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Pfirsich-Freunde: Nicht nur Liebe geht durch den Magen

Wie sich mithilfe eines ererbten oder gestohlenen Messers neue Freunde finden lassen
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier ist das erste Kapitel. Es werden höchstwahrscheinlich noch zwei bis drei weitere folgen. Viel Spaß damit :) Komplett anzeigen

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Was du nicht willst, das man dir tu', das füge einem andern zu!


 

*^*
 

Durch die altehrwürdigen Korridore des kaiserlichen Palastes in Rakushou, der Hauptstadt des mächtigen Kou Reichs, schallte ohrenbetäubender Lärm. Die Bewohner des riesigen Anwesens versuchten tunlichst, das brüllende Geschrei aus ihren Köpfen zu verdrängen. Jede Person in der näheren Umgebung wusste sofort, wem sie diese abendliche Ruhestörung zu verdanken hatten und niemand verspürte den überwältigenden Drang, sich in dessen Angelegenheiten einzumischen. Den dritten Prinzen, Kouha Ren, beließ man in dieser Stimmung besser in der Obhut seiner älteren Brüder, wenn einem sein Leben lieb war…
 

~
 

„Aber Bruder Mei!“, quengelte er verzweifelt.

Keine Reaktion.

Mit einem wütenden Schrei krallte sich besagter Prinz an den mit Gold durchwobenen Teppichfransen fest. „Lass mich doch hier bleiben! Bitte sag Kouen, dass ich euch ganz sicher nicht bei der Arbeit stören werde! Bitte Koumei!“

Doch auf Kouhas erbärmliches Flehen folgte keine Gnade: Der rothaarige junge Mann, den er zu überzeugen versuchte, bedachte ihn im Dämmerlicht des Raumes mit einem müden Blick aus rötlichen Augen. Nicht sonderlich erfolgreich versuchte er, seine dürren Arme fester um die Brust des krakeelenden kleinen Jungen zu schlingen. „Kouha, das kann ich nicht machen. En und ich haben noch viel Arbeit zu erledigen. Versteh das doch!“, keuchte er angestrengt, während er ihn unter Aufbietung all seiner Kräfte von dem Teppich fortzerrte.

Zum Glück lag dessen anderes Ende unter einem mächtigen Sandelholzschrank eingeklemmt, ansonsten hätte das kleine Monster mit der grellpinken Haarfarbe wohl die ganze Einrichtung durcheinandergebracht. Nun zappelte er wie von Sinnen in Koumeis Armen herum, sodass dieser ihn beinahe fallen gelassen hätte. Doch Kouha gebärdete sich immer noch wie wild, zeigte keinerlei Einsehen: „Nein, ich verstehe überhaupt gar nichts und ich will es auch gar nicht verstehen! Ich will, dass ihr endlich zu mir kommt und nicht die ganze Zeit auf eure blöden Schriftrollen starrt!“

Koumei sah ihn mitleidig an. „Das ist nun einmal unsere Pflicht“, erklärte er ruhig.

„Tu nicht so, als ob du mich verstehen würdest! Du willst doch sowieso nur deine Ruhe vor mir haben!“

Nun wirkte der ältere Bruder ernsthaft betroffen. Sein immerzu erschöpftes Gesicht mit den tiefschwarzen Augenringen wurde ganz blass. „Nicht doch… Es passt nur momentan wirklich schlecht, Kouha. Kouen kommt gleich hierher und wir müssen in Ruhe nachdenken. Es ist nicht so, dass wir dich nicht dabei haben wollten, aber wir müssen uns sehr konzentrieren, um keine Fehler zu machen, da haben wir leider keine Zeit, um uns mit dir zu beschäftigen. Ich weiß, das ist traurig… Morgen… ja morgen Abend komme ich zu dir und lese dir eine Gutenachtgeschichte vor. In Ordnung?“
 

Kouha wimmerte voller Zorn. Wie konnte sein älterer Bruder nur so gemein sein? Warum versuchte er, ihn auf diese lächerliche Weise zu vertrösten? Er wusste ganz genau, dass er morgen ebenfalls keine Zeit für ihn haben würde und Kouen auch nicht. Sein hässlicher, zotteliger Bruder behandelte ihn einfach ungerecht! Wieso meinte er, in Kouhas Anwesenheit nicht arbeiten zu können? Er war doch immer sooo lieb und nett! Weshalb versuchte Mei die ganze Zeit, ihn aus seinen Gemächern zu schieben? Wollte er ihn nicht bei sich haben? War er sauer?
 

Dabei war Kouha ausnahmsweise ganz brav gewesen! Er hatte Koumeis Diener und Leibwächter Chuu'un lieb gefragt, ob er den Gang zu den Gemächern seines Bruders betreten durfte und dieser hatte zugestimmt. Vollkommen ruhig und zurückhaltend hatte der kleine Prinz an die Tür geklopft und mit freundlicher, gedämpfter Stimme gefragt, ob Koumei Zeit für ihn hätte. Erst, als er keinerlei Antwort erhalten hatte, obwohl er schon eine gefühlte Ewigkeit vor dem Raum stand, war der Neunjährige vorsichtig hineingeschlüpft. Doch kaum hatte Kouha das Zimmer betreten, sah er sich prompt dem finsteren Gesicht seines zweitältesten Bruders gegenüber, der ihn anwies, den Raum schleunigst zu verlassen. Natürlich ging das Kouha mächtig gegen den Strich. Mittlerweile währte ihr verbitterter Machtkampf schon eine halbe Stunde lang und keiner der beiden wollte nachgeben.
 

Kouha klammerte sich voller Trotz an jeglichen feststehenden Gegenstand im Gemach seines Bruders, der hilflos versuchte, ihn davon abzuhalten und irgendwie vor die Tür zu setzen. Wer die elende Schlafmütze und schwächlichste Person der Welt namens Koumei Ren kannte, wusste natürlich, dass dieser sein Ziel nicht einfach so durchsetzen konnte. Bis jetzt waren sie dem Ausgang nicht einmal annähernd nahe gekommen, da das kleine Biest es immer wieder schaffte, sich dem Griff des Älteren zu entwinden.
 

Kouha erfüllte dieser Umstand mit herrlicher Genugtuung. Er wusste, dass er über viel mehr Energie als Koumei verfügte und kostete seine Macht liebend gern aus. Trotz seiner geringen Körpergröße jagte er vielen Menschen panische Angst ein. „Lass mich los!“, keifte er und trat, schlug und kratzte so heftig um sich, dass es nicht lange dauerte, bis er ein schmerzliches Stöhnen vernahm.

Der ohnehin schwache Griff um seinen Bauch lockerte sich endlich. „Kouha!“, jaulte sein Bruder erbärmlich und krümmte sich ein wenig. Da er immer noch stand, konnten die Schmerzen jedoch nicht allzu dramatisch sein.

Unbeeindruckt krabbelte der kleine Junge in das große Himmelbett, welches mitten im Raum stand und schlang seine Arme wie eine Würgeschlange um einen der Bettpfosten. Aus einer Falte seines Nachtgewandes zog er seinen größten Schatz und seine beste Waffe hervor: Ein blankpoliertes Messer, dessen Schneide im Schein der Kerzen bedrohlich aufblitzte.
 

„Nein, nicht schon wieder!“, rief Koumei vollkommen entnervt aus. Es klang, als würde die Anstrengung ihn gleich umbringen. Eigentlich wäre Entsetzen angebrachter gewesen, wenn man ein Kind mit einem, nun ja…, messerscharfen Gegenstand in der Hand erblickte. „Ich habe es dir doch gestern erst abgenommen, wieso hast du es so schnell wieder bekommen?“, stöhnte er und rieb sich geschafft über die Augen.

„Bruder En hat es mir gegeben!“, krähte Kouha und fuchtelte besorgniserregend mit dem Messer in der Luft herum. Ein breites Lächeln verzerrte seinen Mund zu einer beängstigenden Grimasse. Jetzt war er eindeutig der Überlegene. Genau, er würde Koumei einfach erpressen, bis dieser ihn hierbleiben ließ und ihm vorlas.

„Gib es her.“

„Niemals!“, zischte der Junge. „Dieses Messer ist ein Erbstück meiner Mutter. Eine gefürchtete Kriegerin aus dem Kouga-Clan! Es ist sehr kostbar und sehr, sehr scharf! Soll ich’s dir zeigen?!“

„Jetzt geht das schon wieder los. Ich kann dir zwar schlecht Vorwürfe machen, dass du in einem fort lügst, wo ich selbst mich ab und an dieser Strategie bediene, aber hör endlich mit diesem Quatsch auf“, seufzte Koumei dazwischen, als wäre sein faules Leben zu entbehrungsreich für ihn. „Deine Mutter lebt noch, sogar hier im Palast, also kann es sich hierbei nicht um ein Erbstück handeln. Du hast es vor ein paar Jahren in unserer Küche gestohlen und weigerst dich, es wieder herauszurücken. Wie oft haben wir das schon besprochen? Des Weiteren ist deine Mutter in Kou geboren und niemals Mitglied dieses Volkes gewesen. Das hast du dir nur ausgedacht, weil die Mitglieder dieses Clans oftmals Zöpfe tragen.“ Und weil du ohne deine blühende Fantasie die Ausgrenzung niemals überlebt hättest, schob er in Gedanken hinterher.

„Meine Mutter trägt aber keine Zöpfe! Ich trage Zöpfe!“, fauchte Kouha und war kurz davor, seinem Bruder an die Gurgel zu gehen. Er wagte ihm zu widersprechen? An seinen Worten zu zweifeln, die der reinen Wahrheit entsprachen?

„Aber manchmal flechtest du ihr welche. Behauptest du nicht außerdem oft, dass du selbst deine Mutter wärst?“, fragte Koumei sanft, als hielte er seinen kleinen Bruder für… geisteskrank?

Unrecht hätte er nicht damit, aber natürlich kam diese unterschwellige Unterstellung nicht gut an.

