagen von Reitas Gesicht ablesen, vertiefte sich das Lächeln auf den vollen Lippen zu einem hämischen Grinsen.

 

„Na, was ist? Hast du eingesehen, dass du machtlos bist?“

 

Machtlos. Das Wort brannte und stach in seiner Brust, weil es genau das beschrieb, was er in diesem Augenblick fühlte. Aber er konnte jetzt nicht aufgeben, oder doch? War nicht ohnehin alles sinnlos? Vielleicht sollte er sich der Verzweiflung hingeben, die mit langen Fingern nach dem letzten Rest Willensstärke zu greifen schien, die ihm noch geblieben war. Er war so müde. Er wollte nach Hause und seine Männer in Sicherheit wissen, sich endlich ausruhen.

Reita blinzelte, bemerkte erst verspätet, dass er stehen geblieben war. Seine Glieder fühlten sich bleischwer an und er konnte die Augen kaum noch offenhalten.

„Hör auf mit deinen Spielchen“, zischte er, als er begriff, dass es das Wesen war, das seine Gedanken beeinflusste.

 

„Mh, wie schade. Dein Aoi war deutlich empfänglicher für unsere Suggestionen.“

 

„Er ist nicht mein Aoi, er ist unser Aoi“, entgegnete er und konnte spüren, wie diese Wahrheit ihm ein Fünkchen Energie zurückbrachte.

„Außerdem kenne ich Uruha schon so lange und beinahe besser als mich selbst. Ich habe gesehen, wie manipulativ er sein kann, wenn er sich nicht mehr anders zu helfen weiß. Du hast selbst gesagt, dass du ein Teil von ihm bist. Also kenne ich auch dich. Du kannst mich nicht beeinflussen, weil ich jetzt weiß, was mich erwartet.“ Reitas Lippen zuckten im Anflug eines Lächelns, als der Beschützer für eine Sekunde ertappt die Augen niederschlug.

„Zugegeben, du hast mir Angst gemacht, aber nicht mehr. Ich verstehe jetzt, was dich antreibt.“ Die dunklen Augen des Beschützers richteten sich auf ihn und das Grinsen, das nun seine Lippen teilte, hatte Ähnlichkeit mit dem Zähnefletschen eines Raubtiers.

 

„Denkst du wirklich, deine Analysen kümmern uns? Ticktack, Reita, ticktack. Dir läuft die Zeit davon. Wir müssen nichts weiter tun, als euch hinzuhalten und dabei zuzusehen, wie ihr mehr und mehr verblasst. Sieh dich doch an.“

 

Reita wollte nicht, aber es war wie ein Reflex, der ihn dazu brachte, an sich hinunterzusehen. Schock rann durch seine Adern wie glühende Lava, als er erkannte, worauf der andere anspielte. Seine Umrisse verloren an Kontur, flackerten, wie ein Hologramm in einem Science-Fiction-Streifen, bevor sie sich wieder stabilisierten. War das etwa das Zeichen, dass ihre Körper in der realen Welt der mentalen Belastung nicht mehr lange standhalten würden? Er befürchtete, die Antwort zu kennen, und Panik wollte ihm das Atmen schwer machen. Aoi und er konnten sich doch nicht so einfach in Luft auflösen? Das … Verdammt, das würde er nicht zulassen! Sie waren schon so weit gekommen, da würde er jetzt nicht aufgeben. Er presste die Lippen aufeinander und straffte mit neuer Entschlossenheit im Blick die Schultern.

„Du würdest nie einfach so dabei zusehen, wie Aoi und ich sterben. Das kannst du gar nicht.“

 

„Entschuldigung?“ Der Beschützer legte den Kopf in dieser vogelhaften Geste schief, die ihm bereits früher aufgefallen war.

 

„Trotz deiner ständigen Drohungen kannst du uns doch nichts anhaben.“ Er ging einige Schritte auf das hohe Kristallgebilde zu, in dem Uruha noch immer reglos zu schlafen schien. Erst als das Wesen sich ihm in den Weg stellte, hielt er inne.

„Und weißt du auch warum?“ Er lehnte sich vor, bis er direkt in das Ohr des Beschützers flüsterte: „Weil Uruha nie zulassen würde, dass Aoi und mir etwas geschieht. Egal, was passiert ist, egal wie unverstanden er sich kurz vor dem Unfall gefühlt haben musste, Uruha weiß, wie viel er uns bedeutet. Er weiß, dass wir ihn lieben.“ Reita wusste nicht, wo er plötzlich den Mut hernahm, aber mit einem Mal lag seine Rechte an der Wange des dunklen Wächters, streichelte liebevoll darüber.

„Und du weißt es auch.“ Der überraschte Ausdruck auf dem harschen Gesicht erinnerte ihn für einen kurzen Moment derart stark an seinen besten Freund, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.

„Du willst nur das Beste für Uruha und ihn bestimmt nicht unglücklich machen, nicht wahr?“

 

„Genug!“, donnerte das Wesen und in einer Bewegung, die so schnell war, dass Reita ihr nicht folgen konnte, hatte es mehrere Meter Abstand zwischen sie gebracht. Sein Mund stand offen, er wollte irgendetwas sagen, aber im nächsten Moment breitete der Beschützer ruckartig die Arme aus und krümmte die Finger zu Krallen. Reita schrie erschrocken auf, als er von einer unsichtbaren Macht in die Höhe gerissen wurde, durch die Luft wirbelte und hart auf dem Boden aufschlug.

 

Für einen endlos erscheinenden Moment glaubte er, dass es das nun mit ihm gewesen war. Er sah nichts, fühlte sich hilflos wie ein Neugeborenes und hätte nicht einmal sagen können, ob sich sein Körper noch in einem Stück befand. Dann setzte der Schmerz ein, Tausende Nadeln, die ihn gleichzeitig zu durchbohren schienen.

 

„Reita!“ Schmale Hände packten ihn an den Schultern, versuchten, ihn in eine sitzende Position zu bringen. Aber er hatte vergessen, wie man atmete, sein Körper ein nutzloses, pulsierendes Ding. Wieder hörte er seinen Namen, die Panik, die in den beiden Silben mitschwang. Er kannte die Stimme, auch wenn er sie gerade nicht zuordnen konnte.

 

„Geh weg von ihm“, donnerte der Beschützer und ließ seine Trommelfelle schmerzen.

 

„Nein! Ich will nicht, dass du ihm wehtust … und dem anderen auch nicht!“

 

Endlich kehrte die Luft in Reitas Lungen zurück und stöhnend drehte er sich auf die Seite. Er hustete und blinzelte, aber es dauerte eine ganze Weile, bis das verschwommene Bild vor seinen Augen wieder klar wurde. Es war der Perfektionist, der sich über ihn gelehnt hatte und den Beschützer mit einem sturen Zug um den Mund anfunkelte. So derart trotzig und widerborstig konnte wirklich nur ein Teenager schauen.

„Hey, was machst du denn hier?“, fragte er mit heiserer Stimme und ächzte, als seine Rippen protestierten. „Ich dachte, du musst trainieren.“

 

„Manchmal gibt es eben Wichtigeres.“ Der Perfektionist lächelte ihn an.

 

„Danke“, keuchte er und schaffte es mit der Hilfe des Kleinen, sich in eine sitzende Position hochzurappeln.

„Siehst du?“, wandte er sich deutlich lauter an den Beschützer und musste sich räuspern, weil ihm die Stimme versagte. „Ich sagte dir doch, Uruha wird es nicht zulassen.“

 

„Schweig!“ Wieder zerschnitt der Arm der Kreatur die Luft und Reita schlitterte mehrere Meter über den Boden.

 

„Ugh“, stöhnte er und krümmte sich, als seine Rippen schmerzhaft protestierten. Dennoch begann er, sich erneut aufzurichten, als ihn die Wucht eines weiteren, unsichtbaren Fausthiebs nach hinten warf.

 

„Wir werden nicht zulassen, dass du alle gegen uns aufbringst. Wir haben hier das Sagen, wir sind der Beschützer!“

 

„Nein, hör auf!“

 

Trotz der immer lauter werdenden Proteste des Perfektionisten wurde Reita von einem weiteren Schlag getroffen. Im nächsten Moment riss ihn die Macht des Wesens nach oben, nur um ihn erneut hart auf den Boden zu schmettern. Er keuchte und hustete, sein Brustkorb fühlte sich an, als würde er in Flammen stehen. Übelkeit stieg in ihm hoch und er rollte sich stöhnend zur Seite, spuckte Speichel und Blut aus.

 

„Uruha, bitte“, flehte er, doch um was genau er bat, hätte er nicht sagen können. Er bemerkte eine Bewegung, wappnete sich für einen weiteren Angriff, der jedoch ausblieb. Stattdessen hörte er mit einem Mal die leise Stimme des Kindes.

