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Astarys

Die ewige Stadt
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer vorneweg: Wer UTF8 Formatfehler findet, darf sie gerne behalten ;)

Für den interessierten Leser an dieser Stelle ein paar Hinweise:

Auch wenn diese Welt eine magische Welt ist, so gilt in vielen Fällen Magie=Physik/Wollen. Dementsprechend lassen sich viele Phänomene mit der Physik erklären, und ich gebe mir Mühe, so viel wie möglich darauf Bezug zu nehmen. Falls also Interesse besteht, die dahinterstehenden Effekte kennenzulernen (Igitt, Bildung!), werde ich immer hier im Autorenvorwort etwas dazu erklären und ggf. unterstützende Wikipedialinks zur oberflächlichen Erklärung einfügen. Wer daran kein Interesse hat, darf natürlich gerne das Vorwort überspringen und direkt weiterlesen ;)

- Impulserzeugung:
Der Impuls p ist klassisch nichts anderes als das Produkt von Masse m und Geschwindigkeit v. Die Kraft F ist dann nichts anderes als eine Änderung des Impulses mit der Zeit. Um eine Kraft zu erzeugen mit Magie muss man also irgendwie den Impuls ändern, wofür man eigentlich eine Masse bräuchte. Wie also das ganze realistisch mit der Existenz von Magie verknüpfen? In der Relativitätstheorie gibt es Einsteins berühmte Formel E=mc^2, die ihr sicher schon mal irgendwo gesehen habt. In ihrer vollständigen Form lautet diese E^2=p^2c^2+m^2c^4 mit dem Impuls eines Teilchens (und z.B. Photonen haben ja keine Ruhemasse, aber trotzdem einen Impuls). Die grundlegende Idee ist also, dass Magie eine kontrollierbare Form von Energie darstellt, die beispielsweise in einen Impuls oder eine Masse umgewandelt werden kann, die weiterverwendet werden können.

- Leuchtplasma:
Vielleicht ist euch schon mal eine Plasmalampe begegnet (nettes Gadget, Info: https://de.wikipedia.org/wiki/Plasmalampe). Plasmen leuchten je nach Stoff in verschiedenen Farben (und werden in Leuchtmitteln verwendet, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Plasma_(Physik)#Beleuchtungstechnik). Das Leuchten stammt von angeregten Atomen, die ihre Energie wieder abgeben und dabei Licht mit der entsprechenden Wellenlänge (=Farbe) abgeben. Praktischerweise gibt ein Gasgemisch aus Stickstoff und Sauerstoff ein kaltweißes Licht ab (ein schönes Schaubild gibt es hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Gasentladungsr%C3%B6hre#/media/File:Gase-in-Entladungsroehren.jpg), wie es z.B. auch bei Blitzen vorkommt. Alles, was man machen muss, um das Leuchtplasma mit Magie zu erzeugen, ist also, die Atome energetisch anzuregen.

- Aphelion:
Das in diesem Kapitel genannte Aphelionfest (und das Gegenstück, das Perihelion) bezeichnet im Prinzip etwas ähnliches wie die Sonnenwende. Planeten umkreisen ihren Stern auf elliptischen Bahnen, das Perihel bezeichnet dabei den sonnennächsten und das Aphel den sonnenfernsten Punkt. Da mit dem Abstand zur Sonne deren Strahlungsleistung auf die Planetenoberfläche variiert, kann dieser Effekt Jahreszeitenähnliche Temperaturschwankungen hervorrufen, allerdings dauert der Winter etwas länger als der Sommer. (Zusätzlich dazu ist die Planetenachse dieser Welt wie die der Erde leicht geneigt, was die Temperaturen nochmals beeinflusst)

- Mitternachtssonne (Teekesselchen):
Es ist seit einigen Jahren bekannt, dass in Doppelsternsystemen (zwei Sterne, die einander umkreisen) auch Planeten existieren können. Unsere schöne Welt hier befindet sich auf einem S-Typ Orbit in einem Doppelstern, das heißt, wie unsere Erde umkreist sie einen der beiden Sterne. Der zweite, leichtere und weit entfernte Stern kreist um alles drumherum. Drehpunkt ist aber nicht der erste Stern, sondern der Schwerpunkt beider Sterne.

Das ganze führt einerseits dazu, dass der zweite Stern teilweise nachts am Himmel steht und sogar heller als der Vollmond sein kann (daher die Bezeichnung Mitternachtssonne). Andererseits führt die Schwerkraft des Zweiten Sterns zu einer Beeinflussung der Planetenbahn, die sich langsam dreht (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Apsidendrehung). Man sieht also zu jedem Perihelion und Aphelion ein anders ausgerichteten Sternhimmel. Aus dem Zusammenspiel der Effekte mit der geneigten Rotationsachse der Welt gibt es zu dem Zeitmaß 1 Zyklus (von Aphelion bis Aphelion, ~ 1 Jahr) ein längst veraltetes Zeitmaß aus Astarys, dass sich an der Position eines Hellen Sterns (die sich mit dem Zyklus und einer Komplizierten Wechselwirkung mit dem Mond ändert) zur vollen Mitternachtssonne ergibt. Das ganze liefert ein Zeitmaß von etwa 2,5 Jahren und ist aus der Not entstanden, dass es in Astarys selbst keine Jahreszeiten gibt. (Yay. Tolkien erfindet eine ganze Sprache, bevor er eine Geschichte schreibt, ich erschaffe ein unnötig kompliziertes Sonnensystem. ¯_(ツ)_/¯) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wuhu, ich habs mal wieder geschafft zu schreiben, nach einer etwas längeren Pause, ich hoffe man merkt es im Text nicht :D
Viel Spaß damit. Komplett anzeigen

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Die Rückkehr

Lescale öffnete die Augen. Das Licht blendete ihn, zwang ihn , sofort wieder in die Dunkelheit zurückzukehren, aus der er gekommen war. Sein Körper fühlte sich eisig an. Eiskalt wie der Tod. Und dann spürte er seinen Herzschlag.

Unbeeindruckt fing sein Herz an zu schlagen, als hätte es das schon immer getan, im steten Rhythmus, voller Kraft und Ungeduld. Er schnappte einmal nach Luft wie ein Ertrinkender. Die Wärme kehrte prickelnd in seinen Körper zurück, während seine Lungen keuchend nach Sauerstoff lechzten und nach einiger Zeit öffnete er erneut die Augen, diesmal langsam, damit sie sich an das Licht gewöhnen konnten.

Er war zurück.

Mit tauben Fingern tastete er nach dem Amulett um seinen Hals. Wie lange war er fort gewesen? War Selys noch in Astarys? War sie noch immer Ratsvorsitzende? Viele Fragen, auf die er Antworten finden musste. Schleunigst.

Lescale versuchte aufzustehen, kämpfte einen Moment mit dem Gleichgewicht und fiel vornüber auf die Knie. Seine Muskeln krampften und zitterten vor Anstrengung. Er fluchte innerlich. Die lange Zeit, die er fort gewesen war, hatte ihn nicht nur seiner Koordination beraubt. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Er brauchte Energie, sein Körper war völlig erschöpft.

Mit reiner Willensanstrengung rollte er sich auf den Rücken und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Hier in den Bergen war kaum freie Magie zugänglich; Natürlich, deswegen hatte er diesen Ort schließlich gewählt. Lescale biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf das reifbedeckte Gras, auf dem er lag.

Es war Winter und die Mitternachtssonne folgte ihrer gleißenden Schwester als schwacher Schatten. Die grünen Halme hatten kaum Lebenskraft, aber während sie unter seiner Berührung verwelkten, ließ das Zittern in Lescales Gliedern ein wenig nach. Er verstärkte den unsichtbaren Sog, der ihm zu neuen Kräften verhalf, und als er sich erneut aufrichtete, kam er schließlich taumelnd an die Felswand gestützt zum Stehen.

Er brauchte mehr. Er wollte leben.

Eine Krähe flatterte über seinen Kopf hinweg und schien ihn mit ihrem Krächzen zu verhöhnen, als sie ein paar Schritt entfernt auf einem Felsbrocken landete. Eine dumme Entscheidung; auch wenn sein Körper Lescale momentan nutzlos war, sein Geist war blitzschnell. Der Vogel kippte leblos zur Seite und rollte den Felsen hinunter, als er ihm den Lebensfunken raubte.

Als Lescale mit fahrigen, unbeholfenen Schritten zurück zu seinen Waffen schlurfte, die im nun toten Gras lagen, fühlten sich seine Gliedmaßen bereits um einiges angenehmer an.

Er kniete sich hin und befestigte die schlanken Rakanaschwerter an seinem Waffengurt, was längst nicht so einfach war, wie er es gewohnt war. Seine Finger widersetzten sich störrisch seinen Befehlen, sodass es eine Ewigkeit dauerte, bis sämtliche Riemen und Schnallen an ihrem richtigen Platz verzurrt waren. Wie lange es wohl her war, dass seine Hände sie das letzte Mal geführt hatten?

Als er das kleine Plateau endlich halb gehend, halb stolpernd verließ, dämmerte es bereits. Die steinige, unebene Berglandschaft, machte es Lescale nicht gerade einfach. Oft musste er sich mit den Händen abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und mehr als einmal verlor er an den abschüssigen Hängen den Halt und rutschte unkontrolliert den Hang hinunter, wobei er sich Hände und Knie blutig schürfte.

Je tiefer er kam, desto öfter begegneten ihm unvorsichtige Tiere, die er ohne weitere Gedanken ihrer Lebenskraft beraubte. Hier unten war auch mehr freie Magie zu spüren, die wie ein stetiges Rinnsal in seinen Körper sickerte, seine abgeschürfte Haut heilte und ihn mit neuer Kraft versorgte.

Lescale konnte nicht abschätzen, wie lange er für den Abstieg zur Ebene brauchte, doch es war längst dunkel, als er den alten Handelsweg fand, der sich am Fuß des Gebirges entlang schlängelte und Astarys mit den östlichen Provinzen verband.

Seine Schritte waren nun sicherer und die Verlässlichkeit des ebenen Weges unter seinen Füßen ermutigte ihn, das Tempo nach und nach zu erhöhen, bis er in einen regelmäßigen Trab fiel, der seine Reserven nicht mehr erschöpfte, als die freie Magie ihm nachliefern konnte.

Der Handelsweg bog bald in einer sanften Kurve nach Südwesten ab und die flüsternde Graslandschaft am Fuß der Berge wich nach und nach kleinen Birkenwäldern, die auf dem sandigen Boden der Ostebene gediehen.

Die Nacht wurde bereits alt, als er den Nordostausläufer des gewaltigen Stadtbergs von Astarys erreichte. Das Tor zur Stadt stand offen, doch Lescale konnte von weitem die magischen Funken zweier Soldaten im Dunkel unter dem Torbogen wahrnehmen. Er verließ die Straße und setzte seinen Weg im Schutz der Hecken zwischen den weitläufigen Feldern vor der Stadt fort.

Sein Ziel befand sich in der Beuge zwischen dem nordöstlichen und dem östlichen Bergrücken. Von einem starken Bann vor neugierigen Blicken geschützt befand sich ein Tunneleingang in den steil abfallenden Felswänden, der geradewegs in das Labyrinth der unterirdischen Gänge von Astarys führte, von dem nur Auserwählte wussten.