„Als ob ich von mir selber erben könnte!“, widerlegte Kouha das Argument aggressiv. Dann jedoch widersprach er sich plötzlich selbst: „Meine Mutter hat mir dieses Messer gegeben, als sie gestorben ist. Da war ich fünfzehn und der kleine Kouha noch gar nicht auf der Welt! Ich bin Kouhas Mutter. Sie ist wunderschön und trägt drei Zöpfe im Haar“, summte er vor sich hin, während er sich durch seine geflochtenen Ponyfransen strich.
 

Koumeis Gesichtszüge entgleisten verstört. Hätte er doch nur nicht mit Kouhas Macke angefangen. Er hatte sehr gehofft, war eigentlich auch lange davon ausgegangen, dass der Kleine mit der Zeit gelernt hatte, dass er nicht seine eigene Mutter war, sondern der Bruder von Kouen und Koumei Ren und Sohn des derzeitigen Kaisers. Scheinbar drang seine Verwirrung jedoch wieder an die Oberfläche, wenn er sich zu sehr aufregte. Am besten ließ man ihn in dieser instabilen Verfassung mit Richtigstellungen in Ruhe. Das machte erfahrungsgemäß alles nur noch schlimmer. „Du bist schlau für dein Alter. Selbst wenn dieses Gespräch zunehmend an Sinn verliert…“, murmelte der Ältere also lediglich in sich hinein.

Allerdings hatte er immer noch eine Aufgabe zu erfüllen: Das scharfe Messer zu erobern, damit hier nicht noch ein Unglück geschah. Bedächtig schätzte er die Entfernung zwischen ihnen ab. Dann bewegte er sich langsam auf Kouha zu.

„Komm mir nicht zu nahe!“, warnte ihn dieser. Sein Blick zeigte viel zu viel Irrsinn für einen Jungen dieses zarten Alters.

Koumei erwiderte nichts, sondern sah ihn lediglich traurig an. Er liebte seinen Bruder sehr, dennoch wünschte er, dass dieser sich ein wenig mehr so verhalten würde, wie andere Kinder es taten. Das fortwährende Stehlen von Küchenmessern machte ihn zu einer ernstzunehmenden Gefahr. Der Kleine zitterte vor wohliger Aufregung. Kein Wunder, dass alle anderen Leute ihn mieden und er niemanden außer seinen Brüdern hatte.
 

Kouha wartete nur darauf, dass sich Koumei näherte. Dann würde er ihm zeigen, dass er keinerlei Recht besaß, sein Erbstück zu stehlen! Sein blöder, feiger Bruder! Er sollte sich lieber mal richtig ausruhen, als sich immer abzurackern! Vielleicht wäre er dann endlich mal fitter und könnte mit ihm spielen. Dieser düstere Blick konnte einem wirklich Angst einflößen. Eigentlich konnte der Ältere nichts dafür, weil er bereits unvorstellbar viel schlief, aber Vertrauen erweckend wirkte er mit diesen Augenringen nicht grade. Er musste wahrscheinlich einmal eine ganze Woche durchschlafen, um sie los zu werden. Aber genaugenommen interessierte das Kouha überhaupt nicht. Nein, der kleine Prinz machte sich bereit. Adrenalin toste durch seine Adern. Das Herz pochte wild in seiner Brust. Gleich würde er sich verteidigen müssen! Koumei war ja so ein unheimlich hässlicher Zottel! Reflexartig umklammerte der Junge seine Waffe fester.
 

Der zweite Prinz beobachtete ihn prüfend. Er wusste ganz genau, dass ein wütender Kouha eine ernstzunehmende Gefahr für ihn darstellte und wollte ihn nicht unnötig weiter reizen. Aber er hasste es, das Küchenmesser in der Hand oder auch nur im Besitz seines kleinen Bruders zu wissen. Eine Waffe gehörte nicht in Kinderhände, egal wie gut sie damit umgehen konnten. Besonders bei Kouha stellte sie eine Bedrohung für die Palastbewohner dar, er wusste genau, dass der Jüngere zu gerne von ihr Gebrauch machte. Der Arme war manchmal völlig unberechenbar und redete heute beängstigend wirres Zeug, da musste man wirklich Acht geben… Aber was sollte man von einem Kind erwarten, das die Hälfte seines Lebens vollkommen abgeschottet von der Außenwelt nur in Gesellschaft einer psychisch labilen Mutter –die sich selbst für ein Neugeborenes hielt- aufgewachsen war und oftmals selbst in die Mutterrolle geschlüpft war? Brave Zurückhaltung sicher nicht, nein, Kouha wollte gesehen werden, vor allem von seinen Brüdern, sicherlich hatte er große Verlustängste.
 

Koumeis Herz wurde schwer, als er mit einer für ihn ungewöhnlichen Geschwindigkeit auf den Kleinen zusprang und die Hand mit dem Messer packte. Sofort stieß Kouha einen gellenden Zornesschrei aus und versuchte nach ihm zu treten, doch dieses Mal schaffte Koumei es, den Schmerz zu ignorieren, obwohl es ihm sehr schwer fiel, nicht einfach loszulassen. Verdammt, Kouha war ein kleiner Junge und er selbst war erwachsen, da sollte er doch wohl in der Lage sein, ihm ein verfluchtes Messer zu entwinden! Vielleicht würde diese Vorliebe für das zerstörerische Küchenutensil ja verfliegen, wenn er ihm irgendwie klar machen könnte, dass es tatsächlich kein Erbstück sondern eher Diebesgut war. Generell wunderte er sich, wie sein Bruder überhaupt zu dieser sinnlosen Ansicht gelangt war. Aber dazu hatte er keine Zeit. Sein Bruder zappelte verbissen und prügelte mit der freien Hand unbarmherzig auf ihn ein. Wer denken sollte, dass winzige Kinder keine Kraft besaßen und es niemals mit einem Erwachsenen aufnehmen könnten, der hatte Kouha noch nicht erlebt. Sein Griff um den Schaft seiner geliebten Waffe ließ sich kaum brechen. Als hinge sein Leben davon ab. Verzweifelt umklammerte er das Messer, wollte es um keinen Preis loslassen. Ehe Koumei es irgendwie schaffte ihm den Arm auf den Rücken zu verdrehen.

„Au! Ich hasse dich! Du tust mir weh!“, brüllte Kouha und kratzte mit der freien Hand über Koumeis Nase.

„Du mir auch!“, jaulte dieser. Mit einem überraschenden Kraftschub entriss er ihm endlich das Küchenmesser, welches für ein Gebrauchsutensil eine beachtliche Größe aufwies, und schleuderte es verblüffend treffsicher auf seinen Kleiderschrank, wo es zitternd im edlen Sandelholz stecken blieb. Besser im Schrank, als in irgendeinem Menschen. Koumei beglückwünschte sich erstaunt zu seinem außergewöhnlich gut gelungenen Wurf.
 

Sofort brach Kouha in heftiges Geschrei aus und der Ältere konnte ihn nicht länger bändigen: Seine hellroten Augen funkelten voller Empörung über diese ungerechte Behandlung.

Selbst Bruder Mei hält mich also auch nur für ein dummes, kleines Kind, dachte der dritte Prinz verbittert.

Dabei hatte er sich ihm gegenüber anfangs so liebevoll und fürsorglich verhalten, wie es nur ein richtiger Bruder konnte. Eigentlich hätte er ihn doch verachten müssen, weil seine Mutter nicht die Hauptfrau ihres Vaters gewesen war, sondern nur eine Verrückte, die sie in den hintersten Winkel des Haremsgebäudes weggesperrt hatten. Stattdessen hatte Koumei Kouhas Existenz ans Licht gebracht, ihn mit Kouen besucht und aus der verrückt machenden Isolation gerettet. Auch danach war es meist Koumei gewesen, der sich viel mit ihm beschäftigt hatte. Der Zottel mit dem Narbengesicht hatte ihn viele Dinge gelehrt und stets wundervolle Geschichten vorgelesen. Am liebsten mochte Kouha die mit viel Blut, Gewalt und Tod. Wenn er davon hörte, wie Menschen und Tiere litten, lief manchmal ein wohliger Schauer über sein Rückgrat. Während der sanfte Koumei versuchte, ihm diese Marotte auszutreiben, verfolgte der strenge Kouen eher die Methode, den Wahnsinn in nützliche Bahnen umzulenken und übte mit ihm den Schwertkampf. Er lobte stets Kouhas Kampfeswillen und seine Wildheit. Und zwar so sehr, dass dem Kleinen immer Tränen der Rührung in die Augen traten.
 

Nun jedoch brannte der Zorn in seinem Herzen. Besonders auf Koumei, der ihn einfach abschieben wollte, dabei brauchte Kouha doch dringend Aufmerksamkeit und liebevolle Zuwendungen. Die Langeweile im Palast erschien ihm unerträglich, Tag für Tag ein nicht enden wollender Strom von routinierten Abläufen und Rhythmen. Selbst jetzt im Sommer, wo er manchmal unerlaubterweise in den künstlich angelegten Wasserläufen im Palastgarten badete. Also umfasste er den Bettpfosten so fest er konnte und schnappte nach dem schwitzenden Koumei, der verzweifelt versuchte, ihn wieder in die Hände zu bekommen. Zufrieden bemerkte der Jüngere, dass der zweite Prinz bereits ausgelaugt um Atem rang. Tja, von stundenlangem Taubenfüttern und Herumliegen kam eben keine bemerkenswerte Kraft. Doch wie durch ein Wunder gelang es dem Älteren plötzlich ihn zu packen. Mit einem verzweifelten Ruck riss er Kouha von seinem Bett fort, sodass sie beide zu Boden taumelten. Krachend fielen sie übereinander und der dritte Prinz erkannte seine Gelegenheit sofort: Kaum lockerte sich der Griff des anderen, stürzte er sich auf ihn. Mit seinen kleinen Fäustchen schlug er auf ihn ein, kratzte wie eine tollwütige Bestie und als Koumei auf all das nicht reagierte, sondern überraschend fest die Arme um ihn warf, um ihn zu bändigen, knallte er seine Stirn gegen die des anderen. Mit aller Macht biss er seinen Bruder in die Wange. Sofort schmeckte er das Eisen des warmen Blutes, welches aus der Wunde drang. Berauschend. Der erbärmliche Laut der sich Koumeis Kehle entrang, weckte wahrscheinlich jeden Bewohner des Palastes auf, der aufgrund der späten Stunde bereits schlief. Winselnd ließ Koumei ihn los und presste mit Tränen in den Augen die Hand gegen seine Wange. Rote Tropfen fielen auf seine gelbe Seidenrobe und ruinierten den edlen Stoff für alle Zeiten. Befriedigt funkelte Kouha seinen weinenden Bruder an, der sich zitternd vor Schmerz am Boden wand. Das hatte er verdient!
 

Seine Euphorie sollte allerdings nicht lange währen:

„WAS GEHT HIER VOR?“

Mit einem lauten Knall flog die Zimmertür gegen die Wand.

Kouha erstarrte. Das war gar nicht gut!
 

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Spaß kann man denen nicht übersetzen, die keinen Spaß verstehen!


 

*^*
 

„WAS GEHT HIER VOR?!“

Mit einem lauten Knall flog die Zimmertür gegen die Wand. Erschrocken wich Kouha von seinem heulenden Bruder zurück, als auch schon Kouen hereingeschritten kam. Missmutig überlegte der Kleine, was er tun könnte, um sich keinen allzu großen Ärger einzuhandeln. Eigentlich gefiel Kouen sein wildes Temperament, doch wenn er in ein paar Augenblicken das Blut an Koumeis Wange bemerken würde, wäre es mit dem Spaß endgültig vorbei.

„En! Bruder Mei wollte mich einfach rauswerfen!“, rief er also und schaffte es, sogleich einen bösen Blick aufzusetzen.

Vielleicht würde der Älteste der Kou-Prinzen ein Erbarmen mit ihm haben. Immerhin wusste jeder, wie kläglich und leicht zu überwältigen Koumei war! Aber Kouen war nicht dumm. Er hinterfragte alles. Wirklich alles. Man konnte ihm einfach keine Lügen auftischen.

Natürlich erzielte Kouhas Rechtfertigung ebenfalls keinerlei Wirkung.
 

Kouen wirkte wütend. Seine glutroten Augen und sein ebenso rotes Haar loderten wie Feuer. „Ist das ein Grund, den gesamten Palast zusammenzubrüllen? Und anscheinend ist es nicht dabei geblieben!“ Sein ältester Bruder eilte mit wehenden Gewändern an Koumeis Seite und überprüfte unverzüglich dessen Verletzung.

Ungeduldig beobachtete Kouha wie er dem Schwächling wieder auf die Beine half. Koumei stieß ein paar jämmerliche Laute aus. Dieser lausige Schauspieler, wollte er damit noch mehr Mitleid auf sich ziehen, um es Kouha heimzuzahlen und seine Flunkerei entlarven?

Wahrscheinlich war das aber noch nicht der Grund, weshalb der älteste Kou-Prinz fassungslos den Kopf schüttelte. Für gewöhnlich war zwar auch Kouen der Meinung, dass ein paar Schläge dem alten Zottel guttaten, doch die Bisswunde in dessen Gesicht war selbst in seinen Augen zu viel des Guten.
 

„Was ist hier passiert?“, knurrte er bedrohlich.

Kouha schrumpfte regelrecht in sich zusammen. Er gab keinen einzigen Ton von sich.

Also übernahm Koumei das Reden. Er hatte offensichtliche Schmerzen und nuschelte ein bisschen bei dem Versuch, die zerrissene Haut nicht zu sehr zu beanspruchen. „Mein kaiserlicher Bruder… ich habe aufgrund unserer anstehenden Besprechung auf dich gewartet. Kouha ist ohne zu fragen in das Zimmer gestürmt und wollte eine Geschichte vorgelesen bekommen. Ich wollte ihn fortschicken, da ich wusste, dass du gleich erscheinen würdest. Das wollte er allerdings nicht und hat sich auf mich gestürzt.“

Kouha starrte ihn anklagend an. „Mei lügt!“, schrie er wütend dazwischen. Er hatte sehr wohl gefragt und geklopft! Chuu'un hatte ihn sogar passieren lassen.

Koumei log wirklich wie gedruckt! Na ja, eigentlich erzählte er die reine Wahrheit, nur wollte sich ein neunjähriges Kind dies nicht eingestehen. Koumei war so fies! Diese alte Petze. Kaum saß er, von Kraftprotz Kouen beschützt, auf der Bettkante und tupfte seine Verletzung mit dem Ärmel ab, wurde er gemein und erzählte wie schlecht sich der Kleinste im Bunde benommen hatte. Da geschahen ihm die Schmerzen vollkommen recht!
 

Dennoch schien Kouen mehr auf die Worte des Älteren zu geben. Kritisch musterten seine glühend roten Augen Kouha. „Ist das so? Ich finde das Blut auf Koumeis Wange sieht nicht aus, als hätte er es sich aufgemalt. Oder versuchst du neuerdings, dich zu schminken und in Frauenkleider zu zwängen, Mei?“

"W-Wie bitte? W-Weshalb sollte ich das tun?", stotterte dieser überrumpelt.

Kouen lachte erheitert auf, ehe er Kouha einen fordernden Blick zuwarf.

„Nein… hat er ja auch nicht“, gab Kouha kleinlaut zu.

„Aha!“

„Aber…“

„Nichts aber! Ich verstehe, dass du gerne Zeit mit uns verbringen möchtest, aber aus unnötigem Jähzorn heraus jemanden zu verletzen ist bösartig!“

„Mei hat es verdient! Er hat mein Messer gestohlen! Dabei ist es doch das einzige, was ich habe!“

„Mag sein“, schnaubte Kouen grimmig, „dennoch ist dieses Verhalten unwürdig. Du möchtest später immerhin ein vielbewunderter Prinz werden. Da musst du auch lernen, dich wie einer zu benehmen!“

„Das war doch nur Spaß!“, beteuerte Kouha und blickte mit großen Hundeaugen zu Kouen auf.

„Spaß kann man denen nicht übersetzen, die keinen Spaß verstehen“, brummte dieser und betrachtete Kouha plötzlich mitleidig.

„Das war kein Spaß!“, heulte Koumei, dessen Wange ununterbrochen weiter blutete.

„War es wohl, das mit deiner Backe ist nur passiert, weil du zu schwach bist, um dich ordentlich zu prügeln!“, keifte Kouha und wollte sich wieder auf den anderen stürzen.

Im letzten Moment hielt Kouen ihn an der Schulter fest. „Für Koumei ist es kein Spaß. Vielleicht solltest du dir geeignetere Gegner suchen.“

„Was? Das ist das einzige, das du dazu zu sagen hast, En?“, keuchte Koumei entsetzt, was Kouha höchst zufrieden stimmte. Der Zottel simulierte sowieso nur.

Hinterhältig grinsend streckte er ihm die Zunge heraus, was Kouen mit einem Glucksen quittierte.

„Na, da verfügt aber jemand über ein heißblütiges Temperament! Ich bin unvorstellbar froh, dass wir dich zu uns geholt haben!“, befand er erfreut.

Stolz nickte der kleine Junge und streckte die Brust heraus. „Natürlich! Immerhin bin ich jetzt ein Kaisersohn!“

„Wo du Recht hast, hast du Recht“, stimmte der Ältere zu, während Koumei sich beleidigt im Bett versteckte. Sein Tag war wohl bereits gelaufen. Von seinen Brüdern gebissen und verspottet zu werden konnte einem aber auch die Laune verderben.
 

Trotz dieses kleinen Sieges war das wichtigste Problem immer noch nicht gelöst: Kouha wollte bei seinen Brüdern bleiben. Deshalb kroch er nach einer Weile so unauffällig wie möglich unter das Bett.

Leider hatte Kouen im Eifer des Gefechts nicht vergessen, dass er sich noch mit Koumei besprechen musste. Sobald der kleine Junge auch nur einen Finger in die Staubflusen gesetzt hatte, räusperte er sich scharf: „Solltest du nicht in deinen eigenen Gemächern sein?“

Schüchtern blinzelte Kouha ihn an. „Aber wieso das denn? Ich habe doch nichts Böses getan?“

Kouen grunzte belustigt und wuschelte ihm grob durchs Haar. „Das sagtest du bereits. Meinst du, du könntest deine großen Brüder an der Nase herumführen? Wir müssen jetzt arbeiten. Schlimm genug, dass Koumei momentan nicht sonderlich leistungsfähig aussieht und wir durch dein unbeherrschtes Verhalten noch mehr Zeit als ohnehin schon verloren haben.“

Die Worte klangen nicht einmal vorwurfsvoll, doch Kouha schämte sich prompt in Grund und Boden. „Es tut mir leid… auch das mit Mei…“

Kouen nickte zufrieden. „Na also, du scheinst langsam eine zuvorkommende Seite zu entwickeln.“

Der jüngste Bruder strahlte. „Echt? Findest du?“

Kouen lächelte warm. Er ließ sich oft von Kouhas niedlicher Seite einnehmen. Mehr als Koumei zumindest. Vielleicht lag es daran, dass er Kouha zuerst für seine Schwester gehalten hatte...

"En?", drängte der jüngste Prinz.

„Aber natürlich. Du wirst eines Tages ein großer Krieger werden, da bin ich mir sicher.“

„Oh ja, das werde ich!“

„Aber dafür musst du auch erkennen, wann es für dich an der Zeit ist, zu gehen. Zum Beispiel jetzt“, meinte Kouen vielsagend.

Geknickt kauerte sich der Jüngere neben Koumeis vom Bett baumelnden Beinen zusammen. „Ich will aber bei euch bleiben, Bruder En. Alleine ist es so langweilig. Im Palast gibt es nichts, was ich nicht schon getan hätte, im Garten ebenso wenig!“

„Du könntest dir Spielkameraden suchen“, schlug der Ältere vor.

„Aber die anderen Kinder hier sind alle so dumm und hochnäsig. Sie starren mich an wie Abschaum!“

„Mach dir deswegen keinen Kopf. Wenn sie einmal sehen, wie geschickt du mit dem Schwert umgehen kannst, werden sie dich bewundern.“

„Aber Mei hat mein Messer auf seinen Schrank geschleudert…“, klagte Kouha weinerlich.

Überrascht blickte Kouen zu dem gepeinigten Zottel.

„Was? Ist das so abwegig?“, schnappte dieser beleidigt.

„Nun…“, brummte der erste Prinz grinsend und Kouha krähte fröhlich: „Oh ja!“

„Danke. Ihr seid wirklich die besten Brüder, die man sich wünschen kann!“, schmollte Koumei und zog sich die Decke über den Kopf.
 

Kouen seufzte schwer. „Kouha, lass uns ein Abkommen treffen.“

„Ein Abkommen?“, hakte der Kleine misstrauisch nach.

„Ganz genau. Ich gebe dir dein Messer wieder und du versprichst mir, Koumeis Gemächer danach zu verlassen und uns nicht zu stören, bis wir mit unseren Besprechungen fertig sind. Außerdem wirst du solange niemanden mit deiner Waffe angreifen, verstanden?“

Diese Forderungen gefielen Kouha überhaupt nicht. Andererseits wollte er unbedingt sein Messer wieder haben, immerhin hatte seine Mutter es ihm vererbt. Er musste ja nur so tun, als ob er sich an Kouens Bedingungen halten würde. Genau, so würde er es machen und dann würde er sich als erstes kreischend auf Koumei werfen und ihn so lange würgen, bis Kouen keinen anderen Weg mehr sehen würde, den Zottel zu retten, als ihn bleiben zu lassen. Also murmelte er missmutig: „Na gut… aber du bist gemein. Alter Erpresser. Wenn ihr fertig seid, müsst ihr mir zur Strafe bis zum Neujahrsfest jeden Abend vorlesen!“

Kouen schnaubte spöttisch: „Du bist verrückt. Selbstverständlich werden wir das nicht tun. Also, was ist, bist du nun mit den Bedingungen einverstanden, oder nicht?“

„Jaaa, En.“

Der Größere nickte zufrieden. Vollkommen problemlos reckte er sich und zog das herrliche Küchenmesser aus dem Sandelholz. Gierig schnappte Kouha nach seinem Schatz, aber Kouen hielt die Klinge zu hoch für ihn.

„Hältst du dich auch wirklich an unsere Abmachung?“

„Ja!“

„Tatsächlich? Hattest du nicht vor, dich sofort wieder auf einen von uns zu stürzen?“

Betreten senkte der kleine Prinz den Kopf. "Nein...", quengelte er.

Kouen hob bedeutungsschwer eine Augenbraue. "Sicher nicht?"

Jetzt Kouha fühlte sich doch ertappt. Es nützte einfach nichts, den anderen anzulügen. „Ja…“, gab er kleinlaut zu.

„Du bist ein hinterhältiger kleiner Kerl!“, rief Kouen aus. Aus unerfindlichen Gründen wirkte er sogar stolz darauf. Dennoch konnte er Kouha diese bösartigen Gedanken nicht durchgehen lassen.
 

Ehe sich’s der dritte Prinz versah, hatte sein ältester Bruder ihn schon am Kragen gepackt und schleifte ihn mit sich aus dem Zimmer hinaus. Protestierend und bettelnd stemmte Kouha seine Füße in den Boden, doch gegen die Kraft des neunzehnjährigen Mannes kam er nicht an.

„Denk an dein Messer“, warnte Kouen, „wenn du dich nicht benimmst, nehmen wir es dir wieder ab.“

Spätestens in diesem Moment verstand der Kleine, dass er besser gehorchen sollte. Maulend ließ er sich von seinem Bruder den Flur entlang ziehen, bis sie vor dem Tor zum Palastgarten angelangt waren. Die dort postierten Wachen gaben sich viel Mühe die uneinigen Geschwister nicht allzu neugierig anzustarren. Als Kouha ihnen eine hasserfüllte Grimasse schnitt, wandten sich auch die letzten sensationsgierigen Gesichter ab. Kouen stieß währenddessen ächzend die schweren Torflügel auf. Dann spürte Kouha nur noch einen Schubs und er taumelte in die Abenddämmerung hinaus, die kleinen Hände fest um den Griff seines Erbstücks geklammert.

„Du gehst jetzt ein wenig in den Garten. Kannst ja spazieren gehen. Im Dunkeln ist es dort viel spannender, als bei Tageslicht. Die Wachen werden dich daran hindern, Koumei und mich zu stören. Wenn du uns nicht immer heimsuchen würdest, wären wir schneller mit der Arbeit fertig und könnten uns danach länger mit dir beschäftigen. Genauso ist es jetzt. Je weniger Ärger du machst, desto eher darfst du uns wieder Gesellschaft leisten. Also benimm dich und spiel ein bisschen. Meinetwegen kannst du ausnahmsweise Messerwerfen auf den alten Krüppelbaum am Zierteich veranstalten.“

Eigentlich war diese Erlaubnis ein großes Zugeständnis, denn Messerwerfen durfte Kouha ansonsten nur unter Aufsicht. Doch er wollte lieber bei seinen Brüdern bleiben. So schmollte der Prinz nur vor sich hin, während Kouen vor sich hin grummelnd ins Haus zurückkehrte und ihn mutterseelenallein in der hereinbrechenden Dunkelheit zurück ließ.
 

Die ersten paar Minuten stand Kouha verloren, wie eine ausgesetzte Katze, vor dem Eingang. Dazu passte auch der Hunger, der seinen Magen heftig knurren ließ. Hätte er doch bloß noch ein paar Feigen aus der Palastküche gestohlen! Doch bald verblasste dieses Problem. Die sommerliche Abendluft trug einen angenehm warmen Duft mit sich. Wahrscheinlich waren die Heidelbeeren reif. Aber den Prinzen interessierten sie nicht sonderlich. Ein lauer Windhauch strich durch seine vom Kampf zerknitterten Gewänder. Für gewöhnlich hätte Kouha dieser angenehme Abend zu begeisterten Unternehmungen angestiftet. Nachtwanderungen fand er ungeheuer spannend. Wer wusste schon, auf welch zwielichtige Gestalten man zu dieser Zeit stieß und das erfüllte ihn mit makabrer Aufregung. Doch heute nicht. Anstatt sich über Abenteuer Gedanken zu machen, überlegte er fieberhaft, mit welcher Strategie er sich wieder in den Palast schmuggeln könnte. Allerdings stellten die Wächter vor dem Tor ein unüberwindbares Hindernis dar.
 

Niedergeschlagen plumpste er zu Boden. Es gab keinerlei Möglichkeit, seinen Willen durchzusetzen, nicht wenn Kouen sich gegen einen stellte. Niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben, nicht einmal seine Brüder. En hatte gesagt, er sollte mit anderen, gleichaltrigen Kindern spielen, doch Kouha konnte sie alle nicht leiden: Sein jüngerer Cousin Hakuryuu war eine verachtenswerte Heulsuse und seine Cousine Hakuei interessierte sich nicht für ihn. Dann gab es da noch ein paar schäbige Dienerkinder. Aber sie waren dumm wie Stroh, stanken nach Dreck und sahen genauso aus. Kurzum, da war niemand mit dem er seine Zeit verbringen wollte, ganz egal wie viel Langweile er dafür ertragen musste. Keiner mochte den dritten Prinzen. Jeder Mensch im Palast betrachtete ihn abwertend und fürchtete sich insgeheim vor ihm. Und dem Kaiser wäre es sicher am liebsten, wenn Kouha sich einfach in Luft auflösen würde, genau wie seine Mutter. Bestimmt war die beste Frau auf der ganzen Welt Koutoku ein Dorn im Auge, nur weil sie sich anders als die anderen Konkubinen verhielt. Dabei war sie so lieb und Kouha konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als sich um seine Mutter zu kümmern und ihr niedliche Zöpfchen zu flechten, was ihr stets ein vergnügtes Lächeln entlockte. Niemand sonst achtete auf sie. Jeder hielt seine Mutter für übergeschnappt. Alleine der Gedanke entfachte eine große Wut in Kouha. Langsam quoll der Zorn in ihm beinahe über. Sein Leben war einfach ungerecht! Man behandelte ihn wie einen Aussätzigen!
 

Traurig strich er über sein blankgeschliffenes Messer. Es gab keine schönere Waffe im ganzen Kou Reich. Irgendwann würde er es mit ihrer Hilfe allen zeigen. Dann würden all die Leute, die ihn mit Verachtung betrachtet hatten, für ihre Grausamkeit büßen. Auch Mei und En, die alten Spielverderber, beschloss der Junge grimmig. Natürlich nicht so sehr wie der Kaiser, welcher sie einfach in das letzte Loch des Palast weggesperrt hatte oder wie die hohen Beamten die hinter vorgehaltenem Fächer spöttische Kommentare über den aggressiven Jungen und seine kindische Mutter abließen. Genau, Kouha würde sie sein Küchenmesser spüren lassen, wie er es bereits des Öfteren getan hatte. Schon seit langem besaß er diese Waffe, war mit ihr an seiner Seite groß geworden und hatte allerhand Unsinn mit ihr angestellt. Sehr zum Leidwesen der Bediensteten und von Koumei. Pah, was behauptete der hässliche Zottel auch, dass er die Klinge gestohlen hätte? Kouha hatte sie rechtmäßig von seiner Mutter geerbt! Zugegeben, seine Mutter lebte noch, aber geerbt hatte er sie trotzdem! Ganz sicher! Das Messer war immer da gewesen, er konnte sich nicht daran erinnern, es entwendet zu haben. Manchmal besaß Koumei eine blühende Fantasie. Leider glaubte Kouen dem Zottel in dieser Angelegenheit, gleichgültig wie oft Kouha bereits beteuert hatte, die Waffe sei nicht unrechtmäßig in seinen Besitz gelangt. Was würde er darum geben, wenn er der Älteste der drei Brüder und ein rechtmäßiger Sohn des Kaisers mit seiner Hauptfrau wäre! Dann würde niemand es wagen, ihm zu widersprechen. Erst recht würde sich niemand anmaßen, ihn einfach auszusperren wie einen bissigen Hund! So eine Frechheit!
 

Nachdem sich der dritte Prinz lange genug in Selbstmitleid und Zorn gewälzt hatte, beschloss er schließlich dennoch, mehr aus seinem Abend zu machen, als beleidigt vor dem Palast zu hocken. Immerhin wollte ihn heute niemand früh ins Bett schicken, diese Gelegenheit musste ausgekostet werden. Hätten seine Zofen gewusst, dass Kouha drauf und dran war, ganz allein im dämmrigen Garten zu verschwinden, wäre das Entsetzen groß gewesen. Ab und an „verirrten“ sich nämlich tatsächlich üble Gestalten dorthin. Erst vor ein paar Wochen hatte man einen Attentäter dingfest gemacht. Es war eine seltene Ausnahme, dass jemand die strengbewachten Mauern übersteigen konnte und dem Palast derart nahe kam, ohne von den Wachen überwältigt zu werden, dennoch sorgten sich alle um die Sicherheit der kaiserlichen Familie. Besonders um die Kinder. Doch die hielten nichts von unnötiger Vorsicht, im Gegenteil: Kouha fand das ungeheuer aufregend. Er wollte auch gerne einen Attentäter stellen, vielleicht würde man ihn dann endlich akzeptieren. Möglicherweise hatte Kouen ihn nur nach draußen verbannt, damit der dritte Prinz endlich eine Chance dazu erhielt, sich zu beweisen! Mit einem Mal wog der Zorn auf den älteren Bruder gar nicht mehr so schwer. Die Möglichkeit erschien Kouha plausibel. Ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Ein Blick auf die düster aufragenden Baumwipfel fachte sein Interesse noch mehr an. Die dunklen Schatten konnten jede Menge Mörder und Diebe verbergen, die nur darauf warteten, von ihm gefunden und zerstückelt zu werden! Oh ja, Kouha würde auf Verbrecherjagd gehen. Mei und En würden Augen machen! Und dann würden sie ihn nicht mehr so leichtfertig aus ihren Gemächern schicken, sondern sich darum reißen, ihm vorlesen zu dürfen! Mit einem fröhlichen Kichern sprang Kouha fort von dem sanft erleuchteten Palast. Sein Messer schwang munter in seiner Hand. Jeder Schritt brachte ihn der undurchdringlichen Finsternis des Ziergartens näher. Welch ein aufregendes Abenteuer! Er würde sie alle das Fürchten lehren!
 

Nur leider sollte der kleine Prinz nicht allzu weit kommen, denn kaum hatte er sich ein paar Pferdelängen unter dem geschwungenen Palastdach hervorgewagt, traf ihn etwas Steinhartes am Hinterkopf. Ein heftiger Schmerz erfüllte seinen Schädel. Die Wucht des Aufpralls des unbekannten Geschosses war derart stark, dass ihm seine Klinge aus der Hand fiel. Singend blieb sie im Ziergras stecken. Gleich darauf folgte Kouha, nur dass er wie ein nasser Sack auf den Boden klatschte. So viel zum Thema Verbrecherjagd und Fürchten lehren…

Wahrscheinlich können Mei und En morgen meine Knochen zusammenkratzen, aber das geschieht ihnen Recht, wenn sie mich nicht haben wollen…, dachte Kouha nüchtern, ehe ihm schwarz vor Augen wurde.

Vom Dach herab ertönte unterdessen ein höhnisches Lachen.

Doch davon bemerkte der Kaisersohn nichts mehr. Er hatte in diesem Moment vollständig das Bewusstsein verloren.
 

*^*
 

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!


 

*^*
 

Das erste was Kouha wahrnahm, als er verwirrt unter seinen Lidern hervorlinste, war eine hektisch vor seinem Gesicht herumwedelnde Hand.

Und dann erklang da eine höchst verdächtige Stimme: „Hallo? Haaalloooo?! Lebst du noch?“

Benommen krallte er die zierlichen Hände in die Erde. Mühevoll hob er den Blick. Das Pochen an seinem Hinterkopf war mörderisch, brachte seinen Schädel beinahe zum Platzen. Wenn selbst der robuste Kouha das so sah, musste es ein schwerwiegender Treffer gewesen sein. Zittrig richtete sich der Prinz wieder auf. An Händen und Kleidern klebte Erde, seine schönen Gewänder waren nun endgültig reif für eine Wäsche. Vielleicht würden die Dienerinnen sie auch eher direkt ins Feuer werfen, dachte er bedauernd. Schade. Dabei hatte Kouen ihm doch grade erst neue besorgt! So ein Mist, wer auch immer ihm das angetan hatte, würde dafür büßen.
 

Und plötzlich erkannte er ihn: Den Verursacher allen Übels. Ein wohlbekanntes, hässliches, freches, vollkommen dummes, einfach nur verabscheuungswürdiges Gesicht, in dem ein breites Grinsen prangte, welches er am liebsten mit seinem Messer noch ein wenig erweitern würde. Ob das kleine Scheusal über ihm dann immer noch solch unbekümmertes Zeug quatschen würde? Sicherlich nicht, dieser verachtenswerte Dreckskerl lebte streng nach dem Motto „große Klappe, nichts dahinter“. Kouha wusste genau, wen er da vor sich hatte. Judar, den schwarzen Magi. Ein unerträglicher Quälgeist, den man nicht oft genug auf seinen niedrigen Platz zurück verweisen konnte. Kaum trafen Kouhas Augen auf die blutroten seines verhassten Gegenübers, trat bodenloses Entsetzen in dessen Gesicht.

„Oh, scheiße!“, fluchte der schwarzhaarige Junge. Offenbar hatte er sich prüfend über den ohnmächtigen Prinzen gebeugt, denn kaum war dieser wieder zu sich gekommen, wollte er aufspringen. Wie von der Tarantel gestochen.

Doch nicht mit Kouha! Blitzschnell packte er den bodenlangen Zopf des Gleichaltrigen und hielt ihn daran fest, sodass er nicht fliehen konnte. Selbst schuld, wenn er sich die Haare wachsen ließ wie ein eitles Gör.

„Au! Hilfe! HILFE!!!“, brüllte Judar panisch und versuchte sich loszureißen.

Sein Peiniger grinste überlegen und verstärkte gleich noch einmal seinen Griff. „Hast du mich etwa mit einem Pfirsichkern abgeschossen?“, hauchte er zuckersüß in das widerliche Ohr dieses Idioten. Ob er einmal hineinbeißen sollte, um ihn für diese Missetat zu bestrafen?

„N-niemals!“, beteuerte der andere.

Ein wahnsinniges Lächeln zeichnete sich auf Kouhas Gesicht ab. „Irgendwie glaube ich dir das nicht… weißt du, Bruder Mei lügt auch immer, da bekommt man ein Gespür für die Wahrheit.“

Sein Gegenüber erschauderte vor Grauen. Sehr schön. Der Dreckskerl fürchtete sich also. Kein Wunder, denn der dritte Prinz hatte ihm bereits zuvor einmal einen ordentlichen Denkzettel verpasst. Bebend stemmte er sich gegen Kouha, doch dieser kannte keine Gnade.

„Wenn du dich wehrst, wird es nur noch schlimmer“, zischte der Kleine wütend und riss kräftig an dem schwarzen Zopf. Ein Winseln kam über Judars Lippen und Kouha sah, dass er sich vor Angst fast in die Hose machte. Da würde Kaiserin Gyokuen aber böse werden. Immerhin trug ihr kleiner, verhätschelter Ersatzprinz die teuersten Roben in einem prächtigen Rot. Selbst am Kaiserhof stellte diese Farbe etwas Wertvolles dar. Der arme kleine Magi, nun befand er sich in schrecklichen Schwierigkeiten! Ein berauschendes Gefühl der Macht überkam den Prinzen. Der Schwarzhaarige besaß keine Chance. Er war schwach und feige, Kouha hingegen stark und wütend. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass der Magi an seinem pochenden Schädel Schuld trug. Der Idiot sollte sich lieber vorher überlegen, wen er mit seinen Geschossen attackierte. Am besten jemanden, der sich nicht wehren konnte und schon gar keinen, der von einem Pfirsichkernschuss bewusstlos wurde und um den man sich anschließend kümmern musste. Das zog unweigerlich Rachegedanken nach sich. Selbstverständlich hatte er sich alle folgenden Probleme selbst zuzuschreiben.
 

„Bitte, bitte, lass mich los!“, jaulte Judar, der erfolglos versuchte seine Haare zu befreien.

„Vergiss es!“, keifte Kouha, packte sein Messer, welches neben ihm im Gras gelegen hatte und fuchtelte damit drohend vor dem Gesicht des gleichaltrigen Jungen herum. „Weißt du was das ist?“, summte er mit einem stolzen Glanz in den Augen. Doch der andere fiepte lediglich furchtsam und duckte sich unweigerlich. „Bist du zu dumm oder tust du nur so?“, fragte Kouha unschuldig.

„E-e-ein Kü-Kü-Küchenmesser“, stotterte das schlotternde Häuflein Elend endlich.

Die Miene des Prinzen verfinsterte sich. Dieser unwissende Kerl hatte ja keine Ahnung! „Falsch. Ein wertvolles Erbstück meiner Mutter. Sie war Kriegerin des Kouga-Clans und dies hier war ihre Lieblingswaffe.“

„Glaube ich nicht!“, presste Judar zwischen schmerzhaft zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Es stimmt aber oder willst du meine Worte wirklich anzweifeln?“, erkundigte sich Kouha und lächelte gefährlich.

„Au…“, kam es lediglich zurück und die roten Augen flackerten ängstlich. Mittlerweile hatte Judar seinen eigenen Zopf umfasst und mühte sich damit ab, ihn Kouha aus der Hand zu ziehen. Das konnte er bis morgenfrüh versuchen. Niemals würde der Junge ihn einfach so fliehen lassen. Erst musste der unverschämte Magi für seine Tat Buße tun. Er hatte schon eine gute Idee…
 

„Du müsstest mein teures Messerchen eigentlich kennen, Zaubertrottel. Weißt du noch, wie du das erste Mal Bekanntschaft mit seiner herrlich scharfen Klinge geschlossen hast?“, gurrte der Prinz fast liebevoll, während sein Opfer beinahe einen Herzinfarkt erlitt. Sobald der Kleine einen symbolischen Schnitt durch die Luft führte, war es um Judar geschehen:

„N-Nein, bitte nicht nochmal, ich tue auch alles was du willst!“, kreischte er.

„Toll! Dann erzähl mal, warum du mich fast umgebracht hättest! Ich wollte eigentlich auf Verbrecherjagd im Palastgarten gehen, aber jetzt tut mein Kopf so sehr weh, dass ich viel mehr Lust hätte, dich Miststück zu zerstückeln!“, fauchte Kouha und piekte Judar bekräftigend in die Wange, bis ein Blutstropfen sein Kinn hinunterrann. In dessen roten Monsteraugen schimmerte es bereits verdächtig. Da ließ das Geständnis auch nicht mehr lange auf sich warten.

„Ich … ich habe auf dem Dach Pfirsiche gegessen … mir war langweilig … also habe ich versucht sie mit Magie schweben zu lassen und dann mit den Kernen zu schießen, also als Waffe!“

Wusste ich’s doch! Der kleine Kaiserliebling ist ein feiger und hirnloser Idiot! „Und wieso auf mich?“

„Ich konnte doch nicht ahnen, dass du es bist, sonst hätte ich es niemals getan! Versprochen! So einen Verrückten wie dich hätte ich doch nie absichtlich abgeschossen!“ Das hätte er lieber nicht sagen sollen.

„Verrückt?“, hakte Kouha scharf nach. Niemand hatte das Recht ihn derart zu beschimpfen! „Du nennst mich verrückt? Mich?“, kicherte er und piekte wieder zu, dieses Mal etwas kräftiger, sodass der Schwarzhaarige aufheulte.

„Lass mich los!“

„Aber nicht doch. Wer solche Lügen verbreitet, sollte auch mit der angemessenen Strafe dafür leben können. Also, was sollen wir machen? Weißt du, mir kommt da eine herausragende Idee! Wieso stellst du dich nicht vor diesen Baum da und wir spielen ein Ründchen Messerwerfen? Bruder En hat es mir heute sogar ausnahmsweise erlaubt…“, schnurrte der dritte Prinz und lächelte grausam.

Der Magi schüttelte heftig den Kopf. „N-Nein. Nein, nein, nein!“

„Und weshalb nicht?“, verlangte Kouha zu wissen, während er eulenhaft den Kopf schief legte.

„D-Du bist wahnsinnig! Du kannst gar nicht Messerwerfen! Du bringst mich doch um!“

„Du sollst keine Lügen erzählen, du Aas!“

„Das ist die Wahrheit! Bist du etwa taub oder hörst du nicht, wie die Leute über dich reden? Sie sagen, dass du eine dreckige, gemeingefährliche Missgeburt bist, genau wie deine irre Mutter! Und außerdem bist du hässlich, ungeschickt und dumm und du siehst aus wie ein blödes Mädchen!“, ereiferte sich Judar, ehe er dem Prinzen aus heiterem Himmel gegen das Schienbein trat.

Doch Kouha dachte gar nicht daran gepeinigt zu schreien oder sonstiges Theater zu veranstalten, sondern zerrte wieder an Judars Zopf, bis er einige schwarze Haare in den Händen hielt. Ekelhaft, wie dünne Würmer. „Wie hast du mich grade genannt?“, zischte er, die Hand so fest um das Messer gekrallt, dass es vor Judars Augen herum zitterte. „Spuck‘s schon aus! Oder soll ich dir mein hübsches Erbstück ins Auge rammen?“

„D-Das darfst du nicht! Wenn du mich umbringst, wird die Kaiserin dich für immer in den Kerker werfen lassen! Da gehörst du hin! Weggesperrt, hinter Gitter!“

„Mh… Menschen sterben nicht immer, nur weil man ihnen die Augen aussticht“, keckerte Kouha und zwang den Magi auf die Knie. Oh, wie gut es tat, seinen ganzen Frust über die Vernachlässigung durch seine Brüder, den Kaiser und all die anderen Menschen an diesem Mistkerl auslassen zu können! Außerdem verdrängte das Quälen von Lebewesen jegliche anderen Bedürfnisse, zum Beispiel seinen nagenden Hunger, welcher ab und an versuchte, seine Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Aber hier würde er nichts zu essen finden, was momentan ohnehin vernachlässigbar erschien. Lieber beschäftigte er sich noch ein wenig mit dem blöden Zopfträger. Der grauenerfüllte Blick des anderen Jungen machte ihn ganz kribbelig. Ein Gefühl, als würden tausend Ameisen durch seinen Leib krabbeln. Am liebsten hätte Kouha nun das mit ihm gemacht, was er bereits vor einem guten Jahr getan hatte:
 

Genau wie an diesem Tag war er damals in sehr schlechter Stimmung gewesen, weil seine älteren Cousins - hervorragende Spielgefährten, welche sich im Gegensatz zu seinen Brüdern nie zu schade waren, um Kouha zu bespaßen - in einem großen Brand gemeinsam mit seinem Onkel ums Leben gekommen waren. Ohne Hakuren und Hakuyuu war das Leben furchtbar öde. In seiner Verbitterung und Langeweile war er durch den riesigen Palastgarten gestromert, den er nun mitsamt dem kaiserlichen Palast sein Zuhause nennen durfte. Irgendwann war er auf den kleinen, verfluchten Magi gestoßen. Dieser Mistkerl hatte ihn völlig grundlos beleidigt, wie es seinem missgünstigen Wesen entsprach, und schon war es um Kouhas ohnehin kaum vorhandene Selbstbeherrschung geschehen. Selberschuld, wer im Glashaus saß, sollte schließlich nicht mit Steinen werfen. Brüllend waren sie übereinander hergefallen, der Prinz hatte Judar den Zauberstab aus der Hand geschlagen und es irgendwie geschafft, ihn an einen Baum zu fesseln, wo auch immer er plötzlich das Seil gefunden hatte. Obwohl die Angst des elenden Kaiserinnenlieblings beinahe zu riechen gewesen war, hatte er mit seinen Beschimpfungen nicht ausgesetzt und so hatte Kouha endlich einmal die langersehnte Gelegenheit bekommen, seine herrliche Waffe an einem echten Menschen auszuprobieren, schließlich wollte er später an Kouens Seite in die Schlacht ziehen und musste dafür tüchtig üben.
 

Selbstverständlich hatte es niemals in seiner Absicht gelegen, dem anderen lebensbedrohlichen Schaden zuzufügen. Nun, diese Behauptung entsprach sogar um Haaresbreite der Wahrheit, denn was mit Judar geschah, war ihm schlichtweg egal gewesen. Damals war es nicht unbedingt persönliche Abneigung gewesen, welche ihn gegen den Schwarzhaarigen aufgebracht hatte. Nein, sobald er ihn ein wenig mit seinem Messerchen gepiekst hatte, was dem Jungen ein mädchenhaft hohes Kreischen entlockte, war er seinem üblichen Rausch verfallen. Dies geschah immer, wenn er etwas oder jemanden quälte, es löste regelrechte Glücksgefühle in seinem Herzen aus, ließ es wie verrückt pochen und seinen ganzen Körper vor Freude erzittern. Das eine vergangene Jahr hatte an dieser wahnhaften Vorliebe nichts geändert. Nein, noch immer erinnerte er sich voller Genuss an die Schreie und Hilferufe des kleinen Bastards, welcher sich niederträchtig den Weg in die Familie Ren ergaunert hatte. Damals war es nicht nur bei harmlosen Pieksern geblieben, nein, schon bald hatte er angefangen, ihn zu schneiden und das war besser als alles andere gewesen, was er je zuvor getan hatte. Nicht einmal das Aufblasen und das anschließende Zerplatzenlassen von Fröschen kam damit gleich.

Nur die Götter wussten, was er mit Judar angestellt hätte, wenn Kouen nicht durch Zufall durch den Garten geschlendert wäre. Sein älterer Bruder hatte getobt, als er Kouhas Schandtat, welche in den Augen des kleinen Prinzen eher eine Heldenhaftigkeit darstellte, bemerkt hatte. So schnell wie er ihm das Messer aus der Hand gerissen und ihn von Judar weggestoßen hatte, konnte er kaum blinzeln. Das erschreckendste war jedoch sein offenkundiges Mitleid mit dem dreckigen Magi-Bastard gewesen. Vor den vor Empörung geweiteten Augen seines jüngeren Bruders hatte er die oberflächlichen Schnitte und winzigen Stichwunden auf Judars Haut untersucht und Kouha angeschrien, was er sich bloß dabei gedacht hätte. Ein Glück, dass keine der Verletzungen lebensbedrohlich oder ernster gewesen war, ansonsten hätte dies wohl den vernichtenden Zorn der Kaiserin erregt.
 

Natürlich hatte sein Fehlverhalten so oder so harte Strafen und noch mehr Langeweile nach sich gezogen, doch das beglückende Erlebnis hatte sich derart tief in Kouhas Geist eingegraben, dass er tagelang davon zehren konnte. Keine Sekunde lang bereute er seine Tat. Wie sehr dieser Mistkerl es verdient hatte! Und nun, nach einem Jahr bot sich ihm eine erneute Gelegenheit, seinen Wünschen freien Lauf zu lassen. Mit einem Unterschied: Heute würde ihn niemand stören oder den blöden Magi retten, denn Koumei und Kouen hatten ihn fortgeschickt, um zu arbeiten, sich wahrscheinlich sogar eingeschlossen. Sie würden in der nächsten Zeit wohl kaum im Garten erscheinen und die Dreistigkeit besitzen ihn zu stoppen… Ein irrsinniges Lächeln stahl sich in seine Züge. Welch verlockende Chance…
 

Also trieb er den völlig verängstigten Judar in den Schatten einer mächtigen Kiefer und meinte: „Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder, wir wiederholen das Spiel, das wir letztens zusammen gespielt haben oder du flehst mich aus tiefster Seele um Gnade an, beteuerst dass du ein blödes Aas bist und nimmst all die Sachen zurück, die du mir an den Kopf geworfen hast, sodass ich mir noch einmal überlegen werde, ob ich dich bestrafen muss. Klar?“ Seine Augen leuchteten vergnügt. Dabei kam er sich gleichzeitig unvorstellbar großherzig vor, weil er Judar die Gelegenheit gab, in einem Stück aus ihrem Streit hervor zugehen, obwohl dieser seine Weichherzigkeit keineswegs verdient hatte. Wer den kaiserlichen Prinzen bewusstlos schoss, auch noch mit einem abgelutschten Pfirsichkern, musste für seine Sünde gradestehen. Doch irgendwie schien dem Magi keine der beiden Lösungen zu gefallen. Stolz war dieses Stück Dreck also auch noch! Unerträglich, ja, Kouha wusste genau, warum er ihn nicht leiden konnte. „Jetzt entscheide dich endlich!“, keifte der dritte Prinz und sprang Judar ohne Vorwarnung so wild an, dass dieser heftig gegen den Baum taumelte. Dabei fiel irgendein runder Gegenstand aus seinen weiten Gewändern heraus.

„Ah, ich sterbe…“, stöhnte der Schwarzhaarige und rieb sich den Hinterkopf, wurde jedoch nicht weiter beachtet

Neugierig starrte Kouha ins Gras, wo ein Prachtexemplar von einem Pfirsich thronte und prompt kehrte das Hungergefühl zurück, welches er seit seinem Rauswurf verspürt hatte. Blöd nur, dass er gar keine Pfirsiche mochte, schon gar nicht, wenn sie sich für lange Zeit irgendwo unter den Gewändern eines stinkenden Magis befunden hatten! Wer wusste schon, an welcher Stelle genau er ihn aufbewahrt hatte, das war ja zu scheußlich, um es sich vorzustellen! Oh nein, diese widerwärtig pelzige Frucht würde nicht dazu taugen seinen Hunger zu stillen. Andererseits… er hatte es wirklich nötig, wenn er auf das Rumoren seines leeren Magens lauschte…
 

*^*
 

Nicht nur Liebe geht durch den Magen!


 

*^*

 

„W-Was ist los?“, stammelte Judar, welcher wohl etwas anderes als Kouhas sehnsüchtigen Blick auf die am Boden liegende Frucht erwartet hatte. Vielleicht Schläge oder weitere Messerstiche? Egal, diese würde der Prinz ihm mit Freuden zu einem späteren Zeitpunkt zukommen lassen. Zuerst einmal stand ihm der Sinn nach etwas Essbarem. Nicht nach einem Pfirsich, sondern viel eher nach köstlichen Feigen, aber irgendetwas musste er eben zu sich nehmen… Hunger verstärkte seine Aggressionen, meinte Kouen immer, weshalb er öfters speisen sollte. Vielleicht war es tatsächlich besser, Judar gesättigt gegenüber zu stehen, ansonsten würde er sich überhaupt nicht mehr beherrschen können. Andererseits fände der kleine Junge diesen Gedanken gar nicht so übel…

 

Eigentlich hätte er um diese Zeit wahrscheinlich in Koumeis Bett gesessen und einer spannenden Geschichte gelauscht, auf seinen Knien ein Schälchen mit Feigen oder Nussstückchen zum Knabbern. Nur leider würde er momentan kaum an seine übliche Abendmahlzeit gelangen. Seufzend schüttelte er den Kopf. Ihm blieb nur eine Wahl.

 

„Lass uns einen Pakt schließen!“

„Hä?!“, machte der dumme Magi und glotze ihn an wie ein Ochse. Derartige Begriffsstutzigkeit hatte einen Preis verdient.

„Na komm schon, einen Vertrag! Ich bekomme deinen komischen Pfirsich da unten und dafür werde ich dich vorerst verschonen. Natürlich nur vorerst, versteht sich, wer kann wissen, womit du mich in den nächsten Tagen wieder belästigst? Also, was hältst du davon? Ich will dich ja nicht unter Druck setzen… allerdings käme eine Zustimmung sicherlich deiner Gesundheit zu Gute“, grinste Kouha spitzbübisch, wobei er sein Messer vor der Nase des Schwarzhaarigen tanzen ließ. Welch gute Idee ihm da gekommen war!

Judar hingegen starrte ihn böse aus seinen hässlichen roten Augen an und zog eine widerliche Fratze.

„Na, dann eben nur die Hälfte, das wirst du wohl noch überleben, oder?“ Offenbar ist er nicht nur ein Mistkerl, sondern auch noch geizig!, erkannte Kouha angewidert. Wem ein Stück Obst wichtiger ist als sein Leben, der kann nur ein Idiot sein. Eigentlich hätte er es wirklich verdient, wenn ich ihn wie einen Frosch behandle und einen Felsbrocken auf ihn fallen lasse! Kaum dachte er an den Spaß, den es ihm bereiten würde, einen Menschen anstatt eines kleinen Tiers zu zerquetschen, begann er vor Wohlbehagen am ganzen Körper zu beben. Dieses Hochgefühl wandelte sich jedoch schnell in Ernüchterung um, sobald er sich vor Augen hielt, was Kouen und sein Vater, der Kaiser, dann mit ihm anstellen würden, geschweige erst Gyokuen, die alte Hexe. Nun, wenn ihm sein eigenes Leben lieb war, sollte er vielleicht zumindest vorerst das von anderen Menschen verschonen, die im Palast – wenn auch ohne jeglichen Grund – eine hohe Stellung genossen.

 

Plötzlich löste sich sein innerer Konflikt unvorhergesehener Weise in Luft auf. Judar stieß ein schweres Seufzen aus und betrachtete wehleidig seinen Pfirsich. Fahrig hob er ihn auf, pustete behutsam den Dreck von der gelb-rötlichen Schale. Wahrscheinlich malte er sich aus, wie genüsslich er ihn alleine hätte verzehren können. Pech gehabt.

„Was ist denn nun? Bekomme ich die Hälfte ab?“

Resigniert nickte der Magi und bemühte sich tunlichst, das böse Gestarre aufzugeben, um seinen temperamentvollen Peiniger nicht weiter zu erzürnen. „Na gut… wenn es denn sein muss…“, murrte er.

Kouha jauchzte übermütig. Endlich hatte er eine sinnvolle Beschäftigung gefunden, für die ihn niemand außer dem Monsterauge verurteilen würde: Essen. „Toll! Du hast deinen Kopf grade nochmal aus der Schlinge gezogen, Judar!“, verkündete er höchstzufrieden.

„Mhm…“, machte der kleine Magi und ließ den Kopf hängen. Er wirkte so geknickt, dass jeder Betrachter Mitleid mit ihm bekommen hätte, der nicht Kouha hieß.

Bedauerlicherweise befand sich jedoch nur ebendieser ungerührte dritte Prinz in Judars Nähe und empfand nicht das geringste Bedauern für sein Opfer. Nein, er freute sich unvorstellbar. „Schmoll hier nicht rum, das ist ja wohl kein Weltuntergang, du Memme!“, befand er streng und stieß den anderen Jungen aufmunternd in die Seite.

Die einzige Antwort bestand aus einem weinerlichen Schniefen. Das durfte nicht wahr sein, heulte dieser Idiot grade etwa, weil Kouha die Hälfte seines Pfirsichs verspeisen wollte? Wie konnte man einem kaiserlichen Prinzen nur dieses Privileg verweigern, zumal dieser sich kurz vor dem Verhungern befand? Voller Unmut schnalzte er mit der Zunge.

Judar zuckte prompt zusammen, offenbar erwartete er erneute Bedrohungen. Allerdings dachte Kouha gar nicht mehr daran.

„Folge mir. Wir werden uns nun dein Obst teilen“, befahl er entschieden. Er klang beinahe so respekteinflößend wie Kouen.

Tatsächlich wagte der eingeschüchterte Magi keinen Widerspruch einzulegen.

 

So tappten die beiden Jungen durch den dämmrigen Garten. Kouha führte Judar mit knurrendem Magen um den Palast herum, bis sie vor einem Teil des Hauses standen, dessen Wand mit einer kräftigen Rankpflanze überwuchert war.

„Hinauf mit dir!“, bestimmte der kleine Prinz, ehe er seine Finger zwischen den ledrigen Blättern vergrub und sich an den holzigen Ranken empor zog. Es war ein wenig anstrengend, den ganzen Weg hinauf aufs Dach zu kraxeln, doch Kouha besaß genügend Übung darin, da er sich gerne an einen Ort flüchtete an dem er das absonderliche Treiben der Diener und Adeligen aus einem gewissen Sicherheitsabstand beobachten konnte. Als Prinz lebte es sich nicht leicht, schon gar nicht, wenn man nur der dritte Sohn oder Abkömmling einer verrückten Konkubine war. Das entsprach Kouhas Ansicht nach zwar nicht der Wahrheit, schließlich handelte es sich bei seiner Mutter um eine wunderschöne, mächtige Kriegerin des Kouga Clans. Warum niemand ihm dies je abnahm, konnte er sich einfach nicht erklären!

 

Ganz ausgezehrt vor Hunger zog er sich schließlich über die Dachkante. Judar erwartete ihn bereits. Mit verschränkten Armen stand er vor dem Prinzen, der sich mühevoll aufrappelte. Sein angespanntes Schweigen trug einen stummen Vorwurf in sich. Natürlich hatte der Zauberei begabte Magi als erster das geheime Reich der Palastdächer erschlossen. Hätte Kouha sich mit einem Schlenker seines lächerlichen Zauberstäbchens ebenfalls in die Lüfte erheben können, wäre sicher er der Schnellere gewesen. Vielleicht sollten sich die Bewohner des Anwesens über diesen Umstand freuen, denn so wären über ihnen statt Pfirsichkernen all die Jahre Küchenmesser niedergegangen. Was war eine kleine Beule, hervorgerufen von einer kleinen, harten Kugel schon gegen eine scharfe Klinge im Kopf? Nichtig. Dennoch verrauchte der Ärger des Prinzen über den unverschämten Beschuss äußerst langsam. Allerdings sollte er Judar nun etwas entgegenkommender behandeln, wo sie extra einen Pakt geschlossen hatten. Mit einem vergnügten Lächeln kletterte er über die roten Dachziegel zur anderen Seite des pagodenförmigen Dachüberhangs. Dort bot sich ein netter Blick in einen der kleineren Innenhöfe, die dank ihrer geschmackvollen Gestaltung stets zum Verweilen, beziehungsweise in Koumeis Falle zum Schlafen einluden. Kouha bevorzugte es, diesen Ort für Kampfübungen mit Kouen zu nutzen. Nun genügte es ihm jedoch, die Beine von der Dachkante baumeln zu lassen und dem leisen Plätschern des Wasserspiels zu lauschen.

 

Irgendwann bemerkte er, dass Judar unschlüssig mit dem Pfirsich in der Hand hinter ihm wartete.

„Was ist los? Setzt dich zu mir!“, forderte er ihn auf und klopfte einladend neben sich.

Misstrauisch näherte sich der Schwarzhaarige. Sicherlich fürchtete er, dass Kouha ihn gleich an seinem üppigen Zopf vom Dach abseilen würde.

„Keine Angst, ich beiße doch nicht!“, meinte der Prinz und musste selbst über diese Lüge grinsen. Schwach vor Hunger schwankte er hin und her. Er brauchte diesen Pfirsich. Jetzt! Unverzüglich! Sonst würde er noch vom Dach kippen und dann könnten seine Brüder nun wirklich seine Überreste vom Boden wischen. Das konnte er ihnen nicht antun. Jedoch fühlte sich sein Magen an, als würde ein wildes Tier darin leben. Er konnte nicht sicherstellen, dass er diesen Abend ohne Nahrung überleben würde. Mei und En würden ein gehörig schlechtes Gewissen bekommen. Zu Recht. Ihr Widersehen heute Nacht würde für sie erinnerungswerte Konsequenzen bereithalten.

 

Endlich bequemte sich Judar dazu, neben ihm Platz zu nehmen. Der Abstand zwischen ihnen war beachtlich, fast zu weit, um sich entspannt zu unterhalten, aber das hatte auch keiner der beiden im Sinn. Erwartungsvoll zückte Kouha sein wertvolles Erbstück, strich noch einmal liebevoll über die blanke Klinge, als würde er sie auf ihre kommende Aufgabe vorbereiten. Für gewöhnlich fielen ihm höchstens lebendige Wesen oder Feigen zum Opfer, wer konnte schon sagen, ob es Pfirsiche nicht eigentlich genauso verabscheute wie sein Herr?

Zögerlich hielt der Magi seinem Erzfeind die pelzige Frucht entgegen. „H-Hier…“, stammelte er, den Blick argwöhnisch auf die Waffe in Kouhas Hand gerichtet. Bestimmt fürchtete er einen erneuten Stich. Glück für ihn, dass der Prinz anderes im Sinn hatte. Summend nahm er Judars kostbaren Besitz entgegen.

„Ich finde es sehr lieb von dir, dass du  nun doch noch mit mir teilen möchtest! Du rettest mir das Leben, daher können wir vielleicht sogar Frieden schließen!“, flötete er und schenkte dem Schwarzhaarigen ein strahlendes Lächeln.

Judar, der wusste, dass dies meist Unheil verhieß, rückte noch ein Stück weiter von ihm ab.

„Na, was sagst du dazu?“, hakte Kouha nach, dem das plötzlich so zaghafte Verhalten des anderen seltsam erschien. Er rieb sich die ganze Zeit schon verstohlen über die angepiekste Wange und war so peinlich darauf bedacht, Kouha nicht mehr in Angriffsstimmung zu versetzen.

Dazu passte auch seine verhaltene Reaktion auf das großzügige Angebot des Prinzen: „Mh…“, machte Judar und nickte zögerlich.

 

Kouhas Lächeln vertiefte sich schlagartig. Es wirkte nicht mehr lieb, sondern wie eine wahnsinnige Grimasse, die den kleinen Magi angstvoll erschaudern ließ, war allerdings dieses Mal freundlich gemeint. Mit konzentrierter Miene halbierte Kouha den Pfirsich. Er hatte die Zunge zwischen die Zähne geklemmt und spaltete mit seinem beherzten Hieb, den Judar prompt als Brutalität auslegte, sogar den Kern. Kein Wunder, es klang als hätte er einen Schädelknochen zerteilt. „Hach, sieh nur wie herrlich mein Messerchen schneiden kann!“, jubelte der Kaisersohn und reckte die Klinge stolz empor. Judar beobachtete ihn lediglich abwartend, während das saftige Obst seinen himmlischen Duft verströmte. Ohne Zweifel eine exquisite Frucht, wenngleich sie niemals an Feigen heranreichen würde.

„Such dir eine Hälfte aus, aber mach schnell, sonst sterbe ich!“, drängte Kouha.

„Ja ja…“, nörgelte der Magi. Langsam schien er wieder zu seiner Unverschämtheit zurückzufinden, natürlich schnappte er sich das größere Stück. Noch ließ er sich allerdings aushalten, ja momentan fühlte Kouha sich ihm sogar recht verbunden, schließlich hätte er ohne ihn kein Essen bekommen. Ehrlichgesagt empfand er den Pfirsich nicht länger als widerwärtig. Der Geruch behagte ihm sehr, das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Die pelzige Schale schmeichelte seiner Hand.

„Nun, ich hätte nicht gedacht, dass der Abend so enden könnte.“

„Tse, ich auch nicht“, erwiderte Judar mit schnippischem Ton und presste sein Obststück an sich.

„Nun ja… vielleicht bin ich ein wenig grob mit dir gewesen.“

„WAS?!“, rief der kleine Magi aus und wäre vor Überraschung über dieses Geständnis beinahe vom Dach gefallen.

Doch Kouha wollte sich nicht die Blöße geben und sich bei dem Blödmann entschuldigen. Also beließ er es dabei. „Frieden?“, fragte er grinsend.

„Frieden“, bestätigte Judar seltsam erleichtert, vielleicht auch weil auf seine vorlaute Reaktion kein erneuter Kampf gefolgt war.

Aber Kouha ging noch einen Schritt weiter:  „Freunde?“

 „…Freunde…“, wiederholte sein Gegenüber mit einiger Verzögerung, woran sich der Prinz nicht störte.

„Sehr schön! Das muss gefeiert werden! Jetzt sind wir Pfirsich-Freunde!“, giggelte Kouha und stieß Judars Hälfte der Frucht an, als wollte er ihm mit einem Becher Wein zuprosten. Das hatte er so oft bei seinem Vater und Bruder En gesehen. Allerdings war der weiche Pfirsich nicht für eine solche Tat geschaffen und so sahen ihre Früchte und, dank des aufspritzenden Fruchtsafts, sie selbst danach nicht mehr sonderlich ansehnlich aus.

 

Doch das kümmerte die beiden Jungen nicht. Gierig versenkten sie ihre Zähne in dem zarten Fleisch. Die Haut fühlte sich gar nicht haarig an und der süße Geschmack überzeugte Kouha sofort, seine Abneigung gegen dieses Obst in Zukunft abzulegen. Hach, was für ein komischer Abend, dachte er bei sich, jetzt sitze ich einträchtig mit diesem jämmerlichen Plagegeist auf dem Palastdach, esse einen widerlich pelzigen Pfirsich und habe ihm die Freundschaft erklärt. Und irgendwie ist das… schön. Ja, dem Prinz fiel auf, dass ein Kamerad in seinem Alter, der nicht zur Verwandtschaft gehörte das Leben sehr bereichern konnte. Vielleicht… ja, vielleicht hatte er endlich einen Menschen gefunden, mit dem er Zeit verbringen konnte. Einen Freund. Beim Pfirsich essen. Das war zu großartig, um wahr zu sein. Doch als er zu Judar hinüber schielte, erwiderte dieser seinen Blick. In seinen Augen lag nicht länger die wütende Ablehnung, sondern eine vorsichtige Hoffnung. Vielleicht wollte der Magi tatsächlich mit ihm befreundet sein! Aufgekratzt vertilgte Kouha den Rest des Pfirsichs, nagte die Kernhälfte blank. Judar tat es ihm gleich. Mit einem seltsamen Gefühl der Verbundenheit betrachteten sie den gespaltenen Kern in ihren Handflächen. Was für ein unglaubliches Ereignis.

 

Erstaunlicherweise sollte es noch besser kommen, denn Judar räusperte sich verlegen: „Es tut mir leid, dass ich dich eben abgeschossen habe, das war wirklich dämlich“, entschuldigte er sich nach einigem unbeholfenem Herumgekrächze. Es fiel ihm ganz und gar nicht leicht, um Verzeihung zu bitten, was Kouha irgendwie bekannt vorkam. Und so machte der Prinz nur eine wegwerfende Handbewegung.

„Ich denke jetzt sind wir endlich mal quitt. Sollen wir uns morgen Abend zum Räuberjagen  wieder im Palastgarten treffen?“, fragte er aufgeregt.

Zum ersten Mal, seit er Judar kannte, zeigte dieser ein echtes Lächeln. Überraschend sympathisch. So wirkte er gleich viel netter.

„Wenn du magst. Ich warte zur selben Zeit auf dich!“

„Abgemacht!“, rief Kouha und erhob sich strahlend vor Glück. Von diesem großartigen Ereignis musste er jetzt erst einmal seine Brüder in Kenntnis setzen. Mei und En würden Augen machen!
 

Und so ging der Abend, der so kriegerisch und enttäuschend begonnen hatte, besser zu Ende, als es sich jeder hätte träumen lassen.

Die älteren Prinzen freuten sich erwartungsgemäß für ihren kleinen Bruder und hofften, in der nächsten Zeit etwas mehr Ruhe vor ihm zu haben.

Kouha hingegen konnte es gar nicht abwarten, endlich tolle Dinge mit seinem neuen Freund zu unternehmen. Über seiner Vorfreude vergaß er für ein paar Stunden sogar sein geliebtes Messer.

Und Judar? Der pflückte bereits ein paar Pfirsiche mehr als sonst, um sie am nächsten Morgen mit Kouha zu teilen.

Kurzum, die beiden ungleichen Kinder hatten eines festgestellt: Freundschaft war wirklich etwas schönes, gleichgültig ob sie zuvor einige Hindernisse überwinden musste.

 
 

*^*
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, das ist das Ende der Geschichte und ich hoffe, sie hat irgendjemandem gefallen :) Komplett anzeigen

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