 

„Ich will nicht mehr allein sein“, wimmerte es und als Reita die Augen öffnete, sah er es auf den Armen des Perfektionisten. Die beiden standen direkt vor dem Kristall und obwohl er auf dem Gesicht des Beschützers den Unwillen erkennen konnte, den dieser Umstand verursachte, tat er nichts, um sie aufzuhalten. Seltsam, dem Intellekt war er mit Gewalt begegnet, warum dann nicht den beiden?

 

„Geht zurück“, zischte der dunkle Wächter, doch noch bevor er auf die jungen Versionen Uruhas zugehen konnte, ging ein Ruck durch den schlanken Leib. Wie angewurzelt blieb er stehen, den Kopf zur Decke geneigt, als würde er lauschen. Reita ächzte, als er ungelenk auf die Beine kam, bis er an eine der groben Steinwände gelehnt einigermaßen sicher stehen konnte. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren und die Schmerzen waren derart unerträglich, dass es eine ganze Weile dauerte, bis auch er hörte, was mittlerweile die Aufmerksamkeit aller Fragmente fesselte.

 

Ich hasse die Tage, an denen ich mich so schrecklich bedürftig fühle. Sie sind immer wie ein Tor in die Vergangenheit, eine Vergangenheit, die ich am liebsten vergessen würde.

Ich war kein glückliches Kind, fühlte mich unverstanden und ungeliebt, war schrecklich einsam.

Meine Eltern waren nie für mich da, ihre Arbeit und ihre Stellung in der Gesellschaft immer wichtiger als ihr einziger Sohn. Sie haben mir schon früh das Gefühl gegeben, es ihnen nie recht machen zu können. Egal wie talentiert ich war, in ihren Augen hätte ich immer noch mehr geben können. Egal wie gut meine Noten waren, sie hielten mir vor, nicht genug gelernt zu haben. Ich wollte nie mehr, als ihre Liebe, aber bekommen habe ich immer nur ihre enttäuschten Blicke.

All das liegt so weit in der Vergangenheit und dennoch hat es mich geprägt. Ich weiß nicht, wie lange ich noch an mir arbeiten muss, bis ich das alles endgültig hinter mir lassen kann. Zugegeben, dieses unerträgliche Gefühl des Alleinseins überkommt mich mittlerweile nur noch selten, aber wenn, ist es wie ein Hunger, ein Hunger nach Akzeptanz, den ich nicht stillen kann. Nicht an Tagen wie heute, an denen es mich wie in einem Kokon einschließt, aus dem es kein Entkommen gibt.

An Tagen wie heute brauche ich euch noch mehr als sonst. Ohne euch wüsste ich nicht, was ich tun sollte.

Reita, Aoi, haltet mich … nur so lange, bis ich wieder atmen kann.

 

‚Ob das Uruhas letzter Tagebucheintrag ist?‘, fragte Reita sich. Mit jedem Atemzug schoss ein stechender Schmerz seine Wirbelsäule empor, aber dieser war nichts im Vergleich zur Agonie, die diese Worte in ihm auslösten. Die rohe Einsamkeit, die aus ihnen sprach, zerriss ihm das Herz.

Grob wischte er sich über die Tränenspuren, die sich über seine Wangen zogen und versuchte, sich zu sammeln. Verdammt, er konnte jetzt nicht schlappmachen.

 

„Es tut mir leid, so unendlich leid.“

 

„A… Aoi?“, hauchte er und sah fassungslos dabei zu, wie sein Liebster mit unsicheren Schritten auf die versammelten Fragmente zuging. Aoi war kränklich blass, Schweiß glänzte auf seiner Stirn und zusammen mit den getrockneten Blutspuren in seinem Gesicht sah er schrecklich elend aus. Reita schob sich an der Wand entlang, folgte ihm mit weitaus langsameren Schritten. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke und mit einem Anflug der Erleichterung erkannte er, dass der abwesende Glanz aus den dunklen Augen verschwunden war. Sein Mann hatte es also geschafft, sich dem Einfluss der Kreatur zu entziehen.

 

„Ich weiß, dass ich mich falsch verhalten habe. Ich hätte dir sagen sollen, warum ich so schlecht gelaunt war“, fuhr Aoi fort, nachdem er sich wieder Uruhas Fragmenten zugewandt hatte. „Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen, du hast mich bislang doch immer verstanden. Stattdessen hab ich dich fortgestoßen, ohne zu bemerken, was ich dir damit antue, weil ich zu sehr mit mir und meinen eigenen Problemen beschäftigt war.“ Aois Stimme versagte und er sank auf die Knie. „Wir hätten miteinander reden sollen, eine gemeinsame Lösung finden, wie wir es schon so oft getan haben.“

 

Seinen stolzen, willensstarken Mann so zu sehen, brach Reita das Herz, aber was noch schlimmer war, war der versteinerte Ausdruck auf dem Gesicht des Beschützers. Das Wesen hob die Hand, eine Bewegung, die die Schmerzen in seinem Körper wie ein Phantom erneut aufflammen ließ. Er wusste, was nun kommen würde, und war machtlos, es zu verhindern. Er keuchte, setzte immer schneller einen Fuß vor den anderen, aber er würde Aoi niemals rechtzeitig erreichen.

 

„Nein!“, wollte er schreien, aber ihm versagte die Stimme. Nicht so jedoch dem Kind, das zu weinen begonnen hatte und mit seinen kleinen Händen eine des Beschützers umklammert hielt.

 

„Tu ihm nichts, bitte.“

 

„Ja“, stimmte der Perfektionist mit ein und umarmte das Kind von hinten. „Du darfst ihnen nicht noch mehr wehtun.“

 

„Hör auf sie.“ Der Intellekt war plötzlich auf der anderen Seite des dunklen Wächters aufgetaucht und umfasste seine freie Hand, verschränkte ihre Finger fest miteinander. „Es ist Zeit für uns, zurückzukehren.“

 

Endlich war Reita auf Höhe seines Mannes angekommen, doch kaum verließ er den Halt, den die Mauer ihm gegeben hatte, knickten seine Beine ein.

 

„Rei“, flüsterte Aoi mindestens so erschöpft klingend, wie er sich fühlte, drehte sich ihm entgegen und streckte eine Hand nach ihm aus. Mit letzter Kraft kroch er die wenigen Meter zu ihm, umfasste seine Finger.

„Es tut mir so leid. Ich dachte, ich könnte zu ihm durchdringen.“

 

„Schsch“, summte Reita, nahm seinen Mann ungelenk in die Arme, bevor sie sich aneinander lehnten, um sich so gegenseitig aufrecht zu halten.

„Wir haben getan, was wir konnten, jetzt liegt es an Uruha“, wisperte er, sein Gesicht für einen kurzen Augenblick im Wust schwarzer Haare vergraben. Sie waren am Ende ihrer Kräfte angelangt, unfähig mehr zu tun, als den Geschehnissen zuzusehen, die sich vor ihnen abspielten. Aoi küsste seine Schläfe und es fiel ihm unendlich schwer, nicht die Augen zu schließen. Aber er durfte nicht, sie waren so weit gekommen.

 

„Sieh sie dir an“, erklang die Stimme des Intellektes. „Sie haben so viel durchgemacht, nur um uns, um Uruha zu finden.“

Das Kind hatte zu weinen aufgehört und vier Augenpaare waren auf sie gerichtet.

 

Plötzlich lag ein hohes Summen in der Luft, elektrische Spannung knisterte, als der Kristall, in dem Uruha noch immer gefangen war, ein pulsierendes Leuchten ausstrahlte. Reita kniff die Augen zusammen, als der gesamte Raum in allen Spektralfarben des Regenbogens erstrahlte, bevor er zu seinem schummrigen Ambiente zurückkehrte.

 

„Ich … oh mein Gott. Ich kann mich wieder erinnern“, flüsterte der Perfektionist und das Kind nickte.

 

„Ich auch.“ Das strahlende Lächeln des kleinen Jungen wärmte einen Teil in Reita, der sich seit Uruhas Unfall wie eingefroren anfühlte. Ein leises Seufzen perlte über seine Lippen und ein Teil seiner Anspannung verflüchtigte sich. Als er zur Seite blickte, um Aoi ansehen zu können, erkannte er dieselbe Erleichterung in seinen Augen.

„Nur bei euch kann ich die Einsamkeit, die mich manchmal überkommt, ertragen.“ Die kindliche Version Uruhas hob die Hand und unsichtbare Energie legte sich um sie wie eine warme Decke.

 

„Aoi, Reita, ihr habt mich immer so angenommen, wie ich bin. Habt nie mehr von mir verlangt, als ich euch geben konnte.“ Auch der Teenager streckte die Hand nach ihnen aus. Ein warmer Windhauch glitt über sie hinweg, streichelte ihre Haut.

