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Der fremde Freund

von

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Milly Ashford, Part I

Die Inszenierung beginnt mit Musik.
 

Es ist eine Sinfonie aus metallischen Klängen, misstönend und schrill, tödlich und dem Tode geweiht. Schwert und Revolver, im Kampfe vereint. Der Revolver liegt schwach in der Hand des Tyrannen und verweht schon bald mit einem kläglichen Schrei im Wind. Mit dem Revolver verklingt auch die Sinfonie, doch die Stille währt nicht lang.
 

Der Tyrann weicht einen Schritt zurück. Eine neue Melodie ertönt, die tödliche Melodie eines Schwertes, das in dunkler Bestimmung die Luft durchbohrt. Das Schwert senkt sich über den Tyrannen. Der Tyrann lächelt.
 

---
 

Lelouch vi Britannia, der vermeintlich tote Thronfolger des Heiligen Britannischen Reichs, ächzte unter dem Gewicht ihrer Einkaufstüten. Milly wusste, dass sie vielleicht etwas Mitleid für ihn aufbringen sollte, aber dafür war sie viel zu amüsiert. Ich sollte ihn öfter dazu verdonnern, mich beim Einkaufen zu begleiten, dachte sie. Dann habe ich was zu lachen und er bekommt das Training, das er so bitter nötig hat. Eine eindeutige Win-Win-Situation!

Bei jedem anderen Jungen hätte sie vermutet, dass dieser seine Erschöpfung nur vortäuschte, um auf diese Weise sein Missfallen kundzutun, aber bei Lelouch war es anders. Lelouch würde sich niemals absichtlich eine Schwäche anmerken lassen, eher im Gegenteil – Lelouch bemühte sich in Gegenwart anderer immer, möglichst selbstsicher und besonnen aufzutreten. Und weil er schon von Natur aus eine unvergleichliche Würde und Arroganz ausstrahlte, war es umso amüsanter, ihn in diesem Zustand zu sehen.

„Hey, Lelouch!“ Milly versuchte halbherzig, ein Grinsen zu unterdrücken, und scheiterte auf ganzer Linie. „Beeil dich mal ein bisschen, wir haben noch viel zu tun, wenn wir mit dem Einkaufen fertig sind! Außerdem ist es nicht mehr weit bis zum nächsten Schreibwarenladen, also stell dich nicht so an!“

„Schreibwarenladen?“ Sie meinte, milde Entrüstung aus seiner Stimme herauszuhören. “Aber wir waren doch eben erst in einem Schreibwarenladen!“

„Ich weiß, ich weiß!“ Milly winkte ab. „Aber die haben da keine guten Poster, leider. Hatten sie noch nie. Deshalb müssen wir jetzt noch mal in einen anderen Laden.“

„Milly.“ Jetzt konnte sie deutlich spüren, wie sehr er sich darum bemühte, ruhig und sachlich zu bleiben. „Wenn du von Anfang wusstest, dass es im ersten Schreibwarengeschäft nicht alles gibt was du brauchst, warum sind wir dann nicht gleich in das zweite gegangen?“

„Na, ist doch klar! Weil ich für die Flyer buntes Papier brauchte, und das ist nirgendwo besser und günstiger als dort! Wenn ich morgen für den Vorsitz des Schulrats kandidiere, muss alles perfekt sein. Und jetzt hör auf, unnötige Fragen zu stellen und geh weiter!“ Sie tänzelte um ihn herum, legte ihm beide Hände ins Kreuz und schob ihn vor sich her wie ein Auto, das mitten auf der Straße liegen geblieben war. Er ließ es über sich ergehen, als sei es das Normalste auf der Welt und lief tatsächlich etwas schneller, hörte aber nicht auf, unnötige Fragen zu stellen.

„Ich verstehe trotzdem nicht, warum du wegen dieser Wahl so einen Aufstand machst. Es steht doch sowieso schon längst fest, dass du gewinnen wirst, weil es niemand wagt, sich ernsthaft mit dir anzulegen. Warum willst du dann noch Flyer verteilen, Luftballons, Girlanden und Poster aufhängen und Muffins backen und verschenken? Das ist doch alles völlig überflüssig.“

„Es ist nicht überflüssig“, widersprach Milly. „Ich möchte nicht, dass im Nachhinein der Eindruck entsteht, ich hätte die Wahl nur gewonnen, weil ich die Enkelin des Rektors bin, verstehst du? Unsere Mitschüler sollen wissen, dass ich mir ernsthaft Mühe gebe und dieses Amt auch verdiene.“

„Das kann ich durchaus nachvollziehen, aber ich bin trotzdem der Meinung, dass du es ein wenig übertreibst. Was mir eigentlich egal wäre, wenn du mich nicht in diese Sache mit reingezogen hättest.“

„Du musst das positiv sehen“, sagte Milly fröhlich, einer spontanen Eingebung folgend. „Da du mein Stellvertreter sein wirst, musst du natürlich auch von Anfang an in alle Vorgänge involviert werden.“

„Wie bitte?!“ Lelouch so abrupt stehen, dass Milly von hinten gegen knallte. Die Tüten rutschten ihm aus den Händen; ein Regenbogen aus Luftballons, Buntpapier und anderen Bastelutensilien ergoss sich über den Asphalt.

„Lelouch!“ Milly bückte sich sofort, um ihre Einkäufe wieder einzusammeln. „Pass doch auf! Wir können von Glück reden, dass der Boden so trocken ist!“

„Glück!“ Milly schaute auf und erblickte einen Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verheißen konnte. Tatsächlich hatte sie ihn selten so aufgebracht gesehen, aber sie hatte mit so einer Reaktion gerechnet und außerdem vor langer Zeit gelernt, sich von seiner finsteren Miene nicht abschrecken zu lassen.

„Wie kommst du darauf, dass ich dein Stellvertreter sein möchte?“ Eine nicht ganz unberechtigte Frage.

„Nun, ich hielt es für eine gute Idee.“

„Eine gute Idee? Und wann hattest du vor, mich darüber zu in Kenntnis zu setzen?“

„Das habe ich doch gerade getan!“ Aber ich hätte vielleicht noch etwas länger damit warten sollen.

„Ja, aber du stellst es so hin, als wäre es längst beschlossene Sache, dabei hast du mich noch nicht einmal nach meiner Meinung gefragt!“

„Also gut, Lelouch, wenn ich die Wahl gewinne - möchtest du mein Stellvertreter sein?“

„Nein!“

„Warum nicht?“

„Das ist irrelevant!" Leicht überheblich fügte er hinzu: "Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen.“

Milly presste entschlossen ihre Lippen aufeinander. Sie starrten einander an, er wütend, sie unnachgiebig. Mehrere Sekunden vergingen, allmählich schien sich Lelouch zu beruhigen. Seine Wut wich kühler Gleichgültigkeit und Milly begriff, dass sie sofort handeln musste. Sie musste ihn überzeugen, solange er emotional aufgewühlt war, ansonsten hatte sie kaum eine Chance, ihn kleinzukriegen.

„Lelouch, ich tue das nicht, um dich zu ärgern, sondern weil ich es gut mit dir meine.“

Schweigen.

„Du bist jetzt schon seit zwei Jahren Schüler an der Ashford-Akademie und du verhältst dich immer noch genauso abweisend gegenüber den anderen wie früher. Ich bin die einzige, die dich etwas besser kennt, alle anderen Schüler lässt du nicht an dich heran. Du kapselst dich total ab, was bei deiner Vergangenheit ja auch verständlich ist, aber so geht es einfach nicht weiter. Lelouch, ich weiß, dass du trotz deiner harten Schale ein guter Mensch bist, ich merke es jedes Mal, wenn ich dich zusammen mit Nunnally sehe. Meinst du nicht auch, dass es langsam an der Zeit ist, Freunde zu finden?“

Schweigen.

„Freunde finden ist am einfachsten, wenn man gemeinsamen Hobbys nachgeht, und weil die Sport-Clubs für dich nicht in Frage kommen, hielt ich den Schulrat für eine gute Alternative. Es wäre für uns beide ideal, weil wir uns gut ergänzen. Ich bin kreativ und kann andere Menschen für Ideen begeistern und du-„

„-ich bin so blöd, mich von dir herumkommandieren zu lassen.“

„-du hast ein Auge fürs Detail und ein großes planerisches Talent. Du weißt, dass ich ziemlich chaotisch bin, ich brauche jemanden, der mir bei der Organisation hilft und der über alles den Überblick behält, und dafür kann ich mir niemand besseres als dich vorstellen.“

„Versuchst du gerade, mich um den Finger zu wickeln?“

„Ein bisschen.“ Milly lächelte zaghaft. „Aber du weißt, dass ich Recht habe.“

Er schwieg wieder. Milly konnte unmöglich einschätzen, was gerade in ihm vorging, sein Gesichtsausdruck war absolut nichtssagend. Schließlich seufzte er leise.

„Milly, warum interessiert dich das überhaupt?“

„Soll das ein Witz sein? Weil wir Freunde sind!“ Ein unruhiges Flackern huschte über sein Gesicht. Millys Lächeln wurde breiter. „Weil ich mich für dich verantwortlich fühle. Du und deine Schwester, ihr seid Gäste in unserem Haus, und deshalb ist es meine Pflicht, mich um euch zu kümmern. Ihr seid wie kleine Geschwister für mich.“ Dieser Vergleich schien unangenehme Assoziationen bei ihm auszulösen. Sie konnte nur vermuten, dass er gerade an seine anderen Halbgeschwister dachte, aber sie redete trotzdem weiter. „Wenn du es nicht für dich selbst tust, dann tu es für Nunnally. Ich bin mir sicher, sie würde sich sehr freuen, wenn ihr großer Bruder ein paar neue Freunde findet.“

Das war der Todesstoß. Sie wusste es in der Sekunde, in der sie das letzte Wort aussprach – Nunnallys Glück war für Lelouch immer wichtiger gewesen als sein eigenes, das hatte sie inzwischen begriffen.

„Wenn du willst, dass ich dein Stellvertreter werde ...“ Lelouch sprach langsam und bedächtig.

„Ja?!“

„Dann nimm mir gefälligst ein paar dieser Tüten ab! Ich habe keine Lust, alles alleine zu tragen!“

Milly hob mit einem Lachen drei Tüten vom Boden auf und versuchte dabei, sich ihren Triumph nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

Ha! Die Nuss, die ich nicht knacken kann, muss erst noch gefunden werden!

Milly Ashford, Part II

Die Zeit des Redens ist vorüber.

Die Zeit der Zweifel ist vorüber.

Die Zeit des Zauderns ist vorüber.

Die Zeit des Sterbens ist gekommen.
 

Das Schwert singt sein tödliches Lied.

Der Tyrann lächelt dem Tod entgegen.

Die Welt hält den Atem an.
 

---
 

Es geschah ungefähr eine Stunde später, als sie auch ihre restlichen Einkäufe erledigt hatten und gerade auf dem Weg zur Straßenbahn waren. Milly erklärte in aller Ausführlichkeit, was sie alles tun würde, wenn sie erst einmal Schulrätin wäre – und natürlich auch, was Lelouch als ihr Stellvertreter zu tun hätte – während Lelouch schicksalsergeben neben ihr herlief und sich damit abmühte, hinter ihren euphorisch großen Schritten nicht zurückzufallen.

„-und dann sollten wir ein jährliches Schulfest veranstalten! Ich bin mir noch nicht über den Termin und das Programm sicher, aber ich habe schon eine Menge Ideen. Wenn wir das alles per Mind Map zusammentragen, werden wir bestimmt-“ Ihr Redeschwall brach jäh ab, als sie um eine Ecke bog und auf der gegenüberliegenden Straßenseite vier Teenager erblickte, die auf zwei andere Jungen im Teenageralter einprügelten. „Was zum-“ Milly setzte schon automatisch einen Schritt nach vorn, blieb aber stehen, als Lelouch ihr von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte. Er betrachtete die Szene ausdruckslos. „Japaner“, sagte er leise.

„Was?“

„Die Jungen, die dort verprügelt werden, sind Japaner.“

Natürlich. Der Anblick hatte sie so sehr abgelenkt, dass ihr die wüsten Beschimpfungen der Schläger gar nicht aufgefallen waren, aber jetzt, wo sie darauf achtete, waren sie klar und deutlich zu hören. „Ihr dreckigen Elevens!“ Einer der Angreifer hatte sein Opfer zu Fall gebracht und trat ihm nun immer wieder in den Bauch, wobei er bei jedem Tritt das Wort „Elevens“ wiederholte.

„Elevens! Elevens, Elevens, Elevens!“

Milly spürte, wie etwas in ihrem Inneren gefror.

Auch der andere Eleven war inzwischen zu Boden gefallen und wurde von seinen Angreifern bespuckt, verhöhnt und mit Tritten traktiert.

„Warum unternimmt denn keiner was?“ Sie blickte sich auf der Straße um – sie war zwar nicht besonders belebt, aber auch nicht völlig leer; sechs weitere Passanten liefen auf dem Bürgersteig entlang und schenkten der Szene nicht die geringste Beachtung. „Das fragst du noch?“ Lelouchs Lachen war freudlos und rau. „Das sind Japaner – Elevens. Das sagt doch schon alles.“

Lelouchs Worte drangen nur undeutlich zu ihr durch; es war als wäre sie von einem Schleier umhüllt, der seine Worte dämpfte. Nur das „Elevens“-Gegröle der Britannier war klar und deutlich zu hören.

„Halt das mal!“ Bevor sie überhaupt wusste, was sie tat, hatte sie ihm auch schon ihre Einkäufe in die Hand gedrückt, nur einen einzigen Beutel behielt sie für sich selbst. Sämtliche Verhaltensregeln, die sie von ihrer Mutter als junge Dame lernen hatte lernen müssen, waren vergessen, als sie wie ein wütendes Rhinozeros zur gegenüberliegenden Straßenseite stampfte.

„Hey!“ Sie blieb vor den Teenagern stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften. “Was tut ihr da?!” Aus der Nähe kamen ihr die Schläger plötzlich viel älter und größer vor als vorher, doch ihre Wut erstickte die Furcht bereits im Keim.

„Hä?“ Die Angreifer drehten sich alle gleichzeitig zu ihr um und musterten sie verwirrt, dann bemerkten sie ihre Schuluniform. Einer von ihnen, offenbar der Anführer, grinste auf eine Art, die er anscheinend für cool hielt.

„Hallo Kleine! Wir räumen hier nur ein bisschen auf.“

„Das sehe ich! Wie wär’s, wenn ihr die beiden jetzt in Ruhe lasst und verschwindet?“

Das aufgeblasene Grinsen entwich aus dem Gesicht des Anführers wie Luft aus einem Ballon.

„Was bildest du dir ein? Nur, weil du ein Mädchen bist, heißt das noch lange nicht-“

„Wenn ihr nicht sofort verschwindet“, rief Milly aufgebracht, „schreie ich so laut, dass euch davon noch wochenlang die Ohren klingeln!“

„Jetzt krieg dich mal wieder ein! Das sind nur Elevens!“

„Ihr sollt verschwinden!“ Milly griff in ihren Beutel und zog eine Pistole heraus. Es war keine echte Pistole, sondern eine harmlose Wasserpistole, die auf den ersten Blick aber ziemlich echt aussah – und Milly wollte diesen Idioten nicht die Gelegenheit bieten, einen zweiten Blick darauf werfen zu können.

Sie hob die Pistole und begann, wie eine Verrückte zu kreischen. Ihre Schreie schienen Wunder zu wirken - alle Passanten, die bisher völlig teilnahmslos an ihnen vorbeigelaufen waren, blieben wie angewurzelt stehen und warfen ihnen entsetzte Blicke zu. Zuerst sah es so aus, als wollten sich die Angreifer gemeinsam auf Milly stürzen, doch die Aufmerksamkeit der vielen Menschen schien sie zu verunsichern und die Art, wie Milly schrie und mit der Pistole herumfuchtelte, zehrte noch zusätzlich an ihren Nerven. Nach einigen Sekunden – Millys Herz schlug so schnell, dass sie hinterher unmöglich einschätzen konnte, wie lange es wirklich gedauert hatte – kamen sie zum dem Schluss, dass es wirklich besser wäre, zu verschwinden. Sie wirbelten alle gleichzeitig herum, als hätte jemand ein geheimes Startsignal gegeben, und rannten davon. Milly wartete, bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwanden, dann hörte sie auf zu schreien und steckte zitternd die Pistole weg. Sie fühlte sich so aufgeputscht, dass sie am liebsten laut gelacht hätte und hatte gleichzeitig das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.

Ha! Milly Ashford packt sie alle!

Sie wandte sich den Elevens zu, die gerade dabei waren, sich aufzurappeln, und hielt dem Jungen, der ihr am nächsten war, mit einem Lächeln die Hand hin. Er hatte Nasenbluten und Schürfwunden im Gesicht, weitere Verletzungen konnte sie im