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Search & Rescue

Halloween-Geschichte
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
CN: Angedeutetes Gore Komplett anzeigen

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Der verschwundene Junge

Es war das furchtbare, tiefgreifende Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ja, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Sie sollten nicht hier sein. Sie sollten zurückkehren, zur Station, zur Wärme, zur Sicherheit. Doch da war Jim, ein kleiner Junge, der vermisst wurde. Er wurde schon seit fünf Stunden vermisst und hier draußen schwand mit jeder vergehenden Minute die Chance, ihn lebend wieder zu finden.

Und dennoch … Cyan stand wie angewurzelt am Rand des Weihers. Hier gingen seltsame Dinge vor sich.

Vielleicht war es nur ein Streich, versuchte der rationale Teil ihres Gehirns, einzuwerfen. Und ja, vielleicht waren es nur ein paar Jugendliche gewesen, die geangelt hatten, um die toten, aufgeschlitzten Fische dann hatten am Ufer liegen lassen.

Der instinktgetriebene, animalistische Teil ihres Gehirns mochte den Anblick dennoch nicht. Er sagte ihr, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, dass der Wald heute gefährlicher war, als sonst. Da lauerte etwas, verborgen hinter Bäumen, Büschen und Nebelschwaden. Sie wusste nur nicht was.

„Komm, Cyan“, forderte Heath sie auf. Ihr Partner im SAR. „Wir sollten weiter.“

„Ich weiß“, erwiderte sie leise. Noch einmal sah sie zu den Fischen hinüber. Ihr Magen protestierte, aber dennoch folgte sie Heath. Sie nahm ihren GPS-Tracker vom Gürtel, nur um sicher zu gehen, dass er auch funktionierte. Es würde zur Stimmung passen, dass auf einmal technische Geräte ausfielen. Sie hatte genug Horrorfilme gesehen, um zu wissen, dass sowas in dunklen, nebligen Wäldern geschah.

Nun, dunkel war es noch nicht wirklich. Nur klamm. Der Himmel war von dichten Wolken bedeckt und der Nebel zog sich durch den Nationalpark.

Eigentlich sollte es ihr weniger Gedanken machen. Eigentlich …

„Hast du etwa Angst?“, fragte Heath.

Was sollte sie darauf sagen? Sollte sie die Schwäche eingestehen? Sie vertraute Heath, konnte sich aber dennoch nicht dazu bringen. „Es ist ein wenig komisch, das mit den Fischen“, erwiderte sie. „Ekelig. Das ist alles.“

„Wahrscheinlich irgendwelche Jungs.“

Aber wer sollte im Oktober an einem Weiher jenseits der üblichen Wanderrouten angeln? Sie sprach den Gedanken nicht aus, nickte stattdessen bloß: „Ja. Wahrscheinlich.“

Sie waren schon zwei Stunden unterwegs. Mittlerweile waren sie mehr als 3 Meilen von der Stelle entfernt, an der der Junge verschwunden war. Jimmy war laut seinen Eltern einfach mit ihnen wandern gewesen. Sie hatten sich ein ruhiges Halloween gönnen wollen, fern ab von Trick or Treat und etwaigen anderen Feierlichkeiten. Dann war Jimmy mit dem Familienhund vorgelaufen. Er war 11 und wusste, auf dem Weg zu bleiben. Dennoch war hinter einer Biegung nur noch der Hund gewesen und kein Junge.

Es war nicht das erste Mal, das Cyan von so einem Fall gehört hatte. Es gab diese ganzen Gruselgeschichten, die man sich unter SAR-Mitgliedern erzählte. Und natürlich die ganzen Sachen, die man online so las. Tatsächlich aber war es nicht das erste Kind, was sie hier suchte und würde auch nicht das letzte sein.

Sie verstand es dennoch nicht. Wie konnte der Junge einfach so verschwinden? Die Stelle, wo er verschwunden war, war zwar bergig gewesen, aber nicht so steil, das er hätte irgendwo richtig herunterfallen können. Natürlich war da die Möglichkeit eines wilden Tieres, aber dann waren sie ohnehin zu spät.

Die meisten Leute, die sie suchten, waren Erwachsene, die allein auf Wanderungen gewesen waren und sich übernommen hatten. Das passierte häufig. Auf einmal lag jemand mit gebrochenem Fuß irgendwo abgeschlagen in einem Graben. Genau dafür waren sie ausgebildet. Kinder … Ja, mit Kindern war da immer dieses ungute Gefühl.

„Worüber denkst du nach?“, fragte Heath und warf ihr einen Seitenblick zu.

Sie waren schon seit zwei Jahren ein Team. Heath war groß und recht muskulös. Er trainierte. Auch war er ein ausgezeichneter Kletterer. Sie war dafür ausdauernder und hatte zudem ein gewisses Talent dafür Dinge im Wald zu sehen, die sonst niemand sah.

Cyan zuckte mit den Schultern. „Nur, wie der Junge so plötzlich hat verschwinden können.“

Heath schwieg für für einen Augenblick und schien zu überlegen. „Wenn ich ehrlich bin, gehe ich von einem Wildtierangriff aus.“

Das war genau auch ihr Gedanke gewesen. „Dann werden wir nicht viel tun können“, murmelte sie.

„Wahrscheinlich nicht.“

Das Funkgerät an ihrem Rucksackgurt rauschte auf einmal und ließ Cyan zusammenzucken.

„Statusupdate, Team 04. Wo seid ihr?“

Cyan drückte auf den Funkknopf. „Wir sind auf der anderen Seite der Senke.“ Sie gab die Koordinaten durch. „Sind weiter unterwegs Richtung Südwest.“

„Irgendwelche Anzeichen soweit?“, fragte Mindy, die in der Zentrale die Einsatzleitung übernommen hatte.

„Negativ“, erwiderte Cyan.

„Okay. Ende.“ Damit brach Mindy die Übertragung ab.

Cyan tauschte einen Blick mit Heath, dann sah sie sich um. Wäre nur dieser verdammte Nebel nicht, dann ließe sich vielleicht etwas erkennen. Laut den Eltern hatte Jimmy einen hellblauen Schal getragen. er sollte aus dem Unterhold hervorstechen. Doch soweit war hier nichts.