 

„Die Liebe, die ihr mir entgegenbringt und die ich für euch beide empfinde, hat sich nie darum geschert, dass ich sie nicht rational erklären kann“, ergänzte der Intellekt und zum ersten Mal, seit Reita ihn kennengelernt hatte, erreichte das Lächeln auf seinen Lippen seine Augen.

Seine Berührung war wie ein Kuss, als auch er die Hand nach ihnen ausstreckte und nun war Aoi es, dem ein befreites Ausatmen über die Lippen kam. Die drei Fragmente blickten zu dem Beschützer auf, den sie noch immer in ihrer Mitte hielten, als ihre Anhänger mit einem Mal zu leuchten begannen. Eine unsichtbare Kraft hob sie an, bis sie waagerecht vor ihnen schwebten.

 

Aoi umfasste seine Hand, drückte zu und er konnte das Zittern spüren, das von endloser Erschöpfung sprach.

„Uruha“, murmelte sein Mann. „Komm zu uns zurück.“

 

„Wir vermissen dich“, setzte er nach. „Kai, Ruki, sogar deine Eltern. Sie haben sich schreckliche Sorgen um dich gemacht, dich so oft besucht, wie sie konnten.“

 

„All deine Fragmente, die unterschiedlichen Facetten deiner Persönlichkeit, machen dich erst zu dem Menschen, den wir über alles lieben.“ Aoi sprach ihm aus der Seele und als sein Partner unendlich langsam aufstand, tat er es ihm gleich. Sie wankten, mussten sich gegenseitig stützen, aber langsam, Meter für Meter, näherten sie sich den Fragmenten.

 

„Wir gehören zusammen, wir alle. Bitte, Uruha, komm mit uns zurück“, flehte er, als sie sie erreicht hatten. Reita hob die Hand, legte sie an die Wange des Beschützers. Sanft streichelte sein Daumen über den Wangenknochen – eine liebevolle Berührung, die er so oft schon mit seinem Uruha geteilt hatte.

„Du erinnerst dich auch, oder?“

Einen langen Moment sahen sie sich direkt in die Augen, bis er sich ein Stück nach vorn lehnte. Am ganzen Leib vor Erschöpfung bebend hauchte er dem Wesen einen Kuss auf die Stirn und lächelte.

„Wir vermissen dich, Ducky.“

 

„Ducky“, wiederholte der dunkle Wächter und schloss die Augen. Seine bislang kerzengerade Haltung fiel in sich zusammen, als wären Ketten von ihm abgefallen, die ihn aufrecht gehalten hatten.

„Ja, ich erinnere mich. Du hast immer auf mich aufgepasst, selbst als wir noch klein waren.“ Zum ersten Mal sprach der Beschützer nur von sich, hatte das Wir abgelegt. Reita nickte, als ihn sein Gegenüber wieder ansah und glaubte beinahe, all die Erinnerungen in den schönen Augen sehen zu können, die langsam zurückkehrten.

„Und später …“ Das Fragment wandte sich an Aoi. „Später warst auch du immer für mich da, auch wenn es gedauert hat, bis ich dir vertrauen konnte.“

 

„Ich werde immer für dich da sein“, flüsterte Aoi mit belegter Stimme.

 

„Ich bin müde.“

 

„Dann ruh dich aus“, murmelte Reita und Aois Lippen berührten in einem liebevollen Kuss die Wange des Beschützers.

 

„Du hast genug getan.“

 

„Ja.“

 

Ein sanfter Wind kam auf, zupfte verspielt an ihren Haaren, ihrer Kleidung. Langsam hob sich auch der Anhänger des Wesens von seiner Brust, begann im selben, sanften Blau zu glühen, wie die Steine der anderen Fragmente. Er spürte Hände, die Aoi und ihn berührten – das Kind, der Perfektionist, der Intellekt und zum Schluss auch der Beschützer.

 

„Wir sehen uns in der Realität wieder“, flüsterten sie gemeinsam – ein Versprechen, das Reitas Herz hoffnungsvoll höherschlagen ließ.

 

In einer gleißend hellen Entladung fügten sich die Splitter zu einer Einheit zusammen. Geblendet blinzelte er und es dauerte mehrere Herzschläge, bis er wieder sehen konnte. Er hatte gespürt, dass Aoi seinen Halt verlassen hatte und als er nun den Blick auf ihn richtete, hielt sein Mann einen faustgroßen Kristall in beiden Händen.

 

„Sieh nur“, hauchte Aoi atemlos und er konnte kaum glauben, was er sah. Dort waren sie, die Fragmente, jeder in seinem Stein und doch vereint. Das Kind grinste, präsentierte ungeniert eine breite Lücke, wo beide Frontzähne fehlten. Der Perfektionist zwinkerte und zeigte ihnen das Siegeszeichen und auf den Lippen des Intellekts lag ein zufriedenes Lächeln. Nur der Beschützer schaute grimmig drein, doch als Reita genau hinsah, glaubte er, das verräterische Zucken seiner Mundwinkel zu sehen.

 

„Es wird Zeit“, kam Uruhas körperlose Stimme plötzlich von allen Seiten. Gleichzeitig richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die noch immer vom Kristall umgebene Gestalt und Aoi war es, der entschlossen nickte.

 

Noch einmal betrachtete Reita den Stein in den Händen seines Liebsten, bevor auch er die Schultern straffte.

„Bringen wir es zu Ende.“

 

Sie waren kaum zwei Meter von ihrem Geliebten entfernt, doch es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis sie ihn endlich erreicht hatten. Aoi atmete schwer und er selbst musste immer öfter die schwarzen Punkte wegblinzeln, die sich in sein Gesichtsfeld schieben wollten. Auf Höhe von Uruhas Brust, genau über dem Herzen, klaffte ein Loch im Kristall, das exakt die Form ihres Steins hatte.

 

„Endlich“, hauchte er, als Aoi die zitternden Hände hob. Reita tat es ihm gleich und gemeinsam begannen sie, die Kristalle miteinander zu vereinen.

 

„Bringt mich nach Hause“, erklang Uruhas stimme erneut. „Ich will endlich wieder bei euch sein.“

 

Reita hörte das beinahe melodische Klirren, als der Stein seinen Platz fand, dann explodierte seine Umgebung in Lärm und Licht. Er fühlte noch, wie Aoi seine Rechte umfasste, eine andere – Uruhas – Hand schloss sich um seine Linke, dann wurde alles um ihn herum schwarz.

 

~*~

 

„…ita, Reita, bitte, wach doch endlich auf.“

Aufwachen? Wieso sollte er aufwachen? Es war gerade so gemütlich hier. Er trieb in samtener Dunkelheit, fühlte sich zufrieden und glücklich. Mh, war er wirklich glücklich? Bis eben musste es noch so gewesen sein, aber nun begann etwas an dem Gefühl des Friedens zu nagen. Hatte er nicht etwas vergessen? Irgendetwas war unglaublich dringend gewesen, oder?

Die Schwärze um ihn herum begann sich zu lichten, ging in Grauschattierungen über, die immer heller wurden.

„Reita, komm schon.“

 

Er blinzelte und rümpfte die Nase, als etwas Nasses auf seine Wange tropfte. Seine verschwommene Sicht klärte sich nach und nach, bis er Ruki erkannte, der sich grob mit dem Ärmel seines viel zu großen Kapuzenpullovers über die Augen wischte.

 

„Heulst du etwa?“, wollte er mit leiser, kratziger Stimme wissen, die es dennoch schaffte, den kleinen Sänger heftig zusammenzucken zu lassen.

 

„Reita!“

Bevor er eine Chance hatte, zu verstehen, was hier vor sich ging, spürte er ein Gewicht auf seinem Brustkorb und weitere Tränen, die durch sein dünnes Shirt sickerten.

„Du verdammter Idiot! Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.“

 

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich, obwohl er nicht wusste, was er falsch gemacht hatte. Ruki war ein sehr emotionaler Mensch, der normalerweise jedoch ein Meister darin war, seine Gefühle zu verbergen. Was hatte er also Schlimmes getan, dass seinen Freund so aufwühlte? Noch während Reita sich diese Frage stellte, kehrten die Erinnerungen zurück. Er kniff die Augen zusammen, als sie wie Lichtblitze vor seinem geistigen Auge aufflammten.

Die andere Welt.

Die Fragmente.

Uruha.

Aoi!

„Wo sind sie?“, japste er, plötzlich atemlos und versuchte, sich aufzurichten. Hektisch sah er sich um, bemerkte, dass er in einem Krankenbett lag. In seiner Armbeuge steckte eine Infusionsnadel, grünliche Flüssigkeit tropfte durch einen dünnen Schlauch in seine Vene.