Lescale vergewisserte sich, dass er allein und unbeobachtet war, dann legte er die Hand auf einen unscheinbaren Felsvorsprung und trat durch den schmalen Durchgang, der sich ihm offenbarte. Das Labyrinth hieß ihn mit einem leisen Luftzug und tiefer Schwärze willkommen. Er rief sich in Gedanken den Plan der Treppen und Ebenen vor Augen und suchte sich sicheren Schrittes seinen Weg durch die Gänge, deren unnatürlich glatte Wände verrieten, dass sie nicht natürlichen Ursprungs waren.

Seine Schrittlänge hatte sich leicht verkürzt, stellte er fest, als er bei einer Abzweigung zu früh die Richtung wechselte und sich die Schulter an der Felskante stieß. Mehrere Abzweigungen später kam die erste Treppe nach oben, Lescale stolperte bei den ersten Stufen, fing sich aber und verfluchte erneut seine mangelhafte Koordination. Die zweite Treppe fiel ihm leichter, und bald schon fanden seine Füße ihren Weg als wäre er nie fort gewesen.

Er brachte die letzte Abzweigung hinter sich und – etwas war falsch. Etwas fehlte. Lescale hielt inne. Da war kein Luftzug. Er streckte die Hand aus und trat vorsichtig nach vorne. Seine Hand stieß gegen ein grobes Mauerwerk. Das war neu. Seine Magie war kaum stärker als dass er einen schwachen Lichtfunken zustande brächte; die Mauer zu durchbrechen war keine Option.

Seufzend drehte er sich um und besann sich auf die anderen Ausgänge des Labyrinths. Diesmal wanderte er vorsichtshalber mit nach vorne gestreckten Händen durch die Dunkelheit, was sich aber als unnötig herausstellte. Der Rest auf dieser Ebene war unverändert, und so kam Lescale ohne weitere Zwischenfälle im Südwestwinkel der Stadt an. Der Ausgang befand sich in einem von dichtem Gebüsch verdeckten Bereich eines Parks vor dem Hauptgebäude der Granida. Die selbst im Dunkel der Nacht hell schimmernde Marmorfront des Hauses sah unverändert aus, jedoch waren rechts und links vom Park weitere Nebenflügel gebaut worden, deren Marmor ebenso im Licht der Sterne schimmerte.

Lescale trat aus dem Gebüsch hervor und wandte sich nach Südwesten, wo der breite Kiesweg durch den Park hinführte. Die breite Steintreppe am Ende des Parks, die auf das untere Plateau führte, war noch wie früher, doch die Zahl der Häuser auf dem Plateau hatte sich deutlich vermehrt.

Sein Ziel lag an der Spitze des Bergplateaus, dort wo die alten Mentorenhäuser standen. Die Stille zu dieser frühen Stunde war vollkommen. Ein schwacher Glanz am östlichen Horizont kündigte den Sonnenaufgang an. Lescale folgte dem Weg, der schnurgerade durch die Meisterhäuser und Institute führte, an den Trainingsplätzen vorbei bis in die Spitze des Winkels, wo der Weg schließlich von Unkraut übersät an einem rostigen, metallenen Zauntor endete, das von Ranken überwuchert war.

Zuhause.

Der Ort, an dem er glücklich gewesen war. Bevor das Unheil über ihn und die Vandor hereingebrochen war. So viele Erinnerungen waren an diesen Ort gebunden. Nächte unter dem Sternenhimmel, das leise Lachen einer Frau... das vor Freude und Energie pulsierende Leben der Aszendenten, die in den Seitenflügeln gewohnt hatten, die Schildkröten, die in stoischer Ruhe am Ufer des unterirdischen Bachs, der unter dem Haus an die Oberfläche trat und durch den Garten im Innenhof floss, ihrem langsamen Leben folgten.

Lescale drückte leicht gegen das Tor. Es gab quietschend nach, als Pflanzen unter dem Zug zerrissen. Das Haus stand noch. Düster erhob sich die Front des dreistöckigen Hauptflügels in den heller werdenden Nachthimmel. Der Stein war nicht verwittert und zeigte kein Anzeichen des Verfalls, doch die Natur hatte krampfhaft versucht, sich den Fremdkörper zurückzuerobern und so war die Treppe zum Eingang mit Moos und Flechten bedeckt, und an der Westecke krallten sich dunkle Ranken an der Mauer fest.

Noch ehe er das dunkle Holz der Haustür berührte, wusste er, dass dort drinnen nichts war. Das Haus war leer, keine Möbel, keine Erinnerungsstücke, nichts. Lescale legte die Hand auf den Türknauf und drehte leicht. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür und gab den Blick in die Eingangshalle frei. Rechts führte eine geschwungene Treppe zu den oberen Stockwerken, während geradeaus ein leerer Raum mit schwarz und weiß gefliestem, staubigem Boden seinen einsamen Besucher empfing.

Langsam durchquerte Lescale die Leere. Auch die Zimmer hinter den Durchgängen zu den Seiten, wo sich einst Kaminzimmer, Gemeinschaftsräume und der Speisesaal befunden hatten, waren leer und die Wände waren kahl und warfen seinen Blick unbarmherzig zurück. In den Ecken hingen Spinnweben und auf den Türklinken der halboffen stehenden Zimmertüren lag eine Staubschicht.

Er trat zu der Tür gegenüber vom Eingang, die hinaus in den Innenhof führte, und strich behutsam den Staub von den silbernen Beschlägen, bevor er die Türflügel mit einem Ruck öffnete und in den Säulengang trat. Fünf breite Stufen führten von dem überdachten Umgang hinunter zu dem, was einst eine grüne Wiese gewesen war mit kleinen Inseln von blühenden Pflanzen und Sträuchern, durch die sich ein plätschernder Bach seinen Weg suchte.

Der Bach im Innenhof war noch immer da, doch die ehemals grüne Fläche war graubraun und verdorrt, von den Sträuchern waren nicht mehr als ein paar verkohlte Überreste übrig. Kraftlos ließ Lescale sich auf die oberste Treppenstufe sinken. Hier war eine Wüste, kein Zuhause.

Lescales Augen suchten den Garten nach etwas Lebendigem ab und blieben schließlich an der dunklen Silhouette des Carabaumes hängen, in dessen Laub der morgendliche Wind flüsterte. Er war unversehrt.

"Sie wollte dir alles Schöne nehmen, auch den Baum. Aber ich bin älter als ihre Rache."

Lescale spürte den sanften Druck einer Hand auf seiner linken Schulter. Er atmete tief ein und legte seine Hand auf die feingliedrigen Finger, die über seine Schulter strichen.

"Selys", flüsterte er tonlos.

Die hochgewachsene Frau ließ sich neben ihm auf der Treppe nieder. Ihre Haut schimmerte im gedämpften Licht des anbrechenden Tages und das weiße, bodenlange Kleid, dessen Saum nun im staubigen Schmutz der Treppe lag, brachte den goldenen Karamellton umso stärker zur Geltung.

Während das Tageslicht die grauen Schatten mit Farben anfüllte, saßen die beiden Vandor schweigend auf der Treppe und beobachteten den Carabaum, dessen Blätter im Licht eine karminrote Färbung annahmen.

"Was ist geschehen?", fragte Lescale nach einer Weile. Seine Stimme klang rau, noch etwas, das Koordination und Übung erforderte. Selys verlagerte das Gewicht und zog ihre Hand zurück.

"Sie hat alles auf die Wiese geschafft und verbrannt. Hat den Boden vergiftet. Seitdem wächst hier nichts mehr."

Mit Ausnahme des Baumes, fügte Lescale in Gedanken hinzu. Er nickte langsam, ballte seine Finger zur Faust und streckte sie wieder.

"Sie hatte genug Zeit dafür. Ich war lange fort."

"Über hundert Mitternachtssonnen." Selys wandte den Kopf und sah ihn mit ihren durchdringenden hellgrauen Augen an.

"Jetzt bist du wieder hier. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Leben auch in dieses Haus zurückkehrt. Und Zeit", sie lächelte, "hast du mehr als genug."

Lescale nickte langsam. Selys erhob sich graziös und bot ihm ihre Hand an.

"Deine Kleider sehen schrecklich aus."

Das taten sie tatsächlich, der Stoff war vom Wetter im Gebirge und Lescales unsanftem Abstieg arg in Mitleidenschaft gezogen worden und hing in fadenscheinigen Fetzen an seinem Körper. Er ergriff die Hand und ließ sich auf die Füße ziehen.

"Ich nehme an, du hast gefunden, wonach du gesucht hast. Scayes' Funke ist also wieder im Spiel." Mit einer Kopfbewegung deutete Selys an, dass er ihr folgen sollte.

"Deswegen bin ich zurück. Ich muss sie wiederfinden."

Ein Wimpernschlag der Ewigkeit

Lescale nippte an seinem Tee, während er auf Selys wartete. Er saß frisch

geduscht und halbnackt auf einem bequemen Sofa in ihrem Haus oben am

Gipfel des Stadtberges, und sah aus dem Fenster zu, wie die Stadt zum

Leben erwachte.

Selys war dabei, ihm neue Kleidung zu suchen. Die vielen Winter im

Freien hatten den Stoff dünn und spröde werden lassen und der holprige

Marsch den Berg hinab hatte einige Löcher hineingerissen. Sobald sie in

ihrem Haus angekommen waren, war Selys in ihr Schlafgemach gegangen

und hatte ihm eine Garnitur ihrer schmucklosen und allzweck-tauglichen

grauen Leinenhosen in die Hand gedrückt. Anschließend hatte sie ihn in

ihr Bad gescheucht und war erneut verschwunden, um ihm eine passende,

unauffällige Garderobe für ihn zusammenzustellen, während Lescale sich

unter dem plätschernden Quellwasser von Dreck und Staub befreite.

Als er wieder ins Wohnzimmer gekommen war, war Selys noch nicht

fertig gewesen, und so hatte er ihre Teevorräte geplündert, die noch immer

an derselben Stelle wie vor mehr als hundert Mitternachtssonnen lagerten,

und Tee zubereitet.

Der Tee schmeckte vorzüglich. Er erinnerte Lescale an den Tee von den

schwarzen Inseln vor ihrem Untergang, mit einer feinen Note von Zimt.

”Schwarz oder blau?“, klang Selys Stimme dumpf durch die Wohnräume.

”Mit Zucker oder pur?“, fragte Lescale zurück und griff nach der Teekanne,

um ihr ebenfalls eine Tasse Tee einzuschenken.

Statt einer Antwort waren leise Schritte auf den Holzdielen zu vernehmen

und Selys trat mit einem Arm voller Stoff ins Zimmer. Lescale schob

ihr die Tasse hin.

”Pur wie die Quelle des Nelar.“

Selys lächelte und warf ihm die Kleider zu.

”Schwarz wie die Nacht.“

Lescale streifte eine ungefärbte, langärmlige Tunika über seinen Kopf

und betrachtete den Umhang, ein schlichtschwarzes Modell mit einer verspielten

grauen Stickerei am Kapuzensaum.

