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Mord-Semester

Magister Magicae 3
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Sooo, das letzte Kapitel 11 (ehemals "untot") musste ich leider wieder löschen, weil mir da ein Fehler passiert war. Aufhocker und allgemein so untote Viecher mit Wiedergänger-Tendenz gibt es in Salix Schutzbestien-Universum gar nicht. Also kann Victor so einen auch nicht jagen. Aber da bin ich jetzt auch nicht böse drüber, denn da ich das Kapitel nochmal neu aufziehen musste, konnte ich einen neuen Spielgefährten jetzt schon in die Handlung mit einbauen. ^_^ Komplett anzeigen
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Studentenleben

„Anatolij, kannst du mir auf dem Heimweg bitte ein Weißbrot mitbringen?“, erklang es etwas kleinlaut und beschämt aus dem Hintergrund. „Ich habe nichts mehr zu essen da. Ich geb dir dann das Geld dafür Ende der Woche wieder, wenn ich meinen Lohn bekomme. Ist das in Ordnung für dich?“

Der junge, hagere Mann mit den zurückgegeelten, blonden Haaren drehte sich um, musterte seinen Mitbewohner missbilligend und hörte auf, an seiner gerade übergeworfenen Jacke herum zu knöpfen. „Du hast nichts mehr im Haus?“

„Nein.“

„Und du willst EIN trockenes Weißbrot ohne alles?“

„Das ist nicht so teuer, weißt du? Und es reicht ne Weile“, gab sein Mitbewohner mit schuldbewusst gesenktem Kopf zurück, so daß er ungewollt einen Hundeblick von unten herauf aufgesetzt hatte.

„Es ist Montag! Selbst wenn es eine ganze Woche reichen würde – was es nicht tun wird, denn Weißbrot macht nicht satt – dann willst du eine ganze Woche von trockenem Weißbrot leben?“

„Ich will dir nicht noch mehr auf der Tasche liegen ...“

Anatolij schnaubte leise. „Du musst was Vernünftiges essen, Kolja! Im Kühlschrank stehen noch Fleisch und Klöße von gestern. Nimm die mit zur Uni. Und wehe dir, wenn ich heute wiederkomme, und irgendwas davon noch da ist!“

„Aber ...“

Ein finsterer Blick beendete die Diskussion.

„Danke“, murmelte Nikolai nur noch unterwürfig. Nikolai war recht klein und zierlich für einen jungen Mann, und er trug seine rabenschwarzen Haare schulterlang, teils weil er für den Friseur zu geizig war, teils weil er lange Haare wirklich mochte. Dafür nahm er gern in Kauf, von seinen Kommilitonen als verkappter Goth angesehen zu werden.

„Ich geh auf dem Heimweg einkaufen.“ Mit diesen Worten und einem Kopfschütteln griff Anatolij sich den Schlüssel, verließ die Wohnung und zog die Tür von draußen zu. Weg war er.

Nikolai – oder Kolja, wie sein Mitbewohner ihn kameradschaftlich nannte – seufzte leise und setzte sich nach einigem Hadern doch Richtung Kühlschrank in Bewegung. Nikolai war Student und weitestgehend mittellos. Er hatte nur einen Studentenjob, bei dem nicht viel hängen blieb. Und eine Familie, die ihn hätte unterstützen können, hatte er nicht. Sein Kumpel Anatolij war ein paar Jahre älter und hatte schon ein geregeltes Einkommen. Er ließ Nikolai mietfrei mit in seiner Wohnung wohnen und fütterte ihn zur Not auch durch, wenn sein Studentenjob-Gehalt mal wieder eher zu Ende war als der Monat. Nikolai mochte das nicht und versuchte es weitestgehend zu vermeiden, seinem Kumpel irgendwie Kosten zu verursachen, nur immer schaffte er das eben nicht. Dafür war er aber ein Muster-Student und lernte eigentlich rund um die Uhr, um sein Studium möglichst schnell abschließen und ins Berufsleben einsteigen zu können. Ohne Anatolij wäre Nikolai schlicht und ergreifend aufgeschmissen gewesen, seitdem er die Schule beendet hatte. Anatolij war es auch, der ihm ins Gewissen geredet hatte, sein Talent nicht zu verschwenden und gefälligst zu studieren, statt eine gewöhnliche Lehre anzutreten. Das war nämlich Nikolais eigentlicher Plan gewesen, um zumindest das Lehrlingsgehalt zu bekommen.

Er packte sich das Essen in eine Brotbüchse und ging dann den Computer seines Kumpels anschalten. Anatolij war so nett, ihm auch diesen zu überlassen, wenn er ihn für das Studium brauchte. Er musste heute erst nach dem Mittag zu den Vorlesungen. Die Zeit bis dahin konnte er nutzen, um für eine Hausarbeit zu recherchieren, die er für die Universität zu schreiben hatte. Aber erst wenn er mit dem Geschirrspülen fertig war. Wenn er Anatolij schon keine Miete zahlen konnte, dann versuchte er sich zumindest im Haushalt nützlich zu machen.
 

Nikolai tippte an diesem Abend den letzten Artikel in die Kasse ein, überschlug dabei auch im Kopf nochmal, ob die angezeigte Summe stimmen könnte, und stopfte ihn in die Einkaufstüte. „Das macht dann bitte glatt 900 Rubel“, wandte er sich mit einem Lächeln an den Kunden. Er nahm das Geld entgegen, zahlte das Wechselgeld wieder aus und verabschiedete den Mann noch freundlich. Danach wandte er sich an seinen Kollegen, der in Rufweite ein Regal auffüllte. „Ich würde jetzt Schluss machen, okay?“

„Alles klar. Ich hab noch eine Stunde. Schönen Feierabend.“

Nikolai freute sich auf seinen Dienstschluss. Er war hundemüde. Und ihm war durchaus nicht entgangen, daß seine Ablöse noch nicht aufgetaucht war. Er sollte besser zusehen, hier weg zu kommen, bevor der Chef auftauchte und ihm Überstunden aufbrummte, weil die Spätschicht sich krank gemeldet hatte, oder sowas. Hurtig wuselte er um die Ecke in Richtung Aufenthaltsraum, um seine Dienstkleidung loszuwerden. „Nikolai!“, rief es ihm hinterher, kaum daß er die Tür in Sichtweite hatte. Der Student sank unmotiviert ein wenig in sich zusammen. Er erkannte den Chef schon an der Stimme. „nawos“ [Mist], maulte er leise, hatte aber genug Selbstbeherrschung, wieder ein Lächeln aufzusetzen, ehe er sich fragend umwandte. „Ja?“

„Die Metro hat eine technische Panne und fährt nicht. Andrej hat mich gerade angerufen, daß er nicht auf Arbeit kommt. Könntest du vielleicht einspringen?“

„Seine komplette Schicht?“, hakte Nikolai ungläubig nach.

„Na, zumindest bis Andrej hier ist. Sieh es mal so: Wenn die Metro nicht fährt, kommst du ja eh nicht nach Hause, nicht wahr?“, lachte der Chef und ging weiter, ohne auf Nikolais endgültige Zusage zu warten. Es stand gar nicht zur Debatte, daß Nikolai vielleicht ablehnen könnte.

Nikolai stöhnte leise und machte sich mit hängenden Schultern auf den Weg zurück zur Kasse. Er wäre durchaus auch ohne die U-Bahn nach Hause gekommen. Er war ein Gestaltwandler und konnte sich in irgendein flugfähiges Wesen verwandeln, das ihm gerade in den Sinn kam. Und selbst wenn er das nicht gekonnt hätte, blieb ihm immer noch der Heimweg zu Fuß. Aber half nichts. Er würde weiter arbeiten müssen, ob er wollte oder nicht. An sich hatte er nichts gegen seinen Job in diesem kleinen 24-Stunden-Laden. Es war eine angenehme Arbeit und die Kollegen waren durchweg nett. Nur die Bezahlung war nicht so der Knüller, dafür daß der Ladenbesitzer einen gern zu jeder Tages- und Nachtzeit auf Abruf gehabt hätte. Nikolai hatte ihm schon frühzeitig klar gemacht, daß er das mit seinem Studium nicht auf einen Nenner bekam und nur abends zur Verfügung stand, und hatte damit nicht gerade Pluspunkte gesammelt. Aber er war ja froh, überhaupt einen Job zu haben, also beschwerte er sich nicht über die Arbeitsbedingungen.
 

Gegen 22 Uhr schneite Anatolij in den Laden herein. Da war Nikolai bereits bis über beide Ohren in der Buchhaltung vergraben. Da es in einem 24-Stunden-Geschäft nie einen Ladenschluss gab, wurden um 22 Uhr der tägliche Kassensturz und die Abrechnung gemacht, denn da war erfahrungsgemäß schon nicht mehr viel los. „Kolja, wo bleibst du denn? Du hättest schon seit 4 Stunden zu Hause sein sollen“, grüßte Anatolij ihn zwischen besorgt und erleichtert.

Der Student sah von seiner Abrechnung auf. „Hi. Tut mir leid, ich wurde zum Sonderdienst eingezogen. Andrej ist nicht gekommen.“

„Ich hab versucht, dich anzurufen. Als du ewig nicht rangegangen bist, bin ich losgelaufen und habe dich gesucht. Ich hab mir totale Sorgen gemacht.“

„Das hab ich leider nicht mitbekommen. Mein Handy liegt im Pausenraum. An der Kasse darf ich eh nicht telefonieren.“

Anatolij nickte verstehend und schaute mit auf die herumliegenden Kassenzettel, die gerade zusammengerechnet wurden. Diese alte Kasse konnte wohl die Summe der Tageseinnahmen nicht anzeigen, so daß man per Hand nachrechnen musste, ob die Kasse stimmte. Er war erleichtert, seinen Kumpel wohlbehalten hier aufgefunden zu haben, wusste aber nicht, was er jetzt tun sollte, nun wo er einmal hier war. „Wie lange machst du noch?“

Die Ladentür ging auf und ein Mann im mittleren Alter kam herein. Statt sich im Geschäft das Sortiment anzusehen, hielt er direkt auf die Kasse zu.

Nikolai lächelte erfreut. „Da kommt endlich meine Ablöse. Jetzt hab ich Feierabend. Ich zähl nur noch schnell die Kasse fertig, ja?“

„Ist gut. Ich warte auf dich“, meinte Anatolij.

„Nikolai, hey. Danke, daß du meine Vertretung übernommen hast“, grüßte der Neuankömmling, Andrej, der inzwischen bis zum Tresen vorgedrungen war. „Ich musste meinem Vater helfen, einen Umzug zu fahren.“

„Einen Umzug zu fahren!?“, empörte sich Nikolai. „Ich dachte, die Metro ist ausgefallen!“

„Ja, das habe ich dem Chef eingeredet, damit er mich nicht rausschmeißt“, lachte Andrej und winkte ab. „Ich geh mich umziehen. Bin gleich wieder da.“

Der Student schaute ihm säuerlich hinterher.

„Nette Kollegen hast du da. Du solltest ihn bei deinem Chef verpfeifen“, kommentierte Anatolij von der Seite.

„Gott bewahre. Wenn der Chef den kündigt, darf ich ja NUR noch Überstunden schieben, um ihn zu ersetzen. Unbezahlt, versteht sich!“, grummelte Nikolai und vertiefte sich wieder in seine Abrechnung. Andrej war ihm eindeutig was schuldig. Das würde Nikolai ihm nicht vergessen.
 

Am nächsten Vormittag saß Nikolai in einer Vorlesung für Bann-Magie. Das war zwar nicht sein Studienfach, aber auch dafür hatte er ein magisches Talent und wollte dieses so gut es ging mit ausbilden. Mit etwas Glück konnte er später zu seinem Magister Magicae für Gestaltwandlung noch einen Zusatzabschluss auf Bann-Magie machen. Irgendwann, wenn er es sich finanziell leisten konnte, nochmal die Schulbank zu drücken. Meisterte man drei verschiedene Magie-Arten, bekam man hier in Russland den Magister Artificiosus Magicae anerkannt. Das fände Nikolai irre cool. Und im Gegensatz zu den meisten anderen magisch begabten Wesen hatte er auch die nötigen Voraussetzungen dazu. Er hatte tatsächlich so viele magische Veranlagungen. Die meisten Menschen und Genii hatten nur ein einziges, magisches Talent. Bann-Magie und Hellseherei gehörten mit zu den verbreitetsten und gängigsten. Man hatte da wenig Einfluss drauf und konnte sich keine neuen Fähigkeiten durch Lernen aneignen. Alles, was man konnte, war einem angeboren und trat in der Regel zwischen den Kindertagen und der Pubertät erstmals in Erscheinung. Man konnte nur die Fähigkeit, die man schon von Natur aus hatte, ausbilden und trainieren. Die, die noch ein zweites, angeborenes Talent hatten, waren schon seltener. Drei kamen fast nie vor. Das Nikolai dazugehörte, hatte seinen Grund. Er war nämlich für sich genommen schon ein ziemlich seltener Vogel – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Da Nikolai neben seiner Gestaltwandelei also auch eine Veranlagung für Bann-Magie hatte, besuchte er dann und wann entsprechende Vorlesungen, um da schonmal ein wenig vorzuarbeiten, für den Fall, daß er später noch einen Abschluss auf diesem Gebiet machen sollte. Um sein drittes Talent und seine eigentliche Passion, nämlich die Angriffs- und Abwehrzauber, insbesondere die Flüche und Verwünschungen, würde er sich leider zuletzt kümmern müssen. Die Fluch- und Verwunsch-Wissenschaften waren echt ein Hardcore-Studium, das viel Zeit und Durchhaltevermögen in Anspruch nahm. Das würde er nicht bewältigen können, solange er sein Studium noch mit einem Kassierer-Job in einem 24-Stunden-Laden unter einen Hut kriegen musste, wo er teilweise die ganze Nacht durcharbeiten durfte. Das beeinträchtigte seinen Lernerfolg nämlich deutlich. Im Moment musste er zusehen, so schnell wie möglich mit dem Magister Magicae fertig zu werden, um seinem Freund Anatolij nicht mehr auf der Tasche zu liegen, und da war die Gestaltwandlung für ihn der leichteste und erfolgreichste Weg. Denn das beherrschte er am besten.

„Eh, Nikolai“, raunte ihm seine Kommilitonin von der Seite zu. „Verstehst du, was der Dozent da vorne labert?“

„Natürlich. So schwer ist das Thema doch nicht“, gab Nikolai verwundert zurück.

„Kannst du mir beim Lernen helfen?“

„Keine Zeit“, blockte er sofort ab. Das war nichtmal eine Lüge.

„Ehrlich, du solltest Nachhilfe geben. Ich bezahl dich auch dafür.“

Nikolai rollte mit den Augen. „Nadeschda, du willst doch gar nicht lernen. Du willst bloß Zeit mit mir verbringen. Da habe ich keine Lust drauf. Und daran änderst du auch nichts, indem du versuchst, mich zu kaufen.“

„Aber ich versteh das Thema wirklich nicht“, gab das Mädchen mit Schmollschnute zurück.

„Besorg dir das Buch 'Wirbelsturm – Windmagie in Bannkreisen' von Seiji Kami. Der hat das verdammt gut erklärt.“

Nadeschda stutzte. „Das Thema der Vorlesung ist aber der Einsatz von Feuer in der Bannmagie.“

„Das Prinzip ist das gleiche. Man kann das problemlos von Wind auf Feuer umrechnen, wenn man die Grundstrukturen der Windmagie und der Feuermagie kennt“, gab Nikolai leise zurück, versuchte sich wieder auf die Vorlesung zu konzentrieren, konnte sich aber doch des hilflosen Blickes seiner Banknachbarin nicht erwehren. „Du hast auch keine Ahnung von den Grundstrukturen der Elementar-Magien, oder?“, vermutete er unwillig. Er wusste ja, daß Nadeschda nicht gerade zu den fleißigsten Studenten gehörte, aber das gehörte für ihn echt zum Urschleim.

„Nicht so tief, daß ich da irgendwas ummünzen könnte.“

„Die Studenten in der dritten Reihe, die da die ganze Zeit quatschen ... Wenn euch das Thema nicht interessiert, dann könnt ihr gern meine Vorlesung verlassen!“, meinte der Dozent etwas genervt und unterbrach die Debatte damit nachhaltig.

„Entschuldigung“, gab Nikolai nur laut zurück. Als der Professor daraufhin mit seinem Unterrichtsstoff fortfuhr, schnappte sich Nikolai einen Notizzettel, kritzelte 'such dir 'nen anderen Nachhilfelehrer' darauf und schob ihn Nadeschda kommentarlos hinüber. Dann hörte er wieder dem Dozenten vorn zu.
 

Der junge Mann mit den langen, schwarzen Haaren blieb mürrisch stehen und wartete, bis seine Verfolgerin zu ihm aufgeholt hatte. „Verrätst du mir mal, warum du mir nachläufst, Nadeschda? Du wohnst in einer anderen Richtung.“

„Ich laufe dir nicht nach. Ich hab nur zufällig das gleiche Ziel.“

„Und wo willst du hin?“

„Zu Anatolij“, gab die Bannmagie-Studentin selbstzufrieden zurück.

„Bitte was? Was willst du von Anatolij?“

„Er ist mein Freund! Wir sind zusammen!“

Nikolai hatte kurz Mühe, seine Mimik im Griff zu behalten. „Seit wann das denn?“

„Seit letzter Woche.“ Nadeschda lächelte und stiefelte an ihm vorbei. Nun war es Nikolai, der ihr notgedrungen nachlaufen musste. Sie marschierte die letzten paar Meter bis zum Haus vornweg, klingelte ganz selbstverständlich und tatsächlich tauchte kurz darauf der blonde Schopf seines Kumpels im Fenster auf.

„Nadeschda, hey, da bist du ja! Warte, ich lass dich rein!“, rief Anatolij und krachte das Fenster wieder zu, ohne Nikolai beachtet zu haben.

Nur Sekunden später öffnete sich die Haustür. Anatolij musste wirklich im Tiefflug die drei Etagen heruntergespurtet sein. Sofort fiel Nadeschda ihm in die Arme und sie begannen sich wild und ungezügelt zu küssen.

Nikolai stand einen Augenblick unbeachtet daneben, die Hände in den Jackentaschen, musste gegen seine Übelkeit ankämpfen, und zückte schließlich seinen Schlüssel, um schonmal hoch zu gehen, solange die zwei Turteltäubchen noch damit beschäftigt waren, sich gegenseitig die Zungen in den Hals zu stecken. Auf offener Straße, einfach widerlich. Und das Schlimmste war: wenn Nadeschda jetzt ernsthaft mit Anatolij zusammen war, würde sie permanent in dessen Wohnung herumhängen.

„Kolja?“, rief Anatolij ihm nach, ehe er ganz im Treppenhaus verschwinden konnte.

Nikolai drehte sich säuerlich wieder um.

„Du ... ähm ... hast heute nicht zufällig Dienst im 24-Stunden-Laden, oder?“
 

Anatolij kam Stunden später wieder ins Wohnzimmer. Da war es schon dunkel und er hatte Nadeschda nun wieder verabschiedet. Endlich. Nikolai saß mit einem Buch auf dem Sofa und versuchte zu lernen. Er zog eine leicht verbissene Miene, sagte aber nichts.

„Na? Bist du mit deiner Hausarbeit weitergekommen?“, wollte Anatolij wissen, da er Nikolai nicht wie erwartet am Computer fand.

„Nein, bin ich nicht. Wenn du im Schlafzimmer lautstark deine Tussi vögelst, daß man es im ganzen Haus hört, kann ich mich hier nicht konzentrieren.“

Der Ältere seufzte verstehend. „Bist du sauer?“

„Das hier ist deine Wohnung. Du kannst hier machen, was du möchtest. Aber wenn du mich loshaben willst, dann sag mir das nächstes Mal eher.“

Der Ältere verzog vielsagend das Gesicht. „Ich will dich doch nicht loshaben.“

„Du hast gefragt, ob ich nicht Dienst hätte!“

„Das ist doch nicht der eigentliche Punkt, oder?“

Nikolai sah endlich aus seinem Lehrbuch hoch, auf das er sich sowieso nicht hatte konzentrieren können. „Anatolij, warum ausgerechnet sie?“

„Warum nicht? Sie ist doch süß!“

„Sie ist ein Flittchen! Wenn sie mal so viel Energie ins Lernen stecken würde, wie mit Jungs rum zu machen ... Sie trifft sich mit ihren Kommilitonen unter dem Vorwand, Nachhilfe zu brauchen, und geht ihnen dann an die Wäsche. Bei mir hat sie das auch schon zweimal versucht. Sie schläft mit dem halben Jahrgang!“

„Na, solange es nur der halbe ist ...“, lachte sein Kumpel unbesorgt.

„Die andere Hälfte ist weiblich“, klärte Nikolai ihn humorlos auf. „Ich meine das ernst. Ich gönne dir ja eine Freundin. Aber sie ist nichts für eine Beziehung.“

„Ach was. Du kannst sie bloß nicht leiden und willst sie nicht in unserer Wohnung haben, das ist alles“, entschied Anatolij und verzog sich wieder aus dem Wohnzimmer. Wohl in die Küche, etwas zu essen holen.

Nikolai ließ resignierend den Kopf in den Nacken fallen. Warum nur benahmen sich Verliebte immer so furchtbar unvernünftig? Naja, egal. Jetzt wo Nadeschda wieder weg war, konnte er vielleicht endlich an seiner Hausarbeit weiterschreiben, entschied er und legte das Buch zur Seite. Er würde Anatolij gelegentlich seinen Dienstplan für die nächsten drei Wochen aufschreiben, damit der sich seine neue Tussi vorzugsweise dann einlud, wenn Nikolai nicht da war.
 

Kirill vollführte eine verschnörkelte Handbewegung und schoss damit einen Schockzauber nach Nikolai. Der Zauber hatte die Wirkung eines gewaltigen Rammbocks, der den kleingeratenen, zierlichen Studenten hart anprellte und gute zwei Meter rückwärts durch die Luft schleuderte. Nikolai krachte unkoordiniert auf den Boden, überschlug sich bei der Landung nochmal und blieb liegen.

„Oh, entschuldige!“, entfuhr es Kirill, selbst etwas erschrocken über die Wucht seines Angriffs. Eilig hechtete er herbei. „Ist alles okay bei dir?“

Nikolai stöhnte nur leise und hustete gepresst. Dann versuchte er sich vorsichtig zu bewegen, um zu sehen, ob an seinem Körper noch alles heil war. Aus seiner Nase schoss Blut. Aber zumindest Luft bekam er noch.

„Tut mir leid. Ich dachte, du könntest sowas abwehren“, beteuerte Kirill und hielt ihm ein Taschentuch hin.

„Was war das für´n linkes Ding?“, wollte Nikolai mit belegter Stimme wissen und setzte sich langsam wieder auf. Er strich sich die langen Haare aus dem Gesicht, damit er wieder etwas sah. „Klassische Handzeichen-Magie war das nicht. Die hätte mein Schutzschild eigentlich abblocken müssen.“

„Doch, das war schon Handzeichen-Magie, aber der Angriff basierte nicht direkt auf der Handbewegung an sich, sondern auf der Zahl 1. Ich hab diese Handbewegung einmal gemacht. Hätte ich sie mehrfach gemacht, wäre die Wirkung eine andere gewesen.“

„Zahlenmagie also?“

„Ja.“

„Du bist ne fiese Sau!“, hielt Nikolai seinem Übungspartner vor. „Aua ...“ Er krümmte sich nochmal zusammen, um seine Bauchschmerzen zu dämpfen. Der Schockzauber fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen.

„Wie gesagt, ich dachte du würdest das kennen.“

Nikolai kämpfte sich wieder auf die Beine. „Okay, wenn das Zahlenmagie auf 1 ist, dann muss ich in meinen Schutzschild als Komplementär die Zahl 9 mit einbinden“, überlegte er los, eine Hand noch mit dem Taschentuch auf die Nase gepresst. „Damit es wieder 10 werden. ... Ich glaub ich weiß, wie ich das anstelle. Greif mich nochmal mit diesem Zauber an!“

„Hast du nicht genug eingesteckt?“, wollte Kirill besorgt wissen. „Warte doch wenigstens erstmal, bis das Nasenbluten wieder aufgehört hat.“

„Greif an, hab ich gesagt!“

Hinnehmend ging Kirill wieder auf Kampfabstand. Normalerweise trainierte er ja ganz gern mit dem Gestaltwandler. Außer wenn sein Ehrgeiz wieder derart den Rahmen der Vernunft sprengte wie jetzt. Nikolai war verdammt talentiert und man konnte eine Menge von ihm lernen. Sie hatten Spaß daran, die Wirksamkeit von Angriffen und Abwehren zu erforschen, die man in der Uni nicht lernte. Das erweiterte den Horizont ungemein und brachte sie auch für den offiziellen Lehrstoff weiter. In den letzten Wochen hatten sie sich fast täglich nach der Uni hier auf dem Sportplatz getroffen und sich trainingsmäßig geprügelt. Soviel Kirill wusste, wollte Nikolai derzeit bloß nicht mehr zu Hause rumhängen als unbedingt nötig, weil sein Mitbewohner eine neue Freundin hatte und sie in Ruhe flachlegen wollte. Im Moment war das Kirill auch ganz recht. Aber es ging langsam auf die nächsten Prüfungen zu und er würde sich ans Lernen machen müssen. Dann konnte er nicht mehr jeden Tag stundenlang mit Nikolai auf dem Sportplatz stehen.
 

Nikolai schloss die Wohnung auf und lauschte, aber drinnen war es still. Gut, also keine Nadeschda mehr da. Es hatten ja auch keine Schuhe vor der Tür gestanden. Zufrieden kam er herein und warf seinen Schlüsselbund im Flur auf die Kommode. Der landete klirrend auf einem Briefumschlag mit dem Logo der Universität von Moskau. Fragend ging er hin und schnappte sich den Brief.

„Hi, Kolja. Wieder zurück?“, wollte Anatolij gut gelaunt wissen, als sein Kopf in der Wohnzimmertür auftauchte. „Ah ja, du hast Post von der Uni“, fügte er überflüssigerweise an und deutete auf den Umschlag, den Nikolai bereits in Händen hielt.

„Ich seh´s schon.“

„Hast du was ausgefressen?“, grinste Anatolij.

„Mh. Wahrscheinlich die Mitteilung, daß meine letzte Hausarbeit benotet wurde und ich sie in der Sprechstunde abholen soll. Der Dozent verschickt lieber Briefe als e-mails, wenn es drauf ankommt. ... Allerdings wäre er da diesmal ziemlich schnell gewesen.“

„Sag mal, hast du eine auf´s Maul bekommen?“, wollte Anatolij unfein wissen, weil ihm in diesem Moment die blutverkrustete Nase seines Kumpels auffiel.

Hoher Besuch

Nikolai warf einen Blick auf das Schreiben in seiner Hand und verglich die Ortsangabe mit der Türbeschilderung vor seiner Nase. Bis zu seinem ominösen Termin hatte er zwar fast noch eine Viertelstunde Zeit, aber sei´s drum. Besser als wenn er zu spät gekommen wäre. Er studierte hier an der Universität für Höhere Magie in Moskau und der Dekan hatte ihn ganz förmlich zu sich bestellt. Mit Vorladung und allem drum und dran. Nikolai hatte kürzlich eine umfangreiche Hausarbeit über die Bedeutung der Gestaltwandlung in der Undercover-Ermittlung eingereicht, und wie man diese aufdeckte. Die Hausarbeit sollte eigentlich zum Vor-Diplom avancieren. Er wollte mit diesem Thema auf den Abschluss hin weiterarbeiten. Aber statt einer Bewertung hatte er eine Vorladung beim Leiter der Universität erhalten. Er hatte den blöden Verdacht, daß da ein Zusammenhang bestand. Ob er mit seiner Hausarbeit irgendjemandem auf die Füße getreten war?

Nikolai schaute nochmal abschätzend auf die Uhr, seufzte leise und klopfte einfach. Konferenzraum No. 3, das klang als würde ihn hier ein ganzes Tribunal erwarten. Als er augenblicklich hereingebeten wurde, fand er darin aber tatsächlich nur den Dekan in Gesellschaft eines älteren, wichtig aussehenden Herrn in Anzug und Krawatte, der gerade demonstrativ einige Unterlagen durchsah.

„Nikolai, komm rein. Du bist früh dran“, grüßte der Dekan freundlich und sah dabei zum Glück nicht böse oder ernst aus.

Ein Teil seiner Anspannung fiel von Nikolai ab. Es schien nicht, als würde ihm hier ein Drama drohen.

„Setz dich!“

Der Student nickte vorsichtig und suchte sich wortlos einen Sitzplatz aus. Schräg auf Ecke. Ganz hinten am anderen Ende des Konferenztisches zu sitzen, hätte sicherlich blöd ausgesehen.

„Das hier ist Hektor Gontscharow vom Büro für interne Millieu-Überwachung“, stellte der Dekan ihm den Mann an seiner Seite vor.

Nikolai hielt kurz den Atem an. Also doch. Die Kriminalbeauftragten. Und zwar nicht die Offiziellen, sondern die Geheimpolizei. Seine Hausarbeit hatte bis dort hin Kreise gezogen und das Interesse solcher Leute geweckt? Er hatte ja gewusst, daß denen kaum etwas entging, aber war das gut oder schlecht?

„Nikolai Grigorijewitsch“, begann der Fremde förmlich. Seine dunkle, volle Stimme klang dabei sehr autoritär. Was er hier zu sagen hatte, hatte nicht den Charakter einer Bitte oder unverbindlichen Information.

Nikolai nickte eingeschüchtert.

„21 Jahre alt, ja? Du studierst hier Gestaltwandlung?“

„Ja“, bestätigte der Student und strich sich seine langen, schwarzen Haare auf einer Seite hinter das Ohr. Es verunsicherte ihn, daß der Fremde ihn direkt so herabwürdigend mit 'du' ansprach, als wäre er ranghöher. „Im 5. Semester, Herr Gontscharow“, fügte er kleinlaut noch an.

„Und du hast gute Noten, wie ich sehe.“

Das war eine Feststellung, keine Frage. Trotzdem fühlte Nikolai sich genötigt, etwas dazu zu sagen. „Der Jahrgangsbeste bin ich zwar nicht, aber schon vorn dabei, ja.“

„Du interessierst dich für Verbrecher?“

Nikolais Blick irrte kurz suchend über die Tischplatte, als gäbe es da vorgefertigte Antworten für ihn abzulesen. „Ich ... ähm ... habe eine Abhandlung geschrieben, wie man Gestaltwandler enttarnt. Es war eine hypothetische Annahme, daß solche Gestaltwandler gern als Maulwürfe agieren, eben weil sie sich hinter ihrer Tarngestalt in Sicherheit fühlen. Es ging da eher um Spionage-Abwehr.“

„Findest du das gut?“

„Wie bitte?“, machte Nikolai nun endgültig überfordert und hilflos. Er war blockiert und hatte keine Ahnung, was der Mann meinte.

„Ich sag dir, worauf ich hinaus will. Du hast in deiner Hausarbeit ...“ Gontscharow hielt vielsagend das betreffende Werk hoch. „... die Motus erwähnt. Ich gehe also davon aus, daß dir geläufig ist, was die treiben. Dieses Verbrecher-Kartell ist massiv am expandieren und es fällt uns zunehmend schwer, all ihre Ausläufer im Auge zu behalten. Wir könnten jemanden gebrauchen, der sich innerhalb der Motus bewegt, als V-Mann aktiv ist und für uns alles im Blick behält. Einen Insider.“

„Sie meinen, da ich selber Gestaltwandler bin, wäre ich ein guter Kandidat dafür?“

„Das, und weil du offensichtlich weißt, wie man es anstellt, nicht aufzufliegen.“

Nikolai atmete überrumpelt durch und ließ sich gegen die Stuhllehne sinken.

Der Dekan lächelte zuversichtlich. „Die russische Geheimpolizei nimmt niemals Bewerbungen von Freiwilligen an. Sie rekrutieren ihre Leute immer von sich aus. Als Leiter der Universität von Moskau ist es unter anderem meine Aufgabe, unter meinen Studenten nach möglichen Kandidaten Ausschau zu halten. Aufgefallen bist du mir schon länger, aber deine Hausarbeit war der letzte Anstoß. Ich darf dir versichern, daß du die besten Empfehlungen für einen Posten bei der Geheimpolizei hast.“

„Wird das meinem Studium im Weg stehen?“, wollte Nikolai wissen. „Mir ist eigentlich sehr daran gelegen, meinen Abschluss in die Tasche zu kriegen.“

„Es obliegt dir, das unter einen Hut zu bringen“, gab Gontscharow zurück. „Ausschließen muss es sich gegenseitig nicht. Aber es ist deine Sache, dir den Kontakt mit der Motus so einzurichten, daß du die Universität weiter besuchen kannst.“

„Okaaayyyyy~?“, erwiderte Nikolai gedehnt, weil er einfach zu überrumpelt war, um direkt antworten zu können. „Muss ich mich jetzt sofort entscheiden?“, hakte er wehleidig nach. Himmel, war er so einer Sache überhaupt gewachsen? „Ich meine, was bieten Sie mir denn im Gegenzug überhaupt?“

„Soweit ich informiert bin, bist du Vollwaise und hast kaum genug Geld, um dir das Studium leisten zu können. Ich denke, finanziell lässt sich da was machen.“

Der Junge verzichtete darauf, das zu korrigieren. Er war kein Waise im klassischen Sinne. Seine Eltern lebten ganz sicher noch irgendwo. Nur kannte er sie eben nicht. Trotzdem war das Angebot von Gontscharow nicht von der Hand zu weisen.

„Es versteht sich“, meinte der Geheimdienst-Vertreter, „daß von deiner V-Mann-Aktivität keiner was wissen darf. Wir setzen Verschwiegenheit voraus.“

„Natürlich.“

Kaum 20 Minuten später kam Nikolai aus derm Konferenzraum und musste sich draußen erstmal geplättet gegen die Wand stützen. Er hatte das Gefühl, daß ihm das alles viel zu schnell gegangen war. Und daß es auch so schnell weitergehen würde. Man hatte ihm kaum das Nötigste erklärt. Und übermorgen sollte er sich bereits mit jemandem treffen, der ihn in die Motus einschleusen würde. Verdammt wenig Zeit, um sich auf ein Verbrecher-Kartell diesen Kalibers oder ein Undercover-Agenten-Dasein vorzubereiten. Er hatte ja nun nicht unbedingt Erfahrung mit sowas, geschweige denn eine haltbare Geheimdienst-Ausbildung. Ihm kam das alles nicht sonderlich sicher und seriös vor. Aber er war dennoch gewillt, es drauf ankommen zu lassen, zur Not auch per Sprung ins kalte Wasser, wenn es eben nicht anders ging. Gegen Verbrecher vorzugehen, war bestimmt eine gerechte Sache.
 

Nadeschda warf am nächsten Tag im Lesesaal ihre Tasche neben Nikolai auf den Tisch und setzte sich. Sie grinste ihn breit an. Nikolai hatte das akute Bedürfnis, sich umzusetzen, aber er kam nicht mehr dazu, da auch der Dozent gerade herein schneite. Still zähneknirschend nahm er also die Gesellschaft der drahtigen, brünetten Dame mit den Nutten-Klamotten und der Tonne Make-Up im Gesicht hin.

„Hallo, Kolja. Hier ist doch noch frei, oder?“, grüßte Nadeschda.

„Gott, nenn mich nie wieder Kolja!“

„Wieso nicht? Anatolij nennt dich auch so.“

„Anatolij darf das. Er ist älter“, knurrte Nikolai. Er hasste es eigentlich, mit der Koseform seines Vornamens angesprochen zu werden. Anatolij war in der Tat der einzige, der das durfte, obwohl Kosenamen hier in Russland gang und gebe waren.

„Gewöhn dich dran. Bei der Motus wird dich jeder so nennen.“

Es dauerte einen Moment bis diese Aussage so richtig in Nikolais Bewusstsein vorgedrungen war. Er blinzelte irritiert und drehte ihre Worte noch ein paar Mal im Kopf hin und her, ob er sich vielleicht verhört hatte, oder ob sie wirklich Sinn ergaben. „Bitte was!?“, rückversicherte er sich dann.

Nadeschda lächelte wieder. Diesmal so aufrichtig und authentisch, wie Nikolai sie noch nie hatte lächeln sehen. Als sei alles, was er bisher von ihr gesehen hatte, nur Schein und Fassade gewesen. „Ich soll dich bei der Motus einschleusen.“

„Du arbeitest für die Geheimpolizei?“, raunte Nikolai fassungslos, aber so leise, daß es hoffentlich keiner mithörte.

„Nicht direkt. Ich kooperiere nur mit ihnen. Was glaubst du, warum ich mich die ganze Zeit so auffallend in deiner Nähe gehalten habe? Ich wollte rauskriegen, aus welchem Holz du geschnitzt bist und ob du das Zeug für einen Undercover-Agenten hast. Ich habe dich beobachtet. Anatolij interessiert mich herzlich wenig. Aber er war ein gutes Mittel zum Zweck, um an dich ranzukommen. Er konnte mir viel über dich erzählen, mir Zugang zu deinen Sachen verschaffen und mich in deine Nähe bringen.“

Nikolai schaute sie mit reichlich dummem Gesicht an und wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Das war unglaublich.

„Ich werde auch künftig deine Verbindungsperson zum Geheimdienst sein.“

„Lass uns nach der Vorlesung weiterreden“, entschied er kurzerhand, um das Thema vorläufig zu vertagen. Er kam sich furchtbar hintergangen vor, das musste er erstmal sacken lassen.

„Du musst nach der Vorlesung aber sofort auf Arbeit“, gab die junge Frau neunmalklug zurück, um gleich mal zu demonstrieren, wie gut sie über ihn im Bilde war.

„Dann komm halt mit, wenn´s nicht anders geht. Du kannst mir ja auf dem Weg dahin alles erzählen.“
 

„Nikolai, die Fischkonserven gehören ins linke Kühlfach, nicht ins mittlere!“

„Hm? ... Oh, entschuldige“, machte der Student erschrocken und sortierte das falsch eingeräumte Eisfach schnell wieder aus.

„Was ist denn heute los mit dir? Du arbeitest schon seit fast 2 Jahren in diesem Laden. Du müsstest doch langsam mal wissen, was wo steht“, legte Andrej tadelnd nach.

„Ich weiß nicht. Bin heute irgendwie nicht bei der Sache ...“

„Das merke ich. Du bist schon die ganze Zeit total in Gedanken“, erklärte sein Kollege und hielt vielsagend eine Kekspackung hoch, die er aus dem Suppenregal nahm. Ebenfalls falsch einsortiert.

„Wird Zeit, daß ich Feierabend habe“, nuschelte Nikolai.

„Ist alles okay bei dir?“

„Das ist nur eine Phase. Das klärt sich.“

„Prüfungsstress?“, vermutete Andrej.

Nikolai nickte lächelnd. „Ja“, log er. Diese Ausrede nahm er gern an. Er konnte seinem Kollegen ja schlecht sagen, daß gestern die Russische Geheimpolizei an ihn herangetreten war und er von jetzt an in Verbrecher-Kreisen verkehren würde.

„Komm, lass mich das machen und scher dich nach Hause. Mach Schluss für heute. Die letzte Stunde schaff ich alleine“, trug Andrej ihm auf und trieb ihn mit scheuchenden Handbewegungen von der Kühltruhe weg.

„Danke.“

Nachdem er sich umgezogen hatte und wieder in Alltagsklamotten steckte, entschied sich Nikolai, heute zu Fuß heim zu gehen. Eigentlich wollte er gar nicht nach Hause. Er fühlte sich dort nicht mehr sicher. Und er musste nachdenken. Sein Kumpel Anatolij, der ihm quasi seit 3 Jahren das Überleben sicherte und ein Dach über dem Kopf gewährte, der eine Kumpel, dem er so vorbehaltlos vertraut hatte, dieser Anatolij hatte ihn mörderisch verraten. Sicher, er konnte nicht viel dafür. Anatolij hatte ja nicht gewusst, daß Nadeschda ihn nur benutzen und im Namen der Geheimpolizei aushorchen wollte. Aber es änderte nichts an der Tatsache, daß die Geheimpolizei nun wirklich ALLES über ihn wusste. Vorwürfe hin oder her, Nikolai musste so schnell wie möglich dort ausziehen und sich eine eigene Wohnung suchen. Er fühlte sich bei Anatolij nicht mehr wohl. Nicht mehr in guter Gesellschaft. Er vertraute Anatolij nicht mehr. Wahrscheinlich würde er den Kontakt zu ihm komplett abbrechen. War vielleicht auch besser für Anatolij. Umso geringer war die Gefahr, daß der versehentlich in irgendeinen kriminellen Mist mit reingezogen wurde. Die Motus war nicht zu unterschätzen. Aber in erster Linie wollte Nikolai vermeiden, daß Anatolij der Geheimpolizei auch weiterhin alles mögliche erzählte. Gemein war, daß Nikolai ihn nichtmal darauf ansprechen und zur Rede stellen konnte. Er durfte ja seine Verbindung zur Geheimpolizei nicht offenlegen. Und er sollte besser auch nicht mitkriegen, daß Nikolai künftig bei der Motus verkehrte. Anatolij würde niemals erfahren, was er da eigentlich angerichtet hatte.

Und mit Nadeschda musste er sich erst anfreunden. Auch ganz unabhängig davon, daß sie ihn so dreist ausspioniert hatte und ihm deshalb nicht gerade vertrauenerweckend im Bewusstsein blieb, fand er sie unsympathisch. Es fiel ihm schwer, sich damit abzufinden, daß von so jemandem am Ende vielleicht sein Leben abhing. Sie war sein Kontakt zum Geheimdienst und damit der entscheidende Einflussfaktor auf alles, was ihm in der Motus passieren oder nicht passieren konnte. Sie musste ihn decken, sie musste für ihn Hilfe anfordern, sie hatte in der Hand, welche Ergebnisse und Berichte sie in welcher Form an den Geheimdienst weiterleiten wollte. Sie war augenscheinlich diejenige, die ihn jederzeit abschießen und sich selbst überlassen konnte. Wenigstens hatte er im Gegenzug nun auch ein bisschen was über sie erfahren. Bisher hatte er ja nicht gerade viel über Nadeschda gewusst, außer, daß sie Bann-Magie an der Universität in Moskau studierte. Natürlich tat sie das nicht wirklich. Das war nur eine Tarn-Identität. Sie war eine Zentaurin, arbeitete bei der Motus als Bann-Magierin und belegte die neuen Sklaven mit Bannzaubern, damit sie nicht rebellierten. Dadurch bekam sie mit, auf welche Arten von Genii die Motus Jagd machte und wohin diese verschleppt wurden. Sie hatte bisher Sklavenhandel zwischen Russland und drei Ländern Mitteleuropas mitverfolgt. Und dort würde auch Nikolai mit einsteigen: beim Sklaventransport. Das war der einfachste Weg, ihn in die Motus einzuschleusen. Er musste sich vom kleinen Handlanger hocharbeiten. Das war ihm auch Recht.

Die Motus selber war übrigens ein echt boshafter, gewissenloser Haufen. Es gab auf dieser Welt Wesen, die den Menschen schadeten oder sie gar töteten. Manche Kreaturen fraßen Menschen oder zerstörten ihre Häuser und Scheunen, einfach weil es in ihrer Natur lag. Die Motus hatte es sich zur Aufgabe gemacht, gegen solche mörderischen Genii vorzugehen. Angefangen hatte alles mit einer harmlosen Bauern-Inititative, die ihre Schafherden vor Trollen schützen wollten, die aus den alten, germanischen Gegenden zunehmend nach Russland vordrangen. Es ging dabei um Warnsysteme und eine sichere Befestigung der Weiden, mehr nicht. Ein gewisser Vladislav Michailowitsch Jegotow, der heutige Chef der Motus, hatte sich diese lokale Gruppierung zu Nutze gemacht, um ein viel weitreichenderes Konstrukt zu gründen. Die Liste der Wesen, gegen die man vorgehen wollte, war rasch länger geworden, die Methoden rasch brutaler, das Einzugsgebiet rasch größer. Die Motus agierte inzwischen in ganz Russland, hatte gewaltige Geld- und Waffenressourcen und so viele Mitglieder, daß sie hierarchisch strukturiert werden musste. Auch internationale Aktivitäten konnte man ihnen bereits nachweisen, auch wenn man noch nicht wusste, wie weit die wirklich reichten. Genau darum war auch noch niemand gegen die Motus vorgegangen: man wusste einfach zu wenig über sie. Keiner kannte die gesamte Organisation. Wenn man zu früh eingriff, legte man vielleicht nur eine kleine Abteilung lahm, verlor dafür aber dutzende anderer unwiederbringlich aus den Augen, die davon aufgeschreckt und gewarnt wurden und sich wer weiß wohin zurückzogen, um von wo anders aus die Arbeit fortzusetzen. Man hatte bisher noch keine Idee, wie man die Motus wirksam ausschalten sollte, ohne daß die auseinander stoben wie die Kakerlaken, wenn das Licht anging. Und natürlich war 'Vladislav Jegotow' nur ein Deckname. Man müsste erstmal rausfinden, wer der Mann wirklich war.
 

Inzwischen war Nikolai zu Hause angekommen. Anatolijs Wohnung, in der er mietfrei mitwohnen durfte. Er hatte einen ganzen Haufen Probleme hin und her gewälzt, aber keines gelöst. Lösungen waren nie einfach. Mit gemischten Gefühlen schob er jetzt den Schlüssel ins Schloss und trat ein.

Sofort streckte Anatolij seinen Kopf und einen Kochlöffel aus der Küche heraus. Er war wohl gerade dabei, das Abendbrot zu machen. „Hey, Kolja, du bist aber spät dran. Hast du wieder länger gearbeitet?“

„Nein, ich bin ... Ich habe noch einen Umweg gemacht“, redete er sich heraus und stellte seine große Umhängetasche in den Flur.

„Das Essen ist schon lange fertig. Komm, lass uns essen, bevor es ganz kalt ist. Ich konnte es nicht mehr auf dem Herd stehen lassen, da wäre es zerkocht.“

Nikolai nickte nur wortlos und kam der Aufforderung nach.

„Alles in Ordnung?“, hakte Anatolij skeptisch nach. So wortkarg kannte er seinen Mitbewohner gar nicht.

„War bloß ein langer Tag.“ Nikolai setzte sich an den Esstisch und ließ sich überraschen, was Anatolij ihm auftafelte. Wenn er schon zum Essen eingeladen wurde, war er nicht wählerisch. Dabei verschränkte er distanziert die Arme vor der Brust.

Anatolij stellte ihm den Teller mit Bratkartoffeln vor die Nase, setzte sich mit seinem eigenen Teller gegenüber und strich sich die blonden, ohnehin schon zurückgegeelten Haare nochmal extra glatt. Dabei musterte er den jüngeren Studenten die ganze Zeit aufmerksam. „Ist wirklich alles okay bei dir?“

Nikolai zog ein etwas griesgrämiges Gesicht. Er musste sich abgewöhnen, so durchschaubar zu sein, wenn er es als Undercover-Agent zu was bringen wollte. Aber Anatolij kannte ihn wohl einfach schon zu lange und zu gut. „Hör zu ...“, begann er ernst und hörte auf, nach diplomatischen Floskeln zu suchen. „Ich werde ausziehen. Ich such mir eine eigene Wohnung“, brachte er es einfach gnadenlos auf den Punkt. Dann griff er nach der Gabel und spickte ein paar Kartoffeln auf.

„Wieso das denn? Und wovon willst du das bezahlen?“

„Ich habe eine Arbeit angeboten bekommen, mit der ich mir eine eigene Wohnung leisten kann. Dann muss ich dir nicht mehr auf der Tasche liegen.“

„Naja ...“, machte Anatolij überrumpelt. „Dann beteilige dich doch an meiner Miete, wenn du unbedingt willst. Deshalb musst du doch nicht ausziehen.“

„Ich habe es satt, auf deinem Sofa zu schlafen. Ich will ein eigenes Schlafzimmer und ein Bett haben.“

Anatolij kniff argwöhnisch die Augen zusammen. Das klang zwar plausibel, aber irgendwie sehr kühl. „Um´s Geld geht es hier wohl nicht, soviel ist sicher“, mutmaßte er.

Nikolai zwang sich zu einem Lächeln. „Es liegt nicht an dir. Wir bleiben trotzdem Freunde, in Ordnung?“ Das war eine Lüge. Aber Nikolai konnte ihm ja schwerlich ins Gesicht sagen, daß er sich von ihm verraten und verkauft fühlte und ihm nicht mehr vertraute.

„Ist es wegen Nadeschda?“, bohrte Anatolij weiter. „Du störst dich daran, daß du uns unsere Intimsphäre lassen musst, oder? Du willst nicht mehr den ganzen Abend aus bleiben, damit wir zwei ungestört sind.“

„Meinetwegen auch das“, grummelte Nikolai und widmete sich dem Essen.

„Du würdest mir doch sagen, wenn irgendwas wäre, ja?“

„Sicher.“

Verschleppung

Er hatte ein echt beschissenes Gefühl bei der Sache. Er saß neben Nadeschda auf dem Beifahrersitz und sie fuhr mit ihm gerade zum 'Lager D'. Allein aus der Bezeichnung schloss Nikolai, daß es mehrere solcher Lager geben musste. Aber was dort genau abging, wusste er noch nicht. Das Lager lag ominöserweise auch richtig tief im Wald. Diese unbequeme Schlammpiste hier raus in die tiefste Wildnis nahm gar kein Ende. Das Lager sollte nicht zufällig von irgendjemandem gefunden werden. Aber deutliche LKW-Spuren im Matsch zeigten, daß nicht selten auch schwere Gefährte den mühsamen Weg hier raus auf sich nahmen. Es war schon ziemlich spät und es wurde langsam dunkel. Nadeschda hatte an ihrem Auto bereits die Scheinwerfer eingeschalten. Dann tauchte endlich ein riesiger Bretterbau auf, der sich von außen nichts ansehen ließ. Keine Beschriftung, keine Autos, keine Hinweisschilder.

„Meine Güte, wo sind wir hier?“, wollte Nikolai wissen.

„Siehst du gleich. Und warum wir so spät hier sind, merkst du auch noch.“

Nadeschda stieg ohne zu zögern aus und knallte die Autotür von draußen zu. Also schloss Nikolai sich ihr notgedrungen an. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, als er eintrat, aber enttäuscht wurde er erstmal nicht. Das Holzhaus war eine kleine Lagerhalle, wie der Name schon vermuten ließ. Drinnen standen fünf massive Käfige mit schweren Metallstäben, in jedem davon eine hübsche, asiatische Frau eingesperrt. Das war also ihre Ware für heute. In der Ecke saßen zwei Kerle auf Kisten, pafften Zigaretten und spielten Karten. Nikolai hatte den Eindruck, daß das ein magisch begabter Mensch und sein Genius Intimus waren, aber näher definieren konnte er sie zunächst nicht.

Nadeschda grüßte zwanglos, stellte 'Kolja' als den Neuen vor und nahm in Ruhe die Käfige in Augenschein.

Nikolai war in diesem Moment gar nicht so böse darüber, als Kolja betitelt zu werden. Er wollte nicht, daß die Typen seinen korrekten Namen kannten. Kolja war zwar die Koseform von Nikolai, hatte sich aber auch schon längst als eigenständiger Name eingebürgert. Sollten die ihn mal schön für Kolja halten.

„Sei vorsichtig, die wurden heute noch nicht gefüttert“, rief einer der schmierigen, bärtigen Männer aus dem Hintergrund, als Nadeschda zu nah an einen der Käfige ging.

Statt zu antworten, sah Nadeschda abschätzend auf ihre Armbanduhr.

„Wo kommen die fünf Mädels her?“, wollte Nikolai von ihr wissen.

„Aus Thailand. Und sie werden heute Nacht noch weitergeschleppt nach Polen.“

„In ... Bordelle? Zwangsprostituiert?“, hakte Nikolai vorsichtig nach. Wozu sollte man sonst gefangene, süße, thailändische Mädchen brauchen? In Polen gab es ja immerhin einen boomenden Markt dafür.

Nadeschda grinste. „Die sind nicht das, was du glaubst“, behauptete sie. Und dann, scheinbar ohne Sinnzusammenhang: „Die Sonne geht unter.“

Als wäre das ein Stichwort gewesen, fingen die fünf Mädchen auf einmal an, sich schreiend in ihren Käfigboxen zu winden und sich schmerzhaft zu verrenken. Nikolai wich entsetzt zurück und sah schreckerstarrt zu, wie sich die Thailänderinnen zu verwandeln begannen. Ihre schönen, langen, schwarzen Haare wurden schütter und fielen aus. Ihre rosige Haut wurde grau und runzelig. Die Augen sackten tief in die Höhlen und bekam schwarze Augenränder. Eine riss den Mund auf, da konnte Nikolai sehen, wie sich ihre Zahnreihen zu einem wahren Raubtiergebiss weiteten. Binnen Sekunden sahen die fünf ehemals hübschen Mädchen aus wie die reinsten Zombies. Und dann trennte sich plötzlich bei der ersten mit einem reißenden Geräusch der Kopf vom Körper ab. Nikolai kreischte panisch auf. Der Kopf schwebte vom Körper weg, welcher leblos zurück blieb, und zog aus dem Hals noch einige innere Organe mit heraus. So flog er dann im Käfig herum, ein loser Kopf mit unten herabbaumelnden Organen. Die anderen vier Mädchen ereilte das gleiche Schicksal. Auch ihre Köpfe lösten sich auf diese gruselige Weise vom Körper, schwebten frei im Käfig herum, oder begannen blutrünstig an den Metallstäben zu nagen, um sich zu befreien. Die Körper blieben leblos am Boden liegen. „Himmel, was ist das!?“, jaulte Nikolai fassungslos.

„Das sind Krasue“, erklärte Nadeschda lachend. „Krasue sind thailändische Kopf- oder Organ-Dämonen. Tagsüber sind sie liebreizende Mädchen, nicht von normalen Menschen zu unterscheiden. Aber nachts trennt sich der Kopf vom Körper und fliegt alleine durch die Gegend, um bestialisch Menschen zu fressen. Charakteristisch sind diese runterbaumelnden Organe, die da noch am Hals dranhängen. Morgens kehrt der Kopf zum Körper zurück und verbindet sich wieder mit ihm.“

„Das ist ja furchtbar!“, keuchte er.

„Ja, ist es. Und sie sind scheiße gefährlich. Nun weißt du, warum die Motus sie jagt. Wir zwei kümmern uns jetzt darum, sie mit einer Bann-Marke unter Kontrolle zu bringen, damit sie gefügig und ungefährlich werden. Und dann verkaufen wir sie als Sklaven in Polen. Dort zahlt man gute Preise für süße Thailänderinnen.“

„Die werden nicht getötet?“

„Na-na, das ist dein erster Tag hier bei uns in der Motus. Wir wollen dich ja nicht gleich überfordern. Du bekommst schon noch deine Chance“, witzelte Nadeschda. „Krasue sind schwache Dämonen, die kann man mit Bann-Magie kontrollieren. Da reicht es, sie zu versklaven. Die muss man nicht umlegen. Lebend bringen sie uns wenigstens noch Geld ein, nicht wahr? Mit der schwarzen Liste, auf der die Todeskandidaten stehen, befassen wir uns andermal.“

Nikolai nickte nur, etwas grün um die Nase.

„Also pass auf, ich zeig dir, wie man mit ihnen umgeht“, entschied sie und zog ihren knappen Mini-Rock zurecht, als würde sie sich auf einen Kampf vorbereiten. „Jungs, macht ihr mir mal die Käfige auf, damit ich arbeiten kann?“, rief sie den beiden Männern zu, die am Rand auf Kisten saßen.

Murrend warf einer seine Spielkarten hin. Beim Herüberkommen angelte er einen Schlüsselbund aus seiner Hose.

„Zuerst mal musst du einen Bann-Kreis ziehen, damit dir die Viecher nicht abhauen, wenn sie versehentlich aus dem Käfig entwischen“, erklärte Nadeschda und beäugte Nikolai abschätzend von der Seite. „Das kannst du ja wohl, oder?“

Nikolai nickte wieder.

Nadeschda hielt ihm auffordernd ein Stück Kreide hin. „Dann zeig mal, was du kannst.“

„Wieso belegt man sie nicht mit dem Bann, solange sie noch menschliche Gestalt haben? Ist der fliegende Kopf nicht viel gefährlicher?“, wollte der Student wissen. Drei der fünf Krasue nagten immer noch wie wild mit den Zähnen an den Metallstreben ihrer Käfigboxen, als könnten sie damit zu ihren potentiellen Opfern durchbrechen.

„Mit den Köpfen wird man leichter fertig. Die können sich nicht wehren, weil sie keine Arme und Beine haben.“

„Was du nicht sagst ...“, murmelte Nikolai, strich sich die langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht und machte sich an die Arbeit. Der Bann-Kreis, den er auf dem Boden zog, war so groß, daß er alle fünf Käfige umschloss. Er hatte keine Lust, für jeden einen eigenen zu ziehen. Da er über asiatische Magie wenig wusste, entschied er sich für einen Bann-Kreis auf der Basis von Elementar-Magie, denn die unterlag auf der ganzen Welt den gleichen Regeln. Dabei bezog er Holz und Metall als fünftes und sechstes Element mit ein, weil die Asiaten ja andere Elemente als die Europäer hatten.

„Arbeitest du mit den europäischen oder den asiatischen Elementen?“, wollte Nadeschda irritiert wissen.

„Beides.“

„Du musst dich aber entscheiden.“

„Nein, die kann man problemlos kombinieren, wenn man weiß, wie. Auch wenn es in Asien eigentlich keine Luft gibt, behalte ich dieses Element mal lieber mit drin. Diese Köpfe fliegen in der Gegend rum. Ich vermute, die Krasue verfügen als flugfähige Wesen zumindest über Grundzüge der Windmagie. Die japanischen Tengu beispielsweise sind auch starke Windmagier, auch wenn in Japan das Element Luft unbekannt ist. Ich geh da lieber kein Risiko ein.“

Nadeschda beobachtete seine Arbeit staunend weiter. Ja, sie hatte sich nicht getäuscht. Nikolai war der Richtige für diesen Job. Auch wenn er sein Studium noch nicht beendet hatte, hatte er schon echt was auf dem Kasten.

„So. Wer noch rein oder raus will, sollte sich jetzt entscheiden. Ich aktiviere den Bann-Kreis“, kündigte Nikolai irgendwann an.

Nadeschda ließ sich den Schlüsselbund geben und schickte den Motus-Handlanger wieder zurück zum Kartenspielen. Ohne den Bann-Kreis nochmal auf seine Tauglichkeit zu überprüfen – sie vertraute Nikolais Künsten – schloss sie den ersten Käfig auf. Der fliegende Zombie-Kopf stürzte sich sofort gierig in ihre Richtung. „Um mit diesen Dingern fertig zu werden, gibt es verschiedene Wege.“ Sie zog die Tür auf und krallte mit einer Hand zu. „Am einfachsten ist es, sie fest an den Haaren zu packen und am langen Arm zu halten. Dann können sie nichts mehr machen.“ Die brünette Frau stieg in die Gitterbox hinein und zerrte den kreischenden, wild herumschleudernden Kopf mit Kraft zurück zum dazugehörigen Körper. „Zuerst sackt man den Kopf wieder da hin, wo er hingehört. Stör dich nicht an den runterbaumelnden Organen. Die finden ganz von alleine wieder ihren angestammten Platz. Und dann belegst du sie mit dem Bann-Zeichen.“ Mit der freien Hand holte Nadeschda einen Zettel aus der Jackentasche, auf dem bereits ein Bann vorgefertigt war, und drückte diesen auf das Brustbein ihres Opfers. Die vorgefertigte Bann-Marke sprang vom Papier auf die Krasue über. Und augenblicklich war Ruhe. Der Kopf hörte auf, hysterisch zu schreien, wuchs wieder am Körper fest, und das Wesen nahm wieder eine normale, menschliche Erscheinung an. Die Thailänderin war offenbar noch bei Bewusstsein, wirkte aber apathisch. Sie hatte einen irgendwie gebrochenen Blick, als hätte sie keinen eigenen Willen mehr. Nadeschda kam aus der Käfigbox heraus und schloss diese wieder ab. Sie war nichtmal aus der Puste oder irgendwie hibbelig von einem möglichen Adrenalin-Schub. Sie wirkte professionell und als Herr der Lage. Sie hatte das sicher schon oft gemacht. „So, jetzt versuch du dein Glück. Wie man die Bann-Marke vom Papier auf den Körper überträgt, weißt du ja sicher“, meinte sie lächelnd und hielt Nikolai eine Handvoll der Bann-Zettel aus ihrer Jackentasche hin. „Wie man die Bann-Zettel herstellt, bring ich dir später noch bei.“

Etwas unglücklich nahm er das Papier entgegen und studierte das mit Tinte darauf aufgezeichnete Zeichen. Es war verdammt komplex und beinhaltete eine ganze Bandbreite von Bestandteilen. Über einige davon konnte Nikolai nur anhand der Beschaffenheit mutmaßen. Gehorsamszwang, Verhinderung einer Flucht, Unterbinden unerlaubter Verwandlungen ... alles Dinge, die man nicht unbedingt in einem konventionellen Studium lernte. Er würde sich später unbedingt ansehen müssen, was sie als Emulgator verwendeten, um dermaßen komplexe Konstrukte so langlebig zu machen. Ein Bann von solcher Vielschichtigkeit und Verflochtenheit sollte eigentlich ziemlich schnell wieder in seine Bestandteile zerfallen und wirkungslos werden. Nur durfte diese Bann-Marke für den Sklavenhandel ja nicht innerhalb von Tagen wieder verschwinden. Die Opfer sollten ja jahrelang, wenn nicht gar lebenslang, unterjocht bleiben. Dazu brauchte man Hilfszauber, um die Magien, die eigentlich nicht mischbar waren, dauerhaft vermischt zu halten.

Aber dazu später. Nikolai schnappte sich den ersten Bann-Zettel und ließ sich von Nadeschda den nächsten Käfig aufschließen. Er kam sich vor wie im Kampfring. Beim Erklingen der Ringglocke begann das große Gerangel. Die Tür ging auf und sofort stürzte sich der Krasue-Kopf blutrünstig auf ihn. Erschrocken ließ Nikolai den Bann-Zettel fallen und griff mit beiden Händen nach dem fliegenden Kopf. Der Student hatte alle Mühe, das tobende Ding auf einer Armlänge Abstand zu halten. Die Krasue hatte wesentlich mehr Kraft als er geglaubt hatte. Obwohl sie nirgendwo Widerstand hatte, um sich abzudrücken, strebte sie mit solcher Macht auf Nikolai zu, daß ihm fast die Arme einknickten. Nikolai war sich sicher, daß dieser fliegende Kopf ihn locker durch die Gegend hätte ziehen können. Und immer wieder dieses monströse, schnappende Gebiss, das nach seinem Hals gierte. Nikolai verließen die Kräfte. Der beiderseits an den Ohren gepackte Kopf rutschte ihm durch die Hände. Er schaffte es gerade noch, ihn nach oben zu wuchten, damit er ihm nicht direkt ins Gesicht knallte wie eine Korken aus einer Sektflasche. Dann trat er panisch die Flucht an. Natürlich verfolgte der fliegende Kopf ihn auf der Stelle. Er schaffte es nicht mehr, die Krasue zurück in den Käfig zu schleudern und die Tür zu schließen, sie war bereits draußen. Nikolai rannte um sein Leben. Der Kopf verfolgte ihn schreiend zweimal rings um den Käfig herum, dann endlich hatte Nikolai seine überschlagenden Gedanken wieder so weit im Griff, daß er den Schockzauber anwenden konnte, mit dem sein Kommilitone Kirill ihm neulich eine blutige Nase verpasst hatte. Und der saß. Der fliegende Kopf wurde gegen einen Käfig gefegt, ging direkt K.O. und blieb benommen auf dem Fußboden liegen.

Nadeschda und die beiden Motus-Männer lachte sich am Rand die Seele aus dem Leib, während sie das alles beobachteten.

Nikolai musste erstmal überfordert nach Luft schnappen. „dermo!“ [Scheiße], fluchte er in sich hinein. Diese Kreaturen waren wirklich nicht ganz ohne. Nach einigen Atemzügen zur Beruhigung ging Nikolai den Kopf wieder einsammeln und beendete die Bann-Belegung, bevor der ausgeknockte Schädel wieder zu sich kam. Erleichtert schloss er den Käfig wieder ab, als er fertig war.

„Nicht schlecht. Für deinen ersten Versuch hast du dich gut geschlagen“, lobte Nadeschda ihn lachend.

„Die Dinger sind stärker als ich dachte.“

„Ja, das denkt man gar nicht, oder? Man glaubt, die schweben nur schwerelos rum. Nun, jetzt weißt du es. Komm, du hast noch drei von denen vor dir. Und sei vorsichtig. Beißen ist nicht das einzige, was die können.“
 

„Wie lange arbeitet ihr schon bei der Motus?“, wollte Nikolai interessiert wissen. Sie waren inzwischen auf dem Weg nach Polen. Die fünf thailändischen Mädchen hatten sie, nachdem jede von ihnen mit dem Bann belegt worden war, in einem Käfig zusammengepfercht und auf einen LKW geladen. Die beiden heruntergekommenen Kerle aus dem Lagerhaus hießen Iwan und Petr. Iwan war ein magisch begabter Mensch, ein Hellseher. Er fuhr den LKW. Seine hellseherischen Fähigkeiten erlaubten es ihm, Polizeikontrollen zu umgehen, daher war er für die Motus ein nützlicher Kurier. Petr war ein Wechselbalg, eine Art Troll, und der Schutzgeist von Iwan. Petr war sehr plump und wortkarg, offenbar auch nicht sehr intelligent, hatte aber Hände so groß wie Klodeckel. Er schien nicht viel mehr zu können als zuzuschlagen.

„Ein paar Jahre“, erwiderte Iwan geschwätzig, während er fuhr. Er schien Nikolai ganz nett zu finden und plauderte gern mit ihm. „Ist ein gutes Einkommen. Man verdient mehr als bei einer Spedition, wenn du verstehst, was ich meine. Was ich als Ladung auf dem LKW habe, ist mir ja im Grunde egal.“

„Bist du auch schon andere Touren gefahren? Oder fährst du immer nur nach Polen?“

„Ich fahr nur nach Polen und manchmal innerhalb Russlands. Der Boss ist kein Fan davon, seine Leute hin und her zu schieben. Wenn man einmal seine Aufgabe hat, bleibt es auch dabei. Man soll links und rechts davon nicht zuviel mitkriegen.“

„Verstehe. Es soll keiner die ganze Organisation kennen, was?“, meinte Nikolai.

„Du hast den Finger drauf“, lachte Iwan. „Musst nur noch drücken, dann klingelt´s.“

„Bist du dem Boss schonmal begegnet?“

„Nein. Mit so kleinen Lichtern wie uns gibt der sich nicht ab. Wir kriegen nur von irgendeinem Unterboss unsere Fahrpläne zugeteilt.“

„Von Nadeschda?“

Iwan und Petr lachten. „Gott, nein. Die ist unbedeutend. Nur eine Bann-Magierin, die die Ware unter Kontrolle hält. Die hat nichts zu sagen.“

Nadeschda lächelte nur säuerlich, kommentierte das aber nicht.

Nikolai nickte verstehend. Wie sollte er in der Motus aufsteigen und an ranghöhere Leute rankommen, wenn seine Mentorin selber bloß ein niederer Helfershelfer war? Da musste er sich wohl noch was einfallen lassen.

Iwan fuhr den LKW plötzlich an den Straßenrand und hielt an. Nadeschda begann sichtlich ihre sieben Sachen zusammen zu kramen.

„Machen wir Pause?“, wollte Nikolai verwundert wissen. Hier war absolut gar nichts. Nur tiefste Prärie. Was wollten sie hier?

„Nein. Von hier an geht´s zu Fuß weiter.“

„Mit so ´ner Ladung können wir ja nicht einfach über die Grenze fahren, nicht wahr?“, gab Petr seinen Senf dazu.

„Wir laufen nachts und schlafen tagsüber. So kommen wir besser vorwärts. Die Grenze zu Weißrussland überqueren wir an einer unbewachten Stelle im Wald. Drüben werden wir von anderen Fahrern eingesammelt, die uns zur polnischen Grenze bringen“, erklärte Nadeschda.

„Na, solange wir nicht bis nach Polen laufen müssen ...“, seufzte Nikolai unmotiviert. Diese Reise schien anstrengender zu werden und länger zu dauern als erwartet. Er fand, das hätte Nadeschda ihm ruhig vorher sagen können. Dann hätte er sich nämlich an der Uni abmelden müssen. So würde er unentschuldigte Fehltage angekreidet kriegen, was sich nicht gerade positiv auswirkte.

Nadeschda sprang aus der Fahrerkabine und stelzte in ihren hochhackigen Nuttenstiefeln um den LKW herum. Ehe Nikolai sich Gedanken darum machen konnte, daß die Wanderung in solchen Stiefeln wohl kaum übermäßig lang sein konnte, zog sie eine Pistole aus der Innentasche ihrer Jacke.

Iwan folgte ihr mit einem großen Handscheinwerfer, denn inzwischen war es stockdunkle Nacht. Er öffnete den Laderaum und strahlte hinein. Die fünf thailändischen Frauen hockten verängstigt und verheult zusammengedrängt in der hintersten Ecke. „Raus da! dawaj, dawaj!“

Nadeschda ließ die Frauen in einer Reihe antreten und fuchtelte demonstrativ mit ihrer Knarre herum. Auch wenn die kein Russisch konnten, würden sie auf diese Weise verstehen, was man von ihnen wollte. „Wer Ärger macht, wird erschossen. Wer uns zur Last fällt, wird auch erschossen. Also versucht gar nicht erst, weg zu laufen, und kommt mir nicht mit Müdigkeit oder dergleichen. Abmarsch!“, befahl sie und zeigte mit der Mündung in die Richtung in die sich die Kolonne in Bewegung setzen sollte. Sie zog das Magazin heraus, prüfte nach, wieviel Schuss noch drin waren, rammte es wieder hinein und drückte Nikolai die Waffe in die Hand. „Ich lauf vornweg. Du läufst ganz hinten und passt auf, daß keiner zurück bleibt.“

„Ist gut. Und du?“ Er hielt vielsagend die Pistole hoch.

„Ich hab selber noch eine.“ Die brünette Russin nahm Iwan den Scheinwerfer aus der Hand, verabschiedete sich und marschierte los.
 

Die ganze Nacht zu laufen, schlauchte ungemein. Nikolai war ja heute schon früh aufgestanden und hatte einige Vorlesungen in der Uni besucht. Es war nicht so, als ob er frisch und ausgeruht gewesen wäre. Und er verstand beim besten Willen nicht, wie Nadeschda mit solchen Stiefeln über Stock und Stein kam, ohne wenigstens aller paar Meter auf ihre gepuderte Nase zu fallen.

Nadeschda wurde langsamer und blieb dann ganz stehen. Der Himmel färbte sich schon wieder orange, bald würde die Sonne aufgehen. Sie hatten eine Schneise im Wald erreicht, die wohl einen Weg darstellen sollte. „Pause“, entschied sie.

„Wie lange?“, wollte Nikolai müde wissen.

„Du solltest ein paar Stunden schlafen. Ich halte Wache.“

„Wie stehen die Chancen, daß wir heute Nachmittag wieder in Moskau sind?“

„Kannst du knicken“, entschied Nadeschda. „Das schaffen wir nicht.“

Nikolai nickte hinnehmend. „Dann sollte ich meinem Chef sagen, daß ich heute nicht im Laden stehen und arbeiten kann.“ Er zog sein Handy aus der Jackentasche und schaute auf den Bildschirm. Etliche verpasste Anrufe von Anatolij. Klar, er hatte seinem Mitbewohner nicht gesagt, wo er steckte. Der würde sich Sorgen machen, weil Nikolai die ganze Nacht nicht nach Hause kam. Aber sollte er mal, der Verräter. Nikolai würde ihm nichts mehr erzählen. Er war immer noch ein wenig sauer auf seinen Kumpel und vertraute ihm nach wie vor nicht mehr.
 

Motorengeräusche ließen Nikolai irgendwann aus dem Schlaf hochschrecken. Er hatte sich auf dem blanken Boden zusammengerollt und geschlafen. Als er sich umsah, saß Nadeschda in aller Ruhe neben ihm und hielt Wache, die fünf Krasue saßen vor ihr auf einem Haufen. Von denen hatte wohl keine schlafen können. Nikolai warf einen Blick auf die Armbanduhr. 8 Uhr morgens und schon heller Tag. Die Motoren kamen näher, schienen Nadeschda allerdings nicht zu stören.

„Wir werden abgeholt“, erklärte sie ihm auf seinen fragenden Blick hin.

„Aha ...“

Da kam auch schon ein Transporter um die nächste Kurve getuckert. Nikolai schlief das Gesicht ein. Das war ein Armee-Transporter. Die Polizei! Er hatte den akuten Drang, sich aus dem Staub zu machen, aber Nadeschda schien auch das nicht aus der Ruhe zu bringen. Der Armee-Wagen hielt direkt vor ihrer Nase an. Zwei Uniformierte stiegen aus und grüßten freundlich.

„Hallo, Jungs. Wie geht´s?“, meinte Nadeschda fröhlich.

„Immer gut, wenn wir dich sehen“, erwiderte einer.

Nikolai wurde klar, daß Nadeschda nicht blöffte. Sie kannte diese Kerle. Das verwirrte ihn. Sollten sie und die nicht auf verschiedenen Seiten des Gesetzes stehen?

„Ich hab euch was mitgebracht“, schnurrte sie.

Der zweite Uniformierte hatte bereits begonnen, sich die fünf asiatischen Mädchen anzusehen und zudringlich zu begrabschen.

„Sucht euch eine aus“, bot Nadeschda an.

„Dein Besuch freut uns immer wieder“, grinste der erste zurück.

Mit einem sichtlich notgeilen Lechzen zogen die beiden Soldaten eines der Mädchen vom Boden hoch und zerrten sie auf die Ladefläche ihres Transporters. Dort drinnen begann ein Tumult, das Mädchen begann zu schreien, dann brüllte einer der Männer, sie solle die Schnauze halten.

Nikolai griff Nadeschda am Ellenbogen und zog sie ein paar Schritte beiseite. „Um Himmels Willen, wer sind die?“

„Die weißrussische Armee.“

„Das seh ich! Aber was tun die hier?“

„Sie kutschieren uns an die polnische Grenze.“

„Und dafür lässt du sie Mädchen vergewaltigen?“

„Besser als wenn sie uns verhaften, oder? Diese Kerle sind zum Glück furchtbar bestechlich. Das erleichtert uns die Arbeit.“

Nikolai fuhr sich aufgekratzt mit der Hand durch das Gesicht und dann auch noch durch die schulterlangen Haare. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Also starrte er nur hilflos auf die vier übrigen Mädchen, die sich heulend aneinander kauerten.

„Gewöhn dich dran, Kolja. Das ist Tagesgeschäft“, lächelte Nadeschda.

Ernst

„Bis zur nächsten Vorlesung lest ihr in eurem Lehrbuch bitte das Kapitel über den Einfluss der Mondphasen auf die Gestaltwandlung. Ich werde dieses Wissen voraussetzen und nächstes Mal darauf aufbauen. Wir sehen uns dann nächsten Dienstag. Schönen Tag noch, Studenten!“

„Schönen Tag, Professor!“

Nikolai klappte sein Lehrbuch zu und drehte sich nach hinten um. „Kirill, trainieren wir heute wieder auf dem Sportplatz?“

Kirill zog ein humorloses Gesicht. „Nein!“, legte er fest und begann seine Sachen zu packen.

„Wir haben schon seit Wochen nicht mehr trainiert!“

„Mit dir trainiere ich auch nicht mehr!“, betonte der Kollege. „Ich bin nicht lebensmüde!“

„Was meinst du damit?“, wollte Nikolai verdutzt wissen.

„Das ist nur Training, Nikolai! Nur Spaß! Aber du kämpfst neuerdings, als ginge es um Leben und Tod! Als wäre es dir ernst! Du prügelst mich mit deinen Angriffszaubern noch krankenhausreif! Das mach ich nicht mehr mit!“

„Aber Kirill ...“

„Du hast dich verändert, Nikolai!“, warf sein Kommilitone ihm vor, dann klemmte er sich sein letztes Buch einfach schnell unter den Arm und schneite fluchtartig davon.

Nikolai grummelte leise in sich hinein. Ja, er hatte sich verändert, das konnte er nicht abstreiten. Die Aktionen der Motus machten ihm echt zu schaffen. Solche Sklaventransporte fanden quasi wöchentlich statt und Nikolai hatte im 'Lager D' schon die seltsamsten Genii vorgesetzt bekommen, um sie mit Bann-Marken gefügig zu machen. Inzwischen war er schon richtig gut darin, auch wenn es ihn anwiderte. Diese Woche sollte er das 'Lager B' kennen lernen und von dort aus einen Sklaventransport begleiten, der nicht nach Polen ging. Nikolai wusste noch nicht, wohin stattdessen. Aber es bedeutete, daß er weitere Motus-Häscher und Kuriere kennenlernen würde und nicht mehr direkt unter Nadeschdas Schutz stand. Er musste fortan selber auf sich aufpassen. Und verdammt, darauf wollte er vorbereitet sein. Er musste jemanden finden, mit dem er ernsthaft trainieren konnte. Er wollte sich im Notfall verteidigen können. Die Motus-Typen waren keine Spaßvögel, die machten ernst.
 

Da Kirill sich sträubte, machte Nikolai sich alleine auf den Weg ins Spiegelkabinett. Dieser kleine Saal in der Uni war quasi ein Gymnastikraum und stand den Gestaltwandler-Studenten zur Verfügung, damit sie üben konnten, denn Wohnungen waren oft zu beengt dafür. Gerade wenn man sich in größere Wesen verwandeln wollte, brauchte man Platz. Und nicht jeder hatte so große Spiegel zu Hause, um das Ergebnis zu kontrollieren. Das Spiegelkabinett war recht gefragt. Man musste damit leben, daß man es nur selten für sich alleine hatte. Aber das störte Nikolai nicht.

In der Umkleide stopfte er seine Tasche mit den Lehrbüchern in einen Spint. Er musste sich erst umziehen, bevor er losüben konnte, denn er besaß nur einen einzigen Satz Klamotten, der magiedurchwirkt war und die Verwandlung mitmachte. Normale Sachen würden ihm bei der Verwandlung zerreißen. Diese magiedurchwirkte Kleidung war schweineteuer, daher trug er sie nur selten. Er sollte sich mal mehr davon kaufen. Durch seine Aktivitäten bei der Motus war er ja in kürzester Zeit zu mehr Geld gekommen als er jemals zuvor besessen hatte.

Nikolai schob den Spintschlüssel in seine Jackentasche, die Jacke nahm er mit, und ging hinüber in den eigentlichen Übungsraum. Dort lag eine große Bratpfanne mitten auf dem Boden des ansonsten leeren Spiegelkabinetts. „Hallo, Soltan.“

Die Bratpfanne verschwand in einem Gewirr aus herumwirbelnden Rauchschleiern und nahm dann die Form eines jungen Mannes an. Soltan war ein Ungar und studierte hier an der Moskauer Universität für Höhere Magie ebenfalls Gestaltwandlung. Sein Talent lag vorrangig in der Verwandlung in Gegenstände. Nikolai hatte sich noch nie getraut, sich in einen leblosen Gegenstand zu verwandeln. Er brauchte für eine Verwandlung sein Bewusstsein und ein klares Denken, und das hatten Gegenstände nicht. Nikolai würde sich nicht in etwas verwandeln, das kein eigenes Bewusstsein hatte, solange er niemanden an seiner Seite hatte, der ihn zur Not von außen wieder zurückverwandeln konnte, falls er das nicht mehr selber hinbekam. Er wollte ja nicht bis in alle Ewigkeit in seiner gegenständlichen Gestalt gefangen bleiben.

Soltan winkte albern und grinste ihn breit an. „Hallo!“

„Du solltest dich langsam mal an komplexeren Sachen versuchen, Soltan. Du bist im 4. Semester. Verwandel dich doch mal in ein Schmuckstück mit Verschnörkelungen und Steinen, oder sowas“, schlug er vor, wandte sich dann aber übergangslos ab und kümmerte sich um seinen eigenen Kram, statt weiter auf seinen Mitstudenten zu achten. Er ließ die Jacke am Rand fallen und stellte sich vor die große Spiegelwand. Was er heute plante, hatte er noch nie versucht: Die Verwandlung in einen Menschen. Sicher, er hatte auch als Genius eine menschliche Gestalt. Jeder Genius war in der Lage, neben seiner natürlichen Fabelwesenform eine menschliche Erscheinung anzunehmen. Die, die in der Zivilisation lebten, behielten diese humanoide Form auch 24 Stunden am Tag bei, weil das einfach üblich war, um den Menschen keine Angst zu machen und keine Probleme zu verursachen. Man konnte ja schlecht als Schlangendämon mit den Ausmaßen eines Güterzuges durch die Straßen walzen und Häuser plattmachen, oder als lebende Fackel rumlaufen und alles in Brand stecken. Also liefen die Genii in menschlicher Tarngestalt herum. Und den wenigstens sah man dann noch an, was sie in Wirklichkeit waren. Nur war diese menschliche Gestalt konstant und veränderte sich nicht. Sie sah immer gleich aus. Das Gesicht, die Haarfarbe, die Frisur, der Körperbau waren zwar – wie beim Menschen – individuell, aber unveränderlich. Nikolais menschliche Gestalt war klein und dünn, hatte schwarze Haare und braune Augen, und ein harmloses Milchbubi-Gesicht mit vollen Lippen. Und daran änderte sich auch nichts. Jedenfalls nicht ohne magische, gestaltwandlerische Fähigkeiten.

Bislang hatte Nikolai nur die Gestalt von Tieren und Fabelwesen angenommen, was ja auch seinem Talent entsprach. Er konnte sich in alle Tiere oder Kreaturen verwandeln, die er klar vor seinem geistigen Auge hatte. Mit einem einzigen Manko: sie waren immer schwarz. Welche Gestalt er auch annahm, sie mochte anatomisch korrekt sein wie sie wollte, sie hatte immer schwarzes Fell, schwarze Federn, schwarze Schuppen, so wie auch seine menschliche Form schwarze Haare hatte. Er konnte die Farbe nicht ändern, egal was er versuchte. Und versucht hatte er schon einiges!

Heute würde er etwas versuchen, was so komplex war, daß er sich noch nie rangetraut hatte. Aber irgendwann war immer das erste Mal. Die Verwandlung in einen anderen Menschen. Er würde versuchen, das Aussehen von jemand anderem anzunehmen. Wenn er noch tiefer in die Kreise dieses Verbrecher-Kartells Motus vordrang, wollte er nicht mehr immer und überall gleich erkannt werden. Er wollte eine Undercover-Identität haben. Um es sich einfacher zu machen, hatte er ein Foto mitgebracht, um das angestrebte Erscheinungsbild vor Augen zu haben.

Nikolai sah nochmal auf das Bild von Anatolij, das er aus seiner Jacke gezogen hatte, bevor er diese an den Rand geworfen hatte. Er atmete tief durch und konzentrierte sich. Und in der Tat ... passierte gar nichts. Okay, das war nach hinten losgegangen, dachte er enttäuscht. Er hätte ja damit leben können, wenn das Erscheinungsbild nicht komplett authentisch wurde, aber er hätte nicht gedacht, daß sich gar nichts tat. Er legte das Foto auf den Boden und verwandelte sich testhalber in einen großen, schwarzen Hund, was ihm tadellos gelang. Er konnte sich immer noch problemlos gestaltwandeln, daran lag es also nicht. Er kehrte in seine menschliche Form zurück und versuchte sich abermals an dem Bild von Anatolij. Anhaltend ohne Erfolg. „Na schön, irgendwas mache ich falsch. Ich muss wohl nochmal in die Bibliothek gehen und was nachlesen“, murmelte er halblaut, wobei er das Foto wieder aufhob.

Soltan trat an ihn heran und warf von der Seite ebenfalls einen Blick auf das Bild. „Du willst andere Identitäten annehmen?“

„Ich wollte es mal versuchen.“

„Dir ist schon klar, daß das verboten ist, oder?“

„Ich habe nicht vor, damit hausieren zu gehen“, versicherte Nikolai ihm. „Hast du schonmal von jemandem gehört, der es geschafft hat?“

Soltan schüttelte den Kopf. „Nein. Du?“

Nikolai schüttelte ebenfalls stumm den Kopf und sah wieder nachdenklich auf seine Vorlage. Warum ging das nicht? Was war daran anders als die Verwandlung in ein Tier oder Fabelwesen? Er hatte doch bisher jede noch so obskure Form annehmen können. Seiner Fantasie waren da noch nie Grenzen gesetzt gewesen. Also wieso nicht in einen Menschen, wenn er ihn nur deutlich genug vor Augen hatte?

„Wenn das einer kann, wird er´s nicht zugeben, weil er sonst weggesperrt wird“, vermutete der ungarische Student.

„Vielleicht kann ich mich in nichts verwandeln, was schon existiert, sondern nur in irgendwas, was so ähnlich aussieht. Ich muss mal experimentieren, ob ich mich in ein Tier verwandeln kann, das aufs Haar einem lebenden Vorbild gleicht.“

„Na dann, bitte!“, bot Soltan sich an und nahm für Nikolai seine echte Gestalt an. Er war eigentlich ein Satyr. „Achte auf die kleine Narbe da“

Nikolai kam ganz nah heran und musterte aufmerksam das Gesicht des Mensch-Ziegenbock-Mischlings. Auch die hatten individuelle Gesichtszüge „Was hast du für eine Augenfarbe?“

„Grün.“

„Gut. Ich versuch´s mal.“ Nikolais Blick streifte nochmal abschätzend von oben bis unten über den gesamten Körperbau seines Kommilitonen, dann schloss er die Augen und verwandelte sich.

Der Ungar verzog unzufrieden das Gesicht. „So seh ich aber nicht aus.“

Nikolai wandte sich zum Spiegel um. Ja, er war ein astreiner Satyr ohne Fehler und Tadel, aber ein Soltan war er nicht.

„Und du hast die Narbe vergessen.“

„Nein, hab ich nicht. Die hätte eigentlich da sein sollen“, überlegte Nikolai, deprimiert von dem Ergebnis. „Ich kann mein Aussehen offenbar nicht individualisieren. Ich kann mich zwar in irgendeinen Faun verwandeln, aber nicht in einen bestimmten.“

„Nenn mich nicht Faun!“, jaulte Soltan entrüstet.

Nikolai sah ihn verwundert an. „Sind Satyre und Faune nicht das gleiche?“

„Ich hasse das!“

„Schon gut, beruhig dich“, bat er verständnislos, da sich ihm das Problem an der Bezeichnung nicht erschloss.

„Im Übrigen siehst du aus wie so eine Schaufester-Puppe. Deinem Gesicht fehlen wirklich die individuellen Züge, das wirkt wie eine Maske. Anderen Wesen fällt das vielleicht nicht auf, weil sie nicht den Blick dafür haben, aber ein echter Satyr erkennt, daß du keiner bist.“

Nikolai seufzte und begutachtete sich wieder im Spiegel. Solange er mit seiner Tarngestalt bei der Motus als Satyr durchkam, war das ja kein Problem. Aber er würde trotzdem nochmal nachlesen, ob das nicht besser ging. Einen Professor sollte er lieber nicht fragen, sonst würde er Ärger bekommen. Denn Soltan hatte Recht, das Nachahmen fremder Identitäten war verboten. „Na schön, lassen wir das für heute. Danke für deine Hilfe. Ich üb mal noch ein bisschen weiter Gestaltwandeln.“

„Ich auch. Hab noch viel vor. Hast du schon dein Thema für die praktische Prüfung?“

„Ja, Verwandlung nach Stop-Uhr. Ich muss innerhalb einer vorgegebenen Zeit so viele Verwandlungen wie möglich hinkriegen, natürlich fehlerfrei, sonst zählen sie nicht.“

„Gott, da würde ich durchfallen. Ich hoffe, ich bekomme am Ende des Studiums Incognito-Verwandlungen als Prüfung. Also mehrfach die Gestalt wandeln, ohne zwischendrin meine wahre Erscheinung anzunehmen. Das kann ich gut.“

„Du bist erst im 4. Semester, du hast ja noch ne Menge Zeit“, lächelte Nikolai und verwandelte sich von seiner falschen Satyr-Gestalt zurück in seine menschliche. Die kleingeratene, zierliche, mit den schulterlangen Haaren. Guter Stichpunkt, dachte er dabei. Er musste sich endlich darum kümmern, einen Professor zu finden, der seine mündliche Theorieprüfung abnahm. Er hatte jetzt das 6. und damit letzte Semester begonnen. Mit den Abschlussprüfungen würde er seinen Magister Magicae in der Tasche haben. Aber wenn er da Fristen versäumte, hatte er ein Problem.
 

Nikolai setzte zum Landeanflug an und ging vor dem aufgebrochenen Zaun zur Erde. Hier draußen in diesem abgelegenen Industriegebiet war es gar nicht leicht, die richtige Halle zu finden, aber auch wenn sie wie eine leerstehende Ruine aussah, musste er hier richtig sein. Es war die einzige mit einem offenen, nur notdürftig angelehnten Tor und es stand ein LKW dahinter. Da ihn niemand im Auto mitgenommen hatte und auch sonst nichts hier raus in das stillgelegte Gewerbegebiet fuhr, hatte Nikolai sich entschieden, sich in einen Greif zu verwandeln und her zu fliegen, um zu seinem Treffpunkt zu kommen. Als er draußen in der Zufahrt landete, nahm er wieder seine menschliche Gestalt an. Er sah sich aufmerksam in der Gegend um, dann schlüpfte er durch das aufgebrochene Tor im Zaun und marschierte auf die Lagerhalle zu. Das 'Lager B' war offensichtlich sehr viel größer als die kleine Blockhütte draußen im Wald, die er mit Nadeschda betreut hatte. Mal sehen, was ihn hier erwartete.

Er wählte die erstbeste Tür, die ihm ins Auge fiel und versuchte sein Glück. Sie ging auch auf. Das Quietschen der Angeln ersetzte eine Alarmanlage. Ein Fluchen und das Klicken eines Pistolenhahns begrüßten Nikolai und ließen ihn erschrocken mitten in der Bewegung innehalten.

„Scheiße, Mann, wer bist du!?“, bellte jemand aufgekratzt aus der Dunkelheit.

„Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Ich bin Kolja, ich gehöre zu euch.“

„Achso, der Neue“, gab eine andere Stimme ihren Senf dazu.

Langsam gewöhnten sich Nikolais Augen an die Finsternis hier drin und er begann die Schemen der beiden Kerle zu sehen.

„Leck mich am Arsch! Hätt sich ja mal ankündigen können, der Penner!“, fluchte der erste und sicherte die Pistole wieder, um sie wegzustecken.

Nikolai atmete tief durch. Himmel, da war er ja wo reingeraten. Er versuchte, nicht nervös zu wirken und ermahnte sich zur Selbstsicherheit.

„Na, dann mal reinspaziert, was? Willkommen im Lager B“, lachte der zweite und kam näher. Er hatte eine Glatze und eine Statur wie eine Bulldogge. „Ich bin Sergej und das da ist mein Genius Intimus, Fiodor.“ Er deutete auf seinen Kollegen im Bauarbeiter-Blaumann, der sich das ausgeprägte Kinn rieb. Langsam sah Nikolai genug, um die beiden beschreiben zu können. „Du bist mit der Arbeit vertraut?“, wollte der Glatzkopf wissen, der sich als Sergej vorgestellt hatte.

Nikolai nickte. „Bann-Kreis ziehen und dann die Gefangenen mit Bann-Zaubern belegen, damit sie nicht mehr aufmucken. Und dann werden sie abtransportiert.“

Sergej wandte sich zu seinem Schutzgeist um. „Der Junge ist mir sympathisch. Der hat die Aufgabenstellung erkannt, würde ich meinen. ... Dann lass uns loslegen, wir haben viel Arbeit vor uns. Ich kann die Verstärkung gut brauchen.“

„Gibt es hier sowas wie Licht?“, hakte Nikolai nach.

„Nein, die Halle ist lahmgelegt. Hier gibt´s keinen Strom mehr. Du wirst mit Taschenlampe Vorlieb nehmen müssen. ... sofern du dafür noch eine Hand frei hast“, lachte der Genius Intimus.

„Na schön ... Um was geht es heute?“

„Um eine Wagenladung kleiner, giftiger Kobolde. Verdammt flink, diese Scheißerchen. Pass auf, daß dir keiner entwischt. Den fängst du nie wieder ein.“

„Sei ganz unbesorgt“, meinte Nikolai betont lässig, um cooler zu wirken. „Ich hab gute Paralyse-Flüche auf Lager.“
 

„Wie lange bleiben Sie in Spanien?“

„Eine Woche“, antwortete Nikolai dem Mann am Flughafenschalter und beobachtete, wie dieser ihm im Gegenzug einen Stempel in seinen Reisepass hämmerte.

„Wir machen Urlaub“, hörte er am Nachbarschalter Sergej zu dem Kontrolleur sagen, von dem er abgefertigt wurde.

Nikolai legte jeweils einen Arm um die beiden Kinder links und rechts, als wären es seine Söhne, und schob sie weiter.

Hinter dem Schalter trafen sie sich wieder. Jeder von ihnen hatte zwei der gefangenen Kobolde in menschlicher Tarngestalt durch die Kontrollen geschleust. Nun warteten sie noch auf Fiodor mit den letzten beiden. Er kam etwas zeitverzögert nach, damit es nicht so auffiel. Es wäre schließlich skepsiserregend gewesen, wenn auf einen Schlag drei Männer mit jeweils zwei Kindern auftauchten. Nach Familien im Urlaub sahen sie schließlich nicht aus, wenn sie nicht wenigstens noch eine Frau in der Rolle der Mutter dazu hatten.

„Nächstes Mal sollten wir uns als Mitarbeiter eines Kinderhilfevereins ausgeben, die mit ihrer Kindergruppe eine Reise machen. Das wäre glaubwürdiger“, meinte Nikolai kopfschüttelnd, als er neben Sergej stand. Die Motus hatte gute Urkundenfälscher. Wenn die falsche Reisepässe basteln konnten, dann sollten doch wohl Betreuungsvollmachten auch kein Problem darstellen.

„Hm. Ich werd´s dem Boss mal vorschlagen“, brummte der Glatzkopf nur.

„Hast du Kontakt zum Boss?“

„Nein. Nur zu Unterhändlern.“

Nikolai verzog enttäuscht das Gesicht. Wie sollte er mit solchen Leuten nur an die Führungsebene der Motus rankommen? „Wie lange bleiben wir denn wirklich in Spanien?“, hakte er nach, während er schonmal langsam auf das Gate zusteuerte. Gleich würden sie das Flugzeug besteigen und abheben. Bis nach Spanien kam man schließlich nicht auf dem Landweg. Das hätte zu lange gedauert. Bei der Passkontrolle hatten sie eine Woche angegeben, einfach nur weil man eben irgendwas angeben musste. Ob man das Land wirklich pünktlich wieder verließ, interessierte ja keinen, wenn man nicht vorhatte, auf der Basis von legalen Papieren zu reisen.

„Keine Ahnung. Eine Weile. Wir haben eine große Ladung Waffen mitzubringen. Spanien ist unsere Hauptabteilung für Waffengeschäfte. Bis die Lieferung vorbereitet ist und wir damit zurück nach Russland fliegen, bleiben wir dort.“

„Gibt es keinen Zeitplan?“, wollte Nikolai mit eingeschlafenem Gesicht wissen.

„Ach was, bei den Spaniern nicht. Die nehmen das alles sehr locker. Und die Zollkontrollen zu umgehen, muss ja auch sorgfältig geplant und vorbereitet werden. Kann gut und gerne mal drei Wochen dauern.“

„Spinnst du? Drei Wochen?“, keuchte Nikolai schockiert. Von der Touren nach Polen mit Nadeschda war er üblicherweise binnen zwei Tagen wieder zurück gewesen. Er dachte, das würde diesmal auch nicht viel anders sein.

„Entspann dich mal. Das wird toll. Wir machen einfach Urlaub!“

„Glaubst du, ich hab in Moskau keine Verpflichtungen!?“, entrüstete sich Nikolai.

„Da ist Fiodor. Jetzt sind alle Kobolde durch. Wir können weiter.“

Der junge Gestaltwandler fuhr sich verzweifelt mit der Hand durch das Gesicht.
 

„Willkommen in Espaniola, Amigos“, witzelte Sergej herum und sprang aus dem Shuttle-Bus heraus, mit dem sie in Barcelona vom Flughafen abgeholt worden waren. Der hatte sie zu ihrem Ziel gebracht: der spanischen Außenstelle. Die sechs Koboldkinder saßen ebenfalls frei im Bus verteilt. Sie waren nicht in Käfige gesperrt, wie Nikolai es von Nadeschdas Transporten kannte. Die waren wohl nicht so gefährlich, daß man sie einsperren musste.

Auf dem Parkplatz erwartete sie bereits ein Spanier im feinen Anzug und schwerem Goldschmuck, dem das Geld förmlich aus jeder Hautpore quoll.

„Das ist Ramon Djego, der Cluster-Chef von Spanien“, klärte Sergej ihn auf. „Hat alles unter sich, was die Motus in Spanien so treibt.“

Nikolai merkte auf. Endlich mal ein hohes Tier, wie es aussah. „Der empfängt uns persönlich hier? Wie freundlich.“

„Naja, so groß ist der spanische Cluster nicht. Da kann er sich noch selber um alles kümmern. Er hat wenig Personal, hat nur Lagerhallen voller Waffen zu verwalten.“

„Willkommen, meine Freunde, im schönen Barcelona“, grüßte das wandelnde Schmuckkästchen, zwar mit hörbar spanischem Akzent, aber trotzdem in tadellosem, fehlerfreien Russisch.

„Hallo. Ich bin Kolja“, stellte Nikolai sich höflich vor.

„Ah, unser neuer Mitstreiter. Du bist mir schon angekündigt worden. Du sollst Talent haben, wie ich höre. Ich bin Ramon Djego, sehr erfreut.“

„Wer behauptet denn, daß ich Talent hätte?“, wollte Nikolai amüsiert wissen. Dann fuhr er fluchend herum, als eines der Koboldkinder plötzlich die Chance nutzte und auf und davon rannte, weil es sich unbeobachtet fühlte. Er zog hektisch die Pistole, legte an, entschied sich aber doch dagegen, sie zu gebrauchen. Stattdessen wollte er losrennen und es wieder einfangen. Doch Sergej hielt ihn an der Schulter zurück und schoss selber. Einhändig und erschreckend präzise. Er traf sein Opfer am Oberschenkel und brachte es zu Fall. Offensichtlich hatte er den Umgang mit der Waffe oft und lange geübt. Dann ging er in aller Ruhe hinterher.

prokljaty!“ [verdammt], fluchte Nikolai und eilte ihm hinterher. „Ich wollte extra nicht schießen.“

„Warum nicht?“, wollte Sergej mit einem gelassenen Lächeln wissen.

„Ich dachte, verletzt nützt er uns nichts mehr.“

Sergej schaute auf den Koboldjungen herunter, der sich schreiend auf dem Boden wälzte und sich das Bein hielt. „Du hast Recht“, stimmte er ihm zu und knallte das Kind mit einem Kopfschuss ab.

Nikolai blieb vor Fassungslosigkeit die Luft weg.

Sein Kollege stiefelte inzwischen ungerührt zu den fünf anderen zurück, als sei nichts gewesen. Die Kobolde drängten sich heulend und eingeschüchtert zusammen, was verständlich war.

Der Student rang um Atem und schaute zwischen dem toten Kind und Sergej hin und her, welcher das Gespräch mit dem spanischen Cluster-Chef wieder aufnahm. „Bist du ... Bist du wahnsinnig!?“, schnappte Nikolai hyperventilierend.

„Willkommen in der Motus!“, lachte Fiodor.

Nikolai hielt sich den Mund zu und starrte auf den toten Jungen.

„Kümmer dich um die Leiche!“, trug Fiodor ihm auf und widmete sich ebenfalls wieder seinem eigenen Kram.

„Wie ... Was!?“, keuchte Nikolai, noch immer nicht wieder ganz Herr über das Chaos in seinen Gedanken.

„Was weiß ich!? Meinetwegen verbrenn sie! Nadeschda sagte, du hättest einen guten Feuerzauber drauf. Kombiniere ihn am besten mit einem starken Bann, um die Spuren zu versiegeln.“

Zweifel

Nikolai sah gründlich nach, ob er auch wirklich alleine war, dann zog er das Handy aus der Jacke und wählte eine Nummer. Seit Tagen die erste Chance, die sich ihm dafür bot. Er war sonst nie alleine.

„Hey, Kleiner. Weißt du, wie spät das hier in Russland ist?“, meldete sich eine unwillige, weibliche Stimme am Telefon.

„Das ist mir völlig Schnuppe!“, zischte Nikolai hysterisch.

„Wie gefällt dir Spanien?“

„Nadeschda, es gab Tote! Sergej hat einen der Koboldjungen erschossen! Ich konnte es nicht verhindern!“

„Tja ...“, meinte Nadeschda nachdenklich. „Das kommt leider vor. Glaub mir, das wird dir noch öfter passieren.“

„Nadeschda, ich will das nicht mehr. Ich kann das nicht! Ich steig wieder aus!“

Die Frau am anderen Ende lachte herzlich auf. „Das geht nicht, Kleiner. Die Motus verlässt man nicht lebend. Also denk lieber gar nicht dran.“

„Hier gibt es Tote!“, beharrte Nikolai fertig mit den Nerven.

„Warst du wirklich so blauäugig und hast das nicht kommen sehen?“

Der Gestaltwandler merkte auf, als er ein Geräusch im Haus hörte. „Verdammt, da kommt jemand. Ich muss auflegen. Aber da reden wir nochmal drüber!“

„Ja-ja. Bis später“, erwiderte Nadeschda belustigt.

Nikolai ließ hektisch das Telefon wieder verschwinden und warf sich auf seinen Stuhl am Esstisch, wo eines seiner Lehrbücher offen herum lag. Gerade noch rechtzeitig bevor die Tür aufging.

„Kolja, du hockst seit Tagen hier im Haus und brütest über deinem dämlichen Buch. Kennst du das nicht langsam auswändig?“

„Lass mich in Ruhe“, maulte Nikolai missmutig. Sie hatten sich seit 3 Tagen in der Villa von Ramon Djego einquartiert und warteten auf die Aufstellung des Waffentransportes, den sie mit zurück nach Russland nehmen sollten. Was aus den gefangenen Koboldkindern geworden war, seit sie die hier abgeliefert hatten, konnte er nicht sagen. Und wahrscheinlich wollte er das auch gar nicht wissen. Im Gegensatz zu Sergej und Fiodor hatte Nikolai aber kein Interesse daran, die Stadt unsicher zu machen. Er war froh, ein Lehrbuch mitgenommen zu haben, um während seiner Abwesenheit wenigstens IRGENDWAS für die Uni machen zu können, und wünschte sich abgesehen davon nichts sehnlicher, als endlich hier weg zu können.

„Ist es immer noch wegen diesem Kobold?“, wollte Sergej wissen.

„Ja. Es war keine Rede davon, daß wir jemanden umbringen.“

„Ist wohl deine erste Leiche, was? Man gewöhnt sich daran.“

Gewöhnen!? Er wollte sich nicht an sowas gewöhnen! Nikolai holte Luft, um etwas zu erwidern, biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, denn die Antwort hätte dem Motus-Killer nicht gefallen.

„Ich sag´s nur ungern, aber der Junge wusste, daß wir bewaffnet sind. Selber Schuld, wenn er wegrennt.“

„Wird der Boss denn nicht wissen wollen, wo er hin ist?“, gab der Student miesepetrig zurück und sah aus dem Buch hoch. „Kriegst du keinen Ärger, wenn dir deine Ware abhanden kommt?“

„Nein. Wenn 5 von 6 lebend ankommen, ist das eine zufriedenstellende Quote. Verluste sind einkalkuliert.“

Nikolai nickte mit einem zynischen Aha-Gesichtsausdruck. „Ich seh schon, ich muss noch viel über die Motus lernen.“

„Mach dir nichts draus. Ich hatte mit meiner ersten Leiche auch Probleme. Ist wohl normal. Aber die Bezahlung lässt einen vieles vergessen.“

Nikolai vertiefte sich demonstrativ wieder in sein Buch. Nicht, daß er mit seinen wirbelnden Gedanken und Gewissensbissen irgendwas von dem Lehrstoff hätte aufnehmen können. Dafür war er viel zu aufgewühlt. Aber es war zumindest eine gute Ablenkung von der Tatsache, daß er hier bis auf weiteres festsaß.

„Du kommst nicht mit in die Stadt?“, rückversicherte sich Sergej nochmal.

„Nein.“

„Gut, dann nicht. Ramon ist unten im Erdgeschoss, wenn du was brauchst.“
 

Zwei Stunden später schlenderte Nikolai rastlos durch das große Haus, weil er partu nicht mehr stillsitzen konnte. Er massierte sich den toten Punkt über der Nasenwurzel, um gegen seine Deprimiertheit anzukämpfen. Eher zufällig traf er dabei auf den spanischen Cluster-Chef, der ihm mit einigen Papieren entgegen kam.

„Eh, du siehst schlecht aus, Amigo“, konnte Ramon Djego sich nicht verkneifen.

Nikolai stöhnte leidend. „Gibt es hier irgendwo Vodka?“

„Du trinkst Vodka?“

„Normalerweise nicht ...“, seufzte der Student matt.

„Ich hätte Metaxa zu bieten“, kicherte sein Gegenüber in seinem wohlklingenden, spanischen Akzent.

„Gerne. Der tut´s auch. Hauptsache, es haut ordentlich rein.“

Er winkte Nikolai, ihm zu folgen, und ging voraus. „Ich kann dir beim Trinken leider nicht beistehen. Als Feuerspeier darf ich keinen hochprozentigen Alkohol trinken, sonst würde ich direkt in Flammen aufgehen. Alles ab 45% brennt ganz gut. Mir selber macht das ja nichts aus, aber für meine Umgebung ist das nicht schön. Und ich will auch nicht meine ganze Villa niederbrennen.“

„Du bist ein Feuerspeier?“

„Ich bin eine Feuerschlange, ein Drachen. In meiner Brust brennt immer Feuer, das ich bei Bedarf auch spucken kann.“

„Aha ...“, machte Nikolai und suchte schnell nach neuen Gesprächsthemen. „Du sprichst aber gut Russisch.“

„Ja, muss man auch, wenn man mit der Motus arbeitet. Die Zentrale sitzt nunmal in Moskau. Russisch ist quasi die Amtssprache der Motus. Egal in welche Zweigstelle der Welt du kommst, die werden alle Russisch mit dir reden.“

„Praktisch!“, urteilte Nikolai. „Gut zu wissen. Wieviele Zweigstellen gibt es denn?“

Ramon Djego, inzwischen mit seinem Gast in der Küche angekommen, griff nach einer Schnapsflasche und warf Nikolai dann einen abwägenden Blick zu. „Ich sag dir was, Junge“, wich er schließlich aus. „Du bist noch neu bei uns in der Motus. Wenn du eins schnell lernen solltest, dann, nicht zuviele Fragen zu stellen und auch nicht zuviele davon zu beantworten.“

Der Gestaltwandler strich sich die Haare hinter ein Ohr und nickte überrascht. „Danke, ich will es beherzigen.“

„Hier, trink, Muchacho. Das hilft.“ Der Spanier schnappte nach einem Glas und goss ein.
 

Nach nicht ganz 14 Tagen war Nikolai zwar wesentlich eher wieder zu Hause als befürchtet, aber eindeutig zu spät, um keine Probleme zu kriegen. Seine Aktivitäten bei der Motus kosteten ihn noch den Uni-Abschluss. Nach einer erfolglosen und frustrierenden Odyssee stand er jetzt im Dekanat und diskutierte wild entschlossen mit der Sekretärin.

„Ich will den Dekan sprechen, hab ich gesagt!“, beharrte er.

„Und ich habe gesagt, daß Sie keinen Termin haben“, gab sie zu bedenken.

„Nein, hab ich nicht. Ist mir aber egal. Es ist wichtig.“

Sie blätterte im Kalender. „Ich gebe Ihnen einen Termin in drei Wochen.“

„Nein, tun Sie nicht! Das ist zu spät. Ich will ihn jetzt sprechen.“

„Er ist nicht verfügbar.“

„Dann machen Sie ihn verfügbar!“, verlangte Nikolai fast wütend. „Sagen Sie ihm, wer draußen steht. Er wird mich empfangen.“

„Ich ...“

Die Tür des Büros ging auf und der Leiter der Universität kam verwundert heraus, von dem Theater in seinem Vorzimmer angelockt. „Oh, Nikolai, du bist es!?“

„Hallo, Herr Dekan! Ich muss Sie sprechen.“

„Wenn es nicht länger als 15 Minuten dauert, dann gern. Ich muss dann zu einem Termin. Aber komm doch rein.“

Nikolai nickte der Sekretärin nochmal triumphierend zu, dann folgte er dem älteren Herrn im Anzug ins Büro.

„Bitte, setz dich. Wie kann ich dir denn helfen?“

„Mir will keiner die mündliche Theorie-Prüfung abnehmen, damit ich meinen Magister Magicae abschließen kann“, brachte der Student es direkt auf den Punkt.

„Naja ... da bist du auch etwas spät dran. Die Frist für die Anmeldung ist Ende letzter Woche gewesen.“

„Das weiß ich. Darum kümmere ich mich als nächstes“, betonte Nikolai säuerlich. „Nur brauch ich erstmal irgendjemanden, der mich überhaupt prüft. Ich habe alle Professoren abgeklappert, bin aber leider nur auf taube Ohren gestoßen. Die haben mir auch alle gesagt, daß ich zu spät dran bin. Ich hatte gehofft, Sie könnten jemanden dazu bewegen, mich doch noch anzunehmen.“

„Aber mein lieber Junge ...“, lachte der Dekan erheitert.

Nikolai teilte diesen Humor nicht im Mindesten. Er blieb gänzlich ernst. „Sie wissen, was ich in meiner Freizeit treibe! Sie haben mich persönlich bei der Geheimpolizei eingeführt! Ich bin dank Ihnen letzte Nacht erst aus Spanien zurückgekommen, wo ich 2 verfluchte Wochen lang mit Mördern und Schmugglern festsaß! Und ich hatte dank Ihnen schon mit einer Leiche und der Vertuschung eines Mordes zu tun! Meine Nerven sind am Ende! Und das letzte, was ich jetzt noch brauchen kann, ist, mein Studium nicht abschließen zu können! Also helfen Sie mir verdammt nochmal!“

Der Dekan blies überrumpelt die Wangen auf. Auch seine Belustigung war sichtlich wieder verflogen. Dann griff er sich kommentarlos eine Packung Zigaretten, schüttelte sich eine Kippe heraus und zündete diese an. Nachdem er einen tiefen Zug davon genommen hatte, seufzte er leise. „Hast du das deiner Kontaktperson schon gemeldet?“

„Ja. Sie sagte, das wäre Tagesgeschäft und ich müsse mich daran gewöhnen. Da wieder auszusteigen, ist ausgeschlossen.“

Der Dekan nickte verstehend und überdachte das. Ein hartes Los. Der Junge brauchte wohl wirklich jede Unterstützung, die er kriegen konnte.

„Ich verlange nicht, daß sie mir den Abschluss schenken und mich durchwinken! Ich will den Magister Magicae so rechtmäßig erlangen wieder jeder andere auch! Ich will einfach nur diese verdammte Prüfung machen dürfen!“

„Welchen Professor wünschst du dir denn für deine mündliche Prüfung?“

„Ich glaube, Professor Baschenow würde mit meinem Schwerpunkt konform gehen.“

„Mit dem kann ich reden. Er wird dich prüfen, wenn ich es ihm sage. Wird dich auch bestehen lassen, wenn ich will. Aber das ändert nichts daran, daß du die Fristen nicht eingehalten hast.“

„Mit dem Prüfungsamt rede ich selber“, legte Nikolai kühl fest. „An Geld mangelt´s mir ja inzwischen nicht mehr.“

„Du willst die bestechen?“

„Ist doch sowieso an der Tagesordnung, oder sehe ich das falsch?“

„An der Tagesordnung ist es hier in Russland, sich für seine Diplom-Arbeit einen Ghost-Writer zu suchen.“

„Kommt also auf´s gleiche raus. Nur eine Frage des Preises.“

Der Dekan nickte hinnehmend. „Na schön, wie du möchtest. Du bekommst den Professor.“

„Gut. Dann werde ich jetzt Ihre Zeit nicht mehr verschwenden.“ Nikolai stand mit kaltem Blick auf und ging. Weder dankte er, noch verabschiedete er sich. Die Tür ließ er offen. Respekt war ihm gleichgültig. Er verachtete den Dekan. Er hasste diesen Mann, der ihn in so eine Lebenslage gebracht hatte. Der war keine Autoritätsperson mehr. Nur noch unumgängliches Mittel zum Zweck, um den Magister Magicae ablegen zu können.
 

An diesem Abend warf sich Nikolai in voller Montur auf sein neues Bett in seiner neuen Wohnung und starrte die Zimmerdecke an. Bei Anatolij war er schon eine ganze Weile ausgezogen. Zum Glück. Der hätte die Polizei gerufen, wenn Nikolai 14 Tage lang nicht nach Hause gekommen wäre. So bekam er nicht mehr mit, ob Nikolai in der Stadt war, oder in Polen oder Spanien oder weiß der Geier. Wieder ging ihm das erschossene Koboldkind durch den Kopf. Er fühlte sich so elend und schuldig, als hätte er den Jungen eigenhändig abgeknallt. Nun, er hatte die Leiche nachhaltig verschwinden lassen und alle Beweise vernichtet, das war wohl auch keinen Deut besser. Wo in Gottes Namen war er da nur reingeraten? Warum hatte er das nicht kommen sehen? Er wusste warum. Weil dieser Gontscharow vom Geheimdienst ihn einfach überrannt hatte. Binnen einer Viertelstunde hatte er Nikolai eine Zusage abgenötigt. Das war keine Entscheidung gewesen, die er da im Konferenzraum No. 3 gefällt hatte. Das war Erpressung gewesen. Das war Nötigung gewesen! Das war Täuschung! Das war ... Mord! Ganz genau, Mord war das! Ein Selbstmordkommando! Etliche Nummern zu groß für einen unerfahrenen, studentischen Grünschnabel, der nichts vom Leben wusste und nichtmal eine Ausbildung dafür hatte. Er war überhaupt nicht vorbereitet gewesen, auf das, was ihn in der Motus erwartete.

Sein Handy klingelte und Nikolai sah unwillig auf den Bildschirm. Eigentlich wollte er jetzt in seinem Elend nicht gestört werden. Aber als er sah, wer ihn anrief, ging er doch ran. Dieser Anruf kam ihm gerade recht. „Nadeschda! Gerade hab ich überlegt, ob ich dich anrufen und in der Luft zerfetzen soll.“

„Bist du immer noch nicht über den Jungen in Spanien hinweg?“, wollte sie wissen, von der 'netten' Begrüßung gar nicht begeistert.

„Wie sollte ich!? Verdammt, er wurde vor meinen Augen erschossen!“

Nadeschdas Augenrollen war förmlich durch das Telefon zu hören. „Du bist doch nicht immer noch auf dem Trichter, aussteigen zu wollen, oder? Kolja, lass es, wenn dir dein Leben lieb ist.“

„Was soll ich denn sonst tun? Habt ihr vielleicht gute Psychologen, die mir helfen könnten, drüber weg zu kommen und einfach weiterzumachen?“

„Es hilft ungemein, wenn du dir vor Augen hältst, warum die Motus diese Kobolde jagt. Die brennen Scheunen ab, plündern Speicher und überfallen Warenlieferungen. Das sind garstige Viecher. Ich will damit nicht sagen, daß sie´s verdient hätten, so zu enden, aber ... doch, genau das will ich eigentlich damit sagen.“

„Das waren Kinder, Nadeschda!“, warf Nikolai ihr entrüstet vor.

„Sicher waren sie das.“ Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden. Dann ergriff sie als Erste wieder das Wort. „Halte dich daran fest, was du erreichen willst, Kolja. Du willst in der Motus aufsteigen und an die Führungs-Ebene rankommen. Es ist dein Ziel, möglichst viele Beweise gegen sie zu sammeln und ihnen ein Ende zu machen. Wenn man ein Omelett will, muss man ein paar Eier zerschlagen.“

„Schon gut ...“, seufzte der Gestaltwandler resignierend.

„Also bist du noch dabei?“

„Ja. ... Sieht ja nicht so aus, als hätte ich eine Wahl.“

„Gut. Ich schick dir gleich eine e-mail mit dem nächsten Einsatz.“

Verfall

Nikolai ballerte das gesamte Magazin leer, beidhändig, drei bis vier Schuss pro Sekunde, bis der Abzug im Leerlauf klickte.

„Meine Güte, du bist aber stürmisch“, urteilte der Mann neben ihm. „Man könnte meinen, du hättest deinen Erzfeind vor deinem geistigen Auge. Ich hoffe, draußen handhabst du die Pistole nicht genauso.“

„Warum nicht? Wenn schon, dann richtig“, gab Nikolai schulterzuckend zurück und nahm mit der freien Hand den Gehörschutz ab.

„Mh. Aber du hast ein gutes Auge. Fast alles Volltreffer.“ Er deutete auf die Zielscheibe am Ende des Schießstandes. „Du brauchst keine Hilfe mehr, wie mir scheint. Du kannst bereits schießen.“

„Nein, ich hab noch viel zu lernen.“

„Dir kann ich nichts mehr beibringen“, entschied der Betreiber des Schießstandes. „Was willst du eigentlich mit der Waffe? Hat es einen Grund, warum du Schießen lernen willst? Wie kommt ein Student dazu?“

„Nur so zum Spaß“, log Nikolai und lächelte harmlos. Er konnte ja schlecht zugeben, daß er in einem Verbrecher-Kartell operierte und im Ernstfall sein Leben davon abhing, daß er gut Leute über den Haufen schießen konnte. „Es fasziniert mich halt. Ich hatte nur bisher nicht das nötige Alter und nicht das Geld dafür.“

„Darf ich mir deine Waffe mal ansehen?“

Einverstanden hielt Nikolai ihm seine Pistole hin. Eine silberne 39´er mit Stangenmagazin, in das 20 Patronen passten.

Der Mann verzog besorgt das Gesicht. „Wer auch immer dir das Ding gegeben hat, legal war das nicht.“, meinte er so ruhig und warm, daß es sich wie ein väterlicher Ratschlag anhörte. „Diese Waffe ist nicht registriert.“

„Woran sieht man das?“

„Die Kennungs-Plakette wurde entfernt“, erklärte er und zeigte dem Studenten die Stelle, wo selbige eigentlich hätte sein sollen. „So kann man sie nicht zurückverfolgen. Ich schätze mal, daß du diese Waffe für wenig Geld bekommen hast. Und jetzt weißt du auch, warum. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Werde sie schnell wieder los. Und zeig am besten denjenigen bei der Polizei an, der sie dir gegeben hat. Kennungs-Plaketten werden nicht grundlos entfernt. Wer weiß, was mit der Pistole angestellt wurde. Wenn man dich damit erwischt, stehst du ganz schnell als der Täter da.“

Nikolai nickte nachdenklich und nahm die Waffe, die er damals von Nadeschda bekommen hatte, wieder entgegen. Er begutachtete sie einen Moment von allen Seiten. Er hatte sie sich noch nie bewusst angesehen. Dann zog er ein neues Magazin aus der Hosentasche, wechselte das leergeballerte dagegen aus, und schob sich den Gehörschutz wieder zurecht. „Wenn beidhändiges Schießen schon so gut klappt, dann versuch ich´s jetzt mal einhändig.“

„Gut. Steh etwas seitlicher. Dreh die linke Schulter vom Gegner weg“, begann der Betreiber ihm zu erklären.
 

Als er etwas später wieder nach Hause kam, stand Nadeschda vor seiner Wohnungstür herum und war sichtlich genervt. „Nikolai, wo bleibst du denn?“, begrüßte sie ihn auch sofort sauer, als er die Treppen hoch kam.

Nikolai zog die Stirn in Falten. „Was tust du hier?“

„Ich will mit dir den nächsten Auftrag besprechen!“

„Hättest ja mal vorher sagen können, daß du kommst! Bin ich Hellseher?“, maulte er uneinsichtig zurück und kramte in der Jackentasche nach dem Schlüssel. „Komm rein. Muss ja ein mega Clou sein, wenn du persönlich kommst. Sonst schickst du doch e-mails. Oder rufst an.“

Nadeschda wartete, bis sie in der Wohnung war und die Tür hinter ihr wieder zu war. Dieses Anliegen wollte sie nicht im Treppenhaus besprechen.

„Hör mal, kann man bei euch irgendwo schießen üben? Auf dem Schießstand kann ich mich nicht mehr sehen lassen. Der Betreiber hat mitgekriegt, daß meine Knarre nicht registriert ist und würde das sicher im Auge behalten.“

„Du warst auf einem Schießstand? Bist du bescheuert?“, wollte Nadeschda wissen. „Willst du unbedingt auffliegen? Wie kannst du so unvorsichtig sein!? Du kannst dich doch nicht mit einer Pistole von der Motus draußen zeigen! Geh in den Wald und schieß auf Zweige, wenn du Zielen üben willst!“

„Du hast mir nicht gesagt, daß die Knarre illegal ist.“

„Na, dachtest du etwa, ein Haufen wie die Motus lässt seine Waffen registrieren!?“

„Heißt das 'nein'?“, übersetzte Nikolai.

„Nein, die Motus betreibt keine eigenen Schießstände.“

„Schade. ... Also was hast du für mich?“, wollte er wissen und deutete auf das Blatt Papier, das sie derweile herausgekramt hatte.

„Das hier ist ne Nummer zu groß für die Fernkommunikation. Du hast keine abhörsichere Telefonleitung. Darum bin ich persönlich hier.“

„Wie du meinst.“

Sie hielt ihm die Seite hin.

Nikolai nahm den Wisch lustlos entgegen und sah sich an, worum es ging. Ein Lebenslauf mit Foto von einer Person, die er nicht kannte. Name, Adresse, Geburtsdatum, Beruf, eine ganze Liste von begangenen Straftaten, es stand alles da. Dieser Mann war ein Ghul, ein Leichenfresser, der auf dem Friedhof Gräber schändete und die Toten stahl. Es stand da, die Toten würden nie wieder gefunden werden. Nikolai konnte sich denken, warum. Der Kerl würde sie wahrscheinlich einfach auffressen. „Was ist das? Mein neuer Kollege?“

„Dein neues Opfer. Du sollst ihn abschießen.“

„Bitte was?“, keuchte Nikolai. „Ich bin kein Mörder!“

„Mach dich nicht lächerlich. Der Typ ist schon tot. Du sollst ihn nur aus dem Verkehr ziehen. Ein schönes, leichtes Ziel. Genau richtig für dein erstes Mal.“

„Vergiss es!“

„Der Motus mangelt es im Moment an Jägern. Und die Jäger stehen höher im Kurs als die Sklavenschleuser. Wenn du es schaffst, dort rein zu kommen, hast du bessere Chancen, an den Boss ran zu kommen. Wenn du bei den Transportern bleibst, wirst du auch nicht weiter kommen als ich. Und dann bräuchten wir dich hier auch nicht. Das kann ich selber. Die Geheimpolizei hat dich geschickt, um den Laden aufzudecken. Als Transporter wirst du das nicht schaffen.“

„Knall den Typen selber ab! Ich mach das nicht!“, stellte Nikolai explosiv klar, knüllte den Lebenslauf zusammen und warf ihn auf seinen Couch-Tisch. Er wollte mit dem Ding nichts mehr zu tun haben.

„Doch, das wirst du!“

trakhat tebja“ [fick dich], fluchte der Student.

„Meinetwegen. Aber kümmern wirst du dich um den Kerl trotzdem.“

Nikolai ließ sich auf das Sofa fallen und atmete ein paar Mal tief durch, damit ihm nicht Tränen in die Augen schossen. Lange saß er einfach nur da und starrte vor sich hin. Das war das Ende. Und Nadeschda ließ ihm die Zeit. Sie konnte sich vorstellen, was in ihm vorging. Sie verstand ihn. Nur ändern konnte sie daran auch nichts. Ändern WOLLTE sie nichts. Sie würde den Ghul sicher nicht selber abknallen. Und das wusste Nikolai. Er hatte da keine Hilfe zu erwarten. „Bis wann?“, hakte er nach einer gefühlten Ewigkeit mit brüchiger Stimme nach.

„Übermorgen. Nachts auf dem Friedhof. Er geht jeden Monat in der Neumondnacht dort hin und holt sich eine frische Leiche. Du wirst ihn da finden. Und du wirst ungestört sein. Auf dem Friedhof ist nachts niemand.“

Nikolai presste die Lippen zusammen. Er konnte Nadeschda nicht in die Augen sehen. Er musste immer noch hart an sich halten, nicht zu heulen.

„Kriegst du das hin?“, wollte Nadeschda streng wissen.

Der junge Gestaltwandler nickte langsam.

„Gut. Pass auf, daß dich keiner sieht. Und lass die Leiche verschwinden.“

„Um einen Ghul zu töten, reicht normale Munition nicht. Ich werde die Kugeln mit einem speziellen Bann belegen müssen, der den Ghul erledigt.“

„Richtig. Alle Achtung, du bist verdammt gut, wenn du sowas weißt und bedenkst.“

„Ich fasse das nicht als Lob auf. ... Soll ich irgendjemandem Beweise bringen, daß der Auftrag erledigt ist?“

„Nein. Der Boss wird auch so erfahren, ob du es getan hast oder nicht.“

Nikolai nickte wieder. Immer noch ohne sie anzusehen.

„Gut. Dann geh ich jetzt wieder. ... Stell keinen Blödsinn an, Kolja, verstehst du mich? Die Motus meint es verdammt ernst.“

„Ich weiß ...“, hauchte er mit zittriger Stimme. Dabei holte er seine Pistole hervor und sah in den Lauf, ob ein Gewinde drin war. Dem war nicht so. Also legte er die Waffe mit spitzen Fingern auf den Tisch. Vorsichtig, als wäre sie stoßempfindlich. „Ich will eine neue Knarre haben. Eine, wo ein Schalldämpfer drauf passt.“

„Bekommst du.“

Der Gestaltwandler deutete ein Nicken an, sah Nadeschda aber weiterhin nicht ins Gesicht. Also drehte sie sich irgendwann um und ging, als sie zu dem Schluss kam, daß alles gesagt war. Nikolai brachte sie nicht zur Tür. Er hörte nur am Einrasten des Türschlosses, daß sie weg war. Er sah auf die Armbanduhr. Noch ein bisschen früh, um schon ins Bett zu gehen. Aber das war ihm egal. Er würde heute ohnehin zu nichts mehr in der Lage sein. Da konnte er auch ins Bett gehen. Langsam und unkoordiniert wie ein Zombie stand er vom Sofa auf, presste sich erst den Handballen gegen die Stirn, dann warf er seine Klamotten ab und ging ins Bad.

Er rammte sich mit schlechter Laune, ja fast mit Wut, die Zahnbürste in den Mund und putzte sich wesentlicher derber als nötig die Zähne. Er hatte den Wunsch, sich selber grob zu behandeln und sich Schmerzen zuzufügen. Weil er sich selbst so sehr hasste. Und weil die Verzweiflung seinen Körper so betäubte, daß er ihn kaum noch spürte. Er hatte das Bedürfnis, ihn wieder richtig zu spüren. Zu fühlen, daß er noch lebte. Als würde er hoffen, dadurch die Kontrolle über seinen Verstand und damit gleichsam über sein Leben zurück zu erlangen. Schmerzen brachten einen doch wieder zu Verstand, nicht? Sich das Zahnfleisch blutig zu schrubben, befriedigte ihn irgendwie nicht so richtig. Er spuckte unzufrieden die Zahnpasta ins Waschbecken und überlegte, ob er in die Dusche steigen und sich unter dem heißen Wasser kochen sollte. Vielleicht auch noch mit einem groben Schwamm die abgebrühte Haut scheuern. Ob das half?

Das Klingeln seines Handys brachte ihn vorläufig von diesem Plan ab. Das war Iwan, der LKW-Fahrer, der die Transporte für das Lager D abwickelte. Was konnte der denn wollen? Verwundert ging Nikolai ran.

„Hey, mein Freund. Lange nicht gesehen“, grüßte der Mann. „Kommst du mal wieder mit auf die Polen-Tour?“

„Sieht derzeit nicht so aus, nein“, erwiderte der Student niedergeschlagen.

„Dann lass uns doch mal Spaß haben. Ich kenne einen netten Club. Kommst du mit? Ich glaube, du kannst es brauchen.“

Nikolai schmunzelte leicht. „Sagen dir das deine hellseherischen Fähigkeiten?“

„Das schon, ja. Ich hab gesehen, was Nadeschda dir für einen Auftrag zugespielt hat. Harter Tabak, ehrlich. Aber so wie du klingst, bräuchte man auch kein Hellseher zu sein, um das mitzukriegen.“

„Ist gut, ich komme. Wann und wo?“, wollte er wissen. Die Idee, sich gehörig die Kante zu geben, kam ihm gerade sehr erstrebenswert vor.
 

„Meine Fresse. Du siehst ja noch viel beschissener aus als du am Telefon klangst“, war alles, was Iwan sagen konnte, als Nikolai ihn am späten Abend vor der verabredeten Location traf.

„Ja, wahrscheinlich“, lächelte Nikolai in einer Art Galgenhumor. Dann grüßte er Petr, den Genius Intimus des Fahrers, der natürlich notwendigerweise auch dabei war. Magisch begabte Menschen waren ja niemals ohne ihre Schutzgeister unterwegs. Außer vielleicht sie waren mal vorübergehend in der Obhut fremder Schutzgeister, was aber möglichst vermieden wurde. Nikolai sah sich den rot beleuchteten Eingang an. Auch ohne den Schriftzug 'Pussy Deluxe' auf dem vollbusigen Maskottchen lesen zu müssen, hätte man bereits erraten können, was das für ein Etablissement war. „Was ist das hier für ein Schuppen? Als du 'Club' sagtest, hatte ich nicht mit einem Puff gerechnet.“

„Ach, es zwingt dich ja keiner, dir eine Dame zu mieten. Man kann auch einfach nur viel Alkohol vernichten und sich über die Tänzerinnen freuen. Du solltest dir Valentina ansehen, die Kleine ist der Wahnsinn!“

„Wie du meinst. Alkohol klingt für´s Erste gut“, entschied Nikolai und ging mutig voraus. Er war noch nie in einem Bordell gewesen. Aber für seine neue Tätigkeit war das sicher angemessen. Er hatte kein Problem damit. Im Gegenteil, er war gespannt.
 

Eine halbe Stunde später ging es Nikolai schon beträchtlich besser. Er hatte eine ganze Bandbreite verschiedener Spirituosen intus und er hatte sich bei Iwan gründlich über seinen nächsten Auftrag ausheulen können. Da der Kerl ja selber bei der Motus arbeitete, konnte Nikolai da ganz offen reden. Iwan hatte einige gute Tipps für ihn, wie man professionell an einen Auftragsmord heranging, damit nichts schieflaufen konnte, und wie man nachher mit seiner eventuell angekratzten Psyche umgehen musste. Er war froh, ein bisschen was erklärt zu bekommen. Nadeschda hatte ihm nie mehr gesagt als unbedingt nötig. Und 'Learning by Doing' war eine verdammt gefährliche Strategie in diesem Gewerbe. Begeistert war Nikolai davon zwar immer noch nicht, aber nun zumindest wieder beruhigt genug, um sich von den vielen fast nackten Mädchen um sich herum ablenken zu lassen. Gerade setzte sich so ein hübsches Ding zu ihnen an den Tisch. Sie war nicht mehr blutjung, aber dennoch bezaubernd. Sie hatte durch ihre südländisch gebogene Nase und die riesengroßen Augen etwas exotisches an sich. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu langen Locken gedreht und umspielten ihre schlanken Schultern.

„Hallo, Schöne“, schnurrte Iwan grinsend.

Nikolai sah Iwan fragend an.

„Das gehört hier zum guten Ton, die Gäste zu unterhalten“, klärte der Hellseher ihn schulterzuckend auf. „Wenn sie dich stört, kannst du sie aber auch wieder wegschicken. Das ist okay.“

„Nein, schon in Ordnung.“

„Du bist wohl neu hier?“, wollte die Kleine von Nikolai wissen. Klein war sie in der Tat. Sie würde Nikolai an Größe wohl nicht überbieten, wenn sie sich neben ihn stellte.

„Ist mein erstes Mal hier“, gab der Student lächelnd zu.

„Dann willkommen. Ich bin Galina.“

„Galina? Das ist ein russischer Name.“

„Ja.“, stimmte sie amüsiert zu.

„Du siehst ... eher türkisch aus, muss ich gestehen.“

„Meine Mutter war eine Pakistanerin. Aber ich bin hier geboren.“

Nikolai nickte verstehend. „Entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

„Ach was. Ich bin anderes gewöhnt“, lachte sie, stand von ihrem Stuhl auf und setzte sich direkt auf seinen Schoß. Verkehrt herum, so daß er ihre großen Brüste fast im Gesicht hatte. Nikolai wurde knallrot. Galina fuhr ihm zärtlich durch die langen Haare. „Wenn du möchtest, könnte ich dich rumführen. ... und dir alles zeigen.“

Er feixte anzüglich. „Meinst du mit 'alles' das Haus oder deinen Körper?“

„Alles eben“, kicherte sie.

Nikolai angelte in seine Jackentasche und holte einen großen Geldschein heraus, den er ihr einladend zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmend hinhielt.

„Uh! Dafür kriegst du eine Privatführung!“, versicherte sie. Sie erhob sich wieder, womit sie ihm ebenfalls ermöglichte, von seinem Stuhl aufzustehen. „Du überlässt mir den Neuen doch sicher mal für eine Stunde, oder, Iwan?“, wollte sie schnurrend von dem LKW-Fahrer wissen.

Der Mann und sein Genius Intimus lachten. „Bring ihn uns in einem Stück wieder!“, gab Petr nur zurück und trank sein Bier.
 

Galina führte ihn in ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer, dessen Zentrum sichtlich das große Bett war, und schloss die Tür. Die Fenster waren zugezogen, die Wände mit Stoffbahnen abgehangen, Kerzen sorgten für ein gemütliches Schummerlicht. Nikolai fragte sich, warum das Bordell nicht regelmäßig niederbrannte, wenn so viele Kerzen und so viele wehende Stoffbahnen unbeaufsichtigt hier rumstanden. Im Raum schwebte ein regelrecht penetranter Weihrauch-Duft.

„Also. Wonach suchst du?“

„Was meinst du?“, hakte Nikolai ahnunglos nach und ließ sich von dem Freudenmädchen rückwärts ins Bett schieben.

„Jeder, der hier her kommt, will etwas.“

„Oh, da bin ich sicher. Ich war ursprünglich auf der Suche nach Alkohol.“

Galina lachte und begann ihn unaufdringlich aus seinen Sachen zu schälen. „Das hier ist ein freies Bordell, weißt du? Es gehört keiner verbrecherischen Organisation“, erzählte sie dabei.

„Das heißt, du arbeitest freiwillig hier und bist nicht versklavt?“

„Nein. Das bedeutet, es ist neutraler Boden, auf dem sich die verschiedensten Kriminellen tummeln dürfen.“

„Du hältst mich für kriminell?“

„Du bist mit einem Fahrer der Motus unterwegs. Er hätte dich nicht hergebracht, wenn du nicht auch einer wärst“, stellte Galina selbstsicher klar.

„Gibt es hier nur Kriminelle?“, wollte Nikolai verwundert wissen.

„Nein. Die meisten Kunden sind anständig. Lüstlinge und Ehebrecher, sicher. Aber ansonsten gute, unbescholtene Bürger. Aber ich sag mal so ... Wir haben Kunden aus allen möglichen Organisation. Nicht nur aus der Motus. Und wir hören viel. Das Pussy Deluxe ist ein Umschlagplatz für Informationen. Wenn du jemanden suchst, oder etwas wissen willst, dann frag uns ganz offen.“ Sie beugte sich herunter und küsste Nikolai zärtlich, während eine ihrer Hände sich um den Reißverschluss seiner Hose kümmerte. Er konnte ein erregtes Winden nicht mehr unterdrücken. „Vorausgesetzt, du bezahlst dafür, versteht sich“, fügte sie an.

„Gut zu wissen, da komme ich sicher mal drauf zurück“, schlug er vor. Seine Finger fanden nun ebenfalls den Weg zu den Öffnungsmechanismen ihrer Kleidung. Er musste schon sagen, so ein Mädchen tröstete einen doch gut über die Sorgen seiner Motus-Aktivitäten hinweg, die ihm so zusetzten.

„Gott, wo hast du nur diese wundervollen, lange Haare her?“, schnurrte sie begeistert und fuhr durch eben diese sanft mit der Hand hindurch.

Abgrund

„Ihr habt hart dafür gearbeitet und könnt zu Recht stolz auf euer Diplom sein. Ich beglückwünsche euch nochmal allesamt zu euren erfolgreich abgelegten Abschlüssen in euren jeweiligen Fachrichtungen. Ab heute dürft ihr euch Magister Magicae nennen. Gut gemacht! Und damit beende ich den offiziellen Teil und gehe über zur eigentlichen Diplom-Feier. Ich weiß ja, daß ihr nur darauf wartet. Also viel Spaß!“, beendete der Dekan seine Rede und verließ die Bühne. Klatschen wurde laut und Musik wurde eingespielt. Viele stürmten zur Bar im hinteren Bereich des Saals und fielen endlich über den heiß begehrten Alkohol her. Nikolai drückte sich die schmuckvolle Präsentationsmappe mit seinem Diplom mit beiden Armen an die Brust und erhob sich von seinem Sitzplatz. Die ehemaligen Studenten saßen in den ersten drei Reihen, Angehörige und Freunde dahinter. Nikolai hatte weder das eine noch das andere. Dachte er jedenfalls ... bis plötzlich Anatolij vor ihm stand.

„Hey, Kolja, altes Haus! Glückwunsch zum Magister Magicae!“, begrüßte sein ehemaliger Mitbewohner ihn überschwänglich.

Nikolai sah ihn an wie einen Geist. „Was willst du hier?“, entfuhr es ihm dann.

„Na, dir gratulieren. So ´ne Abschlussfeier hat man nur einmal im Leben. Das ist ein großer Meilenstein in deinem Leben.“

„Geh wieder heim“, trug Nikolai ihm herzlos auf, schob sich an ihm vorbei und stiefelte einfach davon.

„Eh, warte mal!“, rief Anatolij ihm beleidigt nach. Er hängte sich an seine Fersen. „Was ist los mit dir? Du hast seit über drei Monaten nicht mehr auf meine Anrufe und sms reagiert! Und auf meine e-mails auch nicht! Sind wir keine Freunde mehr? ... Bleib stehen, wenn ich mit dir rede, verdammt!“

Und Nikolai blieb stehen. Er drehte sich um und sah seinen Freund böse an. „Du solltest dich nicht mehr in mein Leben einmischen. Ich kann dir das nicht erklären. Ich kann nicht, und ich versuch´s auch gar nicht erst! Lass mich einfach in Ruhe. ... Es tut mir leid.“

„Sag mal, haut´s bei dir irgendwie ne Sicherung durch? Wir kennen uns seit wir Kinder sind! Du hast 3 Jahre lang bei mir gewohnt! Ich hab dich am Leben erhalten! Sag mir nicht, ich sollte mich in dieses Leben nicht mehr einmischen!“

„Doch, genau das sage ich. Du verstehst das nicht. Geh wieder nach Hause, Anatolij. Und versuch nicht mehr, Kontakt zu mir aufzunehmen.“

Der Ältere verengte wütend die Augen. „In den letzten Monaten, als ich nichts mehr von dir gehört habe, dachte ich, du wärst einfach nur im Prüfungsstress. Aber jetzt ... Du meinst das ernst, oder?“

„Darauf kannst du wetten.“

„Was ist los mit dir?“

Nikolai seufzte leise und wich endlich dem strengen Blick seines Freundes aus, um zu Boden zu sehen. „Ich hab dir gesagt, daß ich eine neue Arbeit habe.“

„Ja, hast du. Auch wenn ich beim besten Willen nicht weiß, welcher Studenten-Job so viel Kohle abwirft, daß du eine eigene Bude bezahlen und komplett mit neuen Möbeln ausstatten kannst.“

„Das solltest du auch nicht wissen. Ich kann dir nur sagen, daß ich da niemanden involvieren darf. Auch dich nicht.“

„Ist es was streng Geheimes? Die Regierung vielleicht?“

„Es ist besser, wenn wir den Kontakt abbrechen, Anatolij. Das ist alles, was ich dir dazu sagen kann.“

„Ist es was Gefährliches?“

Der junge Gestaltwandler verzog böse das Gesicht. „Jetzt hör schon auf, mich auszufragen! Ich werde nicht mehr mit dir darüber reden! Ich werde überhaupt nicht mehr mit dir reden! Und dabei bleibt es!“

„Schon gut.“ Anatolij hob ergeben die Hände. „Du darfst es nicht sagen. Schon gut.“

„Und jetzt verschwinde bitte von der Abschlussfeier. Ich werde das auch gleich tun. Ich habe nicht vor, hier sehr lange zu bleiben.“

Der blonde Freund nickte betrübt, als ihm langsam aufging, daß er aus Nikolai wirklich nichts mehr herausbekommen würde und der mit dem Abbruch des Kontaktes keinen Spaß machte. Ihre Freundschaft war tatsächlich hier und jetzt beendet. Nein, sie war es schon seit Monaten, er hatte es nur noch nicht gemerkt.

„Tolja?“, meinte Nikolai zaghaft. Er hatte noch nie den Kosenamen für seinen Freund gebraucht, aber jetzt war es wohl der passende Moment dafür.

„Hm?“

„Danke für alles, okay? Es ist nicht so, als ob ich dich nicht mehr mögen würde, oder dir nicht mehr dankbar wäre. Glaub mir das. Ich werde dich nicht vergessen.“

Anatolij zog ernst die Augenbrauen zusammen. Er wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Aber es klang in seinen Ohren glaubwürdig genug, um es so hinzunehmen. Er verzichtete darauf, Nikolai anzubieten, ihn zumindest noch nach Hause zu fahren. Er wusste jetzt schon, daß der ablehnen würde.

„Sei mir nicht böse“, bat Nikolai noch. Dann wandte er sich um und ging. Einfach so. Nein, nicht 'einfach so'. Das hier war alles, nur nicht einfach. Aber es ging nicht anders. Er musste Anatolij aus seinem Leben streichen, wenn er ihn nicht gefährden wollte. Er fühlte sich elend, Anatolij so abserviert zu haben, trotz der gedrechselten Höflichkeit zum Abschluss. Es schmerzte ihn, seinen engsten und langjährigsten Freund so zu verlieren. Auch so ein Punkt, den er sich nicht überlegt hatte, als er Gontscharow von der Geheimpolizei seine Zusage gegeben hatte: er würde seine Freunde verlieren. Und zwar alle, ausnahmslos. Kirill genauso. Er war direkt froh, keine Familie zu haben, die er auch noch hätte verlieren können.
 

Da Nikolai nun von der Universität entbunden war, wandte er sich komplett der Motus zu. Er verbrachte den allergrößten Teil seiner Zeit damit, zu trainieren und stärker zu werden. Seine Bann-Magie musste wesentlich besser werden, wenn er sich sicher fühlen wollte. Seine Angriffs- und Abwehrzauber ebenso. Die Verwandlung in einen Menschen bekam er nach wie vor nicht hin. Und Nadeschda hatte ihm gesagt, er solle das bitte auch bleiben lassen, wenn er nicht von der Motus als zu gefährlich eingestuft und über den Haufen geschossen werden wollte. Der Boss, Vladislav, hatte wohl kein Problem damit, auch die eigenen Leute zu eliminieren, wenn sie mehr Risiko als Nutzen brachten. Das Schießen mit einer Pistole übte er nicht mehr. Er war der Meinung, wenn er nur genug Blei in die Luft brachte, würde er schon irgendwas treffen. Abgesehen davon hatte Nikolai sein Geld dafür genutzt, den Führerschein zu machen und sich ein kleines, unauffälliges Auto zuzulegen, um mobiler zu sein. So war er der Motus von größerem Nutzen, das spürte er. Denn seither hatte er auch sehr viel mehr zu tun.

Nur mit der erhofften Karriere tat sich absolut gar nichts. Abgesehen von seinem Abstecher nach Spanien damals hatte er noch keine Motus-Funktionäre oder anderen Abteilungen kennen gelernt. Er hing bei Nadeschda fest und verwaltete mit ihr das Lager D. Als Jäger war er dafür zuständig, für den Nachschub zu sorgen. Er fing die Genii ein, die in der Holzhütte im Wald gesammelt und einmal pro Woche von Iwan und Petr nach Polen abtransportiert wurden. Dafür musste er nichtmal ins Ausland. Man durfte staunen, wieviele potentielle Opfer allein in Russland zu finden waren. Die Arbeit ging einem nie aus. Nach Polen ging er selber nicht mehr mit, das erledigten nun wieder Iwan und Petr. Ihren LKW ließen sie einfach kurz vor Weißrussland stehen, bis sie zurück waren. So hatten sie es offenbar auch schon vorher gehandhabt, bevor Nikolai zu der Truppe gestoßen war. Nadeschda war sehr zufrieden mit Nikolais Arbeit. Sie sagte, das Lager D hätte noch niemals solche Umsätze gemacht und solche Sklavendurchläufe gehabt wie jetzt, wo Nikolai für den Nachschub sorgte. Nikolai wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder ärgern sollte. Oder ob es ihm überhaupt irgendwas brachte, um in der Motus aufzusteigen. Natürlich würde es seine Zeit dauern, bis er sich einen Namen gemacht hatte und irgendjemand von der Führungs-Ebene auf ihn aufmerksam wurde. Da musste er etwas Geduld haben. Bis dahin war Nikolai einfach froh, seine Opfer wieder lebend fangen zu dürfen, statt sie abknallen zu müssen. So gingen die Tage ins Land.
 

Dann kam der Abend, an dem er nichtsahnend auf dem Nachhause-Weg in seine Straße einbog und von Blaulicht begrüßt wurde. Hektisch sprang er wieder hinter die Hauswand und presste sich mit dem Rücken gegen den Stein. War er gesehen worden? Sollte er sich überhaupt verstecken? Wieder hinter dem Haus zu verschwinden, war ein Reflex gewesen. Vorsichtig äugte er nochmal um die Hausecke. Da standen zwei Funkwagen vor seinem Haus und einige offiziell uniformierte Polizisten gingen ein und aus. Einer stand auf dem Fußweg und redete mittels eines Funkgerätes. Nikolai war direkt klar, daß die zu ihm wollten. Zu wem sonst? Was hatte das zu bedeuten? Er versteckte sich wieder hinter seiner Hausecke, presste sich erneut mit dem Rücken gegen die Wand und überlegte. In seiner Wohnung, falls sie die aufbrachen, würden sie nichts finden. Nikolai hatte zum Glück immer darauf geachtet, nichts mit nach Hause zu bringen, was irgendwie auf die Motus zurückführte. Wenn möglich, hatte er alles vernichtet. Was er nicht vernichten konnte, hatte er wo anders gelagert. Gott sei Dank nahm er seinen Laptop fast immer mit. Da drauf hätte man eventuell ein paar von Nadeschdas e-mails rekonstruieren können, auch wenn die nie so formuliert waren, daß man sich was draus nehmen konnte. Da standen nur Uhrzeiten drin, kein Ort, keine Namen, kein Auftrag, nichts.

Na schön, in seine Wohnung konnte er so schnell nicht zurück. Er wusste zwar noch nicht, was ihm die Ehre des Polizei-Besuchs bescherte, aber er hatte auch keine Lust, es herauszufinden. Kurzentschlossen drehte er um und verschwand wieder. Er würde mal der Blockhütte im Wald einen außerplanmäßigen Besuch abstatten. Wenn dort noch alles okay war, konnte er sich ja vorübergehend da verschanzen. Er hatte dort sowieso noch ein bisschen was zu tun. Sein Auto konnte er leider nicht holen, dafür hätte er mitten durch die Polizei-Sperre hindurch gemusst. Also musste er mal wieder seine Greifen-Gestalt annehmen und fliegen. Das würde schon gehen. Seit er das Geld dazu hatte, trug er immer Kleidung, die ihm bei der Verwandlung nicht flöten ging. Sein Glück.
 

Nikolai wunderte sich, als er vor dem Lager D landete, wieder seine menschliche Gestalt annahm und sich vor zwei Autos wiederfand. Das eine gehörte Nadeschda, das andere kannte er nicht. Sah nach einem mächtig protzigen Schlitten aus, der mit seinen breiten Reifen und dem polierten Lack sichtlich nicht dazu gedacht war, die Schlammpiste hier raus zu bewältigen. Iwans LKW sah er noch nirgends. Aber der würde auch gleich kommen. Heute war Donnerstag. Die Lieferung nach Polen ging immer donnerstags. Interessiert zog er die Tür auf und trat ein.

Drinnen saß Nadeschda mit einem fremden Mann über den Büchern und zählte Geld. Er war groß, athletisch gebaut, hatte strubbelige, blonde Haare und trug nur ein ärmelloses Shirt. So konnte man seinen rechten Arm zur Gänze bewundern, der vom Handgelenk bis zur Schulter restlos zutätowiert war. Er war stolz auf diesen tätowierten Arm und trug nur deshalb bei dieser herbstlichen Kälte ärmellose Sachen, das merkte man ihm deutlich an. Dazu eine teure, schnittige Marken-Jeans. Diese Jeans passte von der Preisklasse her zu der Protzkarre draußen vor der Tür.

„Hi, Nadeschda“, grüßte Nikolai unbefangen, die Tür noch in der Hand.

Die brünette Frau sah ihn fragend an. Sie hatte Nikolai nicht erwartet. Seit er Jäger war, hatte er mit den Sklaventransporten eigentlich gar nichts mehr zu schaffen. Er sorgte nur noch dafür, daß es etwas zu transportieren gab, aber die Gefangenen mit einem Bann zu belegen, um sie gefügig zu machen, oder sie auf den LKW zu verfrachten, gehörte nicht mehr zu seinen Aufgaben. „Hey. Was machst du denn hier?“

„Mal nach dem Rechten sehen.“

„Aha? ... Gut, daß du kommst. Dann kann ich dir endlich mal den Boss vorstellen. Das hier ist Vladislav“, erklärte sie mit Deut auf den Fremden. „Er kommt sonst nie her. Normalerweise kommt nur einmal im Quartal einer der Unter-Bosse zu uns und prüft die Bücher.“

Nikolai nickte, zwang sich aber, den Boss nicht zu lange und zu eingehend zu mustern. Auch wenn er sich für den Mann, für den Kopf und ranghöchsten Chef dieses gesamten Verbrecher-Kartells, interessierte, hatte der spanische Cluster-Chef ihm ja geraten, seine Neugier dringend zu zügeln. „Dann lasst euch bitte nicht stören. Ich kümmere mich nur um die Inventur. Ignoriert mich einfach.“ Er wandte sich einigen Kisten zu, die am Rand gestapelt waren. Sie waren gefüllt mit Werwolfsfellen, die er noch zählen, listen und bewerten musste. So eine Inventur dauerte ewig, das hatte er Anfang der Woche nicht mehr alles geschafft. Der Handel mit Werwolfsfellen war – natürlich – verboten, weil sie nicht für Pelzbekleidung taugten, denn schön sahen sie wirklich nicht aus, sondern vor allem zu allerlei fiesen, gefährlichen Zaubern, über die man schnell die Kontrolle verlor. Eine ganze Zeit blieb er auch unbeachtet, kümmerte sich ungestört um seinen Kram und hörte nur mit halbem Ohr zu, wie die beiden Geld nachzählten.

„Gut!“, machte Vladislav irgendwann ernst und lehnte sich zurück. Sein Tonfall klang, als würde sein eigentliches Anliegen jetzt erst anfangen. „Die Bücher und das Geld stimmen. So weit, so gut. Jetzt hätte ich noch eine andere Frage.“

„Ja?“, erwiderte Nadeschda nervös.

„Man erzählt mir, du wärst mit einem gewissen Hektor Gontscharow gesehen worden. Was muss mir das sagen?“, wollte der Boss mit verschränkten Armen wissen.

„W-Wer sagt denn sowas?“, gab Nadeschda zurück. Etwas zu panisch, um noch glaubwürdig zu klingen. Die Worte waren auch verdammt dämlich gewählt. Statt zu fragen, wer Gontscharow denn bitte sei, gab sie ja förmlich zu, ihn zu kennen.

„Ah, also doch! Du bist eine verdammte Geheimdienst-Hure!“, zischte Vladislav. „Hast du ihnen alles über uns erzählt, ja?“

„Ich hab ihm nichts erzählt!“

„Nicht? Was könnte er denn sonst von dir wollen, wenn nicht Informationen?“

„Ich weiß doch gar nichts.“

„Achso, du weißt gar nichts!“, äffte Vladislav sie nach und zeigte auf die Bücher. „Du hast ein ganzes Lager unter dir. Aber das wusstest du natürlich auch nicht.“

„Bitte ... ich ...“

„Oh nein, keine Sorge, du musst keine Angst um dein Leben haben. Ich werde dich nicht umbringen. Im Gegenteil. Ich lasse dich leiden!“, grinste er. „Es wird mir eine Freude sein, dich zu quälen. Dich zu foltern, körperlich und psychisch. Dich zu demütigen und es zu genießen. Einfach nur weil ich es kann. Für dich beginnt eine Zeit der Grausamkeit und Gewalt. Und damit meine ich nicht Tage. Oder Wochen.“

Nadeschda liefen Angsttränen über die Wangen, während sie ihn mit riesigen Augen anstarrte, als wäre er ein lebendig gewordener Albtraum. Nun ja, wahrscheinlich war er das wirklich, in diesem Moment.

„Ach, mach doch nicht so viel Ruß!“, verlangte Nikolai, zog die Pistole und knippste die junge Frau konsequent mit einem Kopfschuss aus. Und gab sich dann Mühe, seine Mimik und seine Atmung unter Kontrolle zu haben. Mehr hatte er für Nadeschda nicht tun können. Sie wäre so oder so des Todes gewesen, jetzt wo die Motus sie einmal enttarnt hatte. Er konnte ihr nur noch wochenlange oder gar monatelange Qualen ersparen, indem er ihr ein schnelles Ende bescherte. Und er konnte beim besten Willen nicht riskieren, daß sie ihn verriet.

Vladislav sah ihn zwischen fragend und abschätzend an.

„Komm schon, wir haben noch viel zu tun. Lass die Schlampe“, meinte Nikolai. Dann wandte er sich wieder seinen Kisten zu.

„Du denkst ja sehr pragmatisch.“

„Ich bin ein Mann der Tat. Ich kann solches Rumgefackel nicht leiden.“

Vladislav deutete bestimmend mit dem Zeigefinger auf ihn. „So einen wie dich kann ich brauchen. Wer bist du?“

Ein entscheidender Gedanke blitzte in Nikolais Kopf auf. Er hatte die Polizei im Nacken. Wie es aussah, deckte der Geheimdienst ihn nicht mehr. Solange er das nicht genau wusste, musste er untertauchen. Um so mehr, wo er nun Nadeschda ausgeschalten hatte. Und jetzt war er so nah an dem Boss der Motus dran, wie nie zuvor. Auch der durfte seinen echten Namen nach Möglichkeit nicht wissen. Das hätte ihm zuviel Macht gegeben. Nikolai brauchte einen Decknamen. Jetzt sofort! Und möglichst dauerhaft. Er hatte das Gefühl, noch nie bei klarerem Verstand gewesen zu sein, als er sich für eine Antwort entschied. So wie er den Namen aussprach, spürte er, wie der junge Gestaltwandler Nikolai unter einer Maske und einem Tarnmantel verschwand, um nie wieder hervor zu kommen. Er war kein Student mehr, der im 24-Stunden-Laden Fischkonserven in Kühltruhen sortierte und mit seinem Freund Anatolij wegen eines Weißbrots stritt. Dieses Leben war vorbei. Ab jetzt gehörte er der Motus. Er war ein Mörder und Sklavenhändler. Spätestens seit er Nadeschda umgelegt hatte, gab es kein Zurück mehr. Ab heute war er ... „Victor. ... Victor Akomowarov.“

Verstrickt

„Ich bin Victor. ... Victor Akomowarov.“

„Von dir hab ich noch nie gehört“, meinte Vladislav, stand auf und kam in Ruhe näher. Die Leiche seiner Lagerhalterin störte ihn überhaupt nicht. Nur eine ersetzbare, verräterische Schlampe, die für den Geheimdienst spitzelte. Weg mit ihr!

„Ich bin Jäger, ich sorge hier für den Nachschub“, antwortete Victor und deutete auf die Käfige, in denen eine ganze Ladung Ovinniks eingesperrt waren.

„Seit wann?“

„Ein halbes Jahr, vielleicht länger. Ich war erst Schleuser, bevor Nadeschda mich auf die Jagd geschickt hat.“

„Aha. Dann ist es also dein Verdienst, daß das Lager D im letzten Quartal soviel Umsatz gemacht hat, wie im ganzen letzten Jahr zusammen.“

„Wie gesagt“, lächelte Victor. „Ich bin ein Mann der Tat.“

„Ich sollte dir vielleicht was Größeres anvertrauen ... Victor.“

„Du ehrst mich“, erwiderte der Gestaltwandler kühl, als hielte er das für einen Witz, und machte sich weiter an den Kisten zu schaffen. Mehr, um seine Emotionen nicht zu verraten, und nicht so sehr weil er den Boss nicht ernst genommen hätte. Etwas fahriger als gewollt holte er das nächste Werwolfsfell aus der Kiste und breitete es mit Schwung aus, damit er die Qualität prüfen konnte.

„Ich meine das ernst. Wenn du derjenige bist, der hier für den ganzen Nachschub sorgt, dann hast du echt was drauf. Und du zögerst nicht, zu tun, was getan werden muss, wie ich sehe!“

Alter Schwede, das war genau das, was er die ganze Zeit gewollt hatte. Zugang zum Chef, zum Kern der Organisation selbst. Er musste sich bewusst ermahnen, jetzt nicht zu euphorisch zu reagieren und sich nicht zu verraten. „Ich wäre nicht abgeneigt. Aber lass uns nochmal in Ruhe drüber reden, ja? Da kommen Iwan und Petr.“ Er deutete zur Tür, wo gerade der Motor eines LKW´s zu hören war. „Die Sklaven müssen noch für den Abtransport vorbereitet werden. Mit einem Bann belegt werden, und so. Wird wohl jetzt an mir hängen bleiben, nun wo Nadeschda gekündigt wurde.“

Der Boss nickte mit einem hinterlistigen Schmunzeln, das Victor nicht recht deuten konnte, und rieb sich das Kinn. „Wir sprechen uns wieder.“

Die Tür ging auf und Iwan und Petr kamen grüßend herein. „Hey-Ho! Wie weit seid ihr? Heiliger ...! Was ist passiert?“, keuchte der Hellseher, als er Nadeschda sah, deren Blut sich langsam auf dem Boden ausbreitete.

„Kümmer dich um die Leiche. Und dann wickel den Transport ab. Du fährst heute mit nach Polen“, legte Vladislav an Victor gewandt fest.

„Sicher.“

Der Boss wandte sich ab und spazierte gelassen davon.

Victor beherrschte sich gerade noch lange genug, bis Vladislav zur Tür hinaus war, dann griff er sich laut stöhnend an den Kopf. „dermo!“, fluchte er ungehalten. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“
 

Nachdem Victor aus Polen zurück war, verbrachte er noch zwei weitere Tage in der Holzhütte Lager D. Er redete sich ein, daß er das Lager ohne Nadeschda am Laufen halten musste und sich möglichst schnell in alles einarbeiten musste. Er kannte weder die Buchhaltung, noch kannte er Nadeschdas Kontakte. Er hatte keine Ahnung, an wen sie die Sklaven überhaupt verkaufte und wie sie mit den Käufern Kontakt aufnahm. Er wusste nicht, wie sie an die Weißrussische Armee heran kam, und auch nicht, für welche Art von Genius man wieviel Geld verlangen musste. Nur eins hatte er sich bereits vorgenommen, er würde die Preise ein wenig hochschrauben. Der Boss war zufrieden mit den hohen Umsätzen von Lager D? Dann sollte er hohe Umsätze bekommen! Er sollte allen Grund haben, sich nochmal mit Victor zu befassen. Victor konnte die Arbeit im Lager D nicht verkümmern lassen, weil sie ihn anwiderte. Er musste im Gegenteil dafür sorgen, daß sie beträchtlich gedieh. Anders würde er nie aufsteigen.

Aber abgesehen davon kam es ihm auch ganz gelegen, zwei Tage nach Polen zu verschwinden, um möglichst weit von der Polizei weg zu kommen. Erst nach Tagen traute er sich das erste Mal wieder in seine Wohnung, paranoid darauf bedacht, keinem Gesetzeshüter vor den Bug zu laufen. Wie erwartet war die Wohnung aufgebrochen und mit Polizeisperrband abgesperrt. Er blieb nur lange genug, um ein paar persönliche Gegenstände zu holen, dann türmte Victor wieder. Er würde die Wohnung umgehend aufgeben und sich eine neue suchen, die der Geheimdienst hoffentlich nicht so schnell aufspürte. Er hatte da schon einige Vorkehrungen im Sinn. Und die Verwendung seines neuen Namens Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov war nur einer davon.

Keine Ahnung, wie er ausgerechnet auf Akomowarov gekommen war. Das war der Name seines Literaturlehrers in der Grundschule gewesen und Victor hatte ihn nichtmal sonderlich leiden können. Aber ein besserer Name war ihm im Eifer des Gefechts nicht eingefallen. Doch da er sich dem Boss Vladislav nun einmal so vorgestellt hatte, musste er auch dabei bleiben.
 

Sein nächster Weg führte Victor in die Universität, wo er den Dekan aufsuchte. Der einzige Mann, der ihm jetzt vielleicht noch sagen konnte, was wirklich Phase war. Ohne zu klopfen platzte er ins Durchgangszimmer der überraschten Sekretärin hinein, ein Taschenmesser in der Hand. Sie starrte ihn entgeistert an, brachte aber kein Wort heraus, als er auf sie zumarschierte.

Victor blieb vor ihrem Schreibtisch stehen. „Ist der Dekan da?“

Sie nickte mit offenem Mund.

„Gut!“ Er ließ die Klinge seines Messers herausschnappen und präsentierte diese. „Nur zur Sicherheit“, schmunzelte er, griff nach der Leitung ihres Schreibtischtelefons und kappte das Kabel mit einem Ruck. Dann ließ er die Klinge wieder hinein schnappen, steckte das Messer weg und streckte ihr die Hand hin. „Dürfte ich wohl vorübergehend mal um Ihr Handy bitten? Sie kriegen´s wieder.“ Verblüfft nahm sie ihr offen auf dem Schreibtisch herumliegendes Privathandy und reichte es ihm. Victor ging weiter. Geile Sache, dachte er dabei zufrieden. Solche Auftritte sollte er öfter hinlegen. Das war richtig maffia-würdig. Aber da er nunmal leider davon ausgehen musste, daß er inzwischen schwer gesucht war, konnte er es sich nicht leisten, daß die Sekretärin die Polizei rief, während er mit dem Leiter der Uni sprach. Als seine Sekretärin war sie bestimmt in vieles eingeweiht. Auch darin, daß einer ihrer ehemaligen Studenten polizeilich gesucht wurde. Auch ins Büro des Dekans platzte Victor ohne jede Ankündigung oder gar Aufforderung hinein.

Der Dekan und ein Professor, mit dem dieser gerade irgendwas besprach, schreckten beide vom Tisch hoch. „Nikolai!“, keuchte der Leiter.

„Auf ein Wort, Magister“, gab Victor kühl zurück. Er wusste, daß der Mann selbst einen Magister-Titel hatte und sprach ihn lieber damit an, auch wenn das rangniedriger war als der Titel 'Dekan'.

„Ja ... äh ... natürlich ... Professor, wenn Sie mich kurz entschuldigen könnten!? Warten Sie doch bitte eine Sekunde draußen. Ich bin sofort wieder verfügbar“, bat er überrumpelt seinen nicht minder verdutzten Gast hinaus und sprang auch selbst auf.

Der Professor nickte nur verwirrt und trollte sich.

Victor beobachtete reglos die Tür, bis sie wieder zu war.

„Nikolai, bist du denn von allen guten Geistern verlassen, hier her zu kommen?“

„Bin ich das?“, gab Victor schnippisch zurück.

„Falls du es noch nicht bemerkt hast, die Polizei sucht überall nach dir! Es gibt einen Haftbefehl für dich!“

„Ist mir nicht entgangen. Und ich wüsste gern, warum.“

„Warum!?“, echote der Mann, als hätte er sich verhört.

„Meine Kontaktperson ist weg. Sie sind mein letzter Mittelsmann zum Geheimdienst. Sie kennen diesen Gontscharow persönlich“, stellte Victor böse klar. „Wenn Sie mir das nicht sagen können, dann keiner. Also will ich jetzt meine Antwort von Ihnen haben! Warum sucht die Polizei mich? Ich arbeite für den Geheimdienst. Jagen die neuerdings ihre eigenen Leute?“

Der Dekan setzte sich langsam wieder. „Die Geheimpolizei deckt dich nicht mehr, Junge. Du bist raus aus dem Spiel.“

Victor nickte bedächtig und nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem zuvor der Professor gesessen hatte. Selbstsicher legte er den rechten Fuß auf dem linken Oberschenkel ab, so daß sein Schienbein eine Barriere baute. „Was werfen die mir vor?“

Der ältere Mann im Anzug fuchtelte kurz hilflos mit den Armen, als er versuchte, ein Schulterzucken zu vermeiden, das nicht der Wahrheit entsprochen hätte. „Alles. Sklavenhandel. Waffenhandel.“

„Natürlich. Ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl. Was hätte ich denn tun sollen? Desertieren? Was die mit mir machen, wenn die mich für einen Deserteur, oder noch schlimmer für einen Verräter, halten, ist nichts für fantasiebegabte Leute!“

„Es war sogar von Mord die Rede, Nikolai! Hast du geglaubt, der Geheimdienst würde sowas decken?“

„Hat der Geheimdienst etwa geglaubt, ich würde als völlig unbescholtenes Lämmchen, als weißes Blättchen Papier, das sich nichts zu Schulden kommen lässt, Zugang zu den höchsten Kreisen der Motus kriegen?“, zischte Victor hysterisch. „Hat der Geheimdienst etwa geglaubt, ich dürfte nur stillschweigend zusehen, ohne mir die Finger schmutzig zu machen!? Und würde dafür Belobigungen kriegen und vom Boss der Motus mit Einblick in alle Pläne belohnt werden!?“ Kurz Ruhe. Ein betreter Blick des Dekans. „Glaubt der Geheimdienst, ich kann da einfach jederzeit wieder aufhören, wenn ich keine Lust mehr drauf habe?“

Der Dekan seufzte nur und wandte den Blick ab.

„Fragen Sie das Ihren Herrn Gontscharow, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen! Und sagen Sie ihm, er ist der nächste auf der Liste der Motus! Dafür sorge ich persönlich!“

„Nikolai Grigorijewitsch, du solltest jetzt besser gehen. Und ich hab dich nicht gesehen.“

„Möchte ich Ihnen auch geraten haben ...“, maulte Victor und beherrschte sich gerade noch, ihn nicht bezüglich seines neuen Namens 'Victor' zu korrigieren. Besser, der Geheimdienst erfuhr noch nichts von der Verwandlung von Nikolai in Victor Akomowarov. Das kriegten die auch so noch früh genug mit.

„Pass auf dich auf, hörst du?“

„Ach, lecken Sie mich doch am Arsch!“, fluchte der junge Gestaltwandler, fuhr von seinem Stuhl hoch und schneite davon. Er riss die Tür auf und ließ sie lautstark wieder ins Schloss krachen, nachdem er sie passiert hatte. Er fühlte sich zutiefst gekränkt, daß der Geheimdienst ihn in so eine Löwengrube geworfen hatte und ihn dort dann sich selbst überließ. Die würden ihm also nicht mehr helfen. Ein neuer Plan musste her.
 

Wieder gingen ein paar Monate ins Land, in denen nichts geschah, was wert wäre, zu erzählen. Victor hielt das Lager D am Laufen, fing gefährliche Genii, die er in Käfige steckte und nach Polen schickte, und wurde immer besser in seinem Job. Das Lager warf auch ohne Nadeschda Unsummen ab. Iwan hatte ihm geholfen, die nötigen Kontakte herzustellen. Und Victor trauerte Nadeschda nicht im Mindesten nach. Sie erschossen zu haben, bedauerte er nicht halb so sehr wie die anderen Opfer, die sich inzwischen auf seinem Konto ansammelten. Der Ghul von damals war nicht sein letzter Auftrag gewesen. Während er das Lager D unter sich hatte, kamen auch hin und wieder, und dann immer häufiger, weitere Mordaufträge rein. Für Genii, die zu stark oder zu gefährlich waren, um sie mit einem Bannzauber gefügig zu machen und als Sklaven zu verkaufen. Auch darin wurde Victor langsam besser. Es fiel im zunehmend leichter, mit solchen Aufträgen umzugehen und sein Gewissen im Zaum zu halten. Immerhin waren das alles Viecher, die bestialisch Menschen anfielen und umbrachten. Er redete sich ein, daß die Welt ohne diese Monster nicht ärmer dran sei. - Allein vom obersten Boss der Motus hörte er die ganze Zeit überhaupt nichts mehr. Anfangs hatte Victor gedacht, Vladislav würde ihn nur erstmal eine Weile im Auge behalten, bis er ihn besser einschätzen konnte. Aber nachdem er das Lager D ein geschlagenes Dreivierteljahr ohne Nadeschda geleitet hatte, gab er die Hoffnung auf, jemals in der Motus aufzusteigen oder wenigstens mehr über ihre Strukturen in Erfahrung zu bringen, und nahm sein Schicksal einfach hin. Dann kam eines Tages ein Auftrag, zwei Nachtmahre zu exekutieren und dem Boss einen Talisman zu bringen, der sich im Besitz der beiden befand. Und zwar nur dem Boss. Unverzüglich und persönlich, hieß es in dem Auftrag.
 

Er klingelte. Es war gerademal zwei Tage später. Um Aufträge kümmerte er sich immer sofort, die schob er nicht auf die lange Bank. Er wartete aber vergeblich, daß ihm jemand die Tür öffnete. „Na schön, Freunde. Ihr wollt spielen? Könnt ihr haben.“ Er zog die Pistole und ballerte das Schloss aus der Fassung. Das splitternde Holz machte mehr Lärm als das schallgedämpfte Projektil. Dann trat Victor in die Wohnung ein und sah sich um. Sie schien verlassen zu sein, keiner da. Aber er wusste es besser. Die waren hier irgendwo, definitiv. In den naheliegendsten Verstecken wie dem Kleiderschrank und dem Spülschrank wurde er nicht fündig. Er hatte sogar schon Kinder in Schubladen gestopft gefunden, aber diese Idee half ihm hier ebenfalls nicht. Ihm fielen beim Herumlaufen auch keine hohl klingenden Stellen im Boden auf.

Dann blieb sein Blick am Bett kleben. Mit einem verstehenden Schnaufen sackte er das leichte Metallgestell an und kippte das Bett mit einem kraftvollen Schwung um. Und da fand er sein erstes Opfer. Der alte Mann hatte sich mit Halteriemen an die Unterseite der Matratze gehangen, damit man ihn nicht sah, selbst wenn man unter das Bett schaute. Diese offenbar eigens dafür angebrachte Vorrichtung sagte Victor, daß die Genii schon häufiger von Jägern gesucht worden waren. Tja, Pech, diesmal war der Jäger Victor, und der hatte ihn gefunden. Der Mann nahm seine albtraumhafte Nachtmahr-Gestalt mit dunkelbrauner Haut, langen Klauen und fürcherlicher Grimasse an und kreischte drohend auf, in der Hoffnung, Victor damit Angst zu machen und vielleicht in die Flucht zu schlagen. Kommentarlos hob der die Pistole und brachte den Mann mit einem gezielten Schuss um. Game over.

Danach suchte er weiter. Hier musste auch irgendwo die Frau dazu noch sein. Sie war, das wusste Victor, eine Gestaltwandlerin. In seinem Studium hatte Victor die verschiedensten Gestaltwandler kennen gelernt. Manche konnten sich in Gegenstände verwandeln, andere in Lebewesen, wieder andere in Flammen oder eine Wasserpfütze. Wer weiß, welche Form sie wohl gerade hatte, um sich zu tarnen. Um ihr und sich selber die Suche nicht unnötig zu erschweren, holte er ein Sprühfläschchen aus seiner Jacke, wie es normalerweise für Parfüm genutzt wurde. Nur war dieses hier mit Viscum-Lösung gefüllt. Eine nette Substanz, die magisch veränderte Objekte durch Farbänderung kenntlich machte.

Er begann wahllos in allen Räumen damit herumzusprühen, bis ihm endlich im Bad ein Handtuch angezeigt wurde. Es lag einfach nur zusammengefaltet auf dem Klodeckel, als wäre es für seine nächste Benutzung bereitgelegt worden. In sowas konnte sich diese Frau verwandeln? Bemerkenswert. Nichts desto trotz packte Victor das Handtuch und schüttelte es grob aus. Da wurde es wieder zu einer Nachtmahr-Frau, die linkisch stolpernd auf dem Boden zu sitzen kam und ihn erschrocken anstarrte. Erschrocken, daß er sie gefunden hatte. Victor hob mit emotionslosem Gesicht die Pistole und schoss sie ab. Nachtmahre waren kreuzgefährlich, mit denen würde er sich nicht auf langes Gefackel einlassen. Er hatte nur die Chance, sie schnell zu töten, bevor sie ihn töteten.
 

Es klopfte an der Tür seines Büros.

„Herein!“, rief Vladislav und sah von seinem Schreibtisch hoch. An sich erwartete er gerade niemanden. Aber sein Gesicht erhellte sich erfreut, als er seinen unangemeldeten Besucher erkannte. „Victor, lange nicht gesehen! prochodi. Komm rein.“

„Hallo. Ich hätte nicht gedacht, daß du offizielle Büroräume in einem Geschäftsgebäude hast. Führst du eine Scheinfirma?“, wollte Victor wissen und sah sich um. Es war eben ein typisches Büro mit Schreibtisch, Computer, Bücherregalen und Stühlen für Gäste. In der Ecke saß ein Mann und las ein Buch.

„Mein Genius Intimus“, klärte der Boss ihn auf seinen fragenden Blick hin auf.

Victor nickte nur verstehend. Und war klug genug, nicht nachzuhaken, wo der wohl gewesen war, als Vladislav sich damals im Lager D hatte blicken lassen, um Nadeschda wegen ihrer Geheimdienst-Verbindung zur Rede zu stellen. Normalerweise trennten sich Schutzgeist und Schützling ja nicht. Bestimmt war der irgendwo in der Nähe gewesen und hatte die Umgebung gesichert. „Ich hab deinen Auftrag ausgeführt. Hier ist der Talisman, den ich dir bringen sollte“, wechselte Victor das Thema.

Vladislav nahm den silbernen Anhänger, den er hingelegt bekam, wieder von der Tischplatte und sah ihn sich eingehend an. „Danke, setz dich.“

Victor, der eigentlich geplant hatte, sofort wieder zu verschwinden, zog kurz ein fragendes Gesicht, sagte aber nichts. Wortlos kam er der Aufforderung nach.

„Deine wievielten Opfer waren das inzwischen?“, wollte der Boss in geradezu sentimentalem Tonfall wissen und spielte mit dem Anhänger.

Victor musste tatsächlich kurz überlegen. „Inclusive Nadeschda? Mein ... achtes und neuntes, glaube ich. Ich höre langsam auf, sie mitzuzählen.“

„Ganz schön viele, findest du nicht? Da muss man ein dickes Fell haben. Ist sicher nicht gut für die Nachtruhe ... Wie bist du zur Motus gekommen? Ich meine, warum machst du das alles? Macht dir das Spaß?“

„Wird das ´ne Philosophen-Runde?“, gab der Gestaltwandler etwas höhnisch zurück.

„Nein. Aber du entwickelst dich zu meinem wichtigsten Mann. Du bist verdammt gut. Dir ist noch nie ein Opfer entkommen. Du führst alle Aufträge zu meiner Zufriedenheit aus, pünktlich, zuverlässig und ohne dumme Fragen zu stellen. Ich erwäge, dich zu meinem offiziellen Stellvertreter zu machen. Da sollte ich doch zumindest wissen, was dich motiviert, nicht?“

„Was ist denn deine Motivation?“

Vladislavs Blick schweifte nachdenklich ab, während er nach passenden Worten für diese unerwartete Frage suchte. „Ich ... Ich hatte mal einen Sohn. Er war erst 14, als er von einer Rotkappe erschlagen wurde. Und keiner hat irgendwas deswegen unternommen. 'Das liegt in der Natur einer Rotkappe', haben sie gesagt. 'Pech gehabt.' Der Mörder wurde nie gesucht, geschweige denn gefasst und bestraft. Also hab ich angefangen, selber etwas zu unternehmen.“

„Verstehe. So spektakulär ist meine Geschichte nicht“, schmunzelte Victor und faltete bequem die Hände im Schoß, da er merkte, daß sich das hier wirklich nur zu einer harmlosen, zwanglosen Unterhaltung entwickelte. „Ich denke, daß es da draußen Viecher gibt, die es nicht geben sollte. Es hat schon seinen Grund, warum die Menschen die Dunkelheit fürchten. Nadeschda hat mir eine Knarre in die Hand gegeben und mir gesagt, daß ich das ändern soll, wenn ich will. ... Ende der Geschichte. Mehr gibt es über mich nicht zu erzählen.“

„Überzeugung also.“

„Genau.“

„Was glaubst du, wieviele Leute ich schon auf dem Gewissen habe?“

„Tja ... Wenn du Ehre im Leib hast, dann mehr Leute als jeder andere“, fand Victor.

Der Boss lächelte leicht. „Einen, Victor. Genau einen.“

„Den Kerl, der dein Kind erschlagen hat?“

„Ja. Den Kerl, der mein Kind erschlagen hat. ... Ich sitze hier an meinem Schreibtisch, mit einem Haufen Fäden in der Hand, wie ein Marionetten-Spieler, und schiebe meine Leute in der halben Welt hin und her. Ich gebe ihnen Namen, und sie erledigen für mich den Rest. Ich hab noch nie jemanden eigenhändig umgebracht, abgesehen von dem Mann, der meinen Sohn erschlagen hat.“

„Wenn du deine Jäger ganz explizit losschickst, dann gehen die Opfer ja in gewisser Weise auch auf dein Konto. Dann hast du doch mehr Leute auf dem Gewissen als jeder andere.“

Vladislav nickte sentimental und hing noch einen Moment seinen Erinnerungen nach. Dann kam er spürbar wieder in die Realität zurück. „Ich hab eine wichtige Aufgabe für dich. Du musst nach London und meinen Finanz-Chef treffen. Er ist der wichtigste Mann nach dir und mir. Und du wirst für mich Verträge mit ihm aushandeln.“

„Gut“, stimmte Victor einverstanden zu und gab sich Mühe, nicht allzu begierig zu klingen. Natürlich war er darauf erpicht, die höchsten Tiere der Motus kennen zu lernen. Aber das sollte der Boss ja nicht so unübersehbar mitbekommen. „Ich hoffe, der spricht Russisch. Mein Englisch taugt eher zum smalltalk. Daran sollte ich mal arbeiten.“

„Er spricht Russisch, keine Sorge“, lächelte Vladislav. „Ich erklär dir, worum es geht ...“

Freundesland

Victor stieg aus dem Taxi und sah sich um. Das war also London. Da er sich hier nicht auskannte und auch keine Lust hatte, sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchzuschlagen, hatte er sich vom Flughafen hier her kutschieren lassen. London war prächtig. Gut, das war Moskau auch, aber auf andere Weise. Hier war alles irgendwie anders. Allein der Linksverkehr bedurfte der Gewöhnung. Nun stand er also vor einem zweistöckigen Haus im Nobelviertel, das mit mannshohen Sichtschutzhecken abgeschirmt war. Aber allein das, was man über die Hecken ragen sah, war schon beeindruckend. Die schneeweiße Fassade war mit allerlei Stuck verziert. Vladislav hatte ihm ja gesagt, daß dieser Ruppert Edelig ein Bankenbesitzer war, aber trotzdem musste Victor über diesen zur Schau gestellten Reichtum amüsiert schmunzeln.

Kurzentschlossen schob er die Gittertür auf, die auf das Grundstück führte, schloss sie auch sorgfältig hinter sich wieder, und spazierte auf das Haus zu. Mit den Händen in den Jackentaschen, ohne Eile und ganz entspannt. Mal sehen, was ihn hier erwartete. Von der Straße bis zum Eingang erstreckte sich ein schöner, sauberer Weg quer durch den makellos gepflegten Vorgarten. Der Rasen war nach englischer Art geschnitten, die Blumenbeete wundervoll in Schuss. Alles wirkte irgendwie neu. Dieser Ruppert Edelig gab sich wohl keine Blöße bei der Präsentation seines Vermögens. Er wollte alles perfekt haben. Victor entschied, ihn jetzt schon für einen Spießer zu halten.

An der Haustür angekommen, klingelte er unverzagt. Es dauerte einen Moment, bis sich drinnen etwas regte.

Ein älterer Herr öffnete ihm. Alles an ihm war grau. Die Haare und Augen genauso wie der maßgeschneiderte Anzug inclusive Krawatte. Seine Statur war mit den Jahren etwas untersetzt und dickbäuchig geworden. „Good Afternoon“, grüßte er. Natürlich auf Englisch. Das hier war schließlich England.

Victor musste ihn erstmal eine Sekunde verdutzt mustern. Der Kerl trug zu Hause einen Anzug? Victor selbst hatte ganz leger eine Jeans und eine Lederjacke angezogen und kam sich damit akut underdressed vor. „Sdradwutje. Ya Victor Akomowarov“, stellte er sich dem Hausherrn schließlich vor.

„Ah, du bist das! Komm rein“, wechselte der Mann direkt ins Russische und lächelte ihn gutgelaunt an. „Ich bin Ruppert Edelig. Aber nenn mich Ruppert. ... Willkommen in London. Wie war die Reise?“

„Ganz angenehm. Die Flughafenkontrollen sind immer lästig.“ Das meinte er ernst. Und dabei hatte er nichtmal Probleme mit seinem falschen Reisepass gehabt.

„Ja, das sind sie“, stimmte Ruppert zu und deutete mit der Hand auf die Garderobe, damit Victor seine Jacke auszog und weghängte. „Du bist aber trotzdem früh dran. Ich hab noch gar nicht mit dir gerechnet.“

„Wir hatten scheinbar günstigen Wind. Das Flugzeug ist viel eher in London angekommen als geplant und hat auch sofort Landeerlaubnis bekommen“, gab Victor im fröhlichen Plauderton zurück, beruhigt darüber, daß dieser Ruppert wirklich so gut Russisch konnte, wie Vladislav ihm versprochen hatte, und überaus angetan von der Tatsache, direkt so kameradschaftlich mit 'du' angesprochen zu werden.

„Lass uns ins Wohnzimmer gehen.“

„Okay.“
 

Victor sah sich suchend um. Der Bankenbesitzer hatte ihn allein empfangen und auch im Wohnzimmer war niemand. „Du bist doch magisch begabt, oder?“

„Ja. Ich bin Hellseher.“

„Hast du keinen Genius Intimus?“

„Doch. Aber der wird hier nicht mit rumlungern“, erklärte Ruppert und ließ sich schwerfällig auf das Sofa fallen.

„Ein Schutzgeist heißt doch Schutzgeist, weil er dich schützen soll“, meinte der Russe verwundert.

„Vor wem denn?“, wollte der Bankenbesitzer lachend wissen. „Sei doch nicht albern. Du gehörst zur Motus, ich gehöre zur Motus. Und ich habe, soweit ich mich entsinne, nichts verbockt. Also was sollst du mir schon antun wollen? Vladislav wird dich rituell hinrichten, wenn du seinem Finanz-Chef was zu leide tust. Komm, setz dich.“

Victor ließ sich mit einem 'hm' im Sessel gegenüber nieder.

„Ich halte meinen Schutzgeist so gut es geht aus allem raus. Es ist mir lieber, wenn er nicht zuviel weiß.“

„Verstehe.“

Eine junge Frau kam herein und machte einen Knicks. Wenn man es nicht schon an ihrem Erscheinungsbild erraten hätte, dann wusste man spätestens nach diesem Knicks, daß sie ein Hausmädchen war. „Darf ich den Herren etwas bringen?“, fragte sie auf Englisch.

„Jaaaaa~“, überlegte Ruppert gedehnt. „Bring doch unserem Gast einen Tee und ein paar Kekse. Sicher will er nach der langen Anreise was zu sich nehmen.“

„Sehr wohl.“

„Danke“, lächelte Victor.

„Na dann!“ Ruppert klatschte in die Hände, wieder ins Russische wechselnd. „Wollen wir jetzt über die Geschäfte reden? Ich kaufe eine Ladung russischer Waffen von euch, zu russischen Preisen, und verkaufe sie hier wieder. Hier in England sind die mehr wert als bei euch, weißt du? Hier ist alles teurer, hier bekommt man wesentlich mehr Geld dafür. Ich halte meinen Kopf dafür hin, falls was schief geht, denn es sind ja meine Waffen. Dafür gehört der Motus nicht mein ganzer Gewinn. Vladislav wird an meinem Gewinn nur beteiligt.“

„Ja, hat er mir erklärt“, bestätigte Victor und sah ihn ernst an. Sie würden schriftliche Verträge darüber aufsetzen. Nur mit dem Unterschied, daß sie ihre wechselseitigen Pflichten nicht mit dem Gerichtsvollzieher sondern mit der Pistole einforderten, wenn einer der Vertragspartner sich nicht daran hielt. Denn Schriftform hin oder her, das hier waren illegale Geschäfte. „Gut, hör zu. Ich hab keine Lust auf stundenlanges Gefeilche, und du vermutlich auch nicht. Also machen wir´s kurz. Der Chef erträumt sich 20% Beteiligung. 10% will er auf jeden Fall haben, das ist die unterste Schmerzgrenze. Unter dem dreht sich gar nichts. Also mach mir ein Angebot irgendwo dazwischen und wir sind fertig für heute und können einen trinken gehen.“

Ruppert sah den jungen Russen perplex an und konnte erstmal ein paar Sekunden lang gar nichts sagen. Plötzlich begann er leise zu kichern, was sich schließlich zu einem herzlichen Lachen auswuchs. „Du bist gut. So offene und ehrliche Verhandlungen hab ich bisher noch mit keinem geführt. Du gefällst mir.“

„Dann gib mal ne offene und ehrliche Antwort.“

„Ich sag dir was“, hob Ruppert grinsend an. „Für gewöhnlich muss er sich mit 12,8% zufrieden geben. Ich geb dir 15, weil du es bist. Das ist mehr als der Boss je hatte. Dann kann er stolz auf dich sein.“

„Gut. Und das beweist du mir jetzt bitte.“

Rupperts Grinsen gefror schlagartig. „Wie jetzt?“

„Zeig mir die Verträge von den letzten 3 Deals.“

„Spinnst du?“

„Ich sitze hier stellvertretend für den obersten Boss der Motus. Mit all seinen Rechten und Befugnissen. Also rück die Verträge rüber“, legte Victor kühl fest und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. „Und die Belege, für wieviel du die jeweiligen Waffen verkauft hast, auch gleich noch mit dazu! ... Du magst mir zum ersten Mal gegenüber sitzen und ich mag offen und ehrlich verhandeln, aber deswegen dulde ich noch lange nicht, daß du mich so behandelst. Ich bin kein tollpatschiger Neuling, den man ruhig unterschätzen kann, weil er noch grün hinter den Ohren ist. Ich brauche deine gnädige, lobenswerte Hilfe nicht, damit der Boss stolz auf mich ist.“

„Schon gut, schon gut, du hast gewonnen“, maulte Ruppert einsichtig und stand auf, um einen Ordner aus einem Regal zu holen. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Hier sind die Verträge vom letzten Quartal.“

Victor begann in den Papieren zu blättern, die er vorgelegt bekam. Tatsächlich schwankten die Quoten zwischen 12,5 und 13%. Dennoch blieben seine Augen finster verengt und sein Gesicht steinern. Er überschlug im Kopf, wieviel 12% von den jeweiligen Summen waren. Er würde zu Hause in Moskau nachprüfen, ob Vladislav wirklich so viel ausgezahlt bekommen hatte.

„Und? Zufrieden?“

„Durchaus. Und deshalb wirst du mir diesmal 16% geben. Damit du es dir merkst.“

„Ich denk ja gar nicht dran. Wenn ich mich einmal auf so einen Handel einlasse, dann muss ich die in Zukunft ja immer zahlen!“

„Das war keine Bitte.“

„Nein, war es nicht. Aber eine Antwort hast du jetzt trotzdem.“

„So? Eine Antwort also! Wenn der Boss mich fragt, ob du auch richtig rechnest und ihm bisher wirklich immer soviel gezahlt hast, wie ihm laut deiner hübschen Quote da zusteht ...“, meinte Victor eiskalt und deutete mit seinem Blick auf den Ordner, „wird meine Antwort wohl die gleiche sein.“

„Das ist nicht wahr!“

„Wenn ich sage, daß es wahr ist, dann ist es wahr.“

Rupperts Augenbraue rutschte missbilligend nach oben. Ihm ging auf, daß er diesen so jung und harmlos aussehenden Russen katastrophal unterschätzt hatte. Der saß am längeren Hebel. Und er wusste das auch und nutzte es gnadenlos aus. Dieser Victor war kein beeinflussbarer Junge, der sich von einem vertrauten, kollegialen Umgangston um den Finger wickeln ließ. Also nickte Ruppert schließlich langsam. „Wie du meinst. ... Langsam versteh ich, warum du der offizielle Vize geworden bist.“

„Ich mache Vladislav stolz“, erwiderte Victor sarkastisch. Dieser kindische Ausdruck war ihm wirklich sauer aufgestoßen, und das ließ er Ruppert auch spüren. Er war kein verdammtes Kind, das seinem Papi eine Freude machen wollte. Sie bewegten sich hier in Verbrecher-Kreisen.

„Soll ich dir was sagen? Ich mag dich trotzdem“, entschied der Bankenbesitzer und brachte Victor damit endlich wieder zum Lächeln. Er griff nach einer Flasche Schnaps, die schon auf dem Tisch bereit stand und zog den Glasstopfen. Er sah den offiziellen Teil als beendet an. Jetzt konnte drauf angestoßen werden. „Ehrlich, du wirst mir immer sympathischer. Du hast Eier in der Hose UND Grips in der Birne. Das ist bei der Motus selten. Vor allem der Grips.“

„Gibt es keine klugen Gehirne in der Motus? Wer leistet denn in diesem riesigen Apperat die ganze strategische Arbeit?“

Ruppert goss ein. „Oh, da gibt es schon ein paar“, gestand er und hielt Victor eines der Gläser hin. „Aber das sind Gefangene. Aufspürer, die Vladislav in der Hand hat. Womit auch immer. Die finden Opfer und spielen den Jägern die Aufträge mit allen nötigen Hintergrund-Infos zu. Und die sind verdammt gut. Aber sie sind nicht so gut, weil sie das freiwillig machen, oder weil sie die Arbeit der Motus unterstützen würden. Sondern weil sie dazu gezwungen werden. Sie tun das, weil sie panische Angst vor Vladislav haben.“ Er nippte an seinem Schnapsglas. „Naja, zu Recht, vermute ich.“

Victor schnupperte an seinem Glas nur vorsichtig. „Was´n das für ein Gesöff? Hast du keinen Vodka?“

„Das ist Tennessee Whisky, der ist gut. Und verflucht teuer.“

Victor nuckelte probehalber an dem braunen Zeug, war aber nicht überzeugt davon. Teuer und gut gingen bei Alkohol nicht immer Hand in Hand. „Lass uns in irgendeine Kneipe gehen“, legte er fest und stellte das schillernde Bleikristallglas wieder weg.

„Ich wusste nicht, daß du auf Vodka beharrst. Das hätte Vladislav mir sagen sollen, dann hätte ich natürlich welchen beschafft.“
 

„Wer war eigentlich vor mir Vize?“

„Es gab keinen. Der Posten ist neu. Vladislav hat wohl inzwischen zu viel um die Ohren, um sich noch selber um alles kümmern zu können. ... Wenn du mich fragst, hatte er bisher einfach nur keine fähigen Leute, die zum offiziellen Vize getaugt hätten.“

Victor sah sich verstohlen in der Bar um, in der sie inzwischen saßen. Er hatte Ruppert entgeistert gefragt, wie er ohne seinen Schutzgeist um die Häuser ziehen könne und Ruppert hatte versichert, sein Schutzgeist sei da. Seitdem versuchte Victor herauszufinden, wer es war. Bisher ohne Erfolg. Wenn der nicht gerade die Fähigkeit hatte, sich unsichtbar zu machen, dann hielt er sich verdammt gut getarnt. Hier war niemand, aber auch gar niemand, der optisch zu einem Bankenbesitzer gepasst hätte. Und auch sonst kein Gesicht, das immer in der Nähe blieb oder ein offenkundiges Interesse an Ruppert zeigte. „Stimmt es, daß Vladislav noch nie selber jemanden umgebracht hat?“, führte er nebenbei die Unterhaltung weiter.

„Nein, hat er wirklich nicht“, bestätigte Ruppert, kippte sich einen Schnaps in die Kehle und goss direkt nach. Sowohl er als auch Victor hatten jeweils eine eigene Flasche auf dem Tisch, um nicht ständig nachbestellen zu müssen. „Außer dem Wichser, der sein Kind erschlagen hat. Und das ist ein guter Grund, möchte ich meinen.“

„Ja. Ich hab schon für weniger getötet“, gestand Victor. Er gab seine Bemühungen, die Umgebung abzusuchen, auf, und sah ihn wieder direkt an.

„Wieviele?“

„Neun bisher. Und Wagenladungen voller Genii, die ich lebend gefangen habe.“

Ruppert nickte. „Der Boss hat mir schon erzählt, daß du als Jäger gute Arbeit leistest.“

„Mich wundert´s, daß Vladislav selber noch nicht abgeknallt wurde. Er ist der Schlimmste von uns allen. Und jeder will ihn umbringen, soviel ich mitbekommen habe. Entweder, weil er Vladislav hasst, oder weil er auf Vladislavs Posten scharf ist. Sein Schutzgeist möchte ich nicht sein. Der hat immer viel zu tun.“

„Ich sag dir was, du solltest Vladislav einfach umlegen. Dann hat er´s weg“, gackerte Ruppert alkoholisiert und trank darauf gleich noch einen.

„Oh, guter Plan“, lachte Victor albern und trank ebenfalls noch einen Schnaps. „Wenn ich scheitere, bin ich tot. Wenn ich Erfolg habe ... bin ich auch tot.“

„Vermutlich“, kicherte Ruppert. „Und es würde auch gar nichts bringen. Glaub mir, es stehen genug mögliche Nachfolger in den Startlöchern, die sich um die Thronfolge nur so schlagen würden, und keinen Deut besser sind.“

„Ehrlich?“

„Ja“, bestätigte der Bankenbesitzer seufzend.

Victor verdrehte resignierend die Augen. „Mehr Vodka.“

„Gönn dir!“

„Du scheinst ja 'ne hohe Meinung von Vladislav zu haben“, meinte der Russe zynisch.

„Hatte ich mal. Ich bin schon sehr lange dabei, weißt du? Früher war Vladislav nicht so.“

„Wie denn, 'so'?“

„So radikal. So wahnhaft, Listen zu erstellen und ganze Arten auslöschen zu wollen. So irre, Sklavenmärkte dieser Größenordnung zu betreiben. Das hat alles mal viel harmloser angefangen. Keine Ahnung, wann das so aus dem Ruder gelaufen ist.“ Ruppert goss sich noch einen Schnaps auf die Glocke. „Ich bin kein Fan von Vladislavs Sache. Ich war es mal, früher. Aber inzwischen nicht mehr. Nur, jetzt noch auszusteigen ... puh ... den Zug hab ich verpasst.“

Victor sagte nichts dazu und trank ebenfalls noch einen Kurzen. Aber im Gegensatz zu Ruppert war er noch ganz klar im Kopf und Herr über seine Äußerungen. Er vertrug wohl mehr als der Banker. Was nicht so alles ans Tageslicht kam, wenn genug Alkohol im Spiel war! Das würde Victor sich merken und im Auge behalten. Nicht, um es dem Boss zu sagen, oh nein. Er hatte hier einen potentiellen Verbündeten. Jemanden, der ihm im Kampf gegen die Motus vielleicht den Rücken stärken konnte. Aber er wollte erst mehr über Ruppert wissen und ihn besser einschätzen können, bevor er ihm vertraute.

Ruppert sah ihn plötzlich prüfend an. „Verrätst du mir, was du bist?“

„Nein“, schmunzelte der junge Russe überlegen. „Das weiß keiner, und ich werde drauf achten, daß das auch so bleibt.“

„Herausforderung angenommen. Ich finde jemanden, der´s für mich rauskriegt.“

„Unwahrscheinlich. Ich habe mich selber mit diversen Bann-Zaubern belegt, unter anderem um nicht gefunden und nicht enttarnt zu werden.“

„Wozu?“, wollte Ruppert mit träger Zunge wissen. Er hatte merklich schon ein paar Schnaps zu viel verkonsumiert.

Victor breitete öffnend die Arme aus. „Ich bin der Vize. Die rechte Hand vom Boss. Ich lebe gefährlich.“

„Da könntest du mal Recht haben.“ Dann grinste er dämlich. „Der zweitgesuchteste Mann in dem ganzen Laden, was?“, witzelte er. Eine Weile hielten sie die Klappe und hingen jeder ihren eigenen Gedanken nach.

Victor ließ wieder den Blick durch die Kneipe schweifen, ob jemand sie beobachtete. Nichts, wie schon die ganze Zeit. Langsam glaubte Victor, Ruppert hätte ihn auf den Arm genommen und wäre wirklich ohne seinen Genius Intimus unterwegs. Was, nebenbei bemerkt, ziemlich größenwahnsinnig für einen Mann seiner Position wäre.

„Aber warum willst du nicht, daß jemand weiß, was du bist? Bist du einer, der von der Motus gejagt werden würde, wenn die dich enttarnen?“

„Nein. Ich bin nur zu auffällig.“ Weiter ausführen wollte er das nicht. Der Geheimdienst wusste, was Victor wirklich war, und würde sicher die Augen und Ohren offen halten, um ihn zu finden. Wenn irgendwo so ein Genius wie er auftauchte, wussten die sofort, daß er das war und hingen ihm am Hacken. Seine Sorte war nämlich verdammt selten. Etwa so wie Albinos. Aber das alles wollte er Ruppert jetzt nicht plausibel machen. Stattdessen gab er endlich seinem Ehrgeiz nach, zog einen Notizblock aus der Jackentasche und begann einen Detektor-Zauber darauf zu zeichnen. Er wollte jetzt verdammt nochmal wissen, wer hier Rupperts Schutzgeist war. Das Symbol erinnerte in Aussehen und Funktionsweise ein bisschen an einen Kompass. Er legte das Blatt Papier auf den Tisch und ließ seine Hand darüber schweben. Eigentlich hätte es sich mit der Pfeilspitze auf die Person ausrichten müssen, die er suchte. Aber stattdessen begann der Zettel auf der Tischplatte zu rotieren wie ein Kreisel.

Ruppert, der das alles beobachtete, lachte schallend auf. „Keine Ahnung, was das werden sollte, aber ich glaub, so war das nicht geplant.“

„Mir scheint, ich bin nicht der einzige, der gut mit Bann-Zaubern geschützt ist.“

„Du suchst meinen Genius?“

„Vielleicht.“

„Er wäre nicht mein Genius, wenn er so leicht zu finden wäre.“

Victor schmunzelte. „Herausforderung angenommen“, äffte er Rupperts Tonfall von vorhin nach und zückte den Stift, um seinen Detektor-Zauber zu erweitern und aufzubessern. Es war ja nicht so, als ob er nicht noch ein paar Tricks auf Lager gehabt hätte. Und er wäre nicht der Vize-Boss geworden, wenn er sich so leicht geschlagen gegeben hätte.

Post

„Victor, da bist du ja wieder“, grüßte der Boss abgelenkt und tippte am PC noch seinen letzten Satz zu Ende, als sein Vize ins Büro herein schneite. Der war schon seit gestern wieder in Moskau, hatte sich gestern aber nur kurz per sms zurückgemeldet. Persönlich aufgetaucht war er nicht nochmal.

„Hey. Tut mir leid, daß ich erst heute komme. Ich hatte vom Flug einen mördermäßigen Jetlag. Ich war gestern echt nicht mehr ansprechbar.“

„Macht nichts. Wie war London?“

„Schön“, erwiderte Victor nickend. „Naja, das englische Frühstück im Hotel war nicht mein Fall. Kannst mich aber trotzdem gern mal wieder da hinschicken. Ruppert ist ein angenehmer Typ.“

„Angenehm? Ich hab ihn immer als sehr griesgrämig empfunden.“

„Ein bisschen humorlos, zugegeben. Aber ein guter Mann.“

„Hast du seinen Schutzgeist zu Gesicht bekommen?“, hakte Vladislav mit belustigtem Blitzen in den Augen nach. Er hämmerte nochmal auf die Eingabetaste, dann wandte er seine Aufmerksamkeit endlich seinem Vize-Chef zu.

„Nein.“

„Da siehst du´s. Er ist ein närrischer Dickkopf.“

„Hat es einen Grund, warum er seinen Schutzgeist wegsperrt? Gehört der zu einer Art, die wir normalerweise jagen?“, wollte Victor wissen.

Der Boss winkte geringschätzig ab. „Nein. Ein Wiesel-Geist, soweit ich weiß. Völlig uninteressant, das Kerlchen. Der einzige Grund, warum Ruppert ihn aus allem raushält, ist Misstrauen. Er traut seinem eigenen Genius Intimus nicht, daß der die Klappe hält. Und er traut unseren Leuten nicht.“

„Ruppert ist schon sehr lange dabei und hat sicher viel mitbekommen. Er wird schon wissen, was er tut“, vermutete der Gestaltwandler mild.

„Seine Arbeit macht Ruppert gut. Und alles andere ... ist seine Sache.“ Vladislav deutete auf die Tasche, die Victor dabei hatte. „Also, was hast du mir mitgebracht?“

„16%.“

Der Boss schaute ihn ungläubig an. „Ruppert hat dir 16% gegeben?“

„Nein“, negierte Victor mit einem Lachen. „Nicht gegeben. Ich hab sie mir genommen.“

„Nicht übel.“

„Aber ich muss gleich dazu sagen, daß ich so eine hohe Beteiligung vermutlich nicht nochmal rausschlagen kann. Ruppert ist lernfähig. Nochmal wird er mir keinen Anlass für Sanktionen geben.“ Victor suchte sich einen Sitzplatz und holte die Verträge aus der Tasche, die er mit Ruppert aufgesetzt hatte.

„Nicht so schlimm“, winkte Vladislav ab.

„Noch eine Info am Rande: Ich bin gerade dabei, ein paar unserer Leute auf ihre Zuverlässigkeit und Loyalität zu prüfen. Ich habe Ruppert eingeredet, ich hätte von dem letzten Waffentransport aus Spanien 100 Maschinengewehre abgezweigt und verkauft und das Geld in meine eigene Tasche gesteckt. Falls er dir das wiedererzählen sollte: Es ist nicht wahr! Ich will nur wissen, ob er die Klappe hält oder plaudert.“

Vladislav sah von der Vertragsausfertigung auf. „Dein Wort darauf?“

„Du kannst nachzählen. Die Knarren sind alle da“, beharrte Victor unwillig.

„Und wieso machst du solche Testspiele? Traust du Ruppert nicht? Er ist schon von Anfang an dabei.“

„Wir haben irgendwo einen Verräter in unseren Reihen. Erinnerst du dich an die zwei Nachtmahre, die ich neulich erledigen sollte? Die wussten, daß ich komme. Jemand hat sie gewarnt.“

Vladislav nickte anerkennend. „Du bist aufmerksam. Mir scheint, du machst deinen Job als Vize gut.“

„Ich hänge nur an meinem Leben. Die nächsten, die ich erledigen soll, werden sich vielleicht nicht bloß verstecken, sondern sind vorbereitet und bis an die Zähne bewaffnet, wenn ich komme. Und da hab ich keinen Bock drauf.“

„Guter Stichpunkt, wo wir gerade von den nächsten Aufträgen sprechen. Ich hätte da auch gleich die nächste Aufgabe für dich. Du musst ein Paket für mich abfangen.“

Der Gestaltwandler runzelte verwundert die Stirn. „Okay!? Das ist mal was Neues.“

„Es soll ja nicht langweilig werden. Ein gewisser Buchtan Kreschnow hat heute ein Paket an einen gewissen Nischni Petrov aufgegeben. Es ist bereits auf dem Postweg. Du musst mir dieses Paket unbedingt bringen, bevor es Nischni Petrov erreicht.“ Vladislav hielt ihm einen Zettel hin. „Hier hast du die Adressen der beiden, und die Poststation, in der das Paket abgegeben wurde.“

Victor nahm das Papier und überflog kurz, was drauf stand. „Müsste ich die Herren kennen?“

„Buchtan ist einer meiner Handlanger. Ein eher unbedeutender, kleiner Pisser. Nischni ist ein Wissenschaftler, der aktuell an einem neuen Verfahren zur Spurensicherung forscht, für Morde bei denen die Leiche der Opfer nicht mehr aufzufinden ist, weil jemand sie gründlich hat verschwinden lassen. Der Grundsatz 'keine Mordanklage ohne Leiche' ist ja bisher immer unser Schutzschild gewesen. Du kannst dir denken, daß ich kein Unterstützer seiner Arbeit bin.“

„Wäre es nicht einfacher, Nischni auszuschalten?“

„Nein. Dummerweise hat er noch einige Informationen für mich, die ich vorher von ihm brauche, bevor er ableben darf.“

„Na, die sollte ich ja wohl aus ihm rauskriegen“, glaubte Victor.

Vladislav schüttelte den Kopf. „Bring mir dieses Paket. Das reicht für´s Erste.“

„Was ist denn in dem Paket so super wichtiges drin?“

„Geht dich nichts an“, betonte Vladislav mit näckischem Schalks-Grinsen.

„Gut, dann werde ich es mal lieber nicht öffnen.“

„Das wäre nett von dir“, schmunzelte der Boss.

„Hör mal, ich hätte da auch ein Projekt ...“

„Schieß los!“

„Du kennst doch diesen Gontscharow von der Geheimpolizei.“

„Sicher. Aber woher kennst DU den?“

„Ich habe für Nadeschda gearbeitet, schon vergessen?“

„Nein. Und ich hoffe, das muss mir keine Sorgen machen, Junge.“

„Muss es nicht.“

„Also was ist mit Gontscharow?“

„Nadeschda hat ihm eine Menge erzählt. Er weiß zuviel. Wir sollten ihn umlegen.“

Vladislav stieß belustigt Luft durch die Schneidezähne. „Nicht dein Ernst. Den Chef vom Geheimdienst? Bist du wahnsinnig?“

„Was steht dem entgegen?“

„Lass mich überlegen. Er ist der Chef vom Geheimdienst!?“, schlug der Boss beißend sarkastisch vor.

„Seit wann hält dich sowas denn auf?“

„Wenn einer wie der von der Bildfläche verschwindet, wird sich die Hölle über uns auskotzen! Alles was auch nur über drei Ecken mit den Staatlichen verwandt ist, wird hinter uns her sein. Dafür setz ich meine Organisation nicht aufs Spiel. Im Moment lassen sie uns halbwegs in Ruhe, weil sie gar nicht wüssten, wo sie anfangen sollten. Und so soll es bitte auch bleiben“, meinte er und griff nach seinem Kugelschreiber, als würde er nebenbei schon weiter arbeiten wollen. „Ich will denen keinen Anlass geben, uns genauer in Augenschein zu nehmen.“

„Ich garantiere dir, daß Gontscharows Überreste niemals gefunden werden!“

„Nein! Victor, ich sagte 'nein', und dabei bleibe ich.“

Der Gestaltwandler ließ genervt den Kopf auf die Brust fallen und atmete tief durch, war aber klug genug, nicht weiter zu diskutieren.

Vladislav beäugte ihn misstrauisch. „Warum bist du so scharf auf den Kerl?“

„Warum bist DU so scharf darauf, ihn zu schützen?“

„Bin ich nicht. Ich seh nur keinen Grund, ihn unbedingt aus dem Weg haben zu müssen.“

„Er ist eine Gefahr für uns! Und zwar eine größere als du denkst!“

„Das Ausschalten von Polizisten ist nicht unser Anliegen. Wir beschützen die Menschen vor gefährlichen Genii, und Gontscharow ist keiner.“

„Wie du meinst.“

„Hast du noch eine Rechnung mit ihm offen, oder was ist dein Problem?“

„Würde das was an deiner Meinung ändern?“, nörgelte Victor müde zurück und erhob sich betont lustlos von seinem Sitzplatz. Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen, ohne übertriebene Euphorie zur Schau zu stellen. Es sollte nicht wirken, als hätte er Pläne. Aber auch wenn der Boss ihm keinen offiziellen Auftrag geben wollte, schützte das Gontscharow nicht vor etwaigen Schicksalsschlägen. Victor würde dafür sorgen, daß es zweifelsfrei wie ein Unfall aussah, selbst für Vladislav.

„Victor!“, hielt der Boss ihn streng zurück. „Niemand stirbt ohne meine ausdrückliche Erlaubnis, verstehst du mich?“

„Ich bin doch nicht Gontscharows Schutzengel. Menschen sterben eben. Dran hindern werde ich ihn jedenfalls nicht.“ Der langhaarige Gestaltwandler hob nochmal vielsagend seinen Notizzettel mit den Daten für das Postpaket hoch, um zu verdeutlichen, worum er sich jetzt als nächstes zu kümmern gedachte, dann ging er.
 

Eine halbe Stunde später stand Victor in der bezeichneten Postfiliale.

„Sdrasdwutje. Wie kann ich Ihnen helfen?“, grüßte die Frau am Schalter mit einem freundlichen, aber künstlichen Berufslächeln.

„Ich wüsste gern, ob die Pakete, die heute aufgegeben wurden, schon weg sind.“

„Ja, unser Fahrdienst kommt auf seiner Runde schon um die Mittagszeit hier vorbei. Wir sind eine der ersten Filialen, die angefahren wird.“

„Haben Sie die Möglichkeit, Pakete zurück zu rufen?“

„Nein.“

„Dann bräuchte ich bitte die Adresse von dem Verteilzentrum, in dem Ihre Pakete abgefertigt werden.“

Die Frau nickte einverstanden und holte unter dem Tresen einen Ordner hervor. Sie wusste auf Anhieb, wo sie da nachsehen musste. „Ist schon seltsam“, begann sie dabei zu erzählen. „Sie sind schon der dritte, der mich das heute fragt. Sie sind doch nicht alle hinter dem gleichen Paket her, oder?“

„Der dritte?“

„Ja. Aber die anderen beiden waren auch schon zu spät dran.“

„Können Sie mir sagen, an wen die Pakete adressiert waren?“

Sie schüttelte den Kopf, während sie nebenbei auf einem Notizzettel schrieb. „Hier ist die Anschrift des Verteilzentrums. Aber ich kann ihnen jetzt schon sagen, daß Sie das Paket nicht ausgehändigt bekommen, wenn Sie nicht nachweislich der Empfänger oder wenigstens der Absender sind.“

„Danke“, gab Victor nur zurück, ohne ihren Hinweis zu kommentieren. Das sollte sie mal schön seine Sorge sein lassen, ob er das Paket bekam oder nicht. Was ihm mehr Kopfzerbrechen machte, waren die zwei, die vor ihm bereits nach dem Paket gefragt hatten. Das klang nach Problemen.
 

Das Paketzentrum lag irgendwo außerhalb der Stadt. Der Gestaltwandler hatte eine ziemliche Strecke mit dem Auto zu bewältigen, um dort hin zu kommen. Er fragte sich, warum jemand ein Postlager, das jeden Tag so viel Durchlauf hatte, so weit draußen baute. Unterwegs wurde er von Schneefall überrascht. Es schneite! Victor schaltete die Scheibenwischer ein, bewirkte aber lediglich, daß sie fürchterliche Schlieren auf der Windschutzscheibe hinterließen. Verwundert kurbelte er das Fenster herunter und streckte die Hand hinaus, um ein paar der weißen Flocken aufzufangen. Es war Herbst, doch die Temperaturen waren noch entschieden zu warm für Schnee. Wieso schneite es? Dann merkte er, daß es Asche war, die da regnete. Als er kurz darauf aus dem Wald heraus kam und wieder auf das offene Gelände hinaus fuhr, sah er auch endlich die Rauchwolke. Der Wind trieb Rauch und Asche kilometerweit vor sich her. Das war das Paketzentrum, das da in Flammen stand. Im Qualm sah Victor eine Chimäre kreisen. Das Löwen-Schlangen-Mischwesen mit Schwingen flog wild umher und spie hier und da noch mehr Feuer auf den Gebäudekomplex, wo er noch nicht gründlich genug in Flammen stand. „Alter Schwede ...“, seufzte Victor und fuhr erstmal rechts ran, um sich den Schlamassel aus sicherer Entfernung anzusehen. Er kam aber bald zu dem Schluss, daß er sich vielleicht beeilen sollte, wenn er noch irgendwas retten wollte. Er stieg aus, ließ sein Auto hier am Straßenrand stehen, um es nicht gleichfalls abfackeln zu sehen, und nahm seine Greifen-Gestalt an, damit er den Rest des Weges fliegen konnte. Seine Pistole trug er in einer Klaue, sonst hätte er sie schon bei der Verwandlung verloren.
 

Victor sah sich aus der Luft um. Es standen nur wenige Post-LKW´s auf dem Parkplatz, die meisten waren wohl ausgerückt. Die, die noch da standen, brannten alle lichterloh. Die Lagerhalle ebenfalls. Das gesamte Dach stand in Flammen. Auf dem Gelände rannten panisch schreiende Leute herum, die auseinanderstoben, immer wenn die Chimäre wieder im Tiefflug über sie hinweg pflügte.

Victor nahm auf dem Parkplatz wieder seine menschliche Gestalt an, schob sich die Pistole hinten in den Hosenbund, und bereitete einen Fangzauber vor. Keine Ahnung, was die Chimäre für ein Problem hatte, aber sie musste sofort gestoppt werden. Der Bann, den er erstellte, manifestierte sich als lange, seilförmige Peitsche aus rotem Licht. Als die Löwengestalt in der Luft wendete und wieder auf ihn zuraste, schlug Victor mit der Peitsche nach ihr und erwischte sie auch. Das rot leuchtende Seil wickelte sich fest um eine Pranke der Chimäre. Der Ruck, mit dem Victor angezogen wurde, ging wie ein Schlag durch alle seine Gelenke. Die Chimäre war nicht stark genug, ihn auszuheben und mit seinem Gewicht in die Höhe zu fliegen, sehr wohl aber stark genug, ihn wie ein Segel über den ganzen Parkplatz zu schleifen. Seine Schuhabsätze zogen auf dem Asphalt Striche, als er sich gegen den machtvollen Zug stemmte. Mit einem gepressten Ton ließ er nach etlichen Metern doch los, weil er sich nicht mehr halten konnte. „Drecksvieh“, fluchte er leise und außer Atem. Der Fangzauber verpuffte wieder, als Victor den Hautkontakt dazu verlor.

Die Chimäre machte in der Luft Kehrt und spie wütend eine Feuerfontaine nach ihm, so daß er sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringen musste, weil ihm für elementare Angriffe so schnell nicht der passende Schutzschild einfiel. Gerade noch rechtzeitig rollte er weg, um auch den Krallen zu entgehen, die dem Feuer nachfolgten. Er revanchierte sich mit einem anderen Fangzauber, der wie ein Wurfnetz nach jemandem geschleudert werden konnte, ohne beim Verlassen der Hände zu verpuffen. Beim ersten Versuch verfehlte er die Chimäre. Das zweite magische Fangnetz erwischte sie, schloss sich um ihren Körper wie eine Rüstung und holte sie damit aus der Luft. Das Wesen krachte hart zu Boden und schlitterte noch ein gutes Stück weiter, ehe es liegen blieb. Victor rannte sofort hin und belegte das um sich schlagende, tobende Ding mit einem Paralyse-Fluch, damit es endlich unschädlich war. Als er sich dann ein erleichtertes Durchatmen gönnte, wurde hinter ihm Jubel laut. Die Angestellten des Verteilzentrums feierten ihn.

„Danke. Du hast uns allen das Leben gerettet!“, rief der Erste, der näher kam, schon von Weitem. „Sie hätte uns gejagt, bis sie uns lebendig verbrannt hätte.“

Victor stand auf und sah zum brennenden Lagerhaus. „Ist da noch jemand drin?“

„Nein. Es sind alle draußen. Aber hier draußen waren wir Freiwild für sie.“

„Ist die Feuerwehr schon verständigt?“

„Ja. Die Polizei auch.“

Victor nickte nachdenklich. „Was wollte sie?“

„Ein Paket“, antwortete der Mann verständnislos. „Aber wir konnten ihr das Paket nicht geben, selbst wenn wir gewollt hätten. Es ist nicht mehr hier. Es ist schon längst auf einem LKW nach Twer.“

Der Gestaltwandler seufzte ausdrucksstark und schüttelte den Kopf, als könne er die Absichten der Chimäre auch nicht nachvollziehen. Er sagte nicht, daß er ebenfalls hinter diesem Paket her war. Es bestand gar kein Zweifel daran, daß sie hier vom gleichen Paket sprachen. Wieviele Leute konnten schon zufällig ausgerechnet ein Paket nach Twer abfangen wollen? „Nagut, Kameraden, wenn ihr jetzt alleine klar kommt, würde ich mich wieder davonmachen. Ich habe es leider eilig. Diesen Paralyse-Zauber wird die Chimäre wohl nicht alleine lösen können. Die Süße ist also gut aufgehoben, bis eure Verstärkung kommt“, entschied er. Er hatte keine Lust, hier zu bleiben, bis die Polizei eintraf. Zu viele dumme Fragen, und so.

„Aber ...“

Victor hörte nicht mehr zu, sondern lief zügig ein paar Schritte davon, bis er seine Pistole halbwegs unauffällig aus der Jacke holen und sich in einen Greifen verwandeln konnte. Er passte auf, die Waffe möglichst so in den Klauen zu halten, daß sie nicht ins Auge sprang. Dann hob er ab und flog los. Er musste zurück zu seinem Auto und weiter nach Twer. Bis zu dieser nordwestlich von Moskau gelegenen Stadt waren es immerhin 3 Stunden Autofahrt.

Technik

In der Annahme, daß die Lastwagen der Post von einem Verteilzentrum zum anderen wohl den kürzesten Weg wählen würden, entschied sich Victor für eben diesen. Die schnellste Strecke nach Twer führte über die Autobahn. Zumindest unter normalen Umständen. Heute würde es wohl nicht bei den üblichen 3 Stunden bleiben, denn er saß gerade in einem satten Stau fest. Genervt hatte er den Ellenbogen in den Fensterrahmen und den Kopf in die Hand gestützt und trommelte mit den Fingern der freien Hand auf dem Lenkrad herum, während es im Standgas mühsam vorwärts ging. Das mit dem 'pedal to the metal', um den Pakettransporter eventuell einzuholen, konnte er sich auf diese Weise abschminken. Er hörte auf, das Lenkrad zu bearbeiten und kramte stattdessen in seiner Ablage nach dem Handy. Bei geschätzten 5 km/h musste er ja keine Hand am Lenkrad lassen. Ein Blick auf den Bildschirm sagte ihm, daß er total unwichtig war. Keiner wollte was von ihm. Nur die Uhrzeit war schon fortgeschrittener als er sich gewünscht hätte. Also warf er das Telefon schwungvoll wieder ins Handschuhfach zurück.

Irgendwann kamen Ende und Ursache des Staus in Sicht. Victor merkte auf. Da stand ein LKW auf der linken Fahrbahn quer, augenscheinlich in die Mittelleitplanke geprallt, so daß sich der Verkehr auf der rechten Spur bündeln musste. Die tief dunkelblaue Farbe war unverkennbar. Das war ein Laster der Poschta Rossia, der russischen Post. Victor beschlich ein akuter Verdacht, was hier Phase war. Der Wagen war nicht zufällig verunglückt. Genauso wenig wie das abgefackelte Paketzentrum, von dem er gerade kam. Langsam fragte er sich wirklich, was in diesem Paket drin sein konnte, daß andere Leute so radikal vorgingen, um es in die Finger zu kriegen.

Statt sich rechts mit einzureihen und vorbei zu fahren, ließ er sein Auto direkt hinter dem LKW stehen und stieg aus. Polizei und Krankenwagen waren noch nicht da. Der Fahrer lag mit einer Platzwunde am Kopf und bewusstlos auf der Straße. Jemand hatte ihn schon heraus geholt und leistete gerade Erste Hilfe, ein anderer stand daneben und telefonierte. Und außerdem sah Victor hinten ein Paket in hohem Bogen aus den offenen Türen des Anhängers fliegen. Statt sich mit um den Fahrer oder die Sicherung des Unfallsortes zu kümmern, plünderte dort jemand die Lieferung. Da der Fahrer gut versorgt schien, stürzte sich der junge Gestaltwandler auf den Anhänger. Dem nächsten Paket, das schon auf die Fahrbahn gesegelt kam, musste er fast ausweichen. Der Mann da drin störte sich offensichtlich überhaupt nicht daran, den Straßenverkehr an dieser ohnehin schon brisanten Stelle noch weiter zu gefährden, indem er Sachen auf die Straße warf. Er nahm gerade ein weiteres Paket, schaute kurz auf die Anschrift des Empfängers und beförderte es dann ebenfalls nach draußen. Nicht das Paket, das er suchte.

„He, was tun Sie da?“, wollte Victor böse wissen.

Der Kerl fuhr herum und funkelte ihn aggressiv an. Er hatte ein unrasiertes, aufgedunsenes Gesicht. „Halt´s Maul und verpiss dich!“

„Ich hab gefragt, was Sie da machen!“, beharrte Victor und kletterte mit in den Auflieger hinein. Die Türen standen ja einladend offen.

„Und ich sagte: Verpiss dich!“, kläffte der Mann. Er hatte plötzlich eine Pistole in der Hand, die er auf Victor richtete.

Der Gestaltwandler hob erschrocken die Hände. Damit hatte er nicht gerechnet. Ihm kam seine eigene Waffe in den Sinn, die noch im Auto lag. Die hatte er während der Fahrt abgelegt, weil es echt unangenehm war, sie die ganze Zeit im Rücken stecken zu haben. Wieso hatte er sie nur im Auto liegen lassen, als er ausgestiegen war? „Komm schon, Kumpel, du willst doch keinen Ärger, oder?“, laberte er los, um den Mann bei Laune zu halten. Dabei überlegte er fieberhaft, ob er auf die Schnelle einen Bann oder Fluch wusste, der bei einer Waffe Ladehemmung verursachte. Ihm fiel keiner ein. Also setzte er das auf seine gedankliche to-do-Liste, für den Fall, daß er das hier überlebte. In seinem Gewerbe war sowas sicher lohnend zu wissen.

„Beweg deinen Arsch hier raus!“, fluchte der Paketräuber und fuchtelte wild mit seiner Knarre herum, um Victor zu vertreiben.

Der blieb aber, scheinbar eingeschüchtert, wo er war. „Schon gut! ... Ich ... ich könnte dir suchen helfen“, blöffte er und grübelte insgeheim weiter. Selbst sein Paralyse-Fluch, der ihm vorhin bei der Chimäre schon so gute Dienste geleistet hatte, war ihm hier zu heikel. Erstens war das Handzeichen-Magie, was bedeutete, daß er sich dafür bewegen musste. Und zu ausladende Bewegungen provozierten den Kerl wohlmöglich zum Abdrücken. Andererseits paralysierte dieser Fluch einen auch nicht komplett. Ein paar winzige, langsamere Mikrobewegungen bekam man schon noch hin, unter anderem damit dem Betroffenen die Atmung nicht versagte. Der eine Zentimeter im Zeigefinger, den es brauchte, um den Abzug zu drücken, war da wohlmöglich noch drin.

„Du ...!!!“ Der Kerl machte wütend einen Schritt auf Victor zu und hob die Pistole um eine Winzigkeit.

Victor war sicher, daß er in diesem Moment abdrücken würde, und reagierte reflexartig. Er nahm die Gestalt eines Insektes an, so daß eine eventuelle Kugel ihr plötzlich viel kleineres Ziel weit verfehlen würde, stürzte sich wie ein Miniatur-Kamikaze-Flieger auf das Gesicht des Mannes, um ihn ins Straucheln zu bringen, und verwandelte sich dort wieder in seine menschliche Form. Das plötzliche Gewicht des jungen Gestaltwandlers, so zierlich der auch sein mochte, riss den Mann nieder und begrub ihn fast unter sich. In einem Knäuel aus Armen und Beinen gingen sie beide zwischen den vielen Paketen zu Boden. Victor, der auf die Situation gefasst gewesen war, wurde schneller wieder Herr der Lage und entwand dem Fremden die Waffe, ehe dieser sich versah. Erleichtert atmete er durch, als er nun derjenige war, der eine Pistole auf einen anderen richtete. „So, Kollege. Jetzt nochmal von vorn“, keuchte er etwas atemlos. „Wer bist du?“

Der Paketräuber rieb sich eine schmerzhaft angestoßene Stelle am Hinterkopf und nannte ihm sauer aber machtlos seinen Namen, den Victor aber direkt wieder vergaß, weil es ihn ohnehin nicht interessierte.

„Und was suchst du?“

„Ein Paket.“

„Ach was!“, machte der Motus-Vize zynisch. „Im Auflieger eines Postwagens? Ehrlich? Und an wen?“

„Wozu willst du das wissen?“

„Weil ich vermutlich hinter dem gleichen Paket her bin und jetzt gern mal wüsste, warum eigentlich.“

Der Mann musterte ihn ungläubig von oben bis unten. Er wusste sichtlich nicht, was er von dieser Aussage halten sollte. „Ein Paket an Nischni Petrov, einen Typen von der Mordkommission in Twer.“

„Hundert Punkte. Verrätst du mir, was in dem Paket drin ist?“

„Beweismaterial. Ich weiß es auch nicht so genau. Ich weiß nur, daß er´s besser nicht bekommen sollte.“

Victor nickte verstehend. Der hatte vermutlich mit seinem neuen Verfahren zur Spurensicherung einen Mord aufgedeckt, zu dem es keine Leiche mehr gab, und brauchte nun noch Beweise dafür. Andere Beweise, die es ihm erlaubten, auch ohne Leiche glaubhaft zu machen, daß sein neues Verfahren zweifelsfrei funktionierte. „Du hast Recht. Sorgen wir dafür, daß er´s nicht in die Finger kriegt“, entschied er, wechselte die Pistole in die linke Hand und hob einen Kugelschreiber wieder auf, den er bei seiner Verwandlung verloren hatte. Damit malte er seinen alterprobten Detektor-Zauber auf irgendein wahlloses Paket, dessen Karton ihm genug Platz dafür bot. „War die Chimäre im Verteilerzentrum deine Komplizin?“, wollte er nebenbei wissen.

„Eine Chimäre? Nein. Ich arbeite alleine. Waren etwa noch mehr Leute hinter diesem Paket her?“

„Darauf kannst du wetten.“ Das Paket drehte sich, als er fertig war, und richtete das aufgezeichnete Symbol auf das Päckchen aus, das er suchte. Dennoch dauerte es einen Moment, bis Victor in dem ganzen Chaos hier das richtige entdeckte. Das vollgemalte Paket, das ihm als Detektor gedient hatte, nahm er ebenfalls mit. Er wollte ja keine Spuren hier hinterlassen. Ob nun eins mehr oder weniger fehlte, machte jetzt auch nichts mehr. Zufrieden sprang er aus dem LKW-Anhänger, ließ die fremde Pistole auf der Kante der Ladefläche liegen, und spazierte in Ruhe zu seinem Auto zurück, um sich wieder in den Verkehr einzureihen und zu verduften.
 

„Victor!“, jubelte Vladislav theatralisch. „Das hat ja lange gedauert. Ich dachte schon, du hättest mein Paket bis in die USA verfolgt.“

Victor pfefferte ihm etwas muffelig die nach wie vor original verpackte Sendung auf den Tisch. Er hatte ja inzwischen eine ungefähre Ahnung von deren Inhalt, also kein Grund, neugierig zu sein. „Hättest mir ja ruhig mal sagen können, daß noch mehr Leute hinter dem Ding her sind, Mann!“

Vladislav hob kurz gleichgültig die Schultern. „Du bist mein Vize und einer meiner besten Männer. Denkst du wirklich, ich hätte dich auf ein stupides Postpaket angesetzt, wenn ich keine Komplikationen erwartet hätte? Wenn die Sache so einfach gewesen wäre, hätte ich auch jeden anderen Drops losschicken können. Für dich hätte ich im Zweifelsfall beileibe wichtigere Aufgaben gehabt.“

„Warne mich das nächste Mal gefälligst vor, sonst gibt´s Ärger. Wenn du mich umbringen willst, kannst du das einfacher haben.“

Vladislav fischte einen Zettel von seinem Schreibtisch und hielt ihn seinem Vize auffordernd hin. „Hier, halt die Klappe und nimm!“

„Schwarze Liste?“, wollte der lustlos wissen. Das graue Papier kannte er schon. Es sah aus wie recyceltes Öko-Papier, bekam seine Farbe aber durch magische Behandlung, damit es nicht aus der Ferne von Hellsehern ausgelesen werden konnte. Mordaufträge wurden immer auf solchem Papier gedruckt. Auf der schwarzen Liste der Motus standen die Arten, die rigeros getötet wurden, wenn man sie fand. Mordaufträge waren in 99% der Fälle Genii, die auf der schwarzen Liste standen. Nur ganz selten mal einer der eigenen Männer, der sich Vladislavs Vertrauen verspielt hatte.

„Nein, heute mal blaue Liste.“

„Blau!?“, wiederholte Victor überrascht und nahm den Zettel daraufhin eine ganze Ecke bereitwilliger entgegen, um ihn sich anzusehen. Auf der blauen Liste standen die Viecher, die mit den Menschen auch nichts Gutes im Schilde führten, aber so schwach waren, daß man sie mit Bann-Marken versklaven und verkaufen konnte.

„Es gab eine konkrete Nachfrage. Da will jemand eine Rotkappe haben.“

„Wozu?“

„Als Söldner und Komplize für Organhandel. Rotkappen jagen liebend gern Menschen und töten sie, ohne zu große Schäden am Körper anzurichten. Im Gegensatz zu Werwölfen beispielsweise, die ihre Opfer komplett zerlegen und in der Luft zerreißen. Die Opfer von Werwölfen sind zu nichts mehr zu verwenden. Der Kunde will davon profitieren, daß Rotkappen ihre Opfer halbwegs in einem Stück lassen, und will die Opfer dann in Einzelteilen verkaufen.“

„Wie krank ist das denn?“, echauffierte sich Victor angewidert. Er hatte ja inzwischen schon viele linke Sachen erlebt, seit er bei der Motus war. Aber das war nochmal eine ganze Ecke härter als alles, was er bisher kannte. „Ist Organhandel nicht verboten?“

„Victor, ich bitte dich! Für wen arbeitest du denn? Natürlich ist es verboten.“

„Ja. Dumme Frage, tut mir leid. Ich mach mich schlau, wo ich so ein Vieh finde. Das wird schwierig. Die gibt es eigentlich nur in Großbritannien. Hier bei uns in Russland dürfte es schwer werden, eine zu finden. Im Notfall muss ich nach England.“

„Frag doch mal Artjom, der hat Zugriff auf´s Meldewesen“, schlug Vladislav vor.

„Wer ist Artjom?“

„Kennst du ihn noch nicht? Dann wird es Zeit, mein Lieber. Artjom ist einer meiner wichtigsten Leute. Ein Computer-Hacker. Es gibt kaum ein Netzwerk, in das er nicht rein kommt. Ein nützlicher Informationsbeschaffer. Er macht auch die falschen Pässe.“

„Wie praktisch.“

„Kennst du die Schrotthalde draußen hinter dem alten Güterbahnhof?“

„Ja!?“

„Dort findest du ihn. Er hat seinen ganzen Technik-Kram in einem alten Wohncontainer, der da rumsteht. Damit er nicht gefunden wird, falls seine Aktivitäten mal zurückverfolgt und geortet werden.“

„Super, dann frag ich ihn mal, ob er rauskriegt, wo hier bei uns Rotkappen amtlich registriert sind.“

„Tu das. Die Kontaktdaten von dem Interessenten stehen drauf“, meinte Vladislav mit Fingerzeig auf den schriftlichen Auftrag. „Frag ihn vorher, wieviel er zahlen will, bevor du dir die Mühe machst, eine Rotkappe lebend zu fangen.“

Victor schaute irritiert auf. „Wieviel soll ich denn verlangen?“

„Das überlasse ich dir. Es sollte dir nur das Risiko wert sein. Sie sind rein optisch nur kleine Kobolde, aber glaub mir, diese Biester sind tückisch. Sie sind schwer zu töten und noch schwerer zu fangen. Nimm den Auftrag nicht auf die leichte Schulter.“

„... mir das Risiko wert sein“, meinte der Vize abwertend. „Ist ja nicht so, als ob ich was von dem Geld hätte. Das kriegst ja du.“

„Ich bezahl dich ja auch für deine Arbeit, oder nicht?“

„Über die Bezahlung könnten wir gelegentlich nochmal reden, jetzt wo du´s sagst!“

„Raus hier!“, verlangte Vladislav aufbrausend und wies ihm die Tür. Sowas Vorlautes! Das konnte er vielleicht leiden!

Victor lachte erheitert und verkrümelte sich.
 

Victor ließ den Blick über die Eisenteile, verrosteten Autokarossen und sonstigen Schrott schweifen, die hier in Bergen aufgeschüttet oder zu Türmen gestapelt waren. Dann spazierte er auf den Wohncontainer zu, der wie ein Pförtner-Häuschen mitten in dem ganzen Chaos stand. Der Schrottplatz schien bewirtschaftet zu werden. Es gab einen Parkplatz für Besucher und eine Werbetafel mit der Telefonnummer und einem Angebot für Hol- und Bringservice, falls man hier Schrott kaufen oder verkaufen wollte. Neben dem Container stand auch ein Schrott-LKW. Artjom war also im echten Leben Schrotthändler, wenn er nicht gerade für die Motus Pässe fälschte oder Datenbanken hackte. Victor klopfte und trat ein.

Drinnen saß ein freundlich aussehender Mann mit Pausbacken und Stirnglatze. „Hi. Wer bist du denn?“, wollte er fröhlich wissen und biss in einen Donut. „Kann ich helfen?“, legte er mit vollem Mund noch nach.

„Ich bin Victor Akomowarov.“

Dem Technik-Freak schlief das Gesicht ein. „Himmel, du bist der Vize? Sorry, das wusste ich nicht. Ich kannte dein Gesicht bisher noch gar nicht.“

„Nein, ist nicht so schlimm.“

„Wie kann ich denn helfen, Boss?“, wollte er diensteifrig wissen und legte sein angeknabbertes Gebäck zur Seite.

„Also, zum einen brauche ich mal eine Auskunft. Ich suche Rotkappen in Moskau oder wenigstens Russland. Der Boss sagt, du könntest ins Einwohnermeldewesen schauen.“

„Ja, das krieg ich hin.“ Er wandte sich euphorisch seinem Computer zu. „Setz dich, setz dich, das dauert eine Weile.“

Victor suchte sich einen Sitzplatz in der schmierigen, unordentlichen Baracke und vertrieb sich die Zeit damit, sich in dem Durcheinander umzusehen. „Hast du auch Zugriff auf die MaMa-Datenbank?“, plauderte er irgendwann weiter.

„Die Magister Magicae Datenbank? Ja, schon. Also ich meine, ich kann mir den Zugang verschaffen, wenn ich ihn brauchen sollte. Der ist nicht ganz leicht zu hacken, aber wäre nicht das erste Mal.“

„Du musst einen Datensatz für mich überschreiben.“

Artjom verzog skeptisch die Augenbrauen. „Ja?“

„Ich bin in dieser Datenbank eingetragen. Ich habe einen Magister Magicae und ...“

„Stop!“, ging der Techniker mit hochschnellender Hand dazwischen. „Willst du mir hier gerade vermitteln, daß 'Victor Akomowarov' nicht dein echter Name ist und du deine wahre Identität gern löschen würdest?“

„Richtig.“

„Vergiss es! Das mach ich dir nicht!“

„Wieso denn nicht?“, fragte Victor verwundert nach. „Urkundenfälschung ist doch hier Tagesgeschäft.“

„Sicher, aber du bist mir ein zu hohes Tier! Ich will gar nicht wissen, wie der echte Name von unserem Vize-Chef lautet. Und wenn ich in dieser Datenbank nach deinem echten Namen suchen soll, um ihn zu überschreiben, dann weiß ich ihn! An diesem Wissen hätten mir zuviele Leute ein berechtigtes Interesse. Ich hab keine Lust, das Opfer von Folter oder Erpressung zu werden, weil jemand der Meinung ist, ich könnte ihm deinen echten Namen sagen. Am Ende knallst du mich noch eigenhändig ab, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, damit ich ihn keinem mehr sagen kann! Nee, danke, damit will ich nichts zu schaffen haben. Das ist mir zu riskant.“

„Nagut, dann lass mich wenigstens an deinen PC und erklär mir, wie ich in die Datenbank reinkomme, damit ich die Daten selber überschreiben kann.“

„Geht nicht. Zu kompliziert für einen, der da kein gelernter Fachmann ist.“

Victor verschränkte unzufrieden die Arme vor der Brust und überlegte, was es noch für Möglichkeiten geben könnte.

Artjom beäugte den jungen Gestaltwandler abwägend. „Das ist dir wirklich wichtig, hm? ... Gut, hör zu, komm wieder, wenn du einen guten, irreversiblen Gedächtnis-Löschzauber drauf hast. Wenn du mir garantieren kannst, daß ich deinen Name vergesse und er mir auch nie wieder einfallen wird, dann mach ich´s dir.“

Victor lächelte glücklich. „Das ist ein Deal. So machen wir es. Vielen Dank.“

Der Mann nickte ernst. Dann konzentrierte er sich wieder auf seinen Bildschirm und tippte flink eine Menge Sachen ein. Irgendwann zog er ein unzufriedenes Gesicht. „Also es gibt in ganz Russland drei amtlich registrierte Rotkappen. Einwanderer mit englischer Staatsbürgerschaft. Der Versuch, eine von denen zu finden, ist ziemlich aussichtslos, wenn du mich fragst.“

Victor seufzte. Das hatte er sich fast gedacht. „Na schön, dann muss ich mir doch eine aus England holen, das ist wohl wirklich einfacher. Kannst du mir helfen, sie über die Grenze zu bringen?“

„Du meinst mit einem Reisepass, der durchgeht? Sicher.“

„Danke.“

„Was willst du mit einer lebenden Rotkappe? Die stehen doch auf der schwarzen Liste und werden sofort gemeuchelt, dachte ich“, wollte Artjom wissen und griff wieder nach seinem angebissenen Donut.

„Ein Auftrag für den Sklavenmarkt. Da will jemand eine haben.“

„Es wurde schon oft versucht, Rotkappen mit Bann-Marken unter Kontrolle zu halten. Meistens ist es schiefgegangen. Das sind ziemlich arglistige Dinger.“

„Ich weiß. Aber das ist nicht mehr mein Problem, wenn ich sie abgeliefert habe.“

Der Hacker schob sich nur mit einem Brummen den Rest seines Essens in den Mund.

„Okay, dann bis später. Ich setz mich in die Bibliothek und komm dieser Tage mal wieder rum, wenn ich so einen Gedächtnis-Löschzauber gefunden habe.“ Victor deutete ein verabschiedendes Winken an und machte sich wieder auf den Weg. Den Einfall fand er gut. Iwan, der LKW-Fahrer von Lager D, und sein Genius Petr, kannten ihn auch noch als 'Kolja'. Das war zwar nicht so schlimm wie sein kompletter, echter Name, aber nichts desto trotz wussten die beiden immerhin, daß er eigentlich nicht Victor Akomowarov hieß. Mit den zweien musste er sich also früher oder später auch noch was einfallen lassen. Der Nikolai, der er früher gewesen war, war tot. Er musste aus den Köpfen der Leute verschwinden, egal wie.

„Ja, bis später. ... He, weißt du, was der Unterschied ist, zwischen Vladislav und dir?“, rief Artjom ihm nach.

Der Vize blieb in der Tür nochmal stehen und sah fragend zurück.

„Vladislav hätte mir jetzt eine Knarre an den Hinterkopf gehalten und mich gezwungen, seinen Namen in der MaMa-Datenbank gefälligst zu überschreiben.“

„Wäre dir das denn lieber?“, hakte Victor grinsend nach.

„Gott, nein!“

„Ich kann Freunde noch von Feinden unterscheiden. DAS ist der Unterschied zwischen Vladislav und mir“, klärte Victor ihn auf. Dann ging er.

Netzwerk

Deprimiert klappte Victor das Buch wieder zu, fuhr nochmal mit der Hand über den Einband und ließ den Blick über die Bücherregale schweifen. Diese Bibliothek war echt streng darauf bedacht, daß man hier bloß nichts Illegales lernte. Er hatte noch keinen Bann-Zauber gefunden, der eine ganz konkrete Erinnerung so nachhaltig gelöscht hätte, daß sie nicht mit einem Gegen-Bann wieder hergestellt werden könnte. So richtig unumkehrbare Gedächtnis-Zauber waren wohl derart radikal, daß sie das komplette Gehirn in Matsche verwandelten. Soviel hatte er den Büchern noch entnehmen können. Der Betreffende vergaß nicht nur das, was er vergessen sollte, sondern das Gedächtnis wurde zu großen Teilen resettet. Mit etwas Pech und dilletantischer Vorgehensweise wusste man danach nicht mal mehr, wer man war, oder konnte vielleicht kein einziges Wort mehr sprechen, weil man seine Muttersprache spontan wieder verlernt hatte. Entsprechend verboten war solche Magie auch. Aber Victor war zuversichtlich, daß er noch einen Zauber finden würde, der funktionierte und ungefährlich war. Der Gestaltwandler beschloss, für heute Schluss zu machen und sich erstmal anderen Aufgaben zu widmen. Immerhin hatte er Arbeit zu erledigen. Er sah auf die Uhr. Ob das 'Pussy Deluxe' jetzt schon geöffnet hatte?
 

Ein knapp bekleidetes Mädchen setzte sich zu Victor an den Tisch. Er lächelte sie freundlich an und stellte sein Bier zur Seite. „So alleine hier?“, schnurrte sie in diesem typisch versauten Tonfall, den nur Prostituierte drauf hatten, die gerade einen Mann rumkriegen wollten.

„Ich halte eigentlich Ausschau nach Galina“, gestand Victor.

„Oh, ich kann dich sicher auch glücklich machen.“

„Das glaube ich dir. Aber ich brauche trotzdem Galina.“

Das Mädchen sah ihn etwas sauertöpfisch an. „Du bist aber wählerisch.“

„Ich bin nicht auf der Suche nach Glücklichmachern. Ich muss mit ihr reden. Wenn du mir eine Freude machen willst, dann sag dir doch, ob sie da ist.“

„Informationen kosten.“

Victor verdrehte die Augen, griff dann aber doch gehorsam in seine Jackentasche, um einen Geldschein heraus zu holen, den er ihr über den Tisch schob. Er hatte keine Lust, mit ihr zu diskutieren. Einfach unglaublich, wie die einem hier das Geld aus der Tasche zogen.

„Ich schick dir Galina rüber“, versprach das Mädchen und schob sich die Kohle theatralisch in den BH. Dann verschwand sie.

Kopfschüttelnd nahm Victor wieder sein Bier zur Hand und schaute weiter der Tänzerin zu, die auf dem Nachbartisch einen table dance hinlegte.

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Galina sich endlich zu ihm gesellte. Aber sie lächelte ihn erkennend an, als sie sich zu ihm setzte. „Hey, da ist ja mein schöner Mann mit den tollen, langen Haaren wieder“, grüßte sie. „Musstest du lange warten? Ich hatte gerade einen Kunden.“

„Ist schon okay, ich habe es nicht eilig“, versicherte er.

„Du warst lange nicht hier. Ich dachte schon, ich hätte dir nicht gefallen.“

Victor musste kichern. „Ich musste erst auf den Besuch hier sparen. Du bist zu teuer.“

„Wer hat, der kann“, alberte sie zwanglos mit und richtete sich demonstrativ das Dekolleté in der aufreizenden, engen Kleidung. Ihre südländischen Gesichtszüge mit den langen, schwarzen Spirallocken drum herum waren nicht minder verführerisch. „Du hast mir letztes Mal deinen Namen gar nicht verraten, mein Schatz.“

Nein, zum Glück nicht, sonst wüsste ihn inzwischen die halbe Szene, dachte Victor erleichtert. Als er diesem Schuppen das letzte Mal einen Besuch abgestattet hatte, war er immerhin noch Nikolai Grigorijewitsch Medwedew gewesen. Wenn das hier wirklich so ein Umschlagplatz für Informationen war, wie Galina letztes Mal behauptet hatte, dann war sie sicher recht geschwätzig. Und allein die Tatsache, daß sie ihn direkt nach seinem Namen fragte, sagte Victor, daß sich bei ihr bereits Leute nach ihm erkundigt hatten. Denn normalerweise fragten Freudenmädchen nie nach Namen. Das war eine Sache der Diskretion. „Nenn mich Victor.“

Galina überlegte. „Victor, ja? Ich werde dich Vitja nennen.“

„Meinetwegen auch das.“

„Und was kann ich für Vitja tun?“

„Vitja würde gern in Ruhe irgendwo mit dir reden.“

„Reden?“

„Ja, ich brauche Infos. Du sagtest, du hättest welche und ich könne dich jederzeit fragen kommen, wenn was ist.“

Die Prostituierte runzelte die Stirn, als könne sie das nicht glauben. „Magst du lieber blau oder grün?“

„Äh ... grün. ... Wieso?“, gab er irritiert zurück.

„Dann lass uns ins grüne Zimmer gehen und dort reden“, entschied sie, griff im Aufstehen seine Hand und zog ihn von seinem Stuhl hoch. Sein halbvolles Bierglas musste er notgedrungen stehen lassen.
 

Das 'grüne Zimmer' war wirklich penetrant grün. Die Wände waren grün gestrichen, die Bettwäsche war grün, die zugezogenen Vorhänge waren grün, der Teppich auch. Selbst die Kerzen, die auf dem Nachttisch brannten, waren aus grünem Wachs. Das war echt zuviel des Guten. Aber wenigstens roch dieses Zimmer nicht so durchdringend und luftraubend nach Weihrauch wie letztes Mal. Hier war eher ein dezenter Vanille-Pudding-Duft vorzufinden. Sehr kitschig, aber immer noch besser.

Galina griff ganz ungeniert nach seinem Hosenbund und versuchte ihm den Reißverschluss aufzuziehen.

„Nicht, lass mal!“, ging Victor dazwischen und wehrte ihre Hände ab. „Ich hab heute keine Lust. Ich will wirklich nur quatschen.“

Die Prostituierte sah ihm prüfend in die Augen, ob das sein Ernst war. Solche Kunden hatte sie offenbar nicht oft. Nach einem Moment zuckte sie aber hinnehmend mit den Schultern und tigerte zum Bett hinüber, um sich lasziv hinein zu fläzen. „Wie du willst. Aber bezahlen musst du mich trotzdem. Ich hoffe, das ist dir klar.“

„Ihr macht auch aus allem Geld“, seufzte Victor, während er sich zu ihr auf die Bettkante setzte. „Ich hoffe, du bist das wert.“

„Ich gebe mir Mühe“, schmunzelte sie. „Und jetzt sag schon, was du wissen willst. Du bezahlst mich nach Zeit, nicht nach der Anzahl der Informationen.“

„Gut. Ich suche eine Rotkappe. Kannst du mir da helfen?“

Galina ließ nachdenklich den Blick abschweifen. „Eine bestimmte? Sag mir den Namen.“

„Nein, keine bestimmte. Einfach nur irgendeine.“

„Rotkappen gibt es hier bei uns nicht. Da hast du in England mehr Glück.“

„Ja, ich weiß. Schade. Ich hatte gehofft, du wüsstest da einen Rat.“

„Nein. Ich kenne auch niemanden, der dir da helfen könnte. Ich kann dir nur raten, nach Großbritannien zu gehen und dort zu suchen. Die Motus ist doch in England aktiv. Es sollte dir nicht schwer fallen, in deiner Organisation jemanden zu finden, der für dich in die Spur geht.“

Victor nickte verstehend.

Galina schnappte ihn am Revers und zog ihn neben sich in eine liegende Position. Sie hatte den Ehrgeiz, ihn doch noch irgendwie rumzukriegen. Ein Mann, der nichts von ihr wollte, wo gab´s denn sowas!?

„Und dann brauche ich noch zwei Zauber. Kennst du talentierte Bann-Magier?“

„Was genau suchst du?“, schnurrte die Kleine, fuhr mit der Hand der Länge nach über Victors Oberkörper und drückte ihre Lippen auf seine Halsseite. Damit hielt sie ihn regelrecht unter sich fest. Sie stand auf allen Vieren über ihm. Der junge Gestaltwandler ließ es auch zu. Er gab seinen Widerstand auf.

„Irgendwas, was bei Pistolen Ladehemmung verursacht.“

„Gibt es nicht. Davon wüsste ich.“

„Auch nicht im Bereich der Flüche und Verwünschungen?“

„Nein. Da musst du selber einen erfinden, wenn du das willst. Ich würde dir irgendwas aus der Kategorie Feuer-Magie empfehlen, denn alle Schusswaffen arbeiten mit einem Funken, der das Schießpulver entzündet. Es ist sicher am einfachsten, das Zünden des Pulvers zu verhindern.“

„Du bist mir aber auch gar keine Hilfe“, maulte Victor. Derweile wanderten auch seine Hände schon auf ihrem Rücken herum.

„Und der zweite Zauber?“

„Uhm ... ein Gedächtnis-Löschzauber. Ich brauche irgendwas, was punktuell konkrete Informationen aus dem Gedächtnis löscht, ohne gleich den ganzen Prozessor da oben lahm zu legen“, erzählte er und tippte sich dabei gegen den Schädel.

„Oh! DAMIT kann ich dir helfen!“, freute sich Galina.

„Kennst du so einen Zauber?“

„Nein. Aber ich kenn einen Bann-Magier, der sowas kann. Ich stell dich dem Mann vor und sag ihm, daß er´s dir beibringen soll“, entschied sie und sprang enthusiastisch aus dem Bett hoch. „Komm mit!“

„Wie ... jetzt gleich?“, wollte Victor wissen, enttäuscht, daß nun doch nichts aus der heißen Liaison wurde, nachdem Galina schon so hartnäckig an ihm gebaggert hatte, um ihn endlich dazu zu kriegen.

„Ja, komm mit! Es ist einer unserer Security-Typen!“

„Ihr habt Security?“, hakte der Vize erstaunt nach, dann quälte er sich schwerfällig ebenfalls aus dem Bett heraus.

„Na klar. Hier werden immer mal wieder Kunden gewaltsam entfernt, die uns Mädels misshandeln wollen. Manche sind echt perverse, sadistische Schweine.“

„Verstehe ...“
 

Eine halbe Stunde und etliche tausend Rubel später kam Victor wieder in die Club-Bar hinunter, um sich ein neues Bier zu bestellen. Er hatte noch nie so viel Kohle auf einmal gelassen. In einem Land, in dem 12'000 Rubel [ca. 200 Euro] fast ein Monatsgehalt waren, waren 20'000 Rubel eine Menge Schmott. Und die hatte er dem Security-Typen gerade gezahlt, damit der ihm diesen Gedächtnis-Löschzauber zeigte. Auch wenn der Gebrauch dieses Zaubers – logischerweise – für Normalbürger illegal und sein Nutzen nicht ganz von der Hand zu weisen war, so fand Victor den Betrag doch unverschämt. Normalerweise durften nur ein paar wenige, speziell dafür ausgebildete und registrierte Ärzte solche Zauber zur psychologischen Behandlung einsetzen. Entsprechend schwer war es, jemanden zu finden, der einem sowas beibringen konnte. 'Wer hat, der kann!', um es mit Galinas Worten auszudrücken.

Ein lautes „Scheiße!“ und ein hektisches Gefuchtel, als er an einem Tisch vorbeiging, lenkten Victors Aufmerksamkeit auf dessen Besetzer. Da saßen Iwan und Petr, sichtlich geschockt davon, hier auf ihren Boss zu treffen. Iwan, der LKW-Fahrer von Lager D versuchte schnell, das Mädchen, das er auf dem Schoß sitzen hatte, wieder los zu werden. Petr, sein grobschlächtiger Genius Intimus, hustete noch, weil er sich vor Schreck an seinem Getränk verschluckt hatte.

Mit einem überlegenen Lächeln setzte sich Victor zu den beiden an den Tisch. „Iwan. Das ist ja eine Überraschung.“

„Boss, ich hatte hier gar nicht mit dir gerechnet.“

„Ich auch nicht mit dir. Es ist Donnerstag. Solltet ihr zwei nicht gerade auf dem Weg nach Polen sein und die neue Lieferung fahren?“

„Jaaa~“, druckste Iwan gedehnt herum.

„Nimmst du deine Arbeit neuerdings nicht mehr ernst, oder wie seh ich das?“

„Weißt du ... Wir haben doch diese Woche nur 2 Genii im Lager D. Ich dachte, dafür lohnt sich der ganze Weg nicht. Die können wir doch auch einfach nächste Woche ... also ... als Sammeltransport ... Verstehst du, was ich meine?“

Victor deutete ein unwilliges Kopfschütteln an. „Habt ihr der Armee von Weißrussland Bescheid gegeben, daß ihr diese Woche nicht kommt?“

„Nein.“

„Dann tu das bitte noch. Sonst kriegen wir Probleme mit denen. Wir sind auf ihre Kooperation angewiesen.“

Iwan nickte verängstigt und starrte Victor immer noch mit großen Augen an.

„Jetzt!“, legte Victor also präzisierend nach.

„Natürlich! Sofort, Boss!“ Der Fahrer schnappte sein offen auf der Tischplatte liegendes Handy, sprang auf und hechtete Richtung Ausgang davon.

Kurz herrschte bedrücktes Schweigen. Victor bedeutete einem Kellner aus der Ferne, daß er ein Bier haben wollte, indem er auf Petrs Glas zeigte.

„Tut uns leid, Boss. Wir hätten vorher mit dir drüber sprechen sollen“, fühlte sich Petr irgendwann doch gedrängt, etwas zu sagen. „Wir müssen uns noch ein bisschen dran gewöhnen, daß du jetzt der Vize bist. Für uns bist du irgendwie immer noch der gewöhnliche Jäger, der im Lager D für den Nachschub sorgt.“

„Schon okay“, meinte Victor mild.

„Hagelt es jetzt Konsequenzen?“

„Nein. Ist schon in Ordnung. Ihr habt Recht, die Fuhre hätte sich wirklich nicht gelohnt. Nur sagt mir in Zukunft Bescheid, wenn ihr Planänderungen ausheckt.“

Der Genius gab ein kleinlautes, zustimmendes Brummen von sich und nippte nervös an seinem Bier. „Vladislav hätte anders reagiert.“

„Ich bin nicht Vladislav.“ Victor bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. „Eigentlich kommt ihr zwei mir gerade ganz gelegen“, entschied er dann themenwechselnd. „Du weißt doch, daß ich Kolja heiße, oder?“

„Als Kurzform für Nikolai, ja.“

„Das wirst du jetzt bitte wieder vergessen!“ Mal sehen, ob der Gedächtnis-Löschzauber, den er gerade gelernt hatte, wirklich so gut war, wie erhofft ...
 

Am nächsten Morgen stattete Victor der Scheinfirma einen Besuch ab, wo der Boss sein Büro hatte. Hier war er eigentlich immer zu finden. Hier liefen alle Fäden zusammen. Er hing gerade am Telefon, als Victor kam, und sein Genius Intimus war mit dem Taschenrechner zugange und rechnete konzentriert irgendwas zusammen. Der stand also auch nicht für smalltalk zur Verfügung. Daher setzte sich Victor einfach irgendwo hin und wartete, bis irgendwer Zeit für ihn hatte.

Vladislav ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er telefonierte noch eine ganze Weile weiter, bevor er endlich auflegte und sich um seinen Vize kümmerte. „Victor, schön, daß du kommst“, grüßte er dann auch übergangslos. „Hör zu, ich nehm dir das Lager D wieder weg“, erzählte er in geradezu beiläufigem Plauderton.

Victor zog ein betrübtes Gesicht. „Ich weiß, die Gewinne sind in letzter Zeit wieder ziemlich zurück gegangen. Das tut mir leid. Ich gebe mir wirklich Mühe.“

„Das ist ganz normal. Du bist mein Vize und hast jetzt genug anderen Kram zu bewältigen. Du hast einfach nicht mehr die Zeit, ein Lager zu leiten“, gab Vladislav beschwichtigend zurück. „Ich bin nicht unzufrieden mit deiner Arbeit. Im Gegenteil. Du hast das Lager verdammt gut geführt. Aber jetzt hab ich einfach wichtigere Aufgaben für dich, das ist alles.“

„Gut“, meinte Victor mit einem beruhigten Nicken.

„Ich hab schon einen Nachfolger im Sinn.“

Wieder nickte der Vize einverstanden.

„Hast du die bestellte Rotkappe schon gefangen?“

„Nein, deshalb bin ich hier. In Russland lässt sich keine auftreiben. Ich wollte dir sagen, daß ich nach England gehe.“

„Meinetwegen. Aber stell den Flug unserem Kunden in Rechnung.“

„Tu ich. Ich werde mir von Artjom einen falschen Reisepass für die Rotkappe ausstellen lassen, mit dem ich sie hier her schleusen kann. Aber ich könnte in England eine neue Waffe brauchen. Meine kann ich schlecht mit durch die Flughafenkontrollen nehmen.“

Vladislav winkte geringschätzig ab. Wenn das Victors einzige Sorge war ... „Frag Ruppert, wenn du dort bist. Er kümmert sich drum. Und bestell ihm Grüße von mir.“

„Liebe oder böse Grüße?“, wollte Victor näckisch wissen.

„Nicht frech werden, ja?“

Der Gestaltwandler lachte leise. „Man wird doch noch fragen dürfen. Bei dir weiß man ja nie.“

„Sieh zu, daß du Land gewinnst!“
 

Zwei Tage später lehnte Victor tatsächlich schon rücklings an einer Hausmauer in London. Er hatte die Füße überkreuzt, die Hände in die Jackentaschen gestopft und war irgendwas zwischen genervt und gelangweilt. Er war um 3 p.m. mit Ruppert verabredet. Das der sich Zeit ließ, musste Victor nicht auf der Armbanduhr nachprüfen. Er hatte genau den Big Ben vor der Nase, welcher bereits 10 Minuten nach 3 zeigte. Pünktlichkeit in Großbritannien war so eine Sache. Im geschäftlichen Bereich galt es als anständig, auf die Minute genau zu erscheinen. Im privaten Umfeld und unter Freunden gab man grundsätzlich noch 10 bis 15 Minuten drauf. Sollte Victor sich geehrt fühlen, daß der Finanz-Chef ihn offenbar schon in letztere Kategorie steckte?

Endlich sah er ein Stück die Straße hinunter die dickbäuchige Erscheinung auf sich zukommen. So grau wie eh und je. Graue Haare, grauer Anzug, graue Krawatte. Er hatte sich seit ihrem letzten Treffen kein bisschen verändert. Victor löste sich von seiner Hauswand und ging ihm entgegen. „Hi, Ruppert.“

„Sdrasdwutje“, grüßte der Bankenbesitzer zurück. Auf Russisch, um Victor einen Gefallen zu tun. Auch wenn sie hier in England waren, und Victor nur zu Gast, würde Ruppert wieder Russisch mit ihm sprechen. Das klappte einfach besser. Abgesehen davon gab er sich zwar freundlich, aber nicht übertrieben fröhlich. Er war eben ganz der seriöse Geschäftsmann. „Du bist schneller wieder hier, als ich erwartet hatte.“

„Ja. Die Arbeit führt mich her. Als Vize muss man sich um viel Mist kümmern. ... Bist du alleine unterwegs?“, wollte Victor wissen und sah sich suchend um.

„Hast du noch jemanden erwartet?“

„Deinen Schutzgeist vielleicht?“

„Keine Sorge, der ist in der Nähe.“

„Du versteckst ihn immer noch vor mir?“, analysierte der Gestaltwandler enttäuscht.

„Gehen wir jetzt was trinken, oder nicht?“, verlangte Ruppert, womit er klarstellte, daß er dieses Thema nicht weiter zu diskutieren gedachte, drückte Victor eine mitgebrachte Plastiktüte in die Hand, und schob die Tür der Kneipe auf, vor der sie sich verabredet und getroffen hatten.

„Was ist das?“

„Du wolltest eine neue Knarre haben, schon vergessen? Es sind 10 Schuss drin, aber kein zweites Magazin. Also geh sparsam mit der Munition um“, erklärte er ganz unverblümt. Da er Russisch sprach, hatte er keine Angst, daß jemand mithörte.

„Ich habe nicht vor, die Waffe zu benutzen. Ich brauche sie nur zur Sicherheit, falls ich bei meinem Auftrag unerwartete Überraschungen erlebe.“

Ruppert ließ sich auf einen Sitzplatz an einem leeren Tisch fallen. „Was hat der Chef dir diesmal auf´s Auge gedrückt?“

Victor senkte seine Stimme, als er sich ebenfalls setzte. Im Gegensatz zu Ruppert vertraute er nicht darauf, daß hier in dieser Kneipe niemand Russisch verstand. „Ich soll eine Rotkappe lebend fangen. Für den Sklavenmarkt.“

Der ältere, graue Mann zeigte sich nachdenklich. „Wenn du meine Meinung hören willst: Lass es. Schieß sie über den Haufen, und gut.“

„Auftrag ist Auftrag.“

„Ja, vermutlich. ... Gut, ich bring dich mit jemandem zusammen. Iwan Pawlowitsch. Auch als 'Rollender Rubel' bekannt. Er jagt hier schon seit einer ganzen Weile Rotkappen. Er kann dir helfen, eine zu finden und so in den Griff zu kriegen, daß sie dich nicht umbringt.“

Jagd

„... und dann hat er ihn einfach über´s Knie gelegt wie ein unartiges, kleines Kind“, gab Ruppert zum Besten.

Victor lachte herzlich und nippte an seinem Bier.

Ruppert tat es ihm gleich.

„War er ja im Prinzip auch. Wie alt war er da?“

„Hm, 9 oder 10, schätze ich.“

„Siehst du? Also wirklich ein kleines Kind“, entschied Victor und zwirbelte sein Glas mit beiden Händen auf dem Tisch als wolle er damit Feuer machen. Heute würde er bei Bier bleiben. Er konnte sich ja nicht immer mit dem harten Zeug die Kante geben. Ruppert schon, der becherte fleißig seinen geliebten Whisky und bekam schon langsam eine träge Aussprache, während er von Vladislav und seinem Sohn erzählte.

„Der Junge wäre jetzt inzwischen 19, wenn er noch leben würde. Wahnsinn, wie die Zeit vergeht. Ein Jammer, daß er so früh gestorben ist.“

„Sag mal, wie alt war Vladislav, als er Vater geworden ist? Ich meine, wie alt ist Vladislav überhaupt? So alt sieht er doch noch gar nicht aus“, wollte der Vize wissen.

„Oh, Vladislav hat zeitig angefangen mit dem Kinder-machen. Er war selber erst 16, als sein Sohn auf die Welt kam. Jetzt ist er 35.“

Victor nickte nachdenklich. So in etwa hätte er den Boss auch geschätzt. Dann wurde er vom Fernseher abgelenkt, der hinter der Bar lief. Dort kamen offenbar gerade Nachrichten und es wurde ein brennendes Paketzentrum gezeigt. „He, um was geht es da?“, wollte er hellhörig geworden von Ruppert wissen. Die Nachrichten waren leider auf Englisch und er verstand kaum die Hälfte davon.

Ruppert schaute ebenfalls eine Weile dem TV zu. Es wurde ein Foto einer Frau eingeblendet, die griechisch oder zumindest wie jemand aus diesem geographischen Raum aussah. Dann ein Videokommentar von einem Mitarbeiter des Paketzentrums, der zwar Russisch sprach, aber vom englischen Dolmetscher übertönt wurde, so daß man ihn nicht mehr verstand. Ruppert runzelte die Stirn. „Also da ist in Moskau ein Paketzentrum abgefackelt worden. Von einer Chimäre, die Amok gelaufen ist, weil sie ein Paket haben wollte, das nicht mehr dort war. Es gab horrente Sachschäden und vier Mitarbeiter mussten mit Verbrennungen und Rauchvergiftung ins Krankenhaus. Aber Tote gab es wohl zum Glück nicht. Die Chimäre wurde offenbar von einem unbekannten, schwarzen Greifen gestoppt, der sich danach sofort wieder vom Acker gemacht hat“, fasste er für Victor das Erzählte zusammen. „Derzeit läuft die Suche nach dem Greifen.“

„Warum?“, wollte Victor erschrocken wissen.

„Sie wollen ihn für Zivilcourage auszeichnen.“

„Gott sei Dank. Ich hatte jetzt schon Angst, die hätten mich wegen des Paralyse-Fluchs auf dem Kieker. So richtig erlaubt ist der, glaube ich, nicht.“

Ruppert sah ihn fragend an. „Warst du der Greif?“

„Ja. Ich war für Vladislav hinter dem gleichen Paket her. Ich kam dazu, als die Chimäre gerade das Paketzentrum abgefackelt und die Mitarbeiter gejagt hat.“

Ruppert schüttelte den Kopf und sah wieder zum Fernseher. Aber dort lief inzwischen etwas anderes. „Sehr diskret ist die ja nicht vorgegangen. Hätte die für die Motus gearbeitet, hätte Vladislav sie eigenhändig aus der Polizei-Haft geholt, um sie selber zu erschießen.“

„Ein Glück für sie, daß sie nicht für Vladislav arbeitet“, lachte Victor und trank wieder etwas von seinem Bier.

„Ja. Aber ich schätze, die bleibt jetzt für den Rest ihres Lebens weggesperrt.“

„Besser ist das. Chimären sind gefährliche Viecher. Wenn sie sich aufregen, werden sie schnell aggressiv. Und wenn sie erstmal angefangen haben, handgreiflich zu werden, dann rutschen sie schnell in einen Blutrausch hinein und haben sich nicht mehr unter Kontrolle. Ich denke, bei ihr hat im Gehirn irgendwas ausgesetzt, als sie das Paket nicht bekommen hat. Das war kein berechnetes, beabsichtigtes Massaker. Sie hatte sich einfach nicht mehr im Griff. ... Nicht, daß das irgendwas besser machen würde.“

Ruppert nickte zustimmend und gönnte sich noch einen Schnaps.

„Mich wundert´s, daß Chimären nicht auf der schwarzen Liste stehen.“

„Oh, die Liste wird ständig erweitert, so ist das nicht“, lenkte der Finanz-Chef ein. „Wirst du dir den Zivilcourage-Preis abholen?“

„Gott, nein. Den hab ich nicht verdient. Ich bin der Vize-Chef eines Verbrecher-Kartells, das mordet und Sklaven handelt. Ich glaub, Zivilcourage ist das letzte, was man mir nachsagen kann. Ich werd schön die Klappe halten und hoffen, daß die mich schnell wieder vergessen.“
 

Der Vize schlenderte bei Sonnenuntergang gemütlich die Hauptstraße entlang und schaute sich die Umgebung genau an. Er wollte das Revier kennen, bevor es losging. Er hatte sich Verstärkung mitgebracht, aber dem unablässigen Geplapper seines Kollegen Iwan Pawlowitsch, dem 'Rollenden Rubel', hörte er schon lange nicht mehr zu. Stattdessen ging er im Geiste nochmal sein Wissen über Rotkappen durch. Sie waren böse, kleine Feen, die zumeist in Burgruinen oder anderweitig verfallenen Gemäuern lebten und nach Dunkelwerden Menschen erschlugen. Sie färbten ihre Mützen mit dem Blut ihrer Opfer rot, daher hatten sie ihren Namen. Und sie mussten regelmäßig ein neues Opfer finden. Angeblich bevor das Blut an ihren Mützen getrocknet war, sonst gingen sie selber ein. Das hielt Victor zwar für eine Übertreibung, denn Blut war binnen weniger Minuten geronnen. So schnell konnten Rotkappen gar keine neuen Opfer herbeischaffen. Aber nichts desto trotz war es eine Tatsache, daß sie regelmäßig neue Opfer brauchten, wenn sie nicht selber sterben wollten. Sie hatten da also nicht unbedingt eine Wahl. Nur, die Menschen waren damit natürlich trotzdem nicht einverstanden.

Iwan Pawlowitsch war ein Russe, der von der Motus hierher nach England abgestellt war, um Rotkappen zu jagen. Noch ein Iwan. Dieser Name war in Russland echt ein Sammelbegriff. Iwan kannte sich sowohl mit den Viechern als auch mit den örtlichen Gegebenheiten bestens aus, daher war er für Victor die bestmögliche Hilfe. Aber nach allem, was Victor von ihm wusste, konnte er den Kerl nicht ausstehen. Von den Sklavenhändlern war er wieder abgezogen worden, weil er seine Opfer auf brutalste Weise misshandelte, so daß sie danach nicht mehr als Verkaufsware zu gebrauchen waren, oder sie auch gern mal direkt umbrachte, wenn er entschied, daß sie ohnehin keinen guten Preis erzielen würden. Aufgrund seiner bestialischen Ader war er zu den Killern gesteckt worden. Da war er besser aufgehoben.

Eine Frau kam ihnen auf dem Fußweg entgegen gehinkt. Sie hatte mindestens einen verkrüppelten Arm und ein steifes Bein, ging gebeugt, und an ihrem leicht entstellten Gesicht bemerkte Victor, daß sie wohl auch geistig behindert war. Er warf ihr nur einen gleichgültigen Blick zu, kaum daß er sie ernsthaft wahrnahm, machte etwas Platz, um sie vorbei zu lassen, und wollte eigentlich weitergehen. Sein Begleiter entschied aber merklich, sich näher mit der armen Frau zu befassen, also blieb Victor augenrollend stehen und wartete.

Iwan verstellte der Frau den Weg, begann sich über sie lustig zu machen und wurde dabei schnell grober.

Die Behinderte versuchte hilflos irgendwie an ihm vorbei zu gelangen.

„Jetzt komm schon, wir wollen weiter“, warf Victor genervt aus dem Hintergrund ein.

Der Motus-Häscher störte sich aber gar nicht daran, sondern ergriff das Weib bei den Jackenaufschlägen und bedrängte sie.

Sie zeterte und wehrte sich linkisch, da sie aber alleine auf der Straße waren, war keiner da, der davon Notiz hätte nehmen können.

„Lass doch die Frau, die interessiert uns nicht!“, verlangte Victor abermals, jetzt schon deutlich strenger und befehlender. Als sein Helfer ungerührt Anstalten machte, die Behinderte schlagen zu wollen, reichte es ihm. Er setzte dem Kerl seine Pistole an die Schläfe. „Lass ... sie ... in Ruhe!“, betonte Victor. Er ließ die Lippen offen und atmete durch den Mund, um genervter auszusehen. Um böser und ernsthafter auszusehen.

Iwan schielte ihn entgeistert aus dem Augenwinkel an und traute sich nicht mehr sich zu bewegen. Auch die Frau war augenblicklich still. „Bist du verrückt?“, raunte Iwan fassungslos.

„Ich könnte es nicht ernster meinen!“

„Du wirst mich doch nicht umbringen!?“

„Willst du es wirklich drauf ankommen lassen?“

„Schon gut, Mann“, hauchte der Motus-Häscher vorsichtig und ließ den Jackenstoff der Behinderten durch seine Finger rutschen.

Schlecht gelaunt steckte Victor die Pistole wieder unter die Jacke, hinten in seinen Hosenbund, wo sie immer war, und bedeutete der behinderten Frau mit einer Kopfbewegung, sich zu trollen. Sie ließ sich auch kein zweites Mal bitten. Dann wandte sich Victor um und ging weiter.

„Sie wird uns verraten!“, heulte Iwan protestierend.

„Was soll sie denn verraten? Daß du wehrlose Frauen schlägst? Soll sie mal machen!“

„Nein, daß du mit einer Knarre rumläufst!“

„Sie ist geistig verwirrt. Was denkst du, wer ihr glauben soll?“, hielt Victor seelenruhig dagegen, ohne sich aufhalten zu lassen.

„Setz mir nie wieder eine Pistole an den Kopf, das sag ich dir, du Wichser!“, drohte Iwan wütend und marschierte eilig hinterher, um den Anschluss nicht zu verlieren. Der junge Gestaltwandler wartete ja nicht auf ihn. „Sonst werde ich das mal ganz im Vertrauen dem Boss erzählen!“

„Klar. Und vergiss nicht, es auch deiner Mami zu erzählen“, lästerte Victor sorglos.

„Du hältst dich wohl für was Besseres und denkst, du hättest mir was zu sagen, du arrogantes Arschloch!? Ich bin älter als du und schon viel länger hier! Rennst hier rum und fuchtelst mit ner schicken 45´er ...“

„Es war eine 39´er“, warf Victor stoisch ein.

„... und sagst mir, was ich zu tun und zu lassen habe!? Du scheiß ...“

„Iwan!“, unterbrach er seinen Kollegen, blieb stehen und sah ihn böse an. „Falls die Informationskette bei dir noch nicht angekommen ist: Ich bin der Vize-Boss! Ich bin der zweitoberste Mann in der ganzen Motus. Ja, du hast mir zu gehorchen, wenn ich dir sage, was du zu tun und zu lassen hast. Und vor diesem Hintergrund würde ich dich bitten, deine Wortwahl nochmal zu überdenken. Sonst hast du vielleicht keine Gelegenheit mehr, Vladislav noch IRGENDWAS zu erzählen.“

Der Kerl hielt schockiert die Klappe. Das hatte er sichtlich nicht bedacht.

„Und bevor du zu Vladislav petzen gehst, rufe dir auch lieber nochmal ins Gedächtnis, was der mit Befehlsverweigerern macht“, fügte Victor an. Er war ja bisher immer darum bemüht gewesen, mit seinen Untergebenen gut auszukommen und humaner mit ihnen umzuspringen als Vladislav es tat, aber sowas hier ging ihm dann doch gegen den Strich. Nur weil er nicht den gnadenlosen Tyrannen raushängen ließ, ließ er sich das nicht gleich als Schwäche auslegen.

„Tut mir leid, Boss ...“, murmelte er schuldbewusst. „Kommt nicht wieder vor.“
 

„Also!“, begann Iwan euphorisch, als sie vor der Kirchen-Ruine ankamen. Der weiträumige, verfallene Gebäudekomplex, von dem größtenteils nur noch die Mauern ohne Dach standen, war von einem grünen Park umgeben, der jetzt schon geschlossen hatte. Es war schon spät und ziemlich dunkel. „Das hier ist das St.-Dunstan-in-the-East. Hier findet man immer mal wieder eine Rotkappe. Keine Ahnung, wo die immer wieder herkommen oder warum es sich bei denen noch nicht rumgesprochen hat, daß die Rotkappen hier nicht lange leben. Die Ruine scheint jedenfalls ein sehr beliebter Wohnsitz für die zu sein. Knallt man eine ab, kann man drauf wetten, daß binnen ein bis zwei Monaten eine neue hier lebt. Wir haben also gute Chancen, hier eine für dich zu finden“ Er sah Victor prüfend von der Seite an. „Und du bist dir sicher, daß du eine Rotkappe lebend fangen willst?“

„Um´s 'wollen' geht es hier leider nicht“, seufzte Victor. „Ich könnte mir schönere Aufträge vorstellen, um ehrlich zu sein.“

Iwan nickte und schaute aufmerksam erst durch den drei Meter hohen Metallzaun nach drinnen und dann nochmal in die Umgebung, ob sie auch nicht von zufälligen Passanten beobachtet wurden. Das war zwar unwahrscheinlich, denn die Leute wussten um die Rotkappen-Aktivitäten in dieser Gegend und mieden das Gelände nach Dunkelwerden, aber sicher war sicher. „Gut, dann rein da!“ Er griff nach den Metallstreben des Zauns und begann behände wie ein Affe hinüber zu klettern.

Victor zog die Pistole, die er von Ruppert bekommen hatte, aus dem Hosenbund, schob sie durch den Zaun, damit er sie nicht verlor, und verwandelte sich danach in einen Greifen, um mit ein paar kräftigen Flügelschlägen hinüber zu fliegen. Drüben nahm er wieder seine menschliche Gestalt an. „Gibt es irgendwas, was ich über Rotkappen wissen sollte, bevor es losgeht?“

Iwan wog überlegend den Kopf hin und her. „Sie sind schnell und garstig. Wenn sie jagen, sind sie immer in ihrer wahren Gestalt unterwegs. Da sehen sie aus wie kleine Gnome. In dieser Gestalt sind sie flinker und wendiger und können sich leichter verstecken. Die fallen dich aus dem Hinterhalt an und bringen dich schneller um, als du reagieren kannst. Also halt die Augen offen, damit du sie rechtzeitig entdeckst.“

„Wie bringen sie ihre Opfer denn um?“

„Mit einem Werkzeug. Meistens haben sie ein Messer, das sie versuchen, dir in den Hals zu rammen“, erklärte Iwan. „Sie haben es immer auf irgendwelche leicht zu erreichenden Pulsschlagadern abgesehen, weil sie an dein Blut ranwollen.“

„Beherrschen die auch Magie?“, wollte Victor wissen.

„Ich weiß nicht. Auf magische Duelle habe ich mich mit denen noch nicht eingelassen. Ich knippse sie mit meiner Pistole ab und dann ist Ruhe. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, sind sie gegen die meisten Elemente immun. Mit Feuer- oder Eis-Zauber haben die keine Probleme.“

„Solange sie nicht gegen Bann-Marken immun sind, ist ja alles gut“, seufzte Victor unwohl und hielt nach einer geeigneten Stelle Ausschau, um seinen Plan umzusetzen. „Also hör zu. Ich werde mir eine hübsche Deckung suchen und du spielst meinen Lockvogel.“

„Wieso ich!?“, wollte Iwan empört wissen.

„Weil ich der Vize-Chef bin und es sage!“

„Du bist ein quergeficktes Arschloch!“, fluchte der Rotkappenjäger derb.

„Meinetwegen. Und jetzt an die Arbeit. Ich pass schon auf dich auf.“
 

Caleb strolchte wie in so vielen Nächten durch die Straßen Londons. Als obdachloser Waisenjunge, der aus dem Waisenhaus abgehauen war, musste er ja nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein. Er wanderte oft spät abends noch durch die Straßen und genoss die Ruhe. Und er war, was das St. Dunstan-in-the-East anging, auch völlig schmerzfrei. Er glaubte nicht an die Spukgeschichten, denen zufolge es hier Rotkappen geben sollte. Außerdem fand er die Kirchenruine im knochenbleichen Vollmondlicht äußerst reizend. In hellen Nächten kam er öfter hier her, um sie sich anzusehen. So wie heute. Er suchte gerade nach seiner üblichen Stelle am Zaun, von wo er die beste Sicht hatte, als ihm ein Aufschrei durch Mark und Bein ging. Caleb rannte um die nächste Ecke, wo er den Ursprung des Schreis vermutete, und sah im Park einen Mann mit einer kleinen, gnomenhaften Kreatur ringen, die ihm auf dem Rücken baumelte. Der Mann drehte sich panisch im Kreis, um das blutrünstige Vieh wieder abzuschütteln, das ihm mit scharfen Krallen und Zähnchen am Hals hing. Und griff verzweifelt über die Schulter nach hinten, um es zu fassen zu kriegen und von seinem Rücken nach vorn zu zerren. Dann gingen beide zu Boden und rangen im Liegen weiter.

Trotz des Vollmondes am wolkenlosen Himmel war es zu dunkel, zu weit weg und zu hektisch, um Details zu erkennen. Aber ... war das etwa wirklich eine Rotkappe, wie die Erwachsenen ihm immer einreden wollten? Caleb fragte sich, wie der Mann eigentlich in den Park gekommen war und was er da zu suchen hatte. Der war doch schon seit Stunden abgesperrt. Der Junge fuhr herum, als plötzlich jemand von hinten eine Hand auf seine Schulter legte. Hinter ihm stand Victor.

Der Gestaltwandler schaute mit auf die Szene, als wäre er selbst gerade erst dazugekommen. „Hast du gesehen, was passiert ist?“, fragte er auf Englisch.

Caleb starrte ihn wie im Delirium an. Er stand wohl ein wenig unter Schock. Aber trotzdem nickte er vorsichtig. „Ja.“

„Schlecht für dich, Kumpel.“ Victor zog seine Pistole und verpasste ihm einen Kopfschuss. Und fluchte dann leise, weil der Schuss wie ein Peitschenknall durch den ganzen Park hallte. Diese blöde Waffe, die er von Ruppert bekommen hatte, hatte keinen Schalldämpfer. Hoffentlich hatte das keiner gehört. Er nahm seine Greifengestalt an, packte die Leiche am Schlawittchen, bevor sie hier alles verräterisch vollblutete, und flog mit ihr in den abgesperrten Park des St. Dunstan-in-the-East. Dort äscherte er sie an einer unauffälligen Stelle mit seinem üblichen Feuerzauber restlos ein, mit dem er immer Leichen beseitigte, die verschwinden mussten. Um die Asche kümmerte sich der Wind, aber er musste einen Untergrund finden, auf dem keine schwarzen Brandflecken zurückblieben, und das war nicht immer einfach.

Iwan kam nach einem Moment sauer hinzu. „Du Penner hast mich mit der Rotkappe alleine gelassen! Sagtest du nicht, du würdest aufpassen?“

„Und hast DU nicht gesagt, hier wäre um diese Uhrzeit keiner mehr?“, gab Victor kühl zurück. In seiner Position als Vize-Chef ließ er sich bestimmt keine Vorhaltungen von einem wie ihm machen. „Wie du siehst, musste ich mich um Zeugen kümmern.“

Iwan grummelte nur etwas Unverständliches.

Victor ließ den Blick emotionslos auf die brennende Leiche des Jungen gerichtet. „Was ist mit der Rotkappe passiert?“

„Ich hab ihr einen Backstein über den Schädel gezogen.“

„Lebt sie noch?“

„Weiß ich nicht. Müssen wir gucken.“

Nun sah Victor ihn doch missbilligend an. „Du lässt sie unbeaufsichtigt rumliegen?“

„Machen tut sie jedenfalls nichts mehr.“

Kopfschüttelnd drehte der Gestaltwandler sich um und ging los. Zurück zu der Stelle, wo er Iwan und die Rotkappe zuletzt hatte kämpfen sehen. Herr Gott, er hatte einen Jungen erschossen, weil der zuviel gesehen hatte. Einfach so. Er war selber erschrocken, wie leicht und selbstverständlich ihm das alles hier inzwischen von der Hand ging. Hätte er es nicht erstmal mit dem Gedächtnis-Löschzauber versuchen können, den er neulich gelernt hatte? Einen Moment lang fragte er sich, ob er eigentlich noch auf der richtigen Seite stand und noch irgendwas Humanes an sich hatte, oder ob er schon komplett von der Kriminalität verschlungen worden war und sein Gewissen längst verloren hatte. Hatte er schon vergessen, warum er eigentlich hier war?

Rotkappe

Victor fand die Rotkappe bewusstlos in der Wiese liegend. Sie atmete, also lebte sie noch. Der Stein, den Iwan ihr angeblich über die Birne gehauen haben wollte, lag gleich daneben. Die Rotkappe hatte nichtmal eine Platzwunde am Kopf. Zähes Biest, dachte Victor und ging neben ihr in die Hocke. Er hatte heute keine vorgefertigten Bannzettel bei sich. Er wollte live entscheiden, wie mit einer Rotkappe am besten zu verfahren war, wenn er eine vor sich hatte. Iwan hatte gesagt, sie wären gegen die meisten Elemente immun, also fielen Bann-Marken auf dieser Basis schonmal aus. Kurzentschlossen entschied er sich für den stärksten Runen-Bann, den er kannte. Bann-Magie auf der Grundlage von Schriftzeichen war nie verkehrt. Je mehr Zeichen er mit einband, desto stärker wurde die Bann-Marke. Aber natürlich war das nicht unbegrenzt möglich, denn nicht jede Rune passte zu dem Bann, den man beabsichtigte und manche widersprachen sich auch, oder glichen sich gegenseitig aus.

Victor ging in Gedanken das ganze alte Futhark durch, denn diese Zeichen waren mächtiger als das neue Futhark. Fehu stand für Besitz, das war die unumgänglichste Rune von allen, wenn man jemanden versklaven wollte. Thurisaz stand für Macht und Schutzschild. Das war die Meisterrune, die stand für den, der den Sklaven unter Kontrolle halten wollte, für die ausgeübte Macht und den Schutz davor, daß der Untergebene sich gegen seinen Herrn wandte. Ansuz war sicher auch von Nutzen. Die stand für Worte und Kommunikation und würde folglich für Gehorsam sorgen. Wunjo bedeutete Freude und Verlässlichkeit. Auch nicht schlecht, wenn der Träger der Bann-Marke einem treu Gefolgschaft leisten sollte. Hagalaz war Verderben, Gefahr und Neubeginn. Damit wurde unterbunden, daß das Opfer sich in sein altes Leben zurücksehnte. Nauthiz, die für Zwang und Schicksal stand, erfüllte den gleichen Zweck. Eiwaz symbolisierte Magie. Damit konnte man unerlaubte Anwendung von Magie, die dem Willen des Meisters widersprach, nachhaltig versiegeln. Tiwaz stand für Recht und Gesetze. Die ultimative Rune für Gehorsamszwänge. Ehwaz, die Zusammenarbeit. Die Erklärung des Nutzens im Sklaverei-Gebrauch erübrigte sich von selbst. Othala stand ebenfalls für Besitz. Und ganz wichtig, Gebo, der Austausch. Diese Rune war unumgänglich, wenn man verhindern wollte, daß sich der Betreffende unerlaubt zwischen seiner menschlichen und seiner Fabelwesen-Form hin und her verwandelte. Victor zählte im Kopf zusammen. 11 Runen, die ins Bild passten. Das sollte genügen, um auch eine Rotkappe in den Griff zu kriegen. Er versuchte vor seinem geistigen Auge den Runen-Zirkel zu visualisieren. Standen sich irgendwelche dieser Zeichen im Kreis gegenüber, so daß sie sich gegenseitig aufhoben? Er glaubte nicht. Das würde ein ziemlich aufwändiges Ding werden. Er sollte sich besser beeilen, bevor die Rotkappe wieder zu sich kam. Er zückte einen Kugelschreiber und zeichnete direkt auf die Haut des Wesens. Das würde auch gehen. Einen Notizblock zum Vorzeichnen, um es dann mit Magie auf den Körper zu übertragen, hatte er gerade nicht zur Hand.

Als die Rotkappe nach einer Weile wieder zu sich kam und zu toben begann, musste Iwan ihm helfen, sie festzuhalten, bis er die Bann-Marke vollendet hatte. Aber dann war Ruhe. Das gnomenhafte Ding stellte seine Gegenwehr endlich ein. Victor zog sie in eine sitzende Haltung hoch und zu sich herum, und packte sie links und rechts an den dürren Oberärmchen, als wolle er sie schütteln. „Hey, look at me!“, verlangte er auf Englisch.

Die Rotkappe hob langsam den verklärten Blick. Sie war gar nicht richtig wach.

„Do you understand me?“

Die Rotkappe nickte wie in Zeitlupe.

„Do you understand russian language?“

Nun schüttelte sie leicht den Kopf.

Mist. Naja, nicht zu ändern. Nicht sein Problem. „Tell me your name!“

„Rose Guilderoy ...“, nuschelte sie leise.

„Good. Rose, transform into your human ... äh, Iwan, was heißt 'Aussehen' auf Englisch?“

„look“, warf Iwan von der Seite ein.

„Danke. ... transform into your human look now!“

Die Rotkappe kam der Aufforderung nach und nahm ihre menschliche Erscheinung an. Eine eher schlichte, braunhaarige Frau im mittleren Alter, die nichts Besonderes an sich hatte. Ihr Blick blieb weiterhin wie hypnotisiert.

„Schön, die Bann-Marke scheint soweit zu funktionieren“, stellte Victor zufrieden fest und erhob sich wieder vom Boden. Trotzdem würde er das noch eine Weile im Auge behalten. Er hatte durchaus auch schon Genii gefangen, die nur so getan hatten, als wären sie erfolgreich unter Kontrolle, um dann bei geeigneter Gelegenheit die Flucht zu ergreifen. Einer hatte es sogar geschafft, einen wirksamen Bann wieder abzuschütteln. Er war da im Laufe der Zeit vorsichtig geworden. Und Rotkappen waren echte Entfesselungskünstler, was das anging.

Iwan musterte die Frau skeptisch. Sie war splitterfasernackt. Als Rotkappe hatte sie natürlich keine Kleidung getragen und jetzt nach ihrer Rückverwandlung hatte sie auch keine. Als er sie fragte, ob sie hier irgendwo Sachen zum Anziehen hinterlegt hätte, nickte sie wie in Trance und zeigte auf die Kirchenruine.

„Na schön. Lass sie uns holen“, legte Victor fest, mehr an Iwan als an die Rotkappen-Frau gewandt, weshalb er sich auch nicht die Mühe machte, Englisch zu sprechen, und schob sie einfach vor sich her.
 

Solange sie in den Gemäuern des St. Dunstan-in-the-East unterwegs waren, damit Rose Guilderoy sich etwas zum Anziehen holen konnte, hatten sie keinerlei Schwierigkeiten. Auf Probleme stießen sie erst, als sie die Ruine wieder verlassen wollten. Victor ging forschen Schrittes auf den Ausgang zu, doch kurz bevor er ihn erreichte, wuchs ein blau durchscheinendes Kraftfeld um ihn herum aus dem Boden. Es versperrte die Tür, versiegelte die Wände des Kirchenschiffs inclusive Boden und bildete sogar ein Dach über ihnen, so daß auch Flugkünste einem nichts mehr nützten. Die Kirche war binnen Sekunden zu einem riesigen Käfig aus Bannkreis-Barrieren geworden. Victor stöhnte leise. „dermo. [Scheiße] Das fehlt mir jetzt gerade noch.“

„Wir sind gefangen!“, berichtete Iwan überflüssigerweise.

„Wäre mir nicht aufgefallen.“ Der Vize-Boss legte eine Hand auf die Bann-Mauer und versuchte deren Ursprung zu finden.

„Das ist ein Bannkreis, oder? Wer hat den hier her gebaut?“

„Mich interessiert eher, was ihn ausgelöst hat“, murmelte Victor abgelenkt. Wenn er entschlüsseln konnte, worauf dieser Bannkreis beruhte oder worauf er reagierte, konnte er ihn vielleicht auch wieder brechen und sich befreien. Er ließ suchend den Blick schweifen. Da es hier drin trotz der Taschenlampe, die Iwan mitgebracht hatte, nicht gerade hell war, konnte man nur schwer etwas erkennen. Aber als einer, der selbst Bann-Magier war, fiel es ihm leicht, entsprechende Energien wahrzunehmen. Er deutete auf ein steinernes Symbol, das als Relief an die Wand gemauert war. Das war eine Quelle der Bann-Magie. Aber so wie dieser Kraftfeld-Käfig konstruiert war, musste es irgendwo noch einen Gegenpol dazu geben. Wenn der Entwickler clever war, dann lag dieser Gegenpol außerhalb des Käfigs, damit man nicht an ihn heran kam, um ihn abzustellen. Victor hatte den Eindruck, daß das Ganze auf topographischer Magie beruhte. Es hatte schon immer 'heilige Orte' gegeben, an denen ganz besondere Mächte am Werk waren, und immer talentierte Menschen, die es verstanden hatten, sich diese magischen Orte zu Nutze zu machen. „Meine Fresse“, staunte Victor. „Das ist uralte Magie. Sowas findet man heute gar nicht mehr.“

„Naja, das ist ja auch ein uraltes Gewölbe. Und ein religiöses noch dazu. Das hier war mal eine Kirche. Wundert´s dich da?“

Victor nagte unschlüssig auf seiner Unterlippe herum, während er nachdachte. Hätte Iwan ihm das nicht eher sagen können? Aber wohlmöglich hatte der Idiot das selber nicht gewusst. Er bedauerte gerade, an der Universität nicht mehr Seminare für Bann-Magie besucht zu haben. Die hätten ihm hier sicher weitergeholfen.

„Was machen wir jetzt, Boss?“, wollte der Rotkappenjäger wissen, als ob er keinen eigenen Kopf zum Denken hätte oder Victor unterstellte, daß der nicht längst an einer Lösung tüfftelte.

„Rose!“, wandte sich Victor an die Rotkappen-Frau. „You lived here. Do you know, what that is? ... Rose?“ Er schaute sich suchend um, als keine Antwort kam. Die Frau ging gerade türmen. Sie hatte bereits das halbe Kirchenschiff durchquert. Fluchend rannte Victor ihr nach. Er packte sie an dem Pullover, den sie inzwischen trug, und rang sie grob zu Boden. Sie begann schreiend um sich zu schlagen und sich zu wehren.

Iwan kam hinzu und half ihm, sie festzuhalten. Dafür brauchte er beide Hände und klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne.

„Idiot! Kannst du nicht aufpassen?“, fluchte Victor gereizt. „Wozu hab ich dich denn, wenn du nichtmal mitkriegst, wie sie abhaut!?“

„Tut mir leid, Boss“, nuschelte er mit dem Metall im Mund.

„Und hör auf, mich mit deiner scheiß Lampe zu blenden!“

Iwan richtete die Taschenlampe auf ihre Gefangene.

Der Gestaltwandler wendete die Rotkappen-Frau auf den Bauch, zog ihr den Pullover ins Genick und besserte die Bann-Marke auf ihrem Rücken nach, die sich langsam aufzulösen begann. Unglaublich, diese Rotkappe hatte es geschafft, so einen Bann wieder abzuschütteln? Gut, dann mussten stärkere Kaliber her. Er sortierte ein paar der Runen so um, daß sie sich gegenseitig anders beeinflussten.

Nachdem das erledigt war und Rose wieder den gebrochenen, teilnahmslosen Blick hatte, den alle Sklaven hatten, zerrte Victor sie an den Haaren zum Ausgang, wo er sie auch selber im Blick behalten konnte. Seine Geduld mit dieser ganzen Situation hier ging echt zu Ende. „Pass auf sie auf!“, pflaumte er Iwan an. Sauer legte er wieder eine Hand auf die blau durchscheinenden Kraftfelder, die sie hier drin gefangen hielten, atmete tief durch, schloss die Augen und konzentrierte sich.

Da diese Kirchenruine von einer Magie geschützt wurde, mit der er vorher noch nie zu tun gehabt hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis er sie ausreichend analysiert hatte. Aber irgendwann fand er endlich die Verbindung zu Rose Guilderoy. „Also wenn ich das richtig sehe, reagieren die Schutz-Zauber hier auf die Runen, die ich für die Bann-Marke verwendet habe. Die Runen sind heidnischen Ursprungs. Und die Christen hatten nicht viel mit den Heiden am Hut. Ich schätze, diese Kraftfelder sollten die Kirche vor Heiden schützen.“

„Indem es sie in der Kirche einsperrt?“, wollte Iwan skeptisch wissen.

„Ich würde schätzen, daß diese Magie aus Zeiten der Inquisition stammt. So haben sie ihre Opfer gleich ganz bequem gefangen.“ Victor schüttelte den Kopf. Irrsinnig, auf was für Ideen die Menschen kamen.

„Heißt das, wir müssen die Rotkappe wieder laufen lassen? Die Bann-Marke auf ihrem Rücken aufheben und so?“

„Ich lasse meine Rotkappe nicht wieder laufen“, entschied der Vize vehement. „Ich finde einen anderen Weg. Und vermutlich würde es auch nichts bringen. Der Schutz-Zauber ist so angelegt, daß er bestehen bleibt, wenn er einmal aktiviert wurde. Er wird nicht wieder zusammenbrechen, nur weil wir die Runen wieder entfernen. Aber zum Glück ist der Bann recht simpel. Im Mittelalter waren die mit ihrer Magie noch nicht so weit, auch wenn das hier für damalige Verhältnisse ganz schön monumental ist. Ich sollte also schnell und problemlos einen passenden Gegen-Bann entwickeln können.“

„Schön. Lass dir Zeit. Uns drängt ja nichts“, meinte Iwan zynisch.

„Halt die Klappe, wenn du nichts Nützliches beisteuern kannst“, maulte er. „Halt die Taschenlampe auf das Symbol da oben an der Wand! ... Und pass auf, daß die Rotkappe nicht wieder abhaut.“ Victor machte sich schlecht gelaunt an die Arbeit.
 

Am nächsten Vormittag stand Victor hundemüde vor Rupperts Haustür und klingelte. Er hatte fast 2,5 Stunden gebraucht, um den blöden Bann im St. Dunstan-in-the-East lahm zu legen und sich zu befreien, was wohl zum Teil auch seiner Unerfahrenheit geschuldet war. Danach war er endfertig gewesen. Trotzdem hatte Iwan ihn nachts im Hotel noch zweimal geweckt, weil Rose Guilderoy wieder am Verduften war. Dieses Biest war echt schwer unter Kontrolle zu halten. Aber dafür war sie eben eine Rotkappe. Die waren nicht leicht im Zaum zu halten. Victor freute sich schon darauf, sie endlich nach Moskau zu schaffen, ihrem neuen Besitzer zu übergeben und dann los zu sein. Dann war das nicht mehr sein Problem.

Aber vorher musste er Ruppert noch die geliehene Pistole zurückbringen.

Auf das Klingeln hin öffnete Ruppert Edelig selbst die Tür und bat ihn herein. Wie immer war sein Genius Intimus weit und breit nirgends zu sehen. Langsam fragte sich Victor, ob Ruppert überhaupt einen hatte.

„Du siehst müde aus. Hattest du ne lange Nacht?“, brachte Ruppert seine Beobachtung ganz unverblümt auf den Punkt.

„Ich hasse Rotkappen. Ich hasse das St. Dunstan-in-the-East. Ich hasse London“, warf der Vize ihm wehleidig an den Kopf.

Ruppert lachte leise, nahm die Pistole und zog sofort das Magazin heraus, um den Füllstand zu prüfen. „Da fehlt eine.“

„Ja“, gab Victor bedauernd zu.

„Muss ich mit Ärger rechnen?“

„Ich hab einen Zeugen erschossen. Aber das Opfer ist vom Angesicht der Erde verschwunden. Das wird keiner mehr finden, weder tot noch lebendig. ... Also, nein, kein Ärger zu erwarten.“

Ruppert schob das Magazin wieder in den Schacht. „slawa bogu“ [Gott sei Dank], meinte er dabei.

Victor kicherte vergnügt auf. Er hatte ein hohes, leicht quietschiges Kichern, das ihn unglaublich jung klingen ließ. Wie ein fröhliches Kind.

„War daran irgendwas falsch?“, wollte Ruppert verunsichert wissen. Er war von dem Vize noch nie zuvor für seine Russisch-Kenntnisse ausgelacht worden.

„Nein, nein, alles gut. Ich liebe nur deinen Akzent. Das klingt so niedlich, wenn du das sagst.“

„Ist meine Aussprache so albern?“, hakte Ruppert nach.

„Das W ist im Russischen kein Verschlusslaut. Das wird mehr wie ein gepresstes U ausgesprochen. So als ob dir gerade das Mittagessen wieder hochkommt. Sag doch mal 'uuuodga'!“

„Vodka!“, versuchte der Finanz-Chef es ihm nachzusprechen, wegen seiner Verunsicherung noch schwerfälliger als sonst, und brachte ihn damit abermals zu einem erheiterten Glucksen. „Könnten wir dann jetzt mal zum Thema zurückkommen?“, maulte Ruppert beleidigt. „Ich werde die Knarre trotzdem vernichten. Nur zur Sicherheit. Wenn es keine Tatwaffe gibt, kann sie auch keiner finden.“

„Wie vernichtest du sie?“

„Die ist aus Metall. Sie wird eingeschmolzen und gut.“

„Guter Plan“, fand der Vize-Boss anerkennend.

„Du fliegst jetzt nach Russland zurück?“

„Ja. Iwan wartet mit der Rotkappe im Hotel. Ich muss nur noch ein Foto von ihr machen, für den Reisepass, dann nehme ich mit ihr den nächsten Flieger, den ich kriege. Das ist ne ziemlich clevere Sache. Laut Reisepass heißt die Rotkappe jetzt Dominique. Das ist ein geschlechtsneutraler Name. Der Pass funktioniert also immer, egal ob ich eine männliche oder weibliche Rotkappe gefangen hätte. Artjom denkt mit.“

Ruppert nickte verstehend. „Ich finde es trotzdem mies von Vladislav, dir so gefährliche Aufträge aufs Auge zu drücken. Alles nur wegen ein bisschen Geld. Er ist echt ein skrupelloses Arschloch. ... Naja, wie dem auch sei. Komm gut nach Hause. Und komm mich bald mal wieder besuchen, towarisch.“

„Werde ich“, lächelte Victor. „Oder du mich. Moskau ist auch schön.“

„Ich fliege nicht gern.“
 

Noch am selben Abend zurück in Moskau landete Victor als schwarzer Vogel in einem Baum vor Gontscharows Haus. Er fand, er hatte sich nach diesem miesen Auftrag in London jetzt eine Selbstbelohnung verdient. Und verdammt, er hatte einen armen, kleinen Jungen erschossen, wegen dieser ganzen Grütze. Irgendwer sollte dafür bezahlen, daß Victor überhaupt in so eine Lebenslage gekommen war.

Die Adresse hatte er schon vor langer Zeit in Erfahrung gebracht und die Umgebung schon lange gründlichst erkundet. Er duldete nicht, daß hier irgendwas schief ging. Im Baum sitzend nahm er wieder seine menschliche Form an, denn damit hatte er bessere Augen als in der Vogelgestalt. Draußen war es dunkel und er konnte wundervoll durch eines der Fenster in Gontscharows hell erleuchtete Wohnung hinein schauen. Der Dickwanst von Geheimdienst-Chef stand gerade im Bad und hatte die Tür offen gelassen. Victor hatte freie Sicht. Hämisch grinsend machte er sich ans Werk und sprach seinen vorbereiteten Fluch aus. Dieser Fluch zog die Blutgefäße zu und beeinträchtigte damit die Durchblutung. Victor hatte lange und hingebungsvoll an diesem Zauber getüfftelt. Er war seine eigene Kreation. Schon diese Tatsache, daß ihn keiner kannte, weil es so einen Fluch vorher noch nie gegeben hatte, sprach dafür, daß ihn auch keiner entlarven würde. Die Komponenten waren so fein aufeinander und auf das Opfer abgestimmt, daß alles, aber auch wirklich alles, auf schlichtes, organisches Versagen hindeutete. Und die eingesetzte Magie war derart subtil, so schwach und vor allem kurzlebig, daß sie nicht nachzuweisen sein würde, wenn man nicht schon vorher ganz genau wusste, worauf man zu achten hatte. Victor brauchte eine Weile, bis er alles heruntergebetet hatte. Der Fluch war sehr komplex und entsprechend lang. Gontscharow störte das nicht. Der hantierte fröhlich weiter im Bad herum.

„Dieser Fluch wurde eigens für dich erdacht und angefertigt. Und ich schwöre, ich werde ihn auch nie wieder bei irgendeinem anderen anwenden, außer bei dir. Fühl dich geehrt und genieß ihn, du Dreckschwein“, zischelte Victor böse, nachdem er endlich geendet hatte, und sah mit Genugtuung zu, wie Gontscharow nach einer Weile plötzlich nach Luft schnappend in die Knie brach.

Zusammenbruch

Zwei Tage später stattete Victor dem Lager D einen Besuch ab. Seit Vladislav ihm die Leitung des Lagers wieder weggenommen hatte, hatte er in der Blockhütte im Wald eigentlich nicht mehr viel zu suchen. Aber da er seine Rotkappe hier zwischenstationiert hatte, bis der Käufer sie endlich übernahm, behielt er das lieber mal im Auge. Mit Verwunderung bemerkte er den LKW, der vor der Holzhütte stand, als er ankam. Was hatte der hier noch zu suchen? Es war Freitagmorgen. Der LKW sollte gerade an der Grenze zu Weißrussland stehen und Iwan und Petr sollten mit der wöchentlichen Lieferung auf dem Weg nach Polen sein. Hatten sie mal wieder entschieden, daß sich die Fuhre nicht lohnte, ohne irgendwem irgendwas zu sagen?

Mit dem festen Vorsatz, die beiden gehörig zusammen zu stauchen, zog er die Tür auf. Was er drinnen vorfand, ließ sein klares Denken aber für einen Moment aussetzen. Petr lag mitten auf dem Boden in einer riesigen Lache aus Blut. Die Frage, ob der noch lebte, erübrigte sich von selbst. Hinter ein paar Kisten schauten zwei Füße hervor, die seinem Schützling Iwan gehörten. Auch tot. Victors Blick wanderte unwillkürlich weiter zu der Käfigbox, in der er seine Rotkappe aus England eingesperrt hatte. Sie stand offen und war leer. Die Rotkappe war weg. Victor musste aufpassen, nicht vor Fassungslosigkeit zu hyperventilieren. Wie hatte sie sich befreien können? Selbst wenn sie die Bann-Marke auf ihrem Rücken wirklich ein weiteres Mal gesprengt haben sollte, es würde doch wohl keiner so dumm gewesen sein, sie vorsätzlich aus diesem Käfig raus zu lassen!? Der Vize gab sich Mühe, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen, schloss die Augen und konzentrierte sich. Er konnte Bann-Magie spüren, und seine eigene ganz besonders. Die Bann-Marke auf dem Rücken der Rotkappen-Frau, selbst wenn sie nur noch fragmentarisch vorhanden gewesen wäre, hätte sie markiert wie ein Peilsender. Aber hier war nichts mehr. Rose Guilderoy war weg.

Victor überprüfte zuerst Petrs Leiche. Sie waren schon kalt und das Blut schon getrocknet. Die Jungs lagen schon länger hier. Dann zückte er das Handy, um Vladislav anzurufen, den Tod des LKW-Fahrers und seines Schutzgeistes zu melden und einen Aufspürer auf die Rotkappe ansetzen zu lassen. Er musste dieses kreuzgefährliche Vieh umgehend wiederfinden. Natürlich hatte er hier draußen keinen Empfang. War ja klar gewesen. Also entschied er, es unterwegs nochmal zu versuchen und stieg wieder in sein Auto. Victor fuhr einfach auf gut Glück los, auf den Weg zur nächstgelegenen Ruine, die ihm einfiel. Rotkappen nisteten sich immer in verfallenen, leerstehenden Gemäuern ein. Wenn er raten müsste, würde er die Rotkappen-Frau am ehesten dort suchen müssen. Verfluchter Mist, das alles.
 

Mitten auf dem Waldweg musste Victor plötzlich auf die Bremse steigen, weil ihm jemand den Weg verstellte. Ein Mann mit sehr klischeehafter Kapuze. Sascha. Victor kannte ihn. Er war ein Reaper und stand im Dienst der Motus. Er gehörte zu den Aufspürern und arbeitete eng mit den Jägern zusammen. Als Reaper wusste er ja schon vorher, wann und wo die Opfer sterben würden, also konnte er den Killern genau sagen, wo sie ihre Opfer finden würden, wenn die mit dem Bearbeiten ihrer schwarzen Liste erfolgreich waren. Den Kerl zu sehen, bereitete Victor immer wieder Unbehagen.

Sascha kam in aller Ruhe um das Auto herum gelaufen, zog die Beifahrertür auf und stieg mit ein. „Hi“, machte er nur und lächelte leicht.

Victor starrte ihn aus großen Augen an. „Was tust du hier?“

„Ich habe auf dich gewartet.“

„Werde ich jetzt sterben?“

Sascha lachte. „Nein. Wieso fragst du mich das jedes Mal?“

„Du bist ein Reaper! Du holst die Seelen ab, die gerade sterben, und begleitest sie auf die andere Seite. Jedes Mal, wenn du plötzlich vor mir stehst, denke ich, jetzt hätte mein letztes Stündchen geschlagen.“

„Hast du Angst vor dem Tod? Glaub mir, der wird überbewertet. Nur eine Zwischenstation auf dem langen Weg. Komm schon, fahr!“

„Mir ist trotzdem daran gelegen, noch ein wenig auf Erden zu weilen. Ich habe noch viel vor, weißt du?“, kommentierte Victor und legte einen Gang ein, um sein Auto wieder in Bewegung zu setzen.

„Du bist auch noch nicht fällig“, winkte Sascha beruhigend ab. „Aber du suchst eine Rotkappe. Ich bring dich zu ihr.“

„Du weißt, wo sie ist? ... Wird die Rotkappe jetzt sterben?“, wollte der Vize nicht gerade euphorisch wissen. Das hätte bedeutet, er müsste im Zweifelsfall eine neue fangen.

„Nein“, seufzte der Reaper schwer und tragisch. „Aber es wird noch ein Opfer geben, bevor du sie wieder einfängst.“

„Und ich nehme nicht an, daß ich das noch verhindern kann.“

„Nein, kannst du nicht. Sonst wäre ich nicht hier.“

Victor nickte nur langsam, ohne den Blick vom Waldweg vor sich zu nehmen. Saschas Tonfall klang nach dem Schlimmsten. So bedauernd, fast wie eine Entschuldigung. Er fragte lieber nicht nach, was das zu bedeuten hatte. Er würde es sicher noch früh genug erfahren.
 

Victor hatte gelangweilt eine Wange auf die Faust gestützt und schaute den treibenden Wolken zu. Langsam wurde es dunkel und der Park leerer. „Bist du sicher, daß sie noch kommen wird?“

„Ganz sicher“, versprach Sascha.

„Wir sitzen seit über 2 Stunden hier.“

„Bist du so scharf auf das Blutvergießen, das hier stattfinden wird?“

„Nein ...“

„Dann nur Geduld.“

„Müssen wir uns unbedingt in einem Gebüsch verstecken?“

„Willst du zum Opfer der Rotkappe werden, indem du ihr wie auf dem Präsentierteller vor der Nase rumläufst?“

„Das würde die Sache vielleicht beschleunigen.“

Der Reaper sagte nicht dazu.

Mit einem unterdrückten Seufzen schaute Victor auf die Armbanduhr. Dann merkte er auf, als ein junger Mann durch den Park geschlendert kam. Den kannte er. Das war Anatolij, sein langjähriger Freund und Mitbewohner. Wie lange war das her, daß er den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte? Anatolij hatte sich gar nicht verändert. Er kam wohl gerade von der Arbeit. Offenbar hatte er immer noch den gleichen Job. Er war schon früher immer auf dem Heimweg um diese Uhrzeit durch den Park gekommen. Victor biss sich auf die Unterlippe, während er an die schöne Zeit dachte, und an alles, was er seinem Freund verdankte. Seine Schuljahre und die ersten Semester seiner Studienzeit, als er noch Nikolai gewesen war, da war das Leben noch richtiggehend unbeschwert gewesen. Was war seit damals nur aus ihm geworden?

Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Aus einer Baumkrone kam ein Wurfmesser gesegelt, pinnte sich in Anatolijs Schulter, ein graubraunes, gnomenhaftes Wesen sprang aus dem Baum hinterher und riss Anatolij rückwärts zu Boden.

„Anatol-...“, hauchte Victor in seinem Versteck, unfähig sich zu bewegen. Er war das Opfer, das der Reaper angekündigt hatte?

Die Rotkappe riss derweile das Messer aus Anatolijs Schulter und schnitt ihm gnadenlos die Kehle durch. Dann zog sie sich die Zipfelmütze von ihrem entstellten Koboldkopf und wischte damit das herausquellende Blut auf. Wie es Rotkappen ihrem Namen nach eben taten. Sie färbten ihre Mützen mit dem Blut von Menschen rot.

Mit einem „Nein!“ sprang Victor endlich aus seiner Deckung und schleuderte einen Paralyse-Fluch nach der Rotkappe, um sie außer Gefecht zu setzen. Sie blieb auch bewegungslos liegen. Dann schob er seine Hand unter den Kopf seines gurgelnden, blutspuckenden Freundes und drückte ihn verzweifelt an sich. „Stirb nicht! Anatolij! Du darfst nicht sterben!“

Sascha trat von hinten an ihn heran. „Es tut mir leid. Ich werde ihn jetzt mitnehmen. Verabschiede dich von ihm und behalte ihn so in Erinnerung, wie er war.“

„Lass ihn hier! Lass ihn leben! Wir können ihn noch retten!“, jammerte Victor hysterisch, obwohl er wusste, wie sinnlos es war. Mit durchgeschnittener Kehle war einfach mal game over, da biss die Maus keinen Faden ab. Und es hatte noch nie irgendein Reaper mit sich verhandeln lassen.

„Es steht nicht in meiner Macht, ihn leben zu lassen. Ich entscheide nicht über Leben und Tod, Victor. Ich begleite nur die Seele hinüber.“

„Nein! Sascha! Anatolij!“

Aber die Augen seines Freundes waren zugefallen. Und Sascha spurlos verschwunden. Mit Wasserrändern in den Augen schaute Victor zu der erstarrt herumliegenden Rotkappe hinüber. Einen Moment lang dachte er ernsthaft darüber nach, die Pistole zu ziehen und sie umzulegen. Aber damit hätte er sich nur selber unnötig Arbeit gemacht, weil er dann eine neue hätte finden müssen.
 

Die Rotkappe saß wieder mit einer funktionierenden Bann-Marke in ihrem Käfig, wo sie hingehörte. Und Anatolij war von einem Krankenwagen abgeholt worden. Victor hatte die Leiche nicht einfach verschwinden lassen wollen, wie andere zuvor. Er wollte, daß Anatolij anständig beerdigt wurde. Natürlich würden dadurch auch Ermittlungen wegen Mordes eingeleitet werden. Aber das nahm er ebenso in Kauf wie den Umstand, daß die Rotkappe als Täterin nicht gefunden wurde, denn die hatte er ja mitgenommen. Und bei Gott, er würde dafür sorgen, daß sie die Rotkappe auch niemals wieder finden würden. Die würde bis an ihr armseeliges Lebensende versklavt bleiben. Er hatte sich dafür extra einen dreifach gesicherten Bann angelesen. Den würde nichtmal eine verdammte Rotkappe wieder abschütteln können. Victor zog ein überraschtes Gesicht, als er Vladislavs unverkennbaren Sportauspuff draußen vor der Tür hörte und kurz darauf auch die Tür aufging und wie erwartet der blonde Kerl mit dem tätowierten rechten Arm herein kam. Trotz der zunehmenden Kälte lief er immer noch ärmellos herum. „Hi. Was tust du denn hier im Lager?“, grüßte Victor ihn trübsinnig.

„Ich wollte bloß mal nach dem Rechten schauen. Wie ich sehe, hast du die Rotkappe bereits wieder! Sehr ordentlich.“

„Hattest du da etwa Bedenken?“, wollte Victor müde wissen. Die Sache mit seinem Freund Anatolij nahm ihn immer noch heftig mit. Daher war er gerade nicht übertrieben euphorisch am Werk.

„Und selber?“, hakte Vladislav nach.

„Ich wollte nach Iwan und Petr sehen. Jemand sollte sich ja um die Leichen kümmern, nicht wahr?“

Der Boss nickte zufrieden. Sein Vize dachte echt mit. „Ach ja, ich wollte dir sagen, daß dein Freund Gontscharow dieser Tage einem Herzinfarkt erlegen ist“, fiel ihm dann ein.

Victor behielt seine Mimik im Griff. „Wie bedauerlich.“

„Wieso bedauerlich?“

„Weil der Mistkerl mir zuvor gekommen ist. Ich hatte so gehofft, ihn eines Tages selber erledigen zu dürfen.“

Vladislav zog ein verstehendes Gesicht. „Du hattest also wirklich eine offene Rechnung mit dem Mann.“

„Nagut, sagen wir, 'bedauerlich' war vielleicht die falsche Wortwahl meinerseits“, meinte der Gestaltwandler finster und lehnte sich mit verschränkten Armen an einen leeren Käfig, da ihm aufging, daß das Gespräch länger dauern würde.

„Erzähl mir davon.“

„Warum? Er ist tot, ich bin zufrieden, alles ist gut.“

„Du bist mein verdammter Vize, Victor!“, herrschte der Boss ihn so böse an, daß der erschrocken riesengroße Augen bekam. „Du siehst alles und weißt alles! Du hast mehr Macht in deinen Händen, als mir lieb sein kann! Aber ich bin gezwungen, dir mehr zu vertrauen als jedem anderen, egal ob ich das will oder nicht! Ich will wissen, was du treibst oder nicht treibst! Was ich absolut nicht brauchen kann, ist ein unberechenbarer Stellvertreter! Und ich werde dir wohl nicht sagen müssen, was ich mit dir machen müsste, wenn du dich verdächtig benimmst!“

Victor sah ihn missmutig an und schnaubte. Er war gerade nicht in der mentalen Verfassung für einen gesalzenen Anpfiff. „Wieso hast du mich denn zum Vize ernannt, wenn du mir nicht über den Weg traust?“

„Ich trau dir über den Weg.“

„Wieso drohst du mir dann, wenn du mir traust?“

Vladislav verengte sauer die Augen, als er darauf keine schlagfertige Antwort mehr wusste und ein böser Blick ihm als letzte Waffe blieb. Dieser kleingeratene Kerl war wirklich nicht zu unterschätzen. Da musste man sich schon was mehr Mühe geben, wenn man ihm gewachsen sein wollte. „Du hältst dich für ein findiges Schlaumeierchen, was? Gut, du hast Recht. Es war nicht mein Anliegen, dir zu drohen oder dich in Zweifel zu ziehen. Aber ich hasse deine hartnäckigen Widerworte. Gewöhn dir das ab!“

„Und ich hasse es, rein prophylaktisch bedroht zu werden. Daran solltest du auch mal was ändern, wenn unsere Zusammenarbeit funktionieren soll! Wenn ich dein Vize bin, dann erwarte ich, nicht behandelt zu werden wie deine kleinen Bauernopfer da draußen, die du wie ein Marionetten-Spieler durch die Gegend schickst. Und als Berater ist es ja wohl meine Aufgabe, mit dir zu diskutieren.“

„Du bist nicht mein Berater. Du bist nur ausführendes Organ“, würgte Vladislav die Streiterei wütend ab. „Und jetzt spuck´s aus! Was war mit Gontscharow?“

„Eine persönliche Meinungsverschiedenheit. Er hätte mir an der Universität fast den Magister-Abschluss vermasselt.“

„Hör zu, ich bin alles andere als glücklich mit Gontscharows Tod. Er war unser Gegner, ja, aber ich kannte ihn gut und konnte ihn einschätzen. Jetzt, wo er tot ist, wird ein anderer seinen Platz einnehmen. Jemand, den ich nicht kenne und den ich nicht einschätzen kann. Das Spiel ist unberechenbarer geworden. Die Karten wurden neu gemischt. Und das gefällt mir gar nicht“, erklärte Vladislav düster, stellte die Ellenbogen auf ein paar hochgestapelte Kisten wie auf einen Stehparty-Tisch und faltete die Hände unter dem Kinn. „Ich weiß nicht, ob du mit Gontscharows Tod was zu schaffen hattest oder nicht. Nachweisen kann ich es dir nicht. Aber FALLS du was damit zu tun hattest, kann ich dir nur raten, sowas in Zukunft zu unterlassen.“

„Erinnerst du dich, was ich dir gerade über prophylaktische Drohungen gesagt habe?“

Der Boss schmunzelte böse. „Erinnerst DU dich, was ich dir gerade über ständige Widerworte gesagt habe, mein Freund?“

„Pflichten gehen auch immer mit Rechten einher, Vladislav. Du kannst mich nicht zu deinem offiziellen Vize ernennen und mir keinerlei Handhabe lassen. Wie soll ich arbeiten, wenn du mich nicht lässt? Und wie soll ich einem Vertrauen gerecht werden, das du mir gar nicht entgegen bringst? Du solltest nochmal nachdenken, was du dir unter einem Vize-Chef überhaupt vorstellst. Ein Stellvertreter ist mehr als nur ein Henker. Und ich habe keine Lust, nur dein Henker zu sein.“

„Hast du Gontscharow getötet oder nicht?“

Victor sah ihn lange mürrisch an. Denn seufzte er augenrollend. „Ja, okay, hab ich! Zufrieden?“

Vladislav nickte ernst. „Wenigstens ehrlich bist du. Aber mach sowas nie wieder! ... Mit wem hast du noch so alles offene Rechnungen?“

„Jetzt keine mehr.“

„Dann verzieh dich jetzt. Um Iwan und Petr kümmere ich mich selber. Schönen Tag noch.“

Victor stemmte sich wortlos vom Käfig weg und verließ das Lager. Ausnahmsweise mal ohne Widerworte. Wenn Vladislav ihn von der Arbeit freistellte, war er da gerade nicht böse drüber.

Vladislav schüttelte den Kopf, während er ihm hinterher sah. Schließlich wurde ein Lächeln daraus. Auch wenn der Gestaltwandler eine größere Klappe hatte, als gesund für ihn war, war er doch genau das, was Vladislav brauchte. Er war sehr zufrieden mit seiner Entscheidung, ihn zum Stellvertreter geschlagen zu haben, und hatte eine hohe Meinung von ihm. Victor machte seine Sache verdammt gut. Um so besser, wenn man es ihm nichtmal nachweisen konnte. Das zeigte die Qualität seiner Arbeit. Und Vladislav vertraute ihm. Aber das gab er nicht offen zu. Er durfte Victor nicht zu sehr loben, sonst würde er diesen lebhaften Kameraden vielleicht nicht mehr lange unter Kontrolle haben.
 

Victor betrat seine Wohnung, ließ die Tür hinter sich ins Schloss scheppern und stapfte steif wie ein Zombie auf sein Sofa zu. Er setzte sich nicht, er brach eher halb zusammen. Und dann schossen die Tränen in seine Augen, die er jetzt schon viel zu lange zurückgehalten hatte. Anatolijs Tod hatte ihm endgültig den Rest gegeben. Wenn seine skrupellose Karriere bei der Motus, inclusive seiner Mordaufträge, ihn bisher nicht klein gekriegt hatte, Anatolijs Tod hatte es geschafft. Er bereute alles. Sein ganzes Leben. Er bereute es, Anatolijs jemals begegnet zu sein. Er bereute es, das Angebot der Geheimpolizei angenommen zu haben. Und darüber tröstete ihn auch seine Rache an Gontscharow nicht im Mindesten hinweg.

Verzweifelt holte er mit der einen Hand seine Pistole und mit der anderen sein Handy heraus und wägte zwischen beidem ab. Sollte er sich erschießen? Es wäre ganz einfach. Ein kurzer Druck auf den Abzug und er hatte keine Probleme mehr. Keine Gewissensbisse mehr. Keine mörderischen Pflichten mehr. Oder sollte er mit jemandem reden und weiter leiden? Aber mit wem? Mit wem? Ein Gedankenblitz ließ ihn zu seinem kleinen Hosentaschen-Telefonbuch greifen, denn eingespeichert hatte er zur Sicherheit keine einzige Nummer. Und er wählte. Er würde es erstmal mit Reden versuchen.

„Good Afternoon?“, meldete sich eine männliche Stimme, die Victor zunächst nicht einordnen konnte. Klang man am Telefon denn so anders?

„Ruppert?“, fragte er nach.

„No, it´s not Ruppert. He´s busy at the moment. Can I help? Or shall he call back later?“

„Who are you?“, wollte Victor vollauf verwirrt wissen.

„Urnue.“

Victor ging auf, daß er hier offenbar gerade den Genius Intimus von Ruppert am Telefon hatte. Aber zu einer längeren Plauderei mit ihm kam er nicht mehr, denn da ging auch schon jemand wütend dazwischen, meckerte herum und riss das Telefon hörbar an sich, um selber ranzugehen.

„Who is it?“, meldete sich Ruppert endlich selbst.

„H-Hey ... it´s Akomowarov calling“, erwiderte der Gestaltwandler vorsichtig. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er hier gerade das Richtige tat. Aber dann kam er zu dem Schluss, daß ihm ja immer noch die Option eines Kopfschusses übrig blieb, wenn es doch nicht mehr anders ging.

„Victor! Bist du gut wieder in Moskau angekommen? Wie geht es dir?“, wechselte Ruppert übergangslos ins Russische. Er hatte schon gemerkt, daß sie beide mit seinem Russisch besser klar kamen als mit Victors Englisch. „Entschuldige, ich war eben auf Toilette. Mein Schutzgeist weiß eigentlich, daß er nicht an mein Handy gehen soll.“

„Schon gut. Ich bin froh, daß er rangegangen ist. Nochmal hätte ich vermutlich nicht angerufen. Urnue heißt er also?“

„Ist alles in Ordnung? Du klingst so niedergeschlagen.“

„Ich habe einen langjährigen Freund verloren.“

„Oh, das tut mir leid“, gab der Finanz-Chef ehrlich betroffen zurück. „Ja, ich fürchte, davor sind auch wir Schwerverbrecher nicht gefeit. Sowas geht selbst uns nahe.“

„Ruppert, ich muss mit dir reden. Hast du Zeit?“

„Sicher.“

Victor hörte, wie Ruppert seinen Genius Intimus wegschickte, damit sie ungestört plaudern konnten. „Hör mal“, begann er dann, als er die Aufmerksamkeit des Bankers wieder hatte. „Ich weiß, du bist kein Fan von Vladislav und der Motus. Darum bist du der einzige, dem ich da auch nur ansatzweise vertrauen kann. Und ich brauche deine Hilfe. Diese Bürde, die ich hier trage, kann ich nicht allein tragen. Ich schaff das nicht mehr. Ich brauche dich.“

„Um Himmels Willen, was ist denn los, Vitja?“ Ruppert war akut vom offiziellen 'Victor' in die Koseform 'Vitja' gewechselt, um vertrauter zu klingen.

„Ich arbeite nicht für den Geheimdienst, okay? Das will ich gleich klarstellen. Ich arbeite nicht für die! Aber ich komme ursprünglich von da. Die haben mich in die Motus geschickt, damit ich sie aufdecke.“ Jetzt sprudelte alles aus ihm heraus. „Und dann haben sie mich fallen lassen und mich in der Motus mich selbst überlassen. Ich werde genauso gesucht wie jeder andere von euch. Aber ich habe nach wie vor den Ehrgeiz, die Motus durch den Schornstein zu jagen. Ich habe es bis zum Vize geschafft und habe jetzt genug Vollmachten und Zugang zu allem möglichen, um die nötigen Beweise zusammen zu tragen. Aber das wird noch seine Zeit dauern. Bis dahin muss ich meine Rolle als Vize weiter spielen.“

„Vitja ...“, murmelte Ruppert überrumpelt. Schon wieder diese Verniedlichung.

„Ich brauche einen Rückenhalt, solange ich meine Rolle noch spielen muss. Einen Freund. Jemanden, der Bescheid weiß und bei dem ich mich ausheulen kann, aber der die Klappe hält und mich schützt.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

„Ruppert ... wirst du mir helfen?“

Immer noch Schweigen. Sie war furchtbar dunkel und bedrückend, diese Stille.

„Ruppert?“, fragte er nochmal. Als die Antwort immer noch auf sich warten ließ, griff Victor wieder nach der Pistole und begann damit herum zu spielen. Sah nicht so aus, als hätte er vom Finanz-Chef der Motus Hilfe zu erwarten. Also doch der Heldentod. „Ich meine, wenn dir das zu riskant ist, dann ... Ich versteh das ... Vladislav ist ein gefährlicher Mann und ... weißt du ...“ Seine Stimme begann zu zittern. „Ich habe nichts mehr zu verlieren, darum bin ich nicht stark. ... Wenn man ... wenn man jemanden hat, der einem wirklich viel bedeutet, und den man unter allen Umständen beschützen will, dann macht einen das unglaublich stark. ... aber so jemanden hab ich nicht. ... Ich hab überhaupt niemanden mehr.“

„Victor!“

„Was?“

„Ich helfe dir, Victor“, versprach der ältere Mann ernst. „Gib nicht auf. Ich helfe dir.“
 

[Ende von 'Mord-Semester' > Fortsetzung in 'Die Motus']


Nachwort zu diesem Kapitel:
Drama ... ^^°
So, ihr Lieben, jetzt hab ich euch auch dieses Kapitel noch draufgedrückt und damit ist Schluss.
Diese Linie endet hier. ^^

Die Fortsetzung 'Die Motus' ist bereits online, lest gern mal rein.
Vielen Dank an alle, die bis hier her fleißig mitgelesen haben. ^_^)/ Komplett anzeigen

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