„Was ist das?“

 

„Schsch, bleib liegen.“ Mit erstaunlicher Kraft drückte der Sänger ihn zurück auf die Matratze. „Das ist ein Schmerzmittel, ohne das dir gerade vermutlich der Schädel platzen würde. Also lass deine Finger davon, Reita!“ Rukis scharfer Blick streifte ihn. „Jetzt beruhig dich wieder und hör mir zu, okay?“

 

Reita sah ein, dass seine Gegenwehr zwecklos war, so schwach, wie er sich fühlte. Stöhnend ließ er sich zurücksinken, ohne seinen flehenden Blick jedoch von seinem Gegenüber zu lösen.

„Sag mir, was mit ihnen ist.“

 

„Es geht ihnen soweit gut“, murmelte Ruki beruhigend und legte fürsorglich die kühle Kompresse zurück, die während Reitas panischem Fluchtversuch von seiner Stirn gerutscht war. „Aoi schläft, Kai ist bei ihm.“

 

„Und Uruha?“ Rukis Gesicht war ernst und er befürchtete schon das Schlimmste, aber dann verzogen sich die schmalen Lippen zu einem erleichterten Lächeln.

 

„Er ist aufgewacht.“

 

„Oh, Gott sei Dank.“

Mit einem Mal fiel jegliche Anspannung von ihm ab und erst jetzt bemerkte er, wie müde und erschöpft er war.

 

„Ihr habt es geschafft, Reita. Ihr habt Uruha zurückgeholt.“

 

„Nein, wir alle zusammen haben es geschafft“, nuschelte er, als Rukis Hände von seinen Schultern verschwanden. „Ich hab euch gesehen, Kai und dich. Ohne euer Vorlesen hätten wir nie den Weg zurückgefunden.“

 

„Ich schick dir die Rechnung für die Dutzend Packungen Halsbonbons, die wir verbraucht haben.“ Ruki grinste ihn an, als ihm ein leises Lachen entkam.

 

„Wo sind die beiden? Kann ich zu ihnen?“

 

„Später. Du musst dich noch ausruhen, genau wie Aoi. Die Rettungsaktion hat euch ganz schön zugesetzt.“

 

„Und Uruha, wie geht es ihm?“

 

„Erstaunlich gut, bedenkt man, wie lang er im Koma lag. Die Ärzte sind milde gesagt aus allen Wolken gefallen. Soweit ich informiert bin, untersuchen sie ihn noch immer.“

 

„Mh“, brummte Reita, unendlich erleichtert zu hören, dass es seinen Männern den Umständen entsprechend gut ging. „Wie lange waren wir fort?“

 

„Beinahe einen ganzen Tag.“

 

Reita blinzelte. Obwohl er vermutet hatte, dass Aoi und er eine geraume Weile in dieser anderen Welt verbracht hatten, schockierte es ihn nun, damit recht behalten zu haben.

„Fast ein Tag“, echote er und musste sich im nächsten Augenblick ein Gähnen verkneifen.

 

„Irgendwann musst du mir erzählen, was mit euch dort drüben geschehen ist, ja?“ Ruki wischte ihm einige seiner Ponyfransen aus der Stirn. „Aber jetzt schlaf noch etwas. Ich weck dich, wenn es Neuigkeiten gibt.“

 

„Danke“, nuschelte er. „Danke für alles.“

 

„Erzähl es keinem.“

 

Noch während sich ein Lächeln auf Reitas Lippen schlich, bemerkte er, wie seine Lider immer schwerer wurden. Er gab dem Drang nach, die Augen zu schließen, und sank keinen Herzschlag später in die wartenden Arme eines traumlosen Schlafs.

[20. September] "Ich bin zu Hause."

Für einen kurzen Moment blieb er stehen und sah in den kornblauen Himmel, nachdem er ins Freie getreten war. Die milde Herbstsonne schien ihm ins Gesicht, ließ ihn leicht geblendet blinzeln. Tief atmete er durch, als sich die automatischen Schiebetüren mit leisem Zischen hinter ihm schlossen. Natürlich hatte er in den letzten Monaten die Rehaklinik das ein oder andere Mal verlassen, schließlich war er kein Gefangener gewesen – zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Zeit mit seinen Männern zu verbringen, war ihm ebenso gestattet gewesen, wie Spaziergänge ins nahe liegende Dorf. Dennoch war die Erleichterung, nun frei zu sein, so stark, dass sie ihm für einen Herzschlag den Atem raubte. Er konnte es noch immer kaum fassen, dass er heute endlich nach Hause fahren würde.

 

Erfreut stellte er fest, dass das bestellte Taxi schon bereitstand. Als er sich dem Fahrzeug näherte, trat ein gepflegter Mann in mittlerem Alter auf ihn zu, begrüßte ihn freundlich und nahm ihm seine kleine Reisetasche ab. Er bedankte sich höflich, stieg in das klimatisierte Fahrzeug und wartete, bis sich die Türen mit leisem Piepen geschlossen hatten. Die Fahrt zum nächst größeren Bahnhof, von dem aus er den Hochgeschwindigkeitszug nach Tokyo nehmen würde, würde beinahe eine Stunde dauern, aber das war es ihm wert. Ebenso wie der kleine Umstand, dass er sich sein Gepäck nachschicken ließ. Natürlich hätte er alles einfacher haben können und seine Männer bitten, ihn abzuholen, aber Reita und Aoi wussten noch gar nicht, dass er schon entlassen worden war.

Ein feines Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er seinen Blick nach draußen richtete, wo die idyllische Landschaft wie in einem kitschigen Heimatfilm an der Scheibe vorbeizog. So wunderschön und erholsam diese Gegend auch sein mochte – er konnte es kaum erwarten, endlich wieder den Trubel der Großstadt um sich zu wissen.

Er vermisste das hektische Hin und Her beinahe genauso sehr wie seine Arbeit. Seine Männer und ihre gemeinsamen Routinen waren es jedoch, nach denen er sich in den letzten Monaten am meisten gesehnt hatte.

 

»Ich bin jetzt unterwegs«, schrieb er Kai, seinem Verbündeten und dem Einzigen, dem er verraten hatte, dass er zwei Tage früher als geplant nach Hause kommen würde. Gerade wollte er das Handy zurück in seine Tasche stecken, als auch schon die Antwort ihres Leaders auf dem Display aufleuchtete.

 

»Wir sind im Studio. Wann kommst du an?«

 

»Gegen zwei. Kannst du Aoi und Reita bis ungefähr halb fünf hinhalten? Ich muss noch was erledigen.«

 

»Eine meiner leichtesten Übungen. Ruha? Tut gut, zu wissen, dass du nach Hause kommst.«

 

Uruha lächelte, schloss für einen Moment die Augen, bevor er antwortete:

»Glaub mir, ich kann es kaum erwarten, euch alle wiederzusehen. Vielen Dank für alles und … wir sehen uns morgen.«

 

Er verstaute das Mobiltelefon in seiner Umhängetasche, holte dafür ein kleines Buch samt Kugelschreiber daraus hervor und schlug es auf. Er musste sich bald ein Neues zulegen, stellte er fest und tippte mit der Stiftspitze auf eine der wenigen unbeschriebenen Seiten. Seit er im Krankenhaus aufgewacht war, hatte er fast jeden Tag geschrieben, obwohl er sich an kaum mehr als Bruchstücke und Gefühle aus seiner Zeit im Wachkoma erinnern konnte. Die Ärzte hatten ihm versichert, dass das keinesfalls ungewöhnlich war, dennoch fühlte er sich, als würden die Erinnerungen nur darauf warten, endlich hervorbrechen zu können. Als befänden sie sich nur knapp unter der Oberfläche seines Bewusstseins, wo er sie zwar als Schatten wahrnehmen, sie aber nicht sehen konnte.

 

Noch heute hatte er hart daran zu knabbern, was Reita und Aoi ihm berichtet hatten. Waren sie wirklich in seinem Unterbewusstsein gewesen und hatten dort Fragmente seiner selbst vorgefunden? Seine erste Reaktion auf diese fantastische Geschichte war ein herzhaftes Lachen gewesen, oder zumindest wäre es das, wäre er zu diesem Zeitpunkt nicht noch so unglaublich schwach gewesen. Aber je mehr Zeit verstrichen war, desto sicherer war er sich geworden, dass seine Männer ihm die Wahrheit sagten. Warum auch sollten sie sich so etwas Unglaubliches ausdenken? Mittlerweile wusste er tief in seinem Inneren, dass alles genau so geschehen war, wie die beiden ihm geschildert hatten, auch wenn ihm bis heute jegliche Erinnerungen daran fehlten.