”Danke.“

Selys hatte sich auf dem Sessel schräg gegenüber niedergelassen und

hielt ihre Teetasse in beiden Händen, während sie Lescale aufmerksam

musterte.

”Der Bann scheint funktioniert zu haben, ich könnte schwören, dass

deine Haare nicht einen Sickelbreit länger gewachsen sind.“

Sie trank einen Schluck Tee.

”Also, was ist dein Plan?“

Lescale legte den Umhang neben sich über die Sofalehne und lehnte

sich zurück.

”Nun, meine Verbannung ist offiziell abgelaufen. Es spricht also nichts

dagegen, nach und nach wieder in meine alten A¨mter zurückzukehren.“

Selys legte ihre Stirn in Falten.

”Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass die anderen das ohne Weiteres tolerieren

werden. Die Erinnerungen an deine Person sind bestenfalls gespalten.“

”Nichts, was meine sanguinische Pers¨ onlichkeit und ein bisschen Zeit

nicht beheben könnten“, erwiderte Lescale und lächelte entwaffnend.

Selys zog eine Augenbraue hoch.

”Les, niemand verwendet heutzutage noch das Wort sanguinisch.“

”Tatsächlich? Was sagt man denn stattdessen?“

Selys stellte ihre Tasse ab und dachte lange nach.

”Ich. . . denke es gibt kein Wort, dass alle Aspekte der Bedeutung angemessen

wiederspiegeln könnte. Eigentlich sehr schade.“

Sie verstummte kurz.

”Du solltest dir vielleicht die Chroniken der letzten zweihundertfünfzig

Jahre durchlesen. Nur um auf dem neuesten Stand zu sein.“

Lescale nickte langsam.

”Nicht die schlechteste Idee. Wer hätte gedacht, dass diese Idee mit der

Chronik mir irgendwann noch nutzen würde.“

Er stellte die leere Teetasse auf den Tisch und strich mit dem Zeigefinger

über die verschlungenen Schnitzereien im Holz.

”Überaus deplorabel, dass Scavy meine Möbel verbrannt hat, es waren

einige Antiquitäten darunter.“

”Bedauernswert. Man sagt heutzutage bedauernswert. Und vielleicht

solltest du mal in den Katakomben suchen. Womöglich konnte ich einige

Sachen retten.“

Lescale verharrte mitten in der Bewegung.

”Die Mauer im Abzweig. . . ?“

Selys nickte bedächtig.

”Die nächste Zusammenkunft des Rats ist erst in zehn Tagen. Hedun ist

zurzeit in Nordgelien, im Archiv frage also am besten nach Lady Jessamine

Caulon, sie hat den zweiten Sitz der Schriften zurzeit inne.“

”Wer hat die Leitung der Granida übernommen?“, fragte Lescale mit

wachem Interesse.

”Oh, bitte schlag es dir gleich aus dem Kopf. Deine Tochter leitet die

Granida seit. . . Nunja. Sie ist auch Sprecherin von Ostvandria, und ich

kann mich nicht über sie beklagen. Sie hat wohl mehr von euch gelernt,

als ihr dachtet.“

”Und der zweite Sitz für Schwert und Feder?“ Lescale lehnte sich zurück

und starrte die stuckverzierte Decke an.

”Lady Norvin Kijnsdotr, über einige Generationen verwandt mit der Kijna,

die du noch kanntest.“

Eine Erinnerung erhellte Lescales Miene.

”Hat Kijna es später geschafft, künstliche Blitze zu erzeugen?“ Ein mitleidiger

Blick traf ihn.

”Oh Les, du hast so viel verpasst. Die Blitze waren erst der Anfang.“

”Ich wäre enttäuscht, wäre es anders gewesen. Sie war wahrlich brilliant.“

”Im Nelar steht eine Statue von ihr. Sie hatte ein langes und erfülltes

Leben, und in der Bibliothek der Granida steht ein ganzes Regal mit ihren

Notizen, falls du Interesse hast.“

”Bedauernswert, dass ich es nicht miterleben konnte.“

”’Einen wahren Meister erkennt man daran, dass seine Schüler später

ohne seine Hilfe ihr ganzes Potenzial ausschöpfen‘, hat mal eine weise Person

gesagt.“ Selys lächelte. ”Zweihundertfünfzig Zyklen sind nur ein Wimpernschlag,

du wirst dich schnell wieder zurechtfinden.“

Die Straßen von Astarys waren mittlerweile vollends zum Leben erwacht

und so verließ Lescale Selys’ Haus durch die unterirdischen Katakomben.

Er hatte beschlossen, zuerst die Archive im Nordosten der Stadt

aufzusuchen, bevor er in die Südwestspitze zurückging. Dass Lord Hedun

nicht in Astarys verweilte, kam ihm sehr gelegen. Sie hatten einander schon

zu besten Zeiten nicht leiden können, und er hatte damals im Prozess gefordert,

ihn für immer vom Kontinent zu verbannen.

Die Katakombengänge waren hier oben etwas breiter und weniger verzweigt

als in den unteren Stadtbezirken. Wenige Abzweige und fünf Treppen

später war Lescale am oberen Ausgang der Nordostspitze angelangt

und trat in einer versteckten Felsnische unweit der schwarzen Granitfassade

des zentralen Archivkomplexes ins Freie.

Die Straßen der Nordostspitze waren fast leer im Gegensatz zum Zentrum.

Die Skriptoren waren längst in ihren Schreibstuben und der Verkehr

beschränkte sich auf Papierlieferungen und Aktentransporte, deren

Gefährte noch immer aussahen wie vor zweihundertfünfzig Zyklen, sah

man von den leicht veränderten Rädern ab, die nun aus schimmerndem

Metall mit einer federnden Schicht drumherum bestanden.

Lescale schulterte die Dokumententasche, die Selys ihm geliehen hatte,

schritt die fünf Treppenstufen hinauf und verschwand zwischen den

dunklen Säulen, in deren Schatten sich die schwere Eingangstür des Zentralarchivs

befand. Sie war unverschlossen und schwang lautlos auf; natürlich,

es wurde im gesamten Archiv besonderen Wert auf Stille gelegt.

Die Empfangshalle war trotz der kleinen gläsernen Kuppel, die das Tageslicht

von oben in den Raum fallen ließ, düster und verlassen. Das Echo

der spröden Lederstiefel – Selys hatte auf die Schnelle keinen passenden

Ersatz für ihn auftreiben können – auf dem blankpolierten Steinboden hallte

mahnend von den kahlen Wänden wider.

Der Tresen an der gegenüberliegenden Wand war nicht besetzt, lediglich

eine kleine silberne Glocke stand einsam auf dem schweren Holzmöbel.

Ihr Ton klang schneidend, beinahe gläsern, und schien durch das gesamte

Gebäude zu dringen. Lescale lauschte dem Ton nach, bis er verklungen

war und wieder die kontemplative Stille eingekehrt war. Gerade als

er erwog, die Glocke erneut zu betätigen, waren leise Schritte aus dem

unauffälligen Torbogen hinter dem Tresen zu vernehmen.

Eine Frau trat aus dem Torbogen, Lescale schätzte sie auf etwa dreißig

Zyklen. Ihr schwarzes Haar war straff im Nacken hochgesteckt und ihre

schlanke Gestalt war in die mit traditionellen Runen verzierten papierfarbenen

Roben der Skriptorei gehüllt.

”Was kann ich für sie tun?“, fragte sie und griff nach einem Blatt Papier

und einem Stift vom Tresen.

”Ich suche eine gewisse Lady Jessamine Caulon, auf Empfehlung von

Lady Selys.“

Ein kurzer Ausdruck der Irritation glitt über ihr Gesicht.

”Das bin ich. Wie kann ich helfen?“

”Ich hoffe, ich st öre sie gerade nicht bei etwas Wichtigem. Ich würde

gerne die Chroniken ungefähr ab dem Beginn des Kriegs ausleihen. Und

vielleicht ein paar zusätzliche Dokumente einsehen, wenn das möglich ist.“

Lescale lächelte entwaffnend.

Jessamine deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die leere

Halle.

”Nun ja, am Tag vor den Aphelionfeiern rennen mir die Leute traditionell

die Tür ein“, bemerkte sie mit sarkastischem Unterton, ”also die Jahreschroniken

der letzten zwei- bis dreihundert Jahre? Das ist ein ganz schöner

Stapel Papier.“

”Mir reicht die Kurzform. Diese kleinen Bücher“, Lescale deutete mit

den Händen ein Rechteck von der Größe einer halben Elle an, ”wo nur das

wichtigste drinsteht.“

Jessamines Gesicht erhellte sich, als sie verstand, was er meinte und

sie kritzelte etwas auf ihren Papierbogen.

”Und die anderen Dokumente?“

Lescale überlegte kurz, bevor er antwortete.

”Die Akten vom Konzil nach dem Kriegsende. Und gegebenenfalls Dokumente

von der Antizipation desselben in der Öffentlichkeit.“

Jessamine zog eine Augenbraue hoch, als sie sich seine Wünsche notierte.

”Warum interessieren sie sich dafür? Meines Wissens nach hat sich

noch nie jemand danach erkundigt, seit ich hier arbeite.“

Lescale zuckte mit den Achseln.

”Nennen sie es persönliches Interesse.“

Jessamine faltete ihren Zettel zusammen und legte den Stift zurück auf

den Tresen.

”Persönliches Interesse, aha. Ich werde nachsehen, ob die Akten zugänglich

sind und ein Ausleihformular besorgen. Es könnte einen Augenblick dauern,

ich bin heute alleine hier.“

Lescale lächelte und antwortete: ”Keine Eile, ich habe Zeit.“

Es dauerte tatsächlich eine Quintel, bis sie wieder in die Eingangshalle

kam, bewaffnet mit einem großen Blatt Papier und ihrer gefalteten Notiz.

”Sie haben Glück, ich habe die Akte gefunden. Das Papier ist natürlich

etwas empfindlich, aber sie können es sich gerne im Lesesaal bequem machen

und darin lesen. Für die Chroniken müssten sie noch dieses Formular

ausfüllen, ich werde ihnen die entsprechenden Bände heraussuchen.“

Sie reichte ihm das Blatt.

”Ansonsten finden sie weitere Dokumente im öffentlichen Bereich des

Archivs im Regal des jeweiligen Jahres. Bitte folgen sie mir.“

Jessamine führte Lescale durch den Torbogen und einige Gänge in den

leeren Lesesaal. Er war deutlich heller als die Eingangshalle, was an den

zahlreichen Fenstern an der Ostseite lag, und beherbergte nebst zahlreichen

Lesepulten Regale mit Dialekt- und Sprachlexika sowie etymologischen

Werken an den Wänden. Auf einem der Pulte nahe der Tür stand

ein geöffneter Dokumentenkasten.

”Falls sie Hilfe benötigen, rufen sie einfach, ich bin nebenan im Katalogregister.“

Jessamine warf ihm einen letzten, neugierigen Seitenblick zu, bevor sie

den Raum verließ.

Lescale schlenderte langsam zu dem Pult mit dem Dokumentenkasten,

blieb einen Moment stehen und atmete tief durch, bevor das leere Formular

obenauf legte und den Kasten zu einem der Pulte am Fenster trug.