Die Nebelschwaden wurden dichter, sorgten dafür, dass sie immer wieder auf Kompass und Tracker sahen, um sicher zu gehen, dass sie nicht in die falsche Richtung gingen. Das letzte, was sie gebrauchen konnten, war, dass sie sich selbst verirrten. Das würde nur noch fehlen. Nein. Sie mussten zusehen, dass sie irgendetwas fanden oder ihren Radius fertig abdeckten. Immerhin konnte der Junge irgendwo sein. In irgendeiner Richtung. Vielleicht fand ein anderes Team ihn.

Cyan war versucht, nachzufragen, noch einmal ins Funkgerät zu sprechen. Doch dann würde sie nur unnötig die Leitung blockieren. Würde jemand den Jungen finden, gäbe es einen Ruf an alle Kanäle, dass die Suche beendet wäre.

Sie hielt sich sich näher an Heath, der nun ebenfalls angespannt wirkte. Seine Hand lag auf dem Schaft seines Messers – ein einfaches Überlebensmesser, wie es jeder von ihnen hatte. Seine Knöchel traten hervor.

„Was machst du?“, fragte sie.

Überrascht sah er sie an, sah dann an sich selbst hinunter und bemerkte seine Hand. Er ließ los, räusperte sich dann verlegen. „Mir gefällt das hier nicht“, gab er zu.

„Ja“, murmelte sie. „Das ist nicht das Wetter um auf einen Berglöwen zu treffen.“

„Oder einen Bären“, erwiderte Heath.

„Das ist unwahrscheinlicher.“

„Ist aber schon vorgekommen.“

Reden tat gut. Auch wenn sie so weniger hörten. „Vielleicht sollten wir Rufen“, meinte Cyan.

„Ja. Stimmt.“ Für einen Moment blieb Heath stehen und legte die Hände an den Mund. „Jim!“, brüllte er in den Wald hinein. „Jimmy!“

Cyan tat es ihm gleich. Die laut sie konnte rief sie den Namen des Jungens. Dann schwiegen sie, lauschten. Und für einen Moment war der Wald still. Gespenstisch still. Nicht einmal das übliche Rauschen der Bäume war zu hören. Wahrscheinlich nur die veränderte Akustik durch den dicken Nebel …

Dann, auf einmal, ein Laut. Es klang wie ein Schrei, nur lauter, schriller. Unnatürlich. Unmenschlich. Es jagte Cyan einen Schauer über den Rücken. Das Kreischen hielt für mehrere Sekunden an, ehe es verklang und die Stille sich wieder über sie senkte.

Halb wartete sie darauf, dass ein weiterer Schrei kam. Doch nichts. „Was war das?“, hauchte sie. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Wahrscheinlich nichts“, erwiderte Heath. „Wahrscheinlich nur ein Tier. Hasen und so ein Kleinvieh kann ganz schön laut sein. Vielleicht ein Fuchs oder so.“

Ja, Füchse konnten gespenstisch klingen, das stimmte. Dennoch wollte sich ihr Instinkt mit dieser Antwort nicht zufrieden geben. Sie wollte einfach hier weg, wollte zurück zur Station, wo es warm und sicher war. Irgendetwas stimmte an diesem Tag nicht im Wald. So gar nicht.

Zähne und Klauen

Es brauchte einige Überwindung, aber sie riefen letzten Endes doch wieder nach dem Jungen. Wieder und wieder brüllten sie den Namen in den Nebel hinein, jedoch ohne eine Antwort zu erhalten – nicht einmal einen gespenstischen Schrei.

Cyan war dankbar dafür. Nach vielleicht fünf Minuten ließen sie es wieder sein, konzentrierten sich auf die Atmung.

Ach, wäre nur der Nebel nicht, dann wäre es nicht ganz so gruselig gewesen. Aber so hatte sie den Eindruck, dass es gerade außerhalb ihres Sichtfeldes, da wo der dicke Nebel begann, etwas lauerte und jeden Moment über sie herfallen würde.

„Ach, weißt du“, meinte sie, um die Stille mit Worten zu füllen, „ich hätte total Bock auf Marshmellows.“

„Marshmellows?“, fragte Heath seltsam gedrückt. „Das kommt gerade aus dem Nichts.“

„Ja, ich weiß. Ich habe nur irgendwie Bock drauf. Und auf Lagerfeuer …“ Und darauf einfach zurückzugehen. Sie würden den Jungen in dieser Suppe eh nicht finden. Ja, vielleicht sollte sie einfach durchfunken. Nebel war ein guter Grund die Suche abzubrechen. Aber der Junge war 11 und wenn er noch lebte saß er vielleicht irgendwo im Wald und wusste nicht wohin. Er hatte bestimmt furchtbare Angst.

„Ein Lagerfeuer wäre großartig“, murmelte Heath. „Dann könnten wir Smores machen.“

„Und uns dann ewig damit rumärgern, die Reste zwischen den Zähnen rauszupulen.“

Er lachte leise und mit wenig Humor. „Ja, genau.“

Cyan entglitt ein Seufzen. Was sollte sie noch sagen. „Ob die anderen was gefunden haben?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Vielleicht. Man kann ja hoffen. Aber dann würden sie schon …“ Er brach ab, als ein erneutes Kreischen erklang. Es war dasselbe andersweltliche Kreischen wie zuvor. Fast erinnerte es sie an diese Ringgeister in Herr der Ringe, nur dass sie nicht in einem verdammten Fantasy-Film waren.

Zur Hölle, was war dieses Geräusch? Sie arbeitete schon solange im Wald, aber so etwas hatte sie noch nie gehört.

Cyan kam nicht umher zu lauschen. Nicht nach dem Jungen, sondern nach irgendetwas, dass einen Hinweis auf das Monster geben könnte, das für diesen Schrei verantwortlich war. Denn in ihrem Kopf gab es keinen Zweifel. Irgendetwas musste im Nebel auf sie lauern. Ja, irgendetwas war da und wartete nur darauf sie anzufallen.

Sie schwiegen, während der Berg steiler wurde. Noch einmal schaute sie auf ihren GPS-Tracker, nur um festzustellen, wovor sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte: „Heath?“, flüsterte sie.

Er blieb stehen und kam zu ihr. Sie mussten sowieso beieinander bleiben. Das Sichtfeld war kaum weiter als eine Armlänge. „Kein Empfang“, schloss Heath.

„Aber das Gerät ist dafür gemacht hier Empfang zu haben“, erwiderte Cyan angespannt.

Er schwieg. Immerhin wusste er, dass sie recht hatte. „Wenn wir weiter hinauf gehen, kriegen wir vielleicht empfang und kommen aus diesem elenden Nebel heraus.“

Da ihr keine bessere Alternative einfiel, nickte Cyan. Sie griff nach dem Gurt von Heaths Rucksack. „Ich will dich in der Brühe nicht verlieren“, murmelte sie.