Manchmal glaubte er, den Ereignissen nahezukommen, Bilder eines eleganten Hauses vor seinem geistigen Auge aufflackern zu sehen. Aber diese Momente dauerten nie lange an und hinterher stellte er sich immer die Frage, ob er sich das alles nicht nur eingebildet hatte. Vielleicht wollte er sich so sehr an alles erinnern, dass sich die Realität mit den Erzählungen seiner Männer mischte und etwas vollkommen Neues erschuf, das so nie passiert war? Uruha seufzte, schaute eine Weile aus dem Fenster, bevor er zu schreiben begann.

 

Was ihr alles durchgemacht habt, um mich zurückzuholen. Ach, was sage ich? Was ihr alles mitgemacht habt – Punkt. Und warum das alles? Nur weil ich mich von meinen Unsicherheiten habe übermannen lassen und kopflos reagiert habe. Es tut mir so unendlich leid, wisst ihr das? Natürlich tut ihr das, ich habe es euch schon mehr als einmal gesagt, seit ich aufgewacht bin. Dennoch. Vermutlich wird es noch eine ganze Weile dauern, bis ich mich nicht mehr schuldig fühle. Und nicht nur euch gegenüber. Ich weiß, dass auch Ruki und Kai sich um mich gesorgt haben, dass ich es ohne die Hilfe von euch Vieren vermutlich nie in die Realität zurückgeschafft hätte. Eure Erlebnisse hören sich noch immer so fantastisch an, dass ich sie kaum begreifen kann. Teilweise wünschte ich, ich könnte mich erinnern, teilweise bin ich froh, dass dem nicht so ist. Ich wüsste nicht, wie schuldig ich mich erst fühlen würde, würde ich unumstößlich wissen, durch welche Hölle ich euch geschickt habe.

Ruki, Kai, ich weiß wirklich nicht, wie ich euch danken soll. Natürlich wusste ich auch schon vor alle dem, dass wir gute Freunde sind. Aber dass unsere Freundschaft so tief reicht, war mir bislang nicht klar gewesen. Ihr habt alles, was geschehen war, bedingungslos akzeptiert, so vieles getan, um Aoi und Reita zu unterstützen. Das nennt man wohl Vertrauen, was? Und ich glaube, es braucht einen ganz besonderen Schlag Mensch, um dieses bedingungslose Vertrauen aufbringen zu können.

Ich bin euch so dankbar.

Aoi, ich sehe noch immer die Anstrengungen der letzten Monate in deinem Gesicht. Die Sorgenfältchen um deinen schönen Mund sind tiefer geworden, die Schatten unter deinen Augen dunkler. Du hast immer versucht, stark zu sein, dir nichts anmerken zu lassen, wenn wir die wenige Zeit, die uns in den letzten Monaten gewährt war, gemeinsam verbracht haben. Aber du kannst dich ebenso wenig vor mir verstecken wie ich mich vor dir. Ich sehe den Schmerz in deinem Blick, die Angst und die Schuld, die du dir noch immer an allem gibst. Aber ich verspreche dir, dass ich alles daran setzen werde, diese schmerzhaften Emotionen nach und nach auszuradieren.

Reita, mein Schatz, du bist noch immer so ungewohnt dünn. Obwohl du mir stolz erzählt hast, dass du wieder ins Fitnessstudio gehst, haben die Ereignisse dennoch sichtbare Spuren hinterlassen. Du hast am meisten gelitten – deine Seele vermutlich noch mehr als dein Körper. Du warst so unglaublich stark, hast nie aufgegeben, auch als du glaubtest, mit deinen Vermutungen allein dazustehen. Du hast so ein großes, wunderschönes Herz, das Herz eines Kriegers, der keine Niederlage akzeptiert. In schwachen Augenblicken frage ich mich, womit ich es verdient habe, einen Platz darin mein Eigen nennen zu dürfen. Aber genau diese Gedanken sind es, an denen ich arbeiten muss, nicht wahr? Denn ich weiß, dass wir alle – Aoi, du und ich – Plätze in unseren Herzen für den jeweils anderen offen halten.

Ach, Rei, auch du versuchst, deinen Schmerz vor mir zu verbergen, wie du es schon immer getan hast. Wir kennen uns schon so lange, denkst du wirklich, ich nehme dir deine Scharade ab? Ich sehe die Schatten in deinen Augen, wenn du dich unbeobachtet fühlst, spüre das Zittern deiner Hände, wenn du über meine Haut streichelst. Hast du noch immer Angst, mich zu verlieren?

Das musst du nicht, nie wieder, das verspreche ich dir.

Meine geliebten Männer, ich kann euch nur noch einmal sagen, wie leid mir alles tut.

 

Uruha blinzelte, als sich das Papier an einer Stelle kräuselte, die Tinte kreisrund zu verschwimmen begann. Verstohlen wischte er sich über die Augen, obwohl die Trennscheibe zum Fahrer heruntergelassen war. Er schätzte den Mann zwar als so professionell ein, dass er seinen kleinen Anflug der Schwäche ignorieren würde, selbst wenn er ihn mitbekommen hätte, dennoch musste man ja nichts riskieren. Vorsichtig trocknete er die Träne, die in sein Tagebuch gefallen war, bevor er weiterschrieb.

 

Ich weiß nicht, ob ihr das hier jemals lesen werdet. Zwar hat uns die letzte Zeit bewiesen, dass es Situationen gibt, in denen nicht einmal die intimsten Gedanken privat bleiben können, aber ich hoffe sehr, dass das nie wieder nötig sein wird. Dennoch, wer kann schon sagen, ob dieser Eintrag auf ewig zwischen den Seiten dieses Tagebuches verborgen bleibt? Vielleicht werde ich es irgendwann selbst sein, der euch daraus vorliest.

Ich möchte euch eines schwören. Nein, eigentlich sind es viele Dinge, die ich euch versprechen will. Kommunikation ist das eine, Fürsorge das andere und sämtliche Nuancen dazwischen.

Ich möchte euch versprechen, dass ich offener zu euch sein will.

Reita, als ich damals mit Aoi zusammengekommen bin, hast du etwas zu mir gesagt, das heute mehr denn je in meinem Inneren nachhallt.

„Eine Beziehung ist nichts, wovor du dich fürchten musst, nur etwas, woran du jeden Tag ein wenig arbeiten solltest.“

Ich glaube, ich verstehe erst jetzt so richtig, was du damit gemeint hast.

Vermutlich habe ich die tiefe Freundschaft, die uns beide schon immer verbindet, als selbstverständlich angesehen. Ich hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass du schon merken würdest, wenn es mir nicht gut geht, so wie du es immer getan hast. Das war nicht fair von mir, dir gegenüber nicht und Aoi gegenüber auch nicht.

In den letzten Wochen habe ich dieses innige Band, das uns verbindet, oft als Videospiel bezeichnet. Ja, ich weiß, das ist ein ziemlich seltsamer Vergleich, den du mir hoffentlich nicht übel nimmst.

Aber hey, ich liebe Games mindestens genauso sehr wie du, ist er dann nicht schon wieder passend?

Unser Kennenlernen zu Schulzeiten war die Einleitung, unsere innige Freundschaft der Hauptteil und unsere Beziehung mit Aoi ist nun der finale Level. Ein Level, den ich meistern werde, komme, was da wolle.

Es war nicht fair von mir, so vieles als gegeben hinzunehmen, ohne dir und Aoi die Chance zu geben, verstehen zu können, was in mir vorgeht.

Aoi, ich habe es dir nie leicht gemacht, nicht wahr? Was meine eigenen Emotionen angeht, war ich schon immer ein sehr ängstlicher Mensch. Ich habe mein Leben lang mit Zurückweisung reagiert, wenn ich dachte, ein anderer könnte mir so nahekommen, dass ich verletzt werden könnte. Aber damals – kurz vor Beginn unserer Beziehung – hast du mich durchschaut, hast dich von mir nicht täuschen lassen, und ich bin dir noch immer so dankbar dafür.

Obwohl wir schon so lange zusammen sind und ich dir mittlerweile so sehr vertraue, wie ich es zuvor nur von Reita kannte, hat mich diese alte Angst am Tag des Unfalls übermannt. Auch heute könnte ich dir nicht erklären, was der Auslöser gewesen ist. Warum mich meine lang vergessenen Unsicherheiten eingeholt und mein rationales Denken ausgeschaltet haben.

Aber ich weiß jetzt, dass es nicht gut ist, alles Schlechte, das sich in meiner Psyche tummelt, mit mir selbst ausmachen zu wollen. Selbst, wenn mir mein Kopf in diesen Momenten einredet, dass ich euch eine Last bin. Im Endeffekt belastet euch mein Schweigen viel mehr.

Ich weiß, dass es Mut und Ausdauer auf meiner Seite brauchen wird, über meinen Schatten zu springen. Aber nur, wenn ich euch ehrlich Bescheid sagen kann, falls es in mir wieder einmal dunkel wird, habt ihr die Chance, das Licht in mein Herz zurückzubringen. Und ich hoffe, wenn ich mit gutem Beispiel vorangehe, werdet ihr mir irgendwann folgen können. Denn ich bin kein sensibles Pflänzchen, das immer von euch beschützt werden muss.

Natürlich würde ich lügen, würde ich behaupten, dass ich nicht hin und wieder gerne von euch verwöhnt und auf Händen getragen werde, aber nicht immer. Nicht, wenn ihr euch deswegen in meiner Gegenwart verstellt, nur um alles Negative von mir fernzuhalten.

Es gibt Dämonen, an denen ich arbeiten muss, Hürden, die wir nur gemeinsam überwinden können, aber nichts, worunter wir alleine in Einsamkeit leiden müssen.

Ich möchte gestärkt aus dieser besonders für euch beide so traumatischen Zeit hervorgehen, darum schreibe ich diesen Eintrag. Damit ich mich auch an dunklen Tagen an die Entschlossenheit zurückerinnern kann, die mich in diesem Augenblick erfüllt. Ich will ebenso ein Anker für euch sein, wie ihr mir der Fels in der Brandung seid.

Und was den Teil mit der Fürsorge angeht – lasst euch überraschen. Ich bekomme euch schon wieder aufgepäppelt und fange damit gleich heute Abend an.

 

Er klappte das Buch zu und steckte es in seine Tasche zurück, als das Taxi auf den Vorplatz des Bahnhofs einbog. Der Fahrer war schnell bezahlt und bevor er es sich versah, stand er mit seinem minimalen Gepäck am Bahnsteig und wartete auf den Fernzug nach Tokyo. Der vor einer Stunde noch strahlend blaue Himmel hatte sich bewölkt und in der Ferne konnte er eine Regenfront erkennen, die den Horizont hinter einem Vorhang grauer Schlieren verbarg.

Für einen Moment presste er die Lippen aufeinander, bevor er sich bewusst dafür entschied, sich durch das Wetter seine gute Laune nicht verderben zu lassen. Ja, er hatte geplant, für seine Männer ein Picknick vorzubereiten, und ja, der Regen würde ihm einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen, aber eine Planänderung würde nicht das Ende der Welt bedeuten.

 

Er blickte sich um, fand eine freie Bank auf dem Bahnsteig und ging darauf zu. Es erschreckte ihn noch immer, wie schwach sein Körper war. Allein die wenigen Meter vom Taxi hierherzulaufen und das marginale Gewicht seiner Reisetasche zu tragen, hatten ihn ermüdet. Er fragte sich wirklich, wann er wieder fit genug für einen normalen Arbeitstag, geschweige denn für einen Auftritt oder sogar eine Tour sein würde. Im Moment konnte er sich das alles noch überhaupt nicht vorstellen, obwohl er sich so sehr nach seinem alten Leben sehnte. Andererseits hatte er in den zurückliegenden Wochen derart große Fortschritte gemacht, mit denen nicht einmal die Ärzte gerechnet hatten, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis er wieder sein energiegeladenes Selbst sein würde. Er hoffte es, hoffte es mit aller Macht.

 

~*~

 

„Na endlich.“ Reita reckte die Arme in die Luft und gähnte ungeniert, während er gemeinsam mit Aoi, Kai und Ruki ihr Studio verließ. „Wollen wir noch was trinken gehen?“, fragte er in die Runde, drehte sich im Gehen herum und schaute seine Kollegen nacheinander an.

 

„Ja, warum ni…“, setzte Ruki an, doch Kai unterbrach ihn, indem er ihm einen Arm um die Schultern legte und ihn nah an sich zog.

 

„Du wirst doch nicht etwa vergessen haben, dass wir heute Abend schon was vorhaben? Und ihr …“ Damit wandte sich ihr Leader an Aoi und ihn, „… solltet zusehen, dass ihr nach Hause kommt, wir haben bis Ende der Woche einen bis unter die Decke vollgestopften Terminplan. Ich hab kein Interesse daran, irgendwelche Leidensgeschichten von Katern oder zu wenig Schlaf zu hören zu bekommen.“

 

„War ja nur eine Frage“, murmelte Reita etwas eingeschnappt ob der harschen Zurechtweisung.

 

„Vorsicht“, meldete sich da plötzlich Aoi zu Wort und packte seinen Arm. „Du solltest wirklich nicht gleichzeitig rückwärtslaufen und dich unterhalten.

 

„Was? Wieso?“ Verdutzt blinzelte er, drehte sich herum und sah den Polder, über den er ohne Aois Eingreifen sicherlich gestolpert wäre. „Ups.“ Er grinste und rieb sich über den Nacken, während sich die anderen mehr oder weniger köstlich über sein Beinahe-Missgeschick amüsierten. „Immerhin bringe ich euch zum Lachen, das hat doch auch was für sich.“ Aoi schüttelte nur bemüht geduldig den Kopf, zog ihn ein kleines Stück näher und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

 

„Mir ist es lieber, du passt besser auf dich auf.“

 

„Ja, hör auf Aoi. Viel ist zwar nicht kaputt, wenn du auf deine Rübe fällst, aber …“

 

„Ey! Was soll das denn bitte heißen?“ Mit einem Satz hechtete er auf Ruki zu, der diesen Angriff jedoch schon hatte kommen sehen und sich feige hinter Kai in Sicherheit brachte. „Olle Kröte. Erst den Schnabel aufreißen und sich dann verstecken.“

 

„Kröten haben keine Schnäbel und ich handle nur vorausschauend.“

 

„Kinder“, mischte sich Kai mit breitem Grinsen auf den Lippen ein, während Reita noch immer versuchte, an Ruki heranzukommen. Erst Aois Arme, die sich überraschend zärtlich um seine Mitte legten und der warme Atem, der reizvoll über seinen Nacken strich, überzeugten ihn davon, dass es interessantere Dinge gab, die seiner Aufmerksamkeit bedurften.

 

„Lass uns heimfahren, mh?“, raunte sein Liebster in sein Ohr und in diesen wenigen Worten lagen so viele Versprechen, dass sich Reitas Magen in Vorfreude zusammenzog.

 

„Na schön“, murrte er dennoch, schließlich musste der Schein gewahrt werden, und setzte sich in Richtung ihrer Fahrzeuge in Bewegung. „Aber wenn Uruha am Freitag wiederkommt, wird gefeiert. Vollgestopfter Terminplan hin oder her.“ Seine letzten Worte hatten Kai gegolten, der dies mit einem Augenrollen, aber Lächeln auf den Lippen kommentierte.

 

„Meinetwegen“, lenkte der Leader ein.

 

„Kommt gut heim“, ergänzte Ruki, der sein menschliches Schutzschild aufgegeben hatte und Reita nun irgendwie verschwörerisch zuzwinkerte. Er hatte jedoch keine Zeit mehr, ihren Sänger zu fragen, was nun schon wieder in seinem Oberstübchen vor sich ging, denn Aoi hatte bereits den Wagen gestartet.

 

„Ihr auch“, erwiderte er also nur noch kurz, winkte und stieg zu seinem Liebsten ins Auto.

 

„Raus mit der Sprache“, verlangte Ruki, während Kai und er dabei zusahen, wie ihre beiden Freunde vom Parkplatz fuhren und sich in den abendlichen Verkehr einreiten. „Von wegen, wir hätten schon was vor und der Terminplan ist voll. Was ist der wahre Grund, weshalb du heute nicht ausgehen wolltest?“

 

„Wer sagt dir, dass es einen anderen Grund als den gibt, den ich genannt habe.“ Kais Lächeln blieb ungetrübt, während er nach Rukis Hand griff und ihre Finger miteinander verschränkte.

 

„Du kannst vielleicht unsere Saitenfraktion überzeugen, indem du den Leader raushängen lässt, aber bei mir brauchst du da schon etwas mehr Raffinesse.“

 

„Du kennst mich einfach zu gut.“

 

„Das auch.“ Der Sänger betätigte die Fernbedienung seines Wagens und stieg ein, darauf wartend, dass Kai es ihm gleichtun würde. Die Luft im Inneren des Fahrzeugs hätte man schneiden können, so dick war sie, also öffnete er zunächst alle Fenster, bevor er den Motor startete. „Also?“, verlangte er zu wissen, fuhr vom Parkplatz und fädelte sich wie Aoi und Reita vorhin in den Verkehr ein.

 

„Ich gehe davon aus, dass Uruha mittlerweile zu Hause auf die beiden wartet. Zumindest war das der Plan gewesen.“

 

„Was?“ Vor lauter Überraschung hätte er beinahe einen Linksabbieger übersehen und beschloss, mit einer weiteren Reaktion zu warten, bis sie die Kreuzung hinter sich gelassen hatten. „Ich dachte, er kommt erst am Freitag nach Hause?“

 

„Tja, du kennst doch unseren Uruha. Er ist immer für eine Überraschung gut.“

 

„Wo du recht hast …“ Ruki lächelte, schloss die Fenster, als er die erste Kühle aus der Klimaanlage auf seiner Haut spürte, und drehte stattdessen den Lautstärkeregler des Autoradios nach oben. „Ich bin wirklich froh, dass er wieder da ist.“

 

„Ich glaube, das sind wir alle.“

 

„Na, nicht seinetwegen.“

 

„Ach, nein?“ Des Leaders Blick streifte ihn von der Seite und seine Mundwinkel zuckten verräterisch, als ahnte er, was nun kommen würde. „Warum dann?“

 

„Weil es sich mit Reita nur halb so gut streiten lässt.“

 

„Natürlich.“ Kai lachte herzhaft auf, ein Laut, der Rukis Herz jedes Mal höherschlagen ließ, wenn er ihn hörte.

 

„Gazette is back, bitches!”, rief er über die laute Musik hinweg und grinste. „Also? Wollen wir zur Feier des Tages noch einen Trinken gehen?“

 

„Ich dachte schon, du fragst nie.“

 

Ruki lachte leise in sich hinein, während Kais Hand warm und sicher auf seinem Oberschenkel ruhte. Es hatte erneut zu regnen begonnen. Obwohl die Stadt im sie umgebenden Grau zu versinken drohte, wurde er das Gefühl nicht los, sie würde nur für ihn in all ihren Farben und Facetten strahlen.

 

~*~

 

„Ach, Mensch, ich wäre wirklich gern noch auf ein Bierchen weggegangen.“

 

Uruha zuckte zusammen, als er erst die Eingangstür und dann Reitas Stimme im Flur hörte. Augenblicklich begann sein Herz schneller zu schlagen und seine Hände wurden feucht.

„Schlimmer als ein Teenager vorm ersten Date“, wisperte er zu sich selbst, ließ noch einmal den Blick über die Dinge gleiten, die er vorbereitet hatte, und näherte sich seinen Männern auf leisen Sohlen.

 

„Ach, komm“, sagte Aoi gerade beschwichtigend, als er bemüht unauffällig in den Flur spähte, wo die beiden noch immer bei der Tür standen. Mit leisem Klicken fiel sie ins Schloss, nachdem Reita ihr einen kleinen Schubs gegeben hatte. Es war schummrig in der Wohnung – er hatte kein Licht angemacht, um sich nicht zu verraten – und der Regen prasselte gegen die Scheiben.

„Wenn du ehrlich bist, hat Kai schon recht damit, dass wir es langsam angehen sollten.“

 

„Ich wollte doch nur ein Bier und nicht gleich den gesamten Alkoholvorrat der nächstbesten Bar trinken.“

 

„Das kann man bei dir nie wissen, mein Schatz.“ Aoi lachte, als ihm Reita angedeutet mit der flachen Hand auf den Hintern schlug.

 

„Immer diese Unterstellungen“, raunte sein Liebster, hatte Aoi gegen die Flurwand gedrängt und presste sich nun in eindeutiger Weise gegen ihn. „Du hast doch sicherlich schon eine Idee, wie du mir diesen Verzicht versüßen kannst, oder?“

 

„Mmmh, mal überlegen.“ Uruha konnte das kurze Aufblitzen Aois weißer Zähne erkennen, bevor die schönen Lippen von Reita gierig in Beschlag genommen wurden. Sein Magen kribbelte, als er seine Männer bei ihrem Tun beobachtete. Als Aois Hand an Reitas Rücken hinabglitt, nur um unter dem Bund der locker sitzenden Jeans zu verschwinden, entkam ihm ein leises Seufzen.

 

„Uruha!“ Er hätte nicht sagen können, von wem dieser Ausruf gekommen war. Die beiden Blicke, mit denen er sich nun konfrontiert sah, raubten ihm nämlich jede Fähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen.

 

„Oh“, machte er mangels eines intelligenteren Ausspruchs, bis sich schließlich ein verstohlenes Lächeln auf seine Lippen schlich. „So war das jetzt zwar nicht geplant, aber … Überraschung!“ Er breitete die Arme aus, als würde er sich selbst feiern wollen oder seine Männer einfach nur einladen, zu ihm zu kommen. Reita hielt nichts von Subtilität, denn im nächsten Moment hatte er Uruha um die Taille gepackt, trotz ihres Größenunterschieds hochgehoben und drehte sich mit ihm im Kreis.

 

„Was machst du denn schon hier?“, hörte er ihn irgendwo an seiner Halsbeuge nuscheln, während er selbst zum ersten Mal seit Langem ehrlich befreit auflachte.

 

„Was ist das für eine Frage?“, japste er atemlos, nachdem Reita ihn wieder auf seine Beine gestellt hatte. „Ich hab es einfach nicht mehr länger ohne euch ausgehalten.“ Aoi war nähergetreten, schlang nun ebenfalls die Arme um seine Mitte und drückte ihn fest gegen sich. Gleichzeitig konnte er noch immer Reita spüren, der sich gegen seinen Rücken lehnte. Er suchte die Hand seines Liebsten, verschränkte ihre Finger miteinander und vergrub sein Gesicht gegen Aois Schulter.

„Ich bin so froh, wieder bei euch zu sein.“

 

„Und wir erst.“ Reitas Stimme klang belegt und wenn er sich genau darauf konzentrierte, konnte er das feine Zittern spüren, das den kleineren Körper bei jedem Atemzug durchfuhr. Aber er tat so, als hätte er nichts bemerkt, schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter und atmete tief durch.

 

„Aber mal im Ernst“, begann Aoi irgendwann, nachdem sie eine kleine Ewigkeit unbewegt verharrt waren. „Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, dass du hier bist, aber … hättest du nicht erst am Freitag entlassen werden sollen?“ Er hörte die leichte Sorge in der Stimme seines Geliebten und musste unwillkürlich schmunzeln.

 

„Glaubst du wirklich, ich hätte mich aus der Klinik geschlichen, nur um zwei Tage früher als geplant bei euch sein zu können?“

 

„Zuzutrauen wäre es dir“, nuschelte Reita gegen seinen Nacken, bescherte ihm damit eine dicke Gänsehaut und kassierte von ihm einen gerechtfertigten Rempler.

 

„Sei nicht so frech“, tadelte er, richtete sich etwas auf und blickte lächelnd über die Schulter zu seinem Lieblingsbassisten. „Seid froh, dass ich nicht so bin und euch diese infame Unterstellung jetzt übel nehme.“ Er lächelte neckend und küsste erst Reitas, dann Aois Nasenspitze. „Es ist alles mit den Ärzten abgesprochen, macht euch keine Sorgen. Kommt erst mal richtig an – ich hab was für uns vorbereitet.“

 

Es fiel ihm erstaunlich schwer, sich von seinen Männern zu lösen und mit einem lockenden Lächeln auf den Lippen rückwärts in Richtung Wohnzimmer zu gehen.

„Und übrigens …“, fiel ihm noch etwas ein, „… ich hab eure kleine Show gerade sehr genossen. Das könnt ihr später doch sicherlich noch mal wiederholen, oder?“

 

~*~

 

Vor den Fenstern war es dunkel geworden, doch der Regen trommelte noch immer unnachgiebig gegen die Scheiben. Er war auch das einzige Geräusch im Wohnzimmer, eine monotone Melodie, die Uruha in diesem Moment jedoch wie das schönste Lied vorkam. Er hatte ihre Möbel, soweit es ihm möglich war, aus dem Weg geschoben, um in der Mitte des Raumes das Picknick auszubreiten, das er ursprünglich für den Park geplant hatte. Von den vielen Delikatessen, die er früher am Tag besorgt hatte, waren nur noch Kleinigkeiten übrig und der Inhalt der leeren Weinflasche wärmte sicherlich nicht nur seinen Magen. Er lehnte gegen das Sofa, Reita lag neben ihm auf dem Boden ausgestreckt und hatte den Kopf in seinen Schoß gelegt. Aoi saß gegen seine rechte Seite gelehnt, das bauchige Weinglas und somit den letzten Rest seines Weines schwenkend und lächelte dieses geheimnisvolle Lächeln, welches Uruhas Inneres stets in Aufruhr versetzte.

 

„Woran denkst du?“, fragte er flüsternd, während seine Finger ununterbrochen durch Reitas blonde Strähnen kämmten.

 

„Um ehrlich zu sein, denke ich seit Langem einfach an nichts. Ich genieße nur den Moment mit euch.“ Reita hob kurz den Kopf an, lächelte Aoi zu und tastete nach seiner Hand, um ihre Finger miteinander zu verschränken.

 

„Das freut mich“, murmelte Uruha, stupste mit der Nase gegen Aois Wange, bis er den Kopf drehte und er ihm einen Kuss auf die Lippen drücken konnte. „Ich wünsche mir, dass wir in nächster Zeit viele dieser Momente haben werden, die wir zusammen genießen können.“

 

„Ich mir auch.“ Reita hatte sich auf den Rücken gedreht und lächelte sie nun von unten her an. „Nach allem, was wir erlebt haben, haben wir uns das mehr als nur verdient, würde ich behaupten.“

 

„Hört, hört“, meinte Aoi amüsiert, beugte sich hinunter und küsste ihren tapferen Schatz, der so vieles durchmachen musste. Keinen Augenblick später lehnte auch Uruha sich vor und verschloss die weichen Lippen mit den Eigenen.

 

„Und diese Momente werden wir uns auch nehmen, ja?“ Seine Männer nickten und Wärme schien sein Herz von allen Seiten zu umringen. „Ich hab euch so sehr vermisst.“

 

„Und wir dich erst“, wisperte Reita.

 

Aoi nickte und der Blick, mit dem er Reita und ihn bedachte, hätte liebevoller nicht sein können. Für einen Moment kehrte die Stille zurück, dann räusperte sich ihr Geliebter beinahe etwas peinlich berührt.

„Wollen wir zur Feier des Tages den Schampus aufmachen, der gefühlt seit einem Jahr bei uns im Kühlschrank steht?“, lenkte der kleine Softie vom Thema ab, was Uruhas Lächeln nur noch eine Spur breiter werden ließ. Aber er sparte sich einen Kommentar diesbezüglich. Lieber sah er Aoi dabei zu, wie er sich zum Stehen aufrichtete, nicht aber, ohne Reita und ihm noch einen weiteren Kuss gegeben zu haben.

 

„Gute Idee“, erklärte er also nickend und ergänzte mit sicherlich leuchtenden Augen: „Unsere Badewanne habe ich übrigens auch sehr vermisst.“

 

„Das nenne ich mal den Zaunpfahl des Tages.“ Reita lachte, als auch er sich erhob und ihm auffordernd die Hand hinhielt. „Was meinst du, Aoi, soll ich unserem Schatz ein Schaumbad einlassen, während du dich um den Champagner kümmerst?“

 

„Hört sich gut an.“

 

„Und was ist meine Aufgabe in eurem Masterplan?“ Seine Männer sahen ihn nur für einen Moment an, bevor sich auf ihre Züge ein beinah exakt gleiches, anzügliches Lächeln legte.

„Vergesst, dass ich gefragt habe.“ Er grinste, zog sich an Reitas Arm nach oben und begann, die Reste ihres Essens zusammenzupacken.

„Ich kann das hier ja wenigstens noch in den Kühlschrank räumen, bevor es schlecht wird.“

 

„Tu, was du nicht lassen kannst, mein Schatz“, trällerte Aoi aus der Küche und klang dabei so fröhlich gelöst, dass Reita und er sich für einen Moment verblüfft anstarrten.

 

„Ich wundere mich jetzt nur ein wenig und freue mich mehr über seine gute Laune, okay?“

 

„Ja, so werde ich das auch machen.“ Für einen Moment schaute Reita noch in Richtung Küche, bevor er sich wieder an ihn wandte: „Ich hab dich lieb, Ducky.“

 

Ein sanfter Kuss landete auf seiner Stirn und bevor sein Liebling auf Abstand gehen konnte, legte er die Arme um ihn und zog ihn näher.

„Ich dich auch. Und ich bin dir so dankbar für alles.“

 

„Das …“

 

„Sag jetzt bloß nicht wieder: Das musst du nicht, sonst beiß ich dich.“

 

Reita gluckste und drückte ihm einen Kuss auf den Hals, der ihn leicht erschauern ließ.

„Gut, dann hebe ich mir die Antwort für später auf.“

 

Uruhas Hände glitten auf den Hintern seines Schatzes, wo er kurz, aber nicht zimperlich in eine der festen Backen kniff.

 

„Eh“, murrte Reita, machte aber keine Anstalten, sich aus seiner Umarmung zu lösen. Uruha seufzte und schloss glücklich die Augen, als warme Lippen über seinen Hals emporstrichen. Der Kuss, in den Reita ihn verwickelte, war so süß und gleichzeitig so leidenschaftlich, dass ihm binnen Sekunden schwindlig zu werden begann.

‚Es tut so gut, wieder bei euch zu sein‘, dachte er und schloss die Augen, die verdächtig zu brennen begonnen hatten. Er war glücklich, wirklich und wahrhaftig glücklich.

 

Erst, als sie das leise Klirren der Gläser hörten, löste er sich und ließ Reita in Richtung Bad verschwinden. Ein fast sehnsüchtiges Seufzen entkam ihm, was sein Liebster gehört haben musste, denn er drehte sich noch einmal zu ihm um und zwinkerte ihm frech wie ein Lausebengel zu. Leise lachend schüttelte er den Kopf, sammelte endlich die Reste ihres Festmahls ein und lief im Flur Aoi über den Weg. Grinsend musste er ihm Wegzoll in Form eines Kusses leisten, bevor er in der Küche verschwinden konnte. Himmel, wenn das so weiter ging – und verdammt, wie hoffte er, dass es genau so weitergehen würde – würde er morgen vor lauter Glückseligkeit Muskelkater in den Wangen haben.

 

Die Reste waren schnell verstaut und so ging er noch einmal kurz ins Wohnzimmer zurück. Für einen Moment überlegte er, ob er hier wieder alles an seinen Platz räumen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Dafür hatten sie morgen auch noch genügend Zeit. Sein Blick fiel auf seine Umhängetasche und das Tagebuch, dessen Ecke aus ihr hervorlugte. Er ging darauf zu, nahm es an sich und schlug es auf. Hunderte Gedanken schienen nur auf diesen Impuls gewartet zu haben und stürmten gleichzeitig auf ihn ein. Aber statt dem Drang nachzugeben, sie auf Papier zu bannen, entschied er sich dafür, alles, was ihm unter den Nägeln brannte, seinen Männern persönlich zu sagen. Wenn ihm die Ereignisse der letzten Zeit eines gelehrt hatten, dann, dass er lernen musste, offener ihnen gegenüber zu sein. Bevor ihm also wieder Tausende Zweifel in den Sinn kommen würden, die ihn davon abhalten würden, würde er heute gleich damit anfangen. Er hatte seine Lektion gelernt – das hoffte er zumindest.

 

„Uruha!“, rief Reita aus Richtung des Bades und untermauerte damit seinen Entschluss.

 

„Komme schon!“ Er lächelte – schon wieder. Mit einem Mal fühlte sich sein Herz um so vieles leichter an, als er das Buch zurück in die Tasche steckte und aus dem Wohnzimmer ging.

 

Lange Momente blieb es still, nur leises Murmeln war über den Flur zu hören und das gelegentliche Plätschern von Wasser. Noch immer trommelte der Regen gegen die geschlossenen Fenster und dennoch hörte es sich mit einem Mal so an, als würde der Wind durch das Zimmer fegen. Uruhas Tasche kippte auf dem Sofa um, das Tagebuch rutschte heraus und fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden. Die Buchrücken teilten sich wie in Zeitlupe, gaben den Blick auf den letzten Eintrag frei. Aber die hübsche Handschrift änderte sich nicht, keine roten Buchstaben zogen sich plötzlich über die Seiten. Alles blieb so, wie es sein sollte …

Nur der kreisrunde Fleck, wo Uruhas Träne die Tinte zum Verschwimmen und das Papier zum Kräuseln gebracht hatte, begann sich zu glätten, bis er schlussendlich gänzlich verschwunden war.

 

 

~ The End ~



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  -Pharao-Atemu-
2023-07-28T20:25:02+00:00 28.07.2023 22:25
Ahhhhhhhhhhhwwwwwwwwwwwwwwwwwwww
Uruha ist wieder wach
*tränchen verstohlen weg wischt*
Ich weine nicht...
*Taschentuch zück*
Da war Staub... und Pollen
*schnief*
Antwort von:  yamimaru
29.07.2023 08:29
Awwww, auch wenn sich das ein bisschen seltsam anhört, aber ich freue mich gerade riesig darüber, dass dich die Story emotional so packen konnte. Das ist ein riesiges Lob, vielen Dank dafür!
Jetzt bist du leider wirklich mit allen Storys durch, aber wie ich bei der Antwort zum It's Playtime again Kommentar schon geschrieben habe, werde ich sicher zu den dreien weitere Geschichten schreiben, weil ich sie einfach liebe.
Vielen, vielen Dank, dass du dich durch alles gelesen hast und mir so schönes Feedback hinterlassen hast.

LG
Yami
PS. ich hoffe, der Anflug von Pollen und Staub hat sich wieder gelegt. XD


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