Das Formular war schnell ausgefüllt, achtlos legte er es beiseite und

widmete sich dem Kasten voller vergilbten Papier. Wann immer ein Konzil

stattfand, wurde großen Wert darauf gelegt, sämtliche Vorgänge schriftlich

festzuhalten, und so war auch damals ein Skriptor bei den Beratungen

dafür zuständig gewesen, jeden Satz zu protokollieren.

Die säuberlichen Abschriften des Protokolls waren zu Heftern gebündelt,

deren Deckblätter Auskunft über Thema des Inhalts, Anwesende, und Datum

gaben. Lescale zog den ersten Hefter aus dem Kasten.

”Großes Konzil von Astarys zur Ahndung der schändlichen Taten des

Lescale Garelon, Teil 1: Öffentliche Sammlung der Anklage im Hohen Rat“,

las er.

Er schob den fingerdicken Band zurück in den Kasten und griff nach

dem nächsten. Teil zwei, Formulierung der Anklage; Teil drei, vier und fünf,

öffentliche Befragung der Zeugen; Teil sechs, öffentliche Anhörung. Lescale

verzog das Gesicht.

”Ich bekenne mich schuldig am Tod von Scayes Lorande.“

Teil sieben, Plädoyer der Fürsprecher; Teil acht, Plädoyer der Ankläger;

Teil neun, Urteilsfindung des Rats.

Lescale stellte fest, dass der Hefter einer der gr ößeren in der Box war,

als er ihn herauszog und auf das Lesepult legte.

”Interne Beratung zur Urteilsfindung im Kreise des vollzähligen hohen

Rats von Astarys, am vierundzwanzigsten Tag nach dem 4226. Perihelion

seit Gründung, Band A.“

Lescale griff sich einen Graphitstift und einen Bogen Papier aus dem

Fach unter dem Pult und begann zu lesen.

Es war bereits später Nachmittag, als Lady Jessamine den Lesesaal

betrat und zu Lescales Lesepult schritt, auf dem sich mittlerweile Teil neun

Band E befand nebst einigen Blättern seiner Notizen.

”Es sieht aus, als seien sie fündig geworden.“ Sie deutete auf die eng

beschriebenen Seiten, die ungeordnet neben dem Dokumentenkasten lagen.

Lescale hob den Kopf.

”Es sind einige interessante Details zutage gekommen. Aber inzwischen

flacht die Spannungskurve stark ab, mehr werde ich wohl nicht lesen. Teil

zehn ist wahrscheinlich inhaltlich redundant zu den vorigen Bänden.“

Jessamine lachte.

”In der Tat. Ich habe damals mal alle Konzilprotokolle lesen müssen.

Wenn sie mich fragen, ist dieses Konzil mit Abstand das Interessanteste,

obgleich es eine einzige Tragödie gewesen ist.“

Lescale zog eine Augenbraue hoch.

”Eine Tragödie?“

”Nunja, wenn sie mich fragen, das Urteil des Rats berücksichtigte weder

die Wahrheit noch waren die Richter neutral. Eine Tragödie des Rechts.“

Lescale schmunzelte.

”Tragödien sind bloß Komödien, deren Zeit noch nicht gekommen ist.

Hätten sie einen Massenmörder einfach laufen lassen?“

”Das habe ich nicht gesagt. Ich bin Historikerin und Archivarin, keine

Richterin. Ich maße mir nicht an, ein Urteil über jemanden zu sprechen. Ich

erzähle nur die Geschichte und bewahre sie auf.“

Lescale klappte schwungvoll den Hefter zu, mit dem Effekt, dass eines

der Notizblätter zu Boden segelte.

”Eine seltene Einstellung.“

Jessamine hob das Blatt auf und warf einen Blick darauf.

”Amüsant. Wenn ich nicht genau wüsste, dass das nicht sein kann,

würde ich sagen, dass ihr ihre Handschrift schon einmal irgendwo gesehen

habe.“

”Nun, das kommt ganz darauf an, was sie so lesen“, erwiderte Lescale

und fischte das ausgefüllte Formular unter den Notizen hervor.

”Ihr Formular. Ich bin hier soweit fertig.“

Jessamine legte das Notizblatt auf das Pult und nahm das dünne Papier

mit einem irritierten Blick entgegen.

”Wieso, sind sie Skriptor?“

Lescale schüttelte den Kopf und lächelte leicht.

”Nein, aber in diesen Archiven ist so gut wie alles zu finden.“

”Wie auch immer, ich hole ihre Bücher.“

Jessamine drehte sich achselzuckend um und verließ den Lesesaal,

während Lescale den Hefter wieder an seinen Platz im Dokumentenkasten

schob und seine Notizen ordnete.

Er hatte sie gerade in Selys’ Tasche verstaut, als Jessamine mit zwei

handbreiten, unterarmgroßen Bänden und einigen jeweils fingerbreiten Bänden

desselben Formats auf dem Arm wiederkam.

”Persönliches Interesse also.“ Sie blieb in der Tür stehen und musterte

ihn eingehend.

”Würden sie es anders formulieren, Lady Jessamine?“

Sie legte den Kopf schräg und dachte kurz nach.

”Vermutlich nicht. Ihre Aufzeichnungen über die alten Schriften aus Sannord

sind übrigens überaus informativ, Lo. . .“, sie unterbrach sich, ”Lescale

Garelon.“

Sie trat langsam näher, die Bücher wie ein Schutz vor der Brust.

”Ihr Vorgänger von damals war in der Tat sehr erfreut über meine Hilfe.

Freut mich, dass es immer noch gelesen wird.“

Jessamine legte die Bücher auf dem Tisch ab und trat einen Schritt

zurück.

”Ich war so frei und habe ihnen soweit möglich die gebündelten Ausgaben

gebracht. Ist handlicher als dreihundert kleine Bücher.“

Sie verstummte.

”Danke.“

Eine unbequeme Stille entwickelte sich, als Lescale die Bücher zu den

Notizen in die Tasche schob.

”Sie werden mit ihrer Rückkehr den Rat spalten.“ Jessamine knetete

unruhig ihre Finger.

Lescale erhob sich und schulterte die Tasche.

”Nach dem, was ich gelesen habe, ist das wahrscheinlich. Und auf welcher

Seite werden sie stehen?“

”Ich sitze nicht im Rat, um auf irgendjemandes Seite zu stehen. Aber

vielleicht. . . stehen sie ja ab und an zufällig auf meiner Seite.“

Lescale nickte langsam und deutete eine leichte Verbeugung an.

”Ich verstehe. Es war mir eine Ehre, sie kennenzulernen, Lady Jessamine.“

Sie lächelte.

”Ich bringe sie zur Tür.“

Lescale nahm seinen Mantel und folgte Jessamine zurück zur Eingangshalle,

wo Jessamine stehen blieb.

”Ich wünsche ein frohes Aphelionfest.“

”Ich ihnen ebenfalls. Lassen sie mich wissen, wann immer ich ihnen

helfen kann.“

Lescale setzte die Kapuze auf und verließ die düstere Halle, aus der

Jessamine ihm nachdenklich hinterherblickte.

Einen Fußmarsch durch die Katakomben später stand Lescale erneut

an der versperrten Abzweigung. Seit seiner Ankunft in Astarys war ein steter

Strom von freier Magie in ihn hineingesickert, sodass er keine Schwierigkeiten

hatte, ein Leuchtplasma zu erzeugen, dessen kaltweißes Licht

einen unwirklichen Lichtschein auf die dunkelgraue Mauer aus sorgfältig

verfügten Steinen warf.

Lescale inspizierte die Mauertechnik, dann konzentrierte er sich auf die

Magie. Er sammelte sich, formte die Magie in einen Impuls und ließ sie frei.

Die Mauer war stabiler, als es von außen aussah, dennoch stürzten die

mittleren Steine in den Gang dahinter und gaben einen Durchgang frei, der

gerade breit genug war, dass Lescale hindurchschlüpfen konnte.

Erst dachte Lescale, der Gang sei leer, doch dann fiel das Licht auf

mehrere Truhen, die ein paar Meter weiter mitten im Gang standen. Er trat

näher heran.

Die erste Kiste erkannte er sofort. Seine Waffenkiste aus den Lagern

der Granida. Er ließ das Licht heller leuchten. Die anderen Kisten waren

schmucklos und waren ihm unbekannt.

Vorsichtig stieg er über die Waffenkiste, die von einer dichten Staubschicht

bedeckt war und trat an die hüfthohe Kiste dahinter. Der Deckel

quietschte ein wenig und im kalten Licht waren wild durcheinander geworfene

Gegenstände zu erkennen. Eine bemalte San-Vase, das kunstvoll geschnitzte

Kästchen, in dem er Schreibutensilien aufbewahrt hatte, der niedrige

Tisch aus ostvandrischem Zedernholz, der vor dem Diwan gestanden

hatte – Selys musste wahllos irgendwelche Dinge in die Kiste geworfen

haben.

Lescale schloss die Truhe wieder und zwängte sich an ihr vorbei, um die

Nächste zu inspizieren. Es bot sich einähnliches Bild, Kissen, ein Wand-

spiegel, eine archaische Katzenskulptur aus Nˆın und Schriftrollenhülsen

zwängten sich zwischen einem Hocker und einer kleinen Kommode.

Die letzte Truhe war etwas kleiner und mit einem Hinweis versehen,

einer handschriftlichen Notiz, die lose zusammengefaltet obenauf lag. Lescale

griff danach und entfaltete das brüchige Papier.

Les, falls du dies irgendwann liest, ich habe gerettet, was ich

retten konnte. Hierdrin sind einige von Scayes’ Sachen. Irgendwann

wirst du bereit dafür sein.

– S.

Lescale biss die Zähne zusammen und faltete die Notiz wieder zusammen.

Einen Moment zögerte er, dann legte er den Zettel achtlos auf die

Truhe und ging an ihr vorbei, ohne sie zu öffnen. Der Gang knickte wenige

Schritt weiter scharf nach links ab und endete an einer versteckten Tür in

einem Weinregal im Keller seines Hauses.

Der Mechanismus öffnete sich mit einem leisen Quietschen. Kühle, abgestandene

Luft wehte Lescale aus dem Weinkeller entgegen, der wie erwartet

ebenfalls leergeräumt war.

Lescale schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Truhen im

Gang hinter sich. Sie zum Schweben zu bringen erforderte mehr Magie als

erwartet und es forderte seine gesamte Konzentration, sie ohne Kollisionen

durch den engen Gang in den Weinkeller zu bugsieren.

Schließlich standen die Truhen nebeneinander im Keller und die Tür im

Weinregal schloss sich mit einem leisen Klicken hinter Lescale. Er l öschte

das mittlerweile flackernde Leuchtplasma und trat in den dunklen Kellerflur,

von wo aus eine Treppe hoch in die schwarzweiß geflieste Eingangshalle

führte. Der Raum lag im Halbdunkeln, von außen drang vereinzelt das

goldene Licht der untergehenden Sonne ins Haus.