Auch dazu sagte er nichts, sondern setzte weiter den Weg fort.

Der Boden war uneben, das Laub feucht. Es brauchte einige Anstrengung und auch einigen Gleichgewichtssinn, um sicher voran zu kommen. Doch tatsächlich sollte Heath recht behalten: Die Sichtweite nahm langsam zu. Sie mussten wohl aus der Nebelbank herauskommen. Vielleicht war es auch eine Wolke gewesen, die am Berg festhing. Cyan spürte so etwas wie Hoffnung in sich aufkeimen. Ein Gefühl, das nur verstärkt wurde, als sie ein Stück weiter den Berg hinauf - gerade dort wo die Steigung anstieg - etwas hellblaues Schimmern sah. Konnte es sein?

„Jimmy?“, rief sie, ohne darüber nachzudenken. Sie zeigte Heath die Richtung an.

Auch er stimmte in ihre Rufe mit ein. „Jimmy?“

Keine Reaktion. Vielleicht war der Junge ohnmächtig. Wenn es denn der Junge war … Oh, hoffentlich war er nur ohnmächtig!

Sie stämmten sich der zunehmenden Steigung entgegen. Beinahe schon hatten sie die Spitze dieses Berges erreicht, der an sich niedrig genug war, als dass alles unterhalb der Baumgrenze lag. Dennoch musste Heath ein Seil um einen der Bäume werfen, um sich abzusichern, als die Steigung stark genug wurde, als dass die Gefahr zu steigen zu groß war. Sie hielten sich beide daran fest und kämpften sich vorwärts.

Doch eine Sache konnte Cyan sagen: Was auch immer da oben war, sah tatsächlich nach einem Schal aus.

Es war tatsächlich ein Schal, der an einem der Bäume hängen geblieben war. Doch es war nur der Schal. Da war kein Junge. Oder?

Sie hatten den Baum beinahe erreicht, als Cyan etwas auf einem Flachen Stück Boden etwas von dem Baum entfernt sah. Da hatte etwas das Laub am Boden gestört. Da waren Spuren, ganze Stellen wo das Laub zur Seite gefegt war und etwas Rotes.

„Oh nein“, flüsterte sie.

Sie merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie wollte nicht, dass es war, wonach es aussah. Sie wollte, dass sie sich das alles nur einbildete.

Heath hatte die Stelle vor ihr erreicht, zog sich an einem Baum hoch auf die ebene Fläche und inspizierte sie. Er kniete sich hin, Streckte einen Finger nach einer der roten Pfützen aus und roch dann daran. Sein Blick war grimmig.

Nun war auch Cyan da. Das hier war eindeutig Blut. Daran bestand kein Zweifel. Aber das musste nicht bedeuten, dass es Blut vom Jungen war. Hier gab es wilde Tiere, die andere Tiere fraßen. Hier gab es …

Ihr Blick blieb an etwas am Rand der kahlen Stelle hängen. Da war etwas, das nicht ganz in die Umgebung passte. Ein Mantel, wie sie erkannte. Ein recht kleiner Mantel, wie der von einem Kind. Doch da waren auch freigelegte Daunen und zerrissener Stoff. Da war auch Blut.

„Heath“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor. Sie traute sich nicht hinüber zu gehen. Sie wollte das nicht sehen. Also schaute sie weg.

Doch Heath verstand. Er stand auf und ging hinüber, untersuchte es. Er schwieg, war grimmig.

„Heath?“, fragte Cyan ohne hinzuschauen.

„Ich fürchte, das ist der Junge“, sagte Heath schließlich mit hohler Stimme. „Oder zumindest …“ Er zögerte. „Ein Teil von ihm.“

Cyan wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es war schrecklich, fürchterlich und auch irgendwie widerlich. „Was …“, setzte sie an. „Was könnte das gewesen sein?“

„Ich weiß nicht. Ein Berglöwe vielleicht.“ Noch immer klang seine Stimme tonlos. „Ich … Wir sollten das melden.“

Er hatte selbst ein Funkgerät, doch Cyan hinterfragte ihn nicht. Sie drückte auf den Knopf. „Team 04 an Zentrale“, sagte sie in das Gerät hinein.

Rauschen.

Da sollte doch jemand sein, oder?

„Team 04 an Zentrale“, versuchte sie es noch einmal.

Das Haar an ihrem Rücken stand auf. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

Da war ein Knacken hinter ihr. Ein Knacken? Nein. Irgendwas. Eine Bewegung. Es war mehr Instinkt, als ihr Gehör, was sie alarmierte. Sie fuhr herum und sah es. Sie sah es, begriff aber nicht ganz. Alles was sie begreifen konnte, war, dass diese Zähne, diese Klauen sie sehr schnell umbringen konnten.

„Heath!“, schrie sie, als sie schon rannte. Sie rannte, auch wenn sie eigentlich keine Chance haben sollte. Sie rannte blind in irgendeine Richtung, dachte nicht einmal darüber nach. Hauptsache weg. Hauptsache in Sicherheit. Wenn es irgendwo Sicherheit gab.

Doch das Laub auf dem Boden war rutschig von Wetter und Nebel. Sie verlor den Halt. Dann fiel sie, rutschte den Abhang hinab.

Der Außenposten

Cyan fand keinen Halt. Sie rutschte und rutschte, konnte kaum steuern. Gleich musste sie gegen einen Baum oder einen Stein prallen, würde sich den Kopf verletzen und dann würde dieses Ungeheuer sie bekommen. Eigentlich sollte sie sich umsehen, musste wissen, ob es noch da war, ob Heath noch bei ihr war, doch sie brachte es nicht über sich.

Sie schrie, bemerkte es erst nach einer Weile, konnte nicht aufhören zu schreien. Sie wusste nicht mehr, wo in diesem Wald sie war. Alles war so seltsam, so unreal.

Da. Endlich wurde der Abhang flacher. Sie schaffte es irgendwie zu bremsen und kam auf die Beine. Sie musste laufen, fliehen, weg hier. Also lief sie, auch wenn sie nicht wusste, wo sie war.

Ihre Umgebung war seltsam irreal. Während sie rannte, schienen die Bäume zu verschwinden. Dann war sie auf einmal in einem Steinbruch, der kurz darauf verschwand, nur um einer von Dünen durchzogenen Wüste zu weichen. Das musste ihr Gehirn sein, dass ihr Streiche spielte. Oder war es das Monster? Nun war sie in einer Eiswüste. Dann auf einmal wieder im Wald. Nichts hiervon machte Sinn.

Ihre Lunge brannte. Ihr Herz hämmerte. Sie konnte nicht stehen bleiben. Sie durfte nicht stehen bleiben. Wenn sie stehen blieb, würde das Monster sie bekommen, würde sie aufschälen, wie eine Orange. Sie hatte nichts, was sie schützen konnte. Ihre feste Wanderkleidung wäre kaum Rüstung gegen diese scharfen Klauen des Ungeheuers. Was war es überhaupt? So etwas sollte nicht existieren. Jemand hätte davon gehört, hätte davon erzählt, hätte …

Jeder Atemzug tat weh und doch traute Cyan sich nicht stehen zu bleiben. Sie lief und lief und lief. Immer weiter.

Schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen, machten es schwer, überhaupt noch was zu erkennen - egal ob Wald oder Wüste. Langsam protestierten auch ihre Beine, wollten sie nicht länger tragen. Doch sie musste. Sie musste einfach.

Doch in ihrer Eile sah sie die Wurzel nicht. Ihr Fuß verhedderte sich darin. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihr Bein. Dann fiel sie.
 

Als Cyan wieder zu sich kam, fand sich sich schwebend über dem Boden. Nein. Nein, sie schwebte nicht. Sie wurde getragen. Ihre Arme waren zusammengebunden. Jemand hielt ihre Beine umschlungen. Das Monster!

Panik kam in ihr auf. Sie trat, wollte sich losreißen, wollte weg, als derjenige der sie trug, stehen blieb.

„Werd ruhig, verdammt noch mal, so kann ich dich nicht tragen.“ Die Stimme war vertraut, war menschlich.

„Heath?“, brachte sie hervor.

„Ja.“

Es war schwer ihn zu erkennen. Immerhin trug er sie auf seinen Rücken. Doch wenigstens lebte er noch. Das war ihr erster Gedanke.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Du bist panisch geworden und hirnlos in den Wald gelaufen. Als ich dich gefunden habe, warst du gestürzt. Ich bin mir nicht sicher, ob du eine Gehirnerschütterung hast. Außerdem glaube ich, dein Fuß ist verstaucht.“

Beides gute Punkte. Ihr Kopf schmerzte dumpf und auch in ihrem Fuß war ein fürchterliches Stechen zu spüren. Aber das war nicht, was sie am meisten beunruhigte. Wurde sie verrückt? Spielten ihre Erinnerungen ihr einen Streich? „Das Monster …“, murmelte sie.

Heath schwieg.

War es vielleicht nur der Schock darüber gewesen, den Jungen zu finden? Hatte ihr Gehirn vielleicht auch durch die Erschütterung die Erinnerungen so gewebt. „Heath. War da ein Monster?“

Noch immer schwieg er. „Da war irgendetwas. Ich weiß nicht was. Wahrscheinlich ein wildes Tier.“

Das Wesen, was Cyan gesehen hatte, was sie meinte gesehen zu haben, war definitiv kein einfaches Tier gewesen. Doch sie sagte nichts. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Heath ging weiter.

„Wo ist der Außenposten?“, fragte Cyan schließlich.

„Wir sollten bald da sein“, murmelte ihr Partner nur.

Tatsächlich sollte er Recht behalten. Es vergingen vielleicht vier oder fünf Minuten, die Heath einen Abhang hinaufkraxelte, bis der Außenposten in Sicht kam. Es war eigentlich eine Aufsichtsplattform für die Brandwache, aber wahrscheinlich um diese Zeit nicht in Benutzung. Dort würden sie aber alles wichtige finden. Essen. Verbandsmaterialien. Und eine Möglichkeit die Zentrale zu kontaktieren.

Cyan wollte protestieren, als Heath anfing, die knarzende hölzerne Treppe hochzusteigen, doch sie ließ es, wusste sie doch, wie dickköpfig Heath sein konnte.

Als sie jedoch oben ankamen, ging die Tür nicht auf.

„Lass mich runter“, bat sie.

Heath verstand. Er machte ihre Hände, die er lose mit einem Tuch zusammengebunden hatte, damit sie nicht abrutschte, während sie ohnmächtig war, los.

Schmerzerfüllt stöhnte Cyan auf. Sie hatte nicht ganz verhindern können, ihren Fuß zu belasten. Dann aber stand sie, lehnte sich gegen das Treppengeländer, während Heath sich gegen die Tür warf.

Cyans Blick wanderte in den Wald. Es war mittlerweile dunkler geworden. Offenbar war der Sonnenuntergang nahe. Und das Monster, es war immer noch da draußen. Egal, wie sehr sie sich einzureden versuchte, dass es nur ein Tier gewesen war, ihr Geist wollte sich davon nicht überzeugen lassen. Sie hatte ein Monster gesehen.

Dann endlich ging die Tür knarzend auf.

Heath atmete merklich auf. „Komm“, meinte er zu ihr und legte ihren Arm über seine Schulter, um sie reinzulassen.

So hinkte Cyan mit seiner Hilfe zu dem Bett in der einen Ecke des großen Raums hinüber. Sie atmete auf, als sie endlich saß. Am liebsten wollte sie den Fuß hochlegen, doch hatte sie Angst davor den Schuh auszuziehen.

Heath schien ähnliche Gedanken zu haben. Schon kniete er vor ihr und schnürrte den Schuh auf. Irgendwas daran, wie ihr Fuß hing, wirkte falsch.

„Ruf erst einmal Hilfe“, keuchte sie. „Die paar Minuten machen keinen Unterschied.“ Außerdem wollte sie einfach wissen, dass jemand kam, dass sie nicht mehr als eine Nacht hier draußen würde verbringen müssen.

Heath sah sie zweifelnd an, nickte dann aber. „Okay. Aber du weißt, dass wir uns um deinen Fuß kümmern müssen.“

„Ja“, erwiderte sie.

Er nickte und sah sich um. Rasch fand er die Funkstation auf einem Tisch nahe der Tür. Er ging hinüber, schaltete sie an und nahm das Mikrofon aus der Haltung. Kurz schaltete er durch mehrere Kanäle, ehe er sprach: „Team 04 an Zentrale.“

Elektrisches Rauschen und Knistern war die einzige Antwort.

Cyan merkte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Das durfte nicht wahr sein.

Heath versuchte es noch einmal: „Team 04 an Zentrale.“

Doch die Antwort blieb dasselbe nichtssagende Rauschen.

Irgendetwas stimmte ihr ganz und gar nicht.

Noch zwei Mal versuchte Heath es, doch beide Male ohne Erfolg. Wütend schlug er auf den Tisch. „Das kann doch nicht wahr sein!“

Cyan schwieg. Das konnte wirklich nicht wahr sein. Irgendetwas passierte hier - und es war nicht gut. „Vielleicht sollten wir schauen, ob Leuchtraketen oder so etwas hier sind.“

Heath sah sich zu ihr um. Für einen Moment schien es, als wollte er widersprechen, doch am Ende nickte er. „Gute Idee.“

Er öffnete einen der Schränke und begann darin zu kramen. Wer auch immer hier im Sommer auf Brandwacht gewesen war, hatte offenbar keine besonders gute Ordnung gehalten. Im zweiten Schrank jedoch, fand Heath, was er suchte: Eine Leuchtpistole, inklusive Munition.

Er drehte sich damit in der Hand zu Cyan um: „Was meinst du, sollen wir es versuchen oder warten, bis es dunkel ist?“

„Wie viel Munition haben wir?“, fragte Cyan.

„Noch drei Raketen“, erwiderte er.

Cyan seufzte. Sie hätte gerne einen klaren Gedanken gefasst, doch ihr Kopf schwirrte. Ihr war schwindelig und sie war sich recht sicher, dass es an ihrem Bein lag. Sie wollte sich eigentlich nur hinlegen, ein wenig schlafen und Ruhe finden. Doch allein der Gedanke an dieses Monster da draußen reichte, um sie wach zu halten. „Warte noch etwas“, erwiderte sie schließlich. „Der Nebel ...“

Heath nickte, um zu zeigen, dass er verstand. Er legte die Pistole auf den Tisch und holte einen erste Hilfe Koffer aus dem Schrank hervor. „Dann schaue ich erst einmal, dass ich mich um deinen Fuß kümmere.“

Dergleichen hatte Cyan bereits befürchtet. Sie legte sich ganz hin und nahm das Kissen, das auf dem Bett saß. Als Kind hatte sie sich einmal beim Sport den Fuß gebrochen und sie erinnerte sich noch genau daran, wie weh es getan hatte, als der Arzt sie aus dem Schuh gepellt hatte. Nur hatte sie damals einen einfachen Sportschuh getragen, statt hohe Wanderschuhe.

Heath war jedoch vorsichtig. Er löste die Schnürsenkel ihres Schuhs komplett, so dass er die Zunge des Schuhs rausziehen konnte. Es war allerdings auch so schon deutlich, dass ihr Fuß geschwollen war. Dann begann Heath vorsichtig, ihr den Schuh auszuziehen.

Cyan vergrub ihr Gesicht in dem Kissen und machte leise Schmerzenslaute. Auch wenn Heath vorsichtig war, tat es furchtbar weh. Weh genug, dass ihr kurz Schwarz vor Augen wurde und Tränen in ihre Augen schossen.

Endlich aber war der Schuh aus, was nur noch ihren Socken ließ. Dann aber hatte Heath ihren Fuß ganz befreit. „Lass mich dich untersuchen“, meinte er.

„Du bist kein Arzt“, wimmerte sie.

„Aber ich habe eine erweiterte Erste-Hilfe-Ausbildung.“

Natürlich wollte sie vornehmlich die Untersuchung vermeiden. Aus gutem Grund. Sie stöhnte auf vor Schmerzen, als er ihren Fuß abtastete, schrie beinahe, als er versuchte ihn zu bewegen.

„Ich fürchte, dein Fuß ist gebrochen“, stellte er schließlich fest.

„Ach ne“, brummte sie. Noch immer standen Tränen in ihren Augen.

„Ich schiene ihn erst einmal, dann sehen wir weiter.“

Während er Verbandsmaterial aus dem Erste-Hilfe-Koffer holte, rüttelte der Wind an den Fenstern des Hauses. Zusammen mit dem Heulen des Windstoßes, jagte es Cyan einen Schauer über den Rücken. Wenn ein Sturm aufkäme, saßen sie hier wirklich in der Falle. Jedenfalls wenn sie bedachte, dass dieses Monster noch immer da draußen irgendwo war.

Der Plan

Endlich war Cyans Fuß verbunden, auch wenn der Schmerz noch immer gegen die Haut ihres Fußes pochte.

„Hier“, meinte Heath und gab ihr eine Schmerztablette. „Das ist nicht viel, aber …“ Er zuckte mit den Schultern. „Nun, ich nehme an besser als nichts.“ Damit stand er auf und ging zu der Spüle. Er stellte das Wasser an und wartete eine ganze Weile, ehe er ein Glas mit Wasser füllte und damit zu Cyan zurückkehrte.

„Danke“, murmelte sie. Damit nahm sie das Glas und spülte die Tablette herunter.

„Vielleicht solltest du ein wenig schlafen.“ Heath schenkte ihr einen mitleidigen Blick. „Du siehst sehr blass aus.“

„Ja.“ Sie glaubte nicht, dass sie schlafen konnte. Noch immer saß ihr der Schock in den Gliedern. Das Monster. Der tote Junge, der in Einzelteilen verstreut lag. Allein der Gedanke daran ließ die Übelkeit in ihr hochkommen. Dinge, die sie dort draußen nicht klar gesehen hatte, waren in ihren Erinnerungen auf einmal nur zu deutlich. Da hatten Knochen aus dem Arm des Jungen hervorgesehen. Knochen, weiß, wie gebleichte Koralle. Warum war das der erste Vergleich, der ihr in den Sinn kam?

Und dieses Monster. Es hatte Zähne gehabt, lang und spitz … Es machte keinen Sinn für ein reales Tier. Nein, viel eher hatte es ausgesehen, wie etwas, das einem Horrorfilm entstiegen war.

Wenn sie die Augen schloss, konnte sie es vor sich sehen.

Ob wohl auch andere Leute, die in den Parks verschwunden waren, von so einem Monster geschnappt worden waren? Sie kannte die Geschichten von den 411. Natürlich kannte sie sie. Jeder im Team hatte davon gehört. Bisher hatte sie diese Geschichten für albern gehalten. Klar verschwanden Leute in den Nationalparks, aber genau so verschwanden Leute auch in Städten und Dörfern und auf hoher See. Statistisch gesehen stachen die Parks nicht heraus auf die Menge von Leuten betrachtet, die sie besuchten.

Sie versuchte die Erinnerung an das Monster zu vertreiben. Ihr war tatsächlich schwummerig zu Mute. Schlag klang nach einer guten Idee, wenn sie es nur schaffte, die Angst zu vertreiben. Was, wenn das Monster ihnen hierher folgte? War es ein Jäger? Doch es war so riesig gewesen, dass es sie, hätte es sie jagen wollen, wohl problemlos geschnappt hätte.

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Heath, der sich erneut in den Schränken umsah, und offenbar schließlich ein paar Vorräte fand. Vorrangig Dosenfutter und trockene Sachen, wie Instantnudeln. Für letztere entschied sich Heath und setzte Wasser im bei der Spüle stehenden Wasserkocher auf.

„Magst du vielleicht mein Koch sein?“, fragte Cyan und brachte damit Heath dazu, sich zu ihr umzudrehen.

„Schläfst du nicht?“

„Nicht, solange da draußen dieses Ding ist“, erwiderte sie, auch wenn sie sich nicht aufsetzte.

Für einen Moment sah es so aus, als wollte Heath etwas erwidern. Am Ende jedoch nickte er nur. „Ich kann dir eine Packung Ramen mitmachen.“

„Danke.“ Denn jetzt, wo sie darüber nachdachte, knurrte ihr Magen.

Während das Wasser zu brodeln begann, riss Heath die Packungen auf, fischte zwei Schüsseln aus dem Kabinett unter der Spüle und füllte die trockenen Nudeln hinein. Er war gerade dabei, Wasser über diese zu gießen, als draußen ein Laut erklang, der Cyan das Blut in den Adern gefrieren ließ: Dasselbe Kreischen wie zuvor im Nebel.

Ihr Magen zog sich zusammen. Beinahe hätte sie sich übergeben. Das musste dieses Monster sein. Ja, das war es. Es gab keine andere Möglichkeit.

Heath hielt in seiner Bewegung inne und sah sich zu ihr um. In seinem blassen Gesicht zeichnete sich ab, dass er dasselbe dachte, wie sie. Wortlos stellte er den Wasserkocher ab und ging zu einem der Schränke hinüber. Dort schaute er was nach, ehe er sich einem Regal an der Wand zuwandte und einen kleinen Schlüssel hinauszog.

Cyan verstand bereits, bevor er das Jagdgewehr hervorholte.

„Glaubst du, dieses Ding findet uns hier?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte er. „Aber wenn …“ Er holte Munition aus dem Kabinett hervor.

Wenn das nur dieses Monster aufhalten würde …

Für einen Moment stand Heath einfach nur da, das Gewehr in der Hand. Dann ging er zur Tür und schaute in den Wald hinaus, offenbar darauf bedacht, das Monster zu sehen. Doch von dem seltsamen Kreischen her, war es noch ein ganzes Stück entfernt.

Er blieb für einige Sekunden an der Tür, ehe er es noch einmal mit dem Funkgerät versuchte: „Team 04 an Zentrale. Team 04 an Zentrale.“ Rauschen.

Cyan streckte ihren Arm nach ihrem Rucksack aus, an dem noch ihr einfaches Funkgerät befestigt war, doch als sie den Knopf drückte, war auch da nur Rauschen. „Team 04 an Zentrale“, sagte sie mit zittriger Stimme.

Nichts.

Langsam kam sie nicht umher: Irgendwas übernatürliches musste dafür verantwortlich sein, dass die Funkgeräte ausgefallen waren. Es war anders einfach nicht zu erklären. Was auch immer dieses Monster war: Es gehörte nicht in diese Welt und seine pure Anwesenheit sorgte dafür, dass die Regeln nicht mehr funktionierten, wie sie es sollten.

Sie saß auf dem Bett, während Heath es noch einmal probierte: „Team 04 an Zentrale.“

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie kleinlaut. Denn eine Sache stand fest: Laufen konnte sie nicht. Sie saß hier in der Falle.

Heath drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war blass. Dann aber atmete er tief durch und ging zurück zu den Schüsseln. „Wir sollten erst einmal etwas essen. Dann … Dann schauen wir weiter.“

Dabei war der einzige Weg ziemlich klar.

Heath goss den Rest des Wassers über die Nudeln und bedeckte sie dann mit Tellern, ehe er wieder das Gewehr nahm und zur Tür ging.

Mittlerweile wurde es draußen dunkel, was alles noch schlimmer machte.

Cyan saß auf dem Bett. Dann fiel ihr etwas anderes ein. Etwas, das eigentlich hätte offensichtlich sein sollen, auch wenn sie gleichzeitig nicht daran glaubte, dass es funktionierte. Wieder zog sie den Rucksack zu sich hinüber und wühlte durch die Taschen, bis sie ihr Handy fand.

Sie holte es hervor und schaute mit angehaltenem Atem darauf. Doch es war, wie sie befürchtet hatte: Kein Empfang.

„Verdammt“, flüsterte sie.

Heath schaute sich zu ihr um. Dann ging er zur Spüle und brachte eine der Schüsseln zu ihr. „Hau erst einmal rein. Du kannst das gebrauchen.“

„Danke“, murmelte Cyan, auch wenn sie keinen Appetit verspürte.

Sie ließ sich auch Gabel und Löffel bringen, da es hier offenbar keine Stäbchen gab. Trotz der Appetitlosigkeit, begann sie zu Essen. Ihr Körper konnte die Energie wahrscheinlich wirklich gebrauchen.

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie.

Heath schwieg. Er nahm nach einigem Zögern die andere Schüssel, um ebenfalls zu essen. „Was können wir tun?“

Cyan hasste, was ihr im Kopf herumschwirrte. Aus so vielen Gründen. Dennoch erschien es als einzige sinnvolle Lösung: „Du könntest Hilfe holen gehen.“

„Und dich allein lassen?“, erwiderte er.

„Ich weiß nicht, was schlimmer ist“, entgegnete sie, „hier allein sein oder allein da draußen.“

Heath schwieg, aß etwas und schluckte.

„Wir sind nicht mehr als drei Meilen von der Zentrale entfernt“, meinte sie. „Du könntest in zwei, drei Stunden da sein. Wenn wir gemeinsam hier ausharren … was bringt das?“

„Ich kann dich beschützen.“

„Wenn dieses Ding sich überhaupt verletzen lässt. Ich meine …“ Es war nun einmal kein reales Tier. Es war ein Monster.

Wieder verfiel Heath in Schweigen. Er wusste genau so gut, wie sie, dass es die schnellste und sicherste Möglichkeit war, Hilfe hierher zu bekommen. Dennoch gefiel es ihm eindeutig nicht. Dabei war das Buddy-System eigentlich genau für solche Fälle gedacht: Man ging zu zweit, damit, wenn einem etwas passierte, der andere Hilfe holen konnte.

Schließlich seufzte er. „Okay. Aber das Gewehr behältst du hier.“

„Bist du sicher?“

„Ich kann laufen und ein Messer benutzen, du …“ Er schaute zu ihrem Fuß.

Auch, wenn es Cyan nicht gefiel, ihn so gehen zu lassen, nickte sie. Zugegebenermaßen, fühlte sie sich im Gedanken an die Waffe etwas wohler.

Allein

Es dauerte etwas eine halbe Stunde, bis Heath soweit war, dass er gehen konnte. Es war offensichtlich, dass es ihm nicht gefiel, zumal es draußen bereits Dunkel geworden war.

Natürlich gefiel es Cyan nicht besser. Sie hasste beide Teile dieser Gleichung: Sowohl den Gedanken daran, fünf, sechs Stunden alleine hier auszuharren, als auch die Vorstellung, dass Heath allein durch einen Wald, in dem ein Monster hauste, gehen würde. Aber es war die einzige Möglichkeit. Wirklich die einzige. Selbst die Leuchtmunition … Die Chancen, dass es jemand sah, waren nicht besonders groß. Dennoch feuerte Heath eine Runde ab, bevor er ging. Immerhin suchten auch zumindest zwei Helikopter nach dem toten Jungen – die hatten wenigstens eine Chance, es zu entdecken.

„Hilfst du mir auf?“, fragte Cyan, während Heath sich seine Jacke wieder überzog.

„Was hast du vor?“ Er musterte sie.

Sie atmete tief durch: Ich dachte, ich verstecke mich im Bad. Das hat kein Fenster nach draußen.

Für einen Augenblick musterte Heath, nickte aber dann. „Klingt nach einem Plan. Dann mache ich das Licht aus, wenn ich gehe.“

Dabei wussten sie nicht einmal, welche Wirkung Licht auf das Ungeheuer hatte: Wurde es davon angezogen oder vertrieben? Cyan wollte ersteres jedoch nicht riskieren.

So zog sich Heath ihren Arm über die Schulter und half ihr auf, so dass sie neben ihm her bis zur Tür des winzigkleinen Badezimmers humpeln konnte. Darin ließ sie sich in die Wanne der Duschkabine gleiten, die so ziemlich die einzige Möglichkeit bot, mit ausgestrecktem Bein zu sitzen. Dann verschwand Heath kurz, ehe er wiederkam, um ihr erst zwei Kissen und dann ihren Rucksack reinzureichen. Erst danach holte er das Gewehr und die Munition für sie.

Cyan zog das Gewehr an sich. Es war ein beruhigendes Gefühl, selbst wenn sie nicht daran glaubte, dass es etwas brachte.

„Ich bemühe mich, so schnell es geht Hilfe zu holen“, versprach Heath. „In fünf Stunden bin ich wieder da, okay?“

Cyan nickte. „Pass auf dich auf, ja?“

Er lächelte. „Immer.“ Dann wandte er sich ab und schloss die Tür zu dem kleinen, fensterlosen Zimmer. Für eine oder zwei Minuten noch hörte Cyan seine Schritte auf dem knarzenden Boden, dann wurde im Hauptraum das Licht ausgemacht und die Tür geschlossen.

Sie war allein.

Als hätte es drauf gewartet, erklang einen Moment später ein weiteres Kreischen im Wald.

Ihr Herz raste. Hoffentlich geschah Heath nichts. Hoffentlich schaffte er es Hilfe zu holen. Hoffentlich …

Sie lauschte. Doch nun war wieder alles still.

Was sollte sie tun?

Zu gerne hätte sie Musik gehört, hätte sich damit abgelenkt, doch ohne Internetempfang würde auch Spotify nicht funktionieren. Jetzt bereute sie, keine MP3s mehr zu haben. Was ein seltsamer Gedanke ihn ihrer Situation.

Sie klammerte sich an die Waffe. Hoffentlich fand das Monster sie nicht.
 

Die Zeit verging nur langsam. Umso schwerer abzuschätzen, da sie nun hier in diesem kleinen Zimmer saß, das ihr den Blick nach außen verwehrte. Die Dusche war alles andere als bequem, doch der Gedanke daran, dass es in ein paar Stunden vorbei wäre …

Es wäre doch vorbei, oder? Oh, wenn sie nur sicher wüsste, dass Heath in Sicherheit war, dass er nicht schon von diesem Monster ermordet worden war. Doch sie wusste nichts. Alles was Cyan sagen konnte, war, dass der Wind draußen zunahm und dass von Zeit zu Zeit das markterschütternde Geschrei erklang.

Jedes Mal zog sich ihr Magen zusammen. Vor allem dann, wenn es näher klang. Sie hatte keinerlei Möglichkeit davonzulaufen, wenn das Monster sie fand. Aber es würde sie nicht finden. Es war bisher nicht hier drin gewesen, also hatte es auch keinen Grund hier herein zu gehen. Immerhin hatten sie extra das Licht nach draußen ausgemacht. Ja. Es würde sie nicht finden. Sie war hier sicher. Überhaupt konnte die Bestie ja nicht die Tür öffnen, käme also selbst wenn nicht hier herein. Das machte es sicher. Genau.

Doch so sehr sie es sich auch einredete, so sehr zweifelte sie auch an diesen Gedanken. Sie wussten immerhin nichts über diese Kreatur. Nur in einer Sache war sich Cyan absolut sicher: Dieses Monster war nicht von dieser Welt. Es war eine Kreatur aus einer anderen Dimension oder vielleicht aus der Hölle. Und niemand würde ihnen je glauben, was sie gesehen hatten. Selbst wenn unter anderen SAR-Mitgliedern immer solche Geschichten herumgegangen waren. Ja, es kam immer vor, dass Leute seltsame Dinge in den Wäldern fanden.

Aber von so einer Kreatur hatte sie nicht gehört.

Sie sah auf ihr Handy. Mittlerweile war Heath seit knapp eineinhalb Stunden unterwegs.

War es nicht ironisch: Wäre der Junge nicht verschwunden, hätten sie heute nicht rausgemusst. Dann wäre sie mittlerweile unterwegs mit ihrer Schwester zu einer Halloweenfeier. Das war eigentlich der Tagesplan gewesen. Es wäre ein weit besserer Tag gewesen. Den Jungen hätten sie eh nicht retten können.

Sie hasste sich ein wenig für diesen Gedanken, doch es war wahr. Das Monster hatte ihn wahrscheinlich geschnappt und ab da war er verloren gewesen.

Ein Knarzen ließ sie zusammenzucken. War es nur der Wind, der das Holz zum Knarzen brachte?

Mittlerweile prasselte auch der Regen laut gegen das einfache Dach des Hauses.

Ja. Es musste der Wind sein.

Dennoch zog sie die Flinte näher an sich heran. Dabei wusste sie nicht mal wirklich, wie man damit schoss.

Wieder hämmerte ihr Herz gegen ihren Brustkorb, setzte dann aus, als ein weiteres Knarzen erklang. War jemand auf der Treppe draußen? Nein. Heath konnte noch nicht zurück sein und die Wahrscheinlichkeit das eins der anderen Teams hierher kam, ging gegen null.

Sie klammerte sich weiter an die Waffe, als ein neues Knarzen erklang.

Nein. Bitte. Was auch immer es war, es sollte die Treppe nicht hochkommen. Sie wollte es nicht. Sie wollte in Sicherheit sein.

Was auch immer auf der Treppe war, störte sich nicht an ihrem inneren flehen, denn auch die nächste Stufe gab ein Knarzen von sich.

Sollte sie schauen? Doch wenn es das Monster war, würde es sie sehen, würde das Licht sehen. Dann verriet sie sich. Und wenn sie das Licht ausmachte? Sie hasste den Gedanken daran, aber etwas besseres fiel ihr nicht ein.

Sie streckte eine zitternde Hand nach dem Lichtschalter aus und legte ihn um. Dunkelheit umgab sie, auch wenn für einen Moment komische Punkte vor ihren Augen schwebten. Sie wartete, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnten, ehe sie zur Tür hinüberrückte und sie vorsichtig, ganz vorsichtig einen Spalt breit öffnete.

Sie spähte zur Haupttür hinüber und zu der gläsernen Front, gegen die ebenfalls der Regen prasselte. Soweit war hier nichts. Auch wenn es in der Dunkelheit schwer zu sagen war.

Ihr Blick glitt zu ihren Schuhen hinüber. Vielleicht sollte sie … Aber nein. Es machte keinen Sinn. Sie bekam den Schuh eh nicht über den Fuß hinüber. Sie konnte von hier nicht entkommen.

In der Ferne erklang ein Donnern. Nicht auch noch das. Es jagte einen Schauder über ihren Rücken. Ein Gewitter wirkte nur umso unheilsverkündender.

Da war wieder ein Knarzen. Was auch immer auf der Treppe war, bewegte sich diese nur langsam hinauf, vorsichtig. Vielleicht war es ja nur ein Bär. Genau. Sie hatte mehrfach davon gehört, dass neugierige Bären sich zu Menschengebäuden wagten, in der Hoffnung Fressen zu finden. Vielleicht hatte der Bär ja einfach nur den Ramen gerochen und war auf der Suche nach einem Abendessen. Mit einem Bären kam sie klar.

Sie zog das Gewähr wieder zu sich. Denn auch einem Bären wollte sich nicht unbewaffnet gegenüber stehen.

Innerlich flehte sie, dass was es auch war einfach umdrehte. Es waren nur noch drei, vier Stunden, bis jemand zu ihr kam. Vielleicht mit einem Helikopter. Dann wäre sie in Sicherheit und dann … Nun, dann konnte sie zumindest zu einem Krankenhaus oder so.

Ein Blitz zuckte über den Himmel direkt hinter dem Fenster. Er zeigte nichts. Nur leere Nacht. Doch was folgte – noch vor dem Donnern – war der gellende, markzerreißende Schrei so unglaublich nahe. Das Monster war hier!

Sofort zog Cyan die Tür des Badezimmers zu und krabbelte, so gut es ihr möglich war, zu der Wand gegenüber. Zwischen Toilette und Waschbecken eingequetscht saß sie da an das Gewehr geklammert und starrte im Dunkeln auf die Tür.

Sie wagte es nicht, das Licht anzumachen. Es könnte sie verraten.

Wie hatte das Monster sie nur gefunden? War es ihr die ganze Zeit gefolgt? Hatte es sie mit irgendeinem magischen Sinn geortet?

Ein weiteres Knarzen, als es sich die Treppe weiter hinauf bewegte. Donner rollte über den Wald draußen hinweg.

Tränen standen in Cyans Augen. Sie wollte einfach nur von hier fort, wollte in Sicherheit. Sie konnte nicht einfach sterben. Sie wollte nicht von dieser Bestie zerrissen werden, wie der kleine Junge.

Das Monster würde nicht reinkommen. Das Monster kam nicht herein.

Aber wenn sie ehrlich mit sich war, wusste sie, wie leicht es wäre, das Glas des Fensters zu zerbrechen. Diese Außenposten waren nur gerade so beständig gebaut, wie es notwendig war.

Weiteres Knarzen, Regen, Donner. Der Wind pfiff um das Haus. Dann das nächste Knarzen. Gleich wäre es hier. Gleich wäre es oben und dann …

Sie hielt es nicht mehr aus. Sie wollte nicht so sterben. Der Gedanke daran so zerrissen zu werden war allein schon zu viel. Und sie wusste nicht einmal, ob das Gewehr etwas gegen das Biest tun würde. Vielleicht sollte sie es besser anders verwenden …

Aber das würde bedeuten die Hoffnung aufzugeben.

Wieder knarzte das Holz der Treppe. Dann erklang ein anderes Geräusch. Es war wie ein Kreischen, doch nicht wie das Geschrei des Monsters, sondern wie Nägel auf einer Tafel. Waren es Krallen an der Scheibe?

Sie konnte nicht nachschauen. Sie würde nicht nachschauen. Sie würde hier im Zimmer bleiben, warten, hoffen.

Vielleicht ging das Monster von allein. Vielleicht …

Klirrend zersprang das Fensterglas, ehe etwas Schweres auf dem Boden des Hauptraums aufkam. Dann hörte sie Schritte.



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