Lescale hängte die Dokumententasche über das Treppengeländer, ging

zur Eingangstür und öffnete sie weit, dann ging er durch das Haupthaus

und tat er dasselbe mit allen anderen Türen und Fenstern, bevor er zuletzt

die Tür zum Garten öffnete und sich auf die Treppe setzte, um den

Sonnenuntergang zu betrachten.

Die Sonne verfärbte sich langsam von orange zu rot, und nachdem sie

ganz verschwunden war, konzentrierte Lescale sich auf das Haus. Seine

Magie hatte sich noch nicht vollständig von den schweren Truhen erholt,

aber für diesen Zweck würde es ausreichen.

Er versetzte die Luft in Bewegung, erst nur langsam, dann immer schneller,

bis der Staub auf dem Fußboden sich widerwillig in den Luftstrom

einfügte und durch die Fenster und Türen seinen Weg nach draußen fand.

Lescale wartete ein halbes Quintel, bevor er den Luftstrom versiegen und

Fenster für Fenster mit einem leichten magischen Stoß zufallen ließ.

Als er fertig war, ging er nach drinnen, wobei er die Gartentür und die

Eingangstür verschloss, und griff nach der Dokumententasche, die unbeeindruckt

an dem Treppengeländer baumelte. Der Staub der hundert Mitternachtssonnen

war aus dem Haus verschwunden und es wurde Zeit, dass

er auf den neusten Stand der Dinge kam. Papier mochte geduldig sein, er

war es heute nicht.

Der Nachthimmel war sternenübersät. Lescale saß mit dem Rücken an

die Mauer gelehnt auf einer Fensterbank im oberen Stockwerk und war in

einen der beiden großen Chronikbände vertieft.

Ohne das Licht der Mitternachtssonne war es zu dunkel, um zu lesen,

daher hatte Lescale ein kleines Leuchtplasma erschaffen. Er überflog Seite

für Seite, verharrte an manchen Vermerken etwas länger als bei anderen,

notierte sich einzelne Stichpunkte auf einem leeren Blatt Papier und war so

darin vertieft, dass er Selys’ Schritte erst hörte, als sie durch die Tür des

Zimmers kam.

”Hier bist du also.“

Sie stellte einen Korb auf ein freies Stück Fensterbank.

”So wie ich dich kenne, liegt deine letzte richtige Mahlzeit exakt einhundert

Mitternachtssonnen und anderthalb Zyklen zurück.“

”Du kennst mich zu gut, Selys“, seufzte Lescale und klappte das Buch

zu.

Selys f örderte eine Weinflasche zutage.

”Wahrscheinlich.“ Sie lächelte, während sie die Weinflasche öffnete.

”Ich hoffe, du bist immer noch diesem billigem carischen Gesöff so zugetan

wie damals.“

”Nenn mich rührselig, aber es erinnert mich an alte Zeiten.“

Selys hatte unterdessen ein halbes kaltes Buffet auf der Fensterbank

angerichtet, noch ofenwarmes Weißbrot, mehrere Schalen mit Dips, marinierte

Rikaschoten, etwas Käse und sogar einige Carafrüchte hatte sie

mitgebracht.

Lescale legte die Chronik weg und erhob sich.

”Danke. Das hättest du nicht tun müssen.“

Beim Anblick der Rikaschoten lief ihm das Wasser im Munde zusammen.

”Andererseits – ich bin froh, dass du es getan hast.“

Selys öffnete eine zweite Flasche Wein und goss etwas davon in einen

silbernen Kelch.

”Nichts zu danken.“ Sie drückte ihm die Flasche carischen Weins in die

Hand und hob ihren Kelch. ”Auf deine Rückkehr. Das Buffet ist eröffnet.“

Eine Weile aßen sie schweigend nebeneinander auf der Fensterbank

sitzend. Das Brot war köstlich, und die Rikaschoten waren knusprig und

pikant.

”Kommst du klar mit. . .“, Selys machte eine unbestimmte Handbewegung,

”dem allen?“

Lescale ließ sich Zeit mit der Antwort.

”Ich hatte viele Zyklen zum Nachdenken.“ Er trank einen Schluck Wein

aus der Flasche.

Selys schnaubte belustigt. ”Das ist keine Antwort, Les.“

Sie nahm ein Stück Käse und betrachtete es.

”Ich kenne dich fast dein gesamtes Leben lang. Du hast Verluste noch

nie gut verkraftet. Und du hattest gehofft, nie mehr einen solchen erleiden

zu müssen.“

Ihr Blick wanderte zu Lescale.

”Und dann noch auf diese Art und Weise.“

Selys biss ein Stück vom Käse ab und schwieg.

”Was auch immer du tust, um wieder in die Reihen des Rats aufzusteigen,

einige von uns Atachronai vermissen Scayes schmerzlich. Und die

meisten werden dich das spüren lassen. Darauf musst du vorbereitet sein.“

Lescale trank einen weiteren Schluck Wein.

”Weißt du, was das Schlimmste ist?“ Seine Stimme klang düster. ”Jedes

Mal, wenn ich die Augen schließe, ist ein Teil von mir wieder dort im Ödland.

Ich sehe mich diese Dinge tun, und bin wieder genauso machtlos.“

Selys runzelte besorgt die Stirn.

”Scayes war die einzige, die dir im Kampf gewachsen war. Und sie hätte

dich töten können. Aber es hätte ihr das Herz gebrochen, deswegen hat sie

es nicht getan. Sie glaubte bis zuletzt, dass sie dich retten konnte.“

”Sie ist in meinen Armen gestorben.“

Selys legte behutsam ihre Hand über Lescales.

”Und es waren die Arme ihres Geliebten, nicht ihres Mörders.“

Sie erhob sich schweigend und betrachtete Lescale, der zusammengesunken

auf der Fensterbank saß.

”Dich trifft keine Schuld.“

Lescale lehnte sich gegen die Fensterscheibe und schaute Selys direkt

in die Augen.

”Schuld ist nicht objektiv.“

Seine Augen glänzten feucht. Selys presste ihre Lippen zu einem Strich

zusammen.

”Kommt du klar mit dem allen?“, wiederholte sie ihre Frage mit Nachdruck

und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Lescale drehte unschlüssig die fast leere Weinflasche in seiner Hand,

dann setzte er sie an seine Lippen und leerte sie in einem Zug.

”Es bleibt mir nichts anderes übrig“, antwortete er und ergriff die angebotene

Hand.

Selys lächelte und zog ihn auf die Beine.

”Nichts anderes wollte ich hören.“

Sie legte den Kopf schief und taxierte Lescale.

”Es ist keine Schande, um Hilfe zu fragen, vergiss das nicht. Aber zu

einem erfreulicheren Thema: Interesse an einer nächtlichen Führung durch

die Granida? Es hat sich einiges verändert.“

Lescale stellte die leere Weinflasche auf die Fensterbank.

”Ich bin ganz Ohr.“

Alte Freunde, alte Feinde

Es erfüllte Lescale mit einer tiefen inneren Zufriedenheit, dass das Hauptgebäude der Granida sich nicht verändert hatte. Selys und er waren durch die neuen und alten Gebäudeflügel gewandert, während sie Lescales Fragen zu Vergangenheit und Gegenwart so gut es ging beantwortet hatte.
 

"Warum hast du nach dem Krieg ausgerechnet Ngoren die Provinz Viblin überlassen?"
 

Sie stiegen eine schmale Treppe hinter einer versteckten Tür hinauf, um auf das Dach des Gebäudes zu gelangen. Der Himmel war noch dunkel und die Nachtluft fühlte sich kühl auf der Haut an.
 

Selys seufzte leicht, als sie hinaustrat und an den Rand des Daches trat.
 

"Ich weiß es selbst nicht. Ich war in der Zeit nicht ganz ich selbst."
 

Dicht über dem Horizont schwebte ein heller, rötlicher Lichtfleck. Er würde untergegangen sein, bevor die Mitternachtssonne ihre ersten Strahlen über den Horizont schickte. Nicht mehr lange, und er würde für knapp zweieinhalb Zyklen nicht mehr den Nachthimmel zieren.
 

Lescale betrachtete den Lichtpunkt.
 

"Weißt du noch, als der Mitternachtsstern noch tatsächlich mit der Mitternachtssonne aufging? Es hat sich einiges verschoben mit der Zeit. Aber du,", er trat neben sie an die Dachkante, "du bist immer noch dieselbe. Das bist du immer."
 

Selys schmunzelte leicht.
 

"Du überschätzt mich. Ich war oft alleine hier, nachdem du fortgegangen bist. Ich schätze... ich habe um zwei alte Freunde gleichzeitig getrauert. Auch wenn es bei einem nur eine absehbare Zeit der Trennung war."
 

Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
 

"Aber trotzdem. Ngoren? Ich muss ihm gar nicht erst begegnen, um dir zu erzählen, wie viel arroganter er dadurch wurde."
 

Selys hob eine Augenbraue und antwortete in leicht spitzem Tonfall: "Wir alle tragen die Folgen unserer Fehlentscheidungen."
 

Lescale setzte sich auf die Dachkante und ließ seine Beine über dem Abgrund baumeln.
 

"Friede, Sel. Es tut mir leid."
 

Sie setzte sich neben ihn und atmete tief die klare Nachtluft ein.
 

"Vielleicht fehlte mir auch einfach nur dein weiser Rat,", sie knuffte ihn leicht in die Seite, "denn leider hast du vollkommen Recht, was Ngoren angeht."
 

Lescale gab einen belustigten Laut von sich.
 

"Ist er zum Aphelionsfest hier oder in Viblin?"
 

"Viblin. Von den Atachronai sind nur Laven und Scavy hier. Aber deine Tochter war bisher noch nie beim Aphelionsfest zugegen. Ich denke nicht, dass sich das morgen ändern wird. Aber die meisten anderen Ratsmitglieder dürften da sein; eine gute Gelegenheit, um sie kennenzulernen."
 

Sie warf einen schrägen Blick zu Lescale herüber.
 

"Kannst du noch tanzen, oder hast du das im Schlaf vergessen?"
 

Lescale zuckte mit den Achseln.
 

"Keine Ahnung. Müsste ich ausprobieren."
 

Selys streckte ihre Arme durch und ein hörbares Knacken drang aus ihren Gelenken.
 

"Ich habe das letzte Mal vor dem Krieg getanzt. Ich finde, deine Rückkehr nach Astarys ist ein würdiges Ereignis, das zu ändern. Ich hoffe doch, du kommst zum Fest?"
 

Sie lächelte.
 

"Wenn es carischen Wein gibt...", antwortete Lescale achselzuckend.
 

"Prima,", strahlte sie, "ich lasse dir eine passende Garderobe bringen."
 

"Was ist falsch mit der hier?"
 

Lescale deutete an seinem Körper hinab. Er trug noch immer die ungefärbte Tunika und die graue Leinenhose, die Selys ihm gegeben hatte.
 

"Bei allem Respekt, du sieht nicht gerade aus wie einer der mächtigsten Magier in Astarys. Und helle Farben stehen dir einfach nicht. Von den Schuhen fange ich gar nicht erst an."
 

Les betrachtete die zerschlissenen Lederstiefel und seufzte.
 

"Hundert Mitternachtssonnen Exil und ich komme freiwillig zurück, um mich deinem Modediktat zu unterwerfen. Als ich dich kennenlernte, hast du diese Leinenhosen ständig und in aller Öffentlichkeit getragen, ohne dass es dich gestört hat."
 

Selys' von weich fallenden, weißen Stoff verdecktes Knie versetzte Lescale einen kleinen Schubs.
 

"Ich bin eben reifer geworden statt bloß älter, wie gewisse andere Anwesende."
 

Lescale gluckste leise.
 

"Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass du früher deutlich stilvoller aussahst. Vor allem mit dem kurzen Haar", neckte er sie.
 

Selys verdrehte die Augen, aber um ihre Lippen spielte ein Lächeln.
 

"Ich verstehe wirklich nicht, dass ich dich je vermisst habe", entgegnete sie in ironischem Tonfall.
 

"Was hat Laven dir eigentlich versprochen, dass er einen neuen Astronomieturm bauen durfte?", wechselte Lescale das Thema und deutete auf die schwarze Silhouette, die sich vor dem leuchtenden Band der Sterne abzeichnete.
 

Selys zuckte mit den Schultern.
 

"Er hatte überzeugende Argumente. Und der alte Turm war zu klein für das große Teleskop."
 

"Meine Argumente waren wohl nie so überzeugend", monierte Lescale frustriert.
 

Selys tätschelte beruhigend seinen Arm.
 

"Zu deiner Zeit waren auch noch keine Bahnabweichungen bekannt, die eine nähere Untersuchung erforderten. Laven hat mit dem neuen Teleskop einen bis dato unbekannten Himmelskörper entdeckt."
 

"Der verdammte Hund. Er konnte nicht zufällig mit dem neuen Teleskop die Bahnhypothese des Mitternachtssterns bestätigen?"
 

Selys schüttelte den Kopf.
 

"Nein, er hat sie widerlegt. Er hat ein neues, überaus kompliziertes Modell entwickelt, das bisher alle Beobachtungen erklärt, aber frag mich nicht nach den Details."
 

"Hm", machte Lescale und starrte den untergehenden Lichtfleck nachdenklich an.
 

"Vielleicht kannst du ja bei ihm oder Norvin anfangen, zu arbeiten. Ich bin sicher, du könntest einige neue Theorien einbringen", schlug Selys vor.
 

Lescale verzog das Gesicht.
 

"Und den ganzen Tag im Labor über Formeln brüten? Das bin ich nicht. Genausogut könnte ich Jessamine anbieten, sämtliche fremdsprachigen Schriften des Archivs zu übersetzen. Ich würde über kurz oder lang wahnsinnig werden."
 

Selys schürzte die Lippen.
 

"Irgendetwas musst du machen, um dein Haus wieder einigermaßen einrichten zu können."
 

"Lass mich wieder an der Granida lehren. Darin bin ich gut und es macht mir Spaß."
 

Selys setzte zu einer Antwort an, aber hielt inne, ohne etwas gesagt zu haben.
 

"Was ist?"
 

"Dafür braucht es eine Ratsmehrheit und Scavys Zustimmung. Sie ist nicht gerade gut auf dich zu sprechen, seit sie damals erwacht ist."
 

"Ich werde wohl über kurz oder lang mit ihr über alles reden müssen. Und was den Rat betrifft -- Ich brauche neun von sechzehn Stimmen. Gegen mich stehen auf jeden Fall Ngoren und Hedun. Phalaan wird mit Ngoren stimmen, Laven kann ich nicht einschätzen. Moizea und du stimmen hoffentlich für mich."
 

"Ich wäre mir bei Moizea nicht allzu sicher. Sie gilt den meisten als deine Novizin, was ihr das Leben nicht gerade erleichtert hat. Sie hat durchaus gemischte Gefühle dir gegenüber."
 

"Bleibt von den Atachronai noch Hel. Im Prozess hat sie sich für meine Verbannung ausgesprochen, aber sie ist immer gerecht. Ich denke, ich könnte sie überzeugen."
 

Selys nickte langsam.
 

"Das wären zwei bis vier Stimmen von den Atachronai für dich. Jessamine würde in dieser Angelegenheit sicher offen für Argumente sein. Auch Norvin. Lord Durran, zweiter Sitz des Sterns, stimmt meistens mit Ngoren, Lord Ahiannu, zweiter Sitz des Rades, könnte sich eventuell überreden lassen, macht bis zu sieben Stimmen. Lady Negritte, zweiter Sitz des Auges, vertritt Oretjem, wird also nicht gerade gut auf dich zu sprechen sein. Lady Elija und Lord Mian, die Sitze des Stabs kann ich nicht einschätzen. Lord Marud, zweiter Sitz der Waage, ebenso. Das sind zu viele Unsicherheiten für eine Mehrheit."
 

"Nun ich hoffe doch sehr, dass ich sie morgen kennenlerne. Vielleicht legen sich dann einige Unsicherheiten."
 

"Elija wird dir gefallen", bemerkte Selys mit einem vielsagenden Gesichtsausdruck, "und du wirst ihr gefallen."
 

Lescale runzelte die Stirn.
 

"Inwiefern?"
 

"Du bist ein alleine lebender, gutaussehender Mann und bestimmt gut um den Finger zu wickeln", erinnerte Selys ihn.
 

"Das ist nur zum Teil korrekt. Ich habe dir gesagt, Scayes' Funke ist zurückgekehrt. Und ich werde herausfinden, was mit ihm passiert ist."
 

"Die Welt ist groß. Es kann dauern, bis du den Funken findest. Und niemand weiß, was damit passiert ist. Es gibt Millionen von Menschen auf der Welt, und niemand kann vorhersagen, ob du erkennst, wenn du vor dem richtigen Menschen stehst. Du hast die Summe aus ihrem Funken und ihren Erfahrungen geliebt. Und niemand weiß,", sie griff sanft nach seiner Hand, "was damit nach einer Reinkarnation passiert. Ich will nicht, dass du enttäuscht wirst."
 

Die Mitternachtssonne erhob sich langsam schräg hinter ihnen über den Horizont und zeichnete harte, blasse Schatten auf Selys' Gesicht. Lescale biss sich auf die Lippe. Er wusste, dass Selys Recht hatte.
 

"Ich werde sie trotzdem suchen. Ich könnte den Suchbereich eingrenzen, könnte den Vortex hier nutzen, um zu sehen."
 

Selys senkte den Kopf.
 

"Aber zu welchem Preis? Als wir Scavy dorthin brachten, heilte die Magie zwar ihren Körper, aber sie litt jahrelang unter den psychischen Folgen. Albträume, Panikattacken..."
 

Lescale zuckte mit den Achseln.
 

"Es wäre nicht das erste Mal, dass ich einen Vortex nutze. Und Schlaf liegt in nächster Zeit nicht auf meiner Prioritätenliste."
 

"Du verdrängst wieder", tadelte Selys sanft und legte ihre Hand über seine.
 

Lescale schwieg. Lange sah er auf Selys' schlanke Finger herab, die sich um die seinen schmiegten.
 

"Und du? Willst du nicht wissen, was nun mit ihr geschieht? Hast du dich mit ihrem Tod abgefunden?"
 

Selys' Gesicht lag im Schatten; als sie antwortete, klang ihre Stimme ruhig und sanft, aber bestimmt.
 

"Wir sind Atachronai. Unser Leben besteht daraus, zu akzeptieren, dass wir uns von allem verabschieden müssen. Die Welt wandelt sich um uns herum und wir sehen dabei zu. Das ist unser Los."
 

"Ein Los, um das ich nicht gebeten habe." Lescale entzog Selys seine Hand.
 

Selys senkte resigniert den Kopf.
 

"Du wirst in den Vortex gehen, nicht wahr?"
 

Lescale nickte.
 

Selys setzte sich leicht schräg zu ihm, sodass sie ihn direkt anschauen konnte.
 

"Dann zeig es mir jetzt, bitte. Zeig mir, wie sie starb."
 

Lescale wandte seinen Blick von dem bleichen Panorama der Stadt in der Mitternachtssonne ab und schaute ihr fest in die Augen.
 

"Warum?"
 

In seinem Blick stritten quälender Selbsthass und Trauer.
 

"Es ist die letzte Erinnerung an Scayes Lorande, die nienische Göttin der Morgenröte. Du wirst in den Vortex gehen und sehen. Aber diese Scayes wird nun für immer fort sein."
 

Selys' Stimme klang beinahe feierlich.
 

"Schließe deine Augen für mich."
 

Sie hob ihre Hand, strich mit ihren kühlen Fingern über Lescales Schläfe und zeichnete mit dem Daumen die feine, helle Linie auf seiner Stirn nach, die seine Augenbraue teilte und sich unterhalb des Auges über die Wange zog. Die sanfte Berührung erzeugte einen Kontrast zu ihrem harten, unerbittlichen Blick.
 

"Erzähle mir die Geschichte hinter dieser Narbe."
 

Lescale hob wie in Trance seine Hand ihrem Gesicht entgegen. Sie zitterte unmerklich.
 

"Warum tust du mir das an?", hauchte er.
 

Selys lächelte, als seine Fingerspitzen sich an ihre Schläfe legte.
 

"Ich habe mich noch nicht ganz mit ihrem Tod abgefunden. Du hast damals im Prozess nicht ausgesagt. Du bist das letzte Fragment, das noch fehlt. Der Abschluss."
 

Lescale atmete tief ein und schloss zögerlich die Augen. Er musste die Erinnerung nicht rufen, sie war sofort da und nahm Gestalt vor seinem inneren Auge an.
 


 

Der Staub war überall. Er bildete einen undurchsichtigen Schleier über dem Schlachtfeld und dämpfte das karge Sonnenlicht zu einem diffusen bräunlichen Schimmer. Es war eine Mischung aus Staub, Asche und Rauch, die in den Atemwegen brannte und Tränen in die Augen trieb.
 

Es stank nach verbranntem Fleisch und darunter lag der dezente Geruch frischen und nicht mehr ganz so frischen Blutes. Der unverkennbare Dunst des Todes.
 

Die Ebene roch nach Tod und sie war im wahrsten Sinne des Wortes tot. Auf dem Boden lagen Leichen, verstümmelt oder in Blutlachen liegend, mit kalten, leblosen Augen, auf denen sich mit der Zeit eine dünne Staubschicht absetzte. Selbst die Magie war hier draußen tot.
 

Sein Blick glitt über die toten Gesichter und bei jedem Gesicht, dass ihm vage bekannt vorkam, zwang die Macht ihn, länger hinzusehen, kostete seine Verzweiflung voll aus. Sein Körper blieb stehen und er schaute abwartend in den konturlosen Dunst.
 

"Zeig dich, mieser Feigling!"
 

Er hatte hier auf jemand Bestimmten gewartet. Scayes.
 

/Nein. Neinneinnein, tu das nicht! Lauf weg, bevor er mich zwingt, dir etwas anzutun!/
 

Die Schwaden teilten sich und gaben den Blick frei auf einen hochgewachsenen Frauenkörper, der sich gemessenen Schrittes näherte. Eine tiefe Panik stieg in ihm auf, als er das vertraute Gesicht erblickte.
 

"Der Schlächter von Viblin. So treffen wir also aufeinander." Abscheu spiegelte sich in ihrem Ton.
 

Er zuckte innerlich zusammen. Schlächter von Viblin. Das konnte nur bedeuten...
 

/Scavy. Oh nein, bitte nicht Scavy!/ Sein Innerstes schrie die Worte hinaus in die Leere, wo sie klanglos verhallten.
 

"Scayes, Liebes. Kämpfe nicht gegen mich, du weißt, wohin das führt. Die Vandor sind dekadent geworden, und der Rat korrupt. Ihre Zeit ist vorüber. Scavy wollte das nicht einsehen, aber du... du bist eine kluge Frau. Schließe dich uns an." /Ich werde dir nie wieder in die Augen schauen können. Bitte verzeih mir./
 

Scayes war stehen geblieben. Ihre Hände lagen lose auf den Griffen ihrer schlanken Rakanaschwerter.
 

"Dekadent. Reichlich seltsame Wortwahl für einen Krieger, der eine Krone trägt." Sie legte den Kopf schräg. "Trägt man das so im Norden?"
 

Für einen jähen Augenblick fiel alle Panik und Trauer von ihm ab. Sie hatte die Wahrheit erkannt. Es konnte nicht anders sein. Sie wusste, was dieser Reif anrichtete, und sie war hier, um ihn zu zerstören. Doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Sie würde es nicht schaffen.
 

"Oh dies", seine Hand berührte das silberne Metall an seiner Stirn. "Du warst einst eine Göttin unter den Menschen. Warum solltest du das nicht wieder sein? Wir sind Atachronai. Wir haben jedes Recht, über die Welt zu herrschen. " /Oh Sca, lauf weg, solange du noch kannst. Diesen Kampf kannst du nicht gewinnen. Bitte, lauf!/
 

Scayes setzte sich wieder in Bewegung, ging in langsamen Schritten um ihn herum.
 

"Lescale, es ist seltsam. Du siehst aus wie Lescale. Deine Stimme klingt wie Lescales. Aber deine Worte... sie könnten direkt aus dem Munde Koreths stammen. Wie kann das sein?" Ihre Stimme war ruhig und überlegt, als würde sie auf Zeit spielen.
 

/Sie stammen aus dem Munde Koreths./
 

"Koreth hat Recht mit allem. Sieh es aus anderer Perspektive, und du wirst verstehen." /Dreckiger Bastard, du wirst sie niemals überzeugen können!/
 

"Ich war in der Tat eine Göttin. Die Göttin der Himmelsröte. Und es gibt eine Legende über die Göttin Lorande. So wie das Abendrot das Ende des Tages besiegelt, besiegelt sie das Ende derer, die Leid verbreiten. Und genau das gedenke ich zu tun."
 

Er lachte.
 

"Du kannst mich nicht töten. Du liebst mich zu sehr."
 

Scayes zog ihre Schwerter.
 

"Ich sprach nie davon, dich zu töten."
 

/Tu mir das nicht an. Du kannst nicht gewinnen./
 

Ihre schlanke Gestalt setzte unvermittelt zum Angriff an. Er blockte eines der Schwerter mit seinem Dolch und wirbelte zur Seite, um dem anderen auszuweichen.
 

Koreth beherrschte das Spiel mit seinem Körper perfekt. Schlag um Schlag tauschte er mit Scayes aus, und jeden Angriff parierte das kalte Metall ihrer Klingen, als wüsste sie schon, was er als nächstes plante. Sie hatten oft miteinander trainiert, sie kannte seinen Rhythmus, seine Bewegungsmuster, seine Risikobereitschaft. Aber diesmal war nicht er es, der die Entscheidung traf, wie viel er riskierte.
 

Ein Hieb sauste auf seinen Kopf zu. Er war zu kurz, um ernsthaften Schaden zuzufügen, aber er würde ihn treffen. Und Scayes linke Seite war ungeschützt. Alles in ihm wollte ausweichen oder blocken, aber sein Körper bewegte sich keinen Fingerbreit aus der Linie, stattdessen schien die Zeit langsam zu gefrieren, während seine rechte Hand unaufhaltsam das Schwert auf ihre Brust zu stieß. Es traf genau zwischen die dritte und vierte Rippe und bohrte sich durch die Rüstung in ihren Körper.
 

/NEIN!/
 

Ein brennender Schmerz explodierte auf seiner Stirn. Die Spitze ihres Schwertes schnitt in seine Haut und traf auf das spröde, silberne Metall des Reifs. Er versuchte noch, sich aus dem Schlag herauszudrehen, aber die Bewegung kam zu spät. In einem ohrenbetäubenden Klirren zersplitterte das Metallband und die Schwertspitze zog eine blutige Bahn über seine rechte Gesichtshälfte.
 

Er war frei. Sein Körper taumelte zurück, noch vom Schwung der Ausweichbewegung getragen.
 

/Nein. Nein./
 

"Nein!"
 

Seine Muskeln gehorchten wieder ihm selbst. Scayes stand immer noch an derselben Stelle, die Schwerter waren ihr aus den Händen gefallen. Beinahe ungläubig tastete sie mit der Hand nach der Wunde und betrachtete die dickflüssige, rote Flüssigkeit, die an den Fingern klebte, bevor ihre Knie unter ihr nachgaben.
 

Klirrend fielen Schwert und Dolch zu Boden, als er zu ihr stürzte und ihren Körper auffing, bevor er auf den Boden aufschlagen konnte.
 

"Sca! Oh Sca, lass mich nicht allein!"
 

Ihr Blick fand sein Gesicht und ihre Lippen formten ein angestrengtes Lächeln. Zitternd hob sie ihre blutverschmierte Hand.
 

"Les..."
 

Sie berührte seine unversehrte Wange und ihre Gedanken, vermischt mit roten Schwaden des Schmerzes vermischten sich mit den seinen. Erinnerungen stoben wie die Funken eines in sich zusammensinkenden Feuers auf.
 

/Ich liebe dich./
 

Er war umgeben von einem hellen Wirbel ihres Geistes, in den sich die dunklen Fetzen seiner Angst mischten.
 

"Du bist frei", hauchte sie.
 

Die strahlende Helligkeit ihrer Gedanken wurde schwächer. Ihre Hand sank zu Boden und ihre Augen wurden starr.
 

Und er war allein. Allein im Auge eines verzehrenden dunklen Wirbelsturms aus Trauer, Angst, Schmerz und Wut, die sich einen Weg durch seinen Körper bahnten und als unirdischer Schrei seine Kehle verließen.
 


 

Lescale öffnete die Augen und sah in Selys' Gesicht. Ihre Augen waren schreckgeweitet und ihre Lippen zu einem erstickten Schrei geöffnet. Er ließ seine Hand zurück auf seinen Oberschenkel fallen, als hätte er sich an ihrer Stirn verbrannt.
 

Selys' Atem ging schnell und flach, als sie ihrerseits wie in Zeitlupe ihre Hand zurückzog.
 

"Tief atmen. Das hilft gegen die Emotionen."
 

Lescales Stimme klang heiser und brüchig und eine einzelne Träne rann über die helle Linie auf seiner rechten Wange.
 

Selys schluckte mühsam und atmete ein wenig langsamer, das Gesicht in den Händen vergraben. Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen ihnen aus, nur gestört von Selys' unregelmäßigen Atemzügen, die langsam zu einem verhaltenen Schluchzen abebbten.
 

Lescale legte sanft einen Arm um ihren bebenden Körper und zog sie an sich. Schwere Tränen tropften von Selys' Wange und hinterließen hellgraue Flecken auf dem dünnen weißen Stoff ihres Kleides.
 

Schließlich ließ das Zittern nach. Selys richtete sich ein wenig auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
 

"Ich war keine tausend Schritt entfernt", brachte sie hervor. Neue Tränen suchten sich ihren Weg über das blass schimmernde Karamell ihrer Haut nach unten.
 

"Nicht, Sel." Lescale strich die glänzenden Tropfen fort. "Du hättest nichts tun können."
 

Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln.
 

"Schuld ist nicht objektiv." Ihre Stimme klang bitter. "Aber nun verstehe ich, dass du damals nicht im Prozess aussagen wolltest."
 

Lescale verzog einen Mundwinkel.
 

"Zu viele Emotionen, zu wenig Abstand. Vielleicht war es egoistisch, aber ich hätte es nicht ertragen können."
 

"Scavy hat das bis heute nicht verstanden. Sie denkt, alles, was du damals in der Anhörung gesagt hast, sei bloß eine Lüge, um die Strafe zu mildern. Ich habe oft versucht, mit ihr zu reden, aber ich dringe nicht mehr zu ihr durch."
 

Lescale starrte in den Abgrund zu seinen Füßen und versuchte, sich an das blutüberströmte Etwas zu erinnern, das sein Körper, in dem er ein Gefangener gewesen war, auf einem anderen Schlachtfeld zum Sterben zurückgelassen hatte, die roten Haare in beißendem Kontrast zu dem dunkleren Blut.
 

"Sie war so mutig. In ihren Augen stand die Angst, und trotzdem wich sie keinen Fingerbreit, bis alle anderen in Sicherheit waren." Stolz und Zärtlichkeit klangen in Lescales Stimme. "Törichte, kleine Scav. Wäre sie doch nur früher weggelaufen."
 

Selys seufzte schwer. "Nun, ich schätze, dasselbe könnte ich über dich behaupten."
 

Lescale kräuselte die Stirn.
 

"Und sieh, wohin es uns geführt hat."
 

Selys deutete mit einer vagen Bewegung auf die Gebäude vor ihnen.
 

"Es hat Astarys gerettet. Es gab uns die Waffe, die ganz Vandria den Frieden brachte. Dich."
 

Lescale schnaubte verächtlich.
 

"Eine Waffe, die zahlreiche Unschuldige auslöschte."
 

"Und noch viel mehr Unschuldige rettete. Du bist weit mehr als nur eine Waffe. Wir beide kennen die vielen Gesichter des Krieges nur zu gut." Selys berührte sachte Lescales rechte Schulter, dort, wo unter dem weichen Leinenstoff eine uralte, sternförmige Narbe auf seiner Haut prangte.
 

"'Krieg bringt das Schlimmste in uns zum Vorschein, aber manchmal auch das Beste.'"
 

Lescale quittierte das Zitat mit einem unbefriedigten Seufzer.
 

"Erzähl' das Scavy."
 

Selys stand von der Dachkante auf und rückte den wallenden Stoff ihres Kleides zurecht.
 

"Nein. Ich werde mich nicht weiter in eure Familienangelegenheiten einmischen. Ich gehe jetzt schlafen, morgen wird ein anstrengender Tag."
 

"Tut mir leid, falls du Albträume bekommst von...", er machte eine unbestimmte Geste und ließ den Satz unvollendet.
 

Selys lächelte. "Du solltest auch versuchen, zu schlafen. Auf Dauer laugt es den Geist aus, wenn du die Müdigkeit mit Magie bekämpfst. Gute Nacht, Les."
 

Sie wandte sich ab und verschwand hinter den Treppenstufen.
 

Lescale starrte in die Tiefe vor sich. Was würde passieren, wenn er hinabspränge? Würde die freie Magie seinen Fall bremsen? Oder würde sein Körper vom Aufprall zerbrechen, nur um in wenigen Momenten wieder gerichtet zu werden?
 

Fast war er versucht, es auszuprobieren, doch eine Bewegung unten auf den Wegen vor dem Gebäude erhaschte seine Aufmerksamkeit.
 

Eine Gestalt, zu klein für Selys, die ohnehin in eine andere Richtung laufen würde, die Statur verhüllt von einem leichten Mantel gegen die nächtliche Kühle, lief aus Richtung des Laborgebäudes auf ihn zu. Das Licht der Mitternachtssonne spiegelte sich in langen, silbrigen Haaren. Das musste Lady Norvin sein. Selys hatte sie kurz erwähnt bei ihrem Rundgang, als sie am Labortrakt vorbeigegangen waren, in dem noch Licht in einem der oberen Räume brannte. Aus der Ferne sah sie Kijna verblüffend ähnlich.
 

Einen Moment lang wähnte sich Lescale in die Vergangenheit zurückversetzt. Kijna war stets bis spät in die Nacht im Labor gewesen und hatte über ihren seltsamen Apparaten gebrütet. Wenn er zu der Zeit, als sie nach Hause ging, auf ebendieser Dachkante gesessen hatte, hatte sie nach oben geschaut und grüßend den Arm gehoben. Würde Norvin ebenso nach oben schauen wie ihre Vorfahrin?
 

Sein Blick folgte der Gestalt, doch ihre Aufmerksamkeit blieb auf den Boden vor sich gerichtet. Norvin bog vor dem Hauptgebäude nach rechts ab und verschwand aus seinem Blickfeld. Mit einer nicht wirklich rationalen, leisen Enttäuschung stand Lescale auf und verließ die Dachfläche.
 

Was sollte er nun tun? Er konnte zurück zu dem leeren Haus gehen, weiter in der Chronik lesen, doch er verspürte wenig Lust auf die wenig unterhaltsame Schreibart der Skriptoren. Selys hatte ihm Schlaf empfohlen, doch ganz abgesehen davon, dass er in Ermangelung eines Bettes es sich wohl auf dem Boden gemütlich machen müsste, die Aussicht auf Alpträume ließ ihn den Gedanken schnell verwerfen.
 

Er war am Ende der Treppenstufen angekommen und ging durch die menschenleere Eingangshalle der Granida. Vor dem schweren Portal blieb er stehen. Vielleicht war die Idee, die in ihm aufkeimte, auch nur der Flasche carischen Weins geschuldet, aber sie erschien ihm gut genug, sie nicht gleich zu verwerfen. Statt das Gebäude zu verlassen, trat er in den Korridor zur Rechten, folgte seinem Verlauf bis zum Ausgang an der nördlichen Seite. Er verließ das Gebäude und suchte sich seinen Weg durch die Straßen oberhalb der Schul- und Forschungsgebäude.
 

Dort, wo die Straßen in Richtung des Stadtzentrums allmählich an Steigung zunahmen, blieb er vor einem stattlichen, weißen Haus stehen. Eine kopfhohe Mauer umgab das angrenzende Grundstück, das schmale Tor darin ließ sich lautlos öffnen.
 

Lescale betrat den Garten und schloss die Pforte hinter sich. Ein steingepflasterter Weg führte durch eine beidseitig von überbordenden Blumenbeeten gesäumte Serpentine zum seitlich gelegenen Hauseingang. Bei dem Gedanken an die Wüstenei hinter seinem Haus kam Lescale nicht umhin, einen leisen Groll zu verspüren.
 

Statt dem Weg zur Haustür zu folgen, ging er weiter an der Hauswand entlang, bis er hinter dem Haus auf der Terrasse ankam. Eine schmale Wendeltreppe führte ihn von dort auf den Balkon im ersten Stock, dessen Tür wie erwartet offen stand, um die Kühle der Nacht in das Haus zu lassen. Er zog die Schuhe aus und trat barfuß über die Schwelle.
 

Lescale atmete tief ein. Wie jedes Haus hatte auch dieses einen ganz eigenen Geruch. Es erinnerte ihn ein wenig an Lavendel, vermischt mit etwas Fruchtigem. Er ging langsam durch das Zimmer, es war noch immer das Wohnzimmer, in den Flur, an dessen Ende eine Tür nur angelehnt war.
 

Sie knarrte leicht, als er sie öffnete. Im Halbdunkel der schräg durchs Fenster fallenden Mitternachtssonne erkannte Lescale ein Bett, in dessen zerwühlten Laken jemand lag. Er ging langsam um das Bett herum und betrachtete das Gesicht, das halb verdeckt von einer roten Haarlocke auf dem Kissen ruhte.
 

Scavy. Zwar hatte Selys ihm vor seiner Verbannung noch mitgeteilt, dass sie aus dem Koma erwacht war, aber er hatte sie seit jenem furchtbaren Tag auf dem Schlachtfeld in Viblin nicht mehr gesehen. Behutsam strich er die Haarlocke aus ihrem Gesicht. Sie sah so friedlich aus, ganz anders als bei ihrer letzten Begegnung.
 

Lescale sah sich im Zimmer um. Außer einem Regal mit einigen Büchern befand sich nichts in dem Raum, was auf ihr Privatleben hindeutete. Auf dem Nachttisch lag ein verzierter Dolch, den er sofort an seinen Umrissen erkannte.
 

Wie richtig Selys doch lag. Scavy würde gar nicht gut auf ihn zu sprechen sein.
 

Scavys Körper bewegte sich leicht und ihre Augenlider flatterten.
 

Lescale erstarrte, als sie ihre Augen aufschlug.
 

"Hallo, Baba. Wieder hier, um mich zu töten?"
 

Ihre Hand ergriff den Dolch auf dem Nachttisch. In einer fließenden Bewegung richtete sie sich auf und schleuderte ihn auf Lescales Kopf zu. Seine Reflexe bewahrten ihn vor einem schmerzhaften Treffer und der Dolch kam klingend in einer der Regalbohlen hinter ihm zum Stillstand.
 

Lescale wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Scavy sich vom Bett erhob.
 

"Ganz schlechter Zeitpunkt, ich muss noch eine Moro schälen."
 

Sie verließ ohne einen weiteren Blick zurück das Zimmer.
 

Lescale begriff. Sie war nicht wirklich wach, sie schlafwandelte. Er drehte sich um und inspizierte den Dolch. Er steckte fast einen Fingerbreit im Holz und die Kerben rundherum verrieten ihm, dass das nicht das erste Mal war, dass er dorthin geworfen worden war.
 

Er verließ das Schlafzimmer und folgte den Geräuschen in die Küche neben dem Wohnzimmer, wo Scavy mit ausdruckslosem Gesicht am Küchentisch saß und mit einem kleinen Küchenmesser eine Moro schälte, deren süßlicher Geruch sich im Raum ausbreitete.
 

Lescale lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete seine Tochter, die wie eine völlig Fremde dort in der Küche saß und konzentriert die gelborangene Frucht bearbeitete.
 

"Es tut mir leid, dass ich versagt habe. Ich habe euch im Stich gelassen, euch alle. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht."
 

Scavy hob den Kopf und starrte ihn an. Ihr Gesicht war leer wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.
 

"Selys behauptet doch immer, du wärest gar nicht schuld an Mommas Tod. Warum entschuldigst du dich dann?", fragte sie emotionslos, während ihre Hände mechanisch weiterarbeiteten. Ihre Stimme klang ein wenig undeutlich.
 

"Das alles wäre nicht passiert, wenn ich mich in Sannord geopfert hätte. Aber ich war nicht mutig genug. Ich bin nicht wie Scayes. Ich bin nicht wie du. Ich war nicht imstande, den Weg zu Ende zu gehen, und das tut mir so unendlich leid." Er konnte dem anklagenden, starrenden Blick Scavys nicht länger standhalten und senkte den Kopf.
 

"Oh ich bin sicher, dass du bis zum Letzten gegangen wärst. Wenn du es gewollt hättest. Insgeheim warst du schon immer auf Koreths Seite."
 

Sie zerteilte die Moro in ihre Septen mit dem roten Fruchtfleisch und biss hinein, sodass sie aufplatzte und sich ein Rinnsal hellroten Safts von ihren Lippen zu ihrem Kinn bildete. Lescale trat langsam näher und setzte sich ihr diagonal gegenüber.
 

"Wir kannten uns seit Langem, aber standen nie auf einer Seite. Warum hätte ich ihn überhaupt töten sollen, nach der zweiten Schlacht um Sannord." Lescale schüttelte den Kopf. "Er hatte gewonnen. Astarys stand kurz vor dem Fall. Für ihn lief alles nach Plan."
 

Scavy zögerte einen winzigen Augenblick mit ihrer Antwort.
 

"Wer kennt schon die Gedankengänge eines Irren. Momma hätte nicht versuchen sollen, dich zu retten."
 

Lescale lächelte schief.
 

"Endlich etwas, wo wir uns einig sind. Nichtsdestotrotz hat sie es getan und mich aus Koreths Bann befreit. Sie hat immer geschafft, was sie sich vorgenommen hat."
 

"Willst du die letzte?"
 

Scavy hielt ihm die letzte Septe der Moro entgegen und leckte ihre Finger sauber. Perplex nahm er sie entgegen.
 

"Baba?" Sie wischte den Morosaft mit dem Handrücken von ihrem Kinn ab.
 

"Ja?"
 

"Wirst du je zurückkommen nach Astarys?" Ihr Gesicht war noch immer ausdruckslos, doch ihr Blick schien etwas lebendiger zu werden.
 

Lescale überlegte einen Moment, was er darauf antworten sollte.
 

"Wenn ich es tue... werde ich mit einem Dolch zwischen den Augenbrauen empfangen?"
 

Scavy wandte das Gesicht ab und schwieg.
 

"Ich weiß es nicht."
 

Sie stand auf und verließ die Küche ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Aus dem Flur hörte er die Tür zum Schlafzimmer knarren und das leise Rascheln ihrer Bettlaken, als sie sich zurück ins Bett legte.
 

Unschlüssig betrachtete Lescale das Stück Moro. Die ganze Szene wirkte so surreal, dass er beinahe glaubte, er habe sich das alles nur eingebildet. Er biss hinein und die Septe zerplatzte mit ihrer üppige Süße in seinem Mund. Nein, er hatte sich das nicht eingebildet.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Vorteil an LaTeX: wunderschönes Pdf.
Nachteil an LaTeX: man kann den Text nicht aus der .pdf kopieren ohne dass 5000 Ligaturen durch Leerstellen ersetzt werden, man kann den Text nicht aus der .tex kopieren, ohne dass die Satzkommandos mitkopiert werden
>.<

However, ich hoffe es findet hier den ein oder anderen Leser. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jo. Das wärs soweit. Mehr ist in Arbeit :D Suche nach wie vor jemanden, mit dem ich den Plot diskutieren kann etc. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Inflexus
2020-04-25T16:19:07+00:00 25.04.2020 18:19
Ich mag deinen Schreibstil und deine Formulierungen sehr ^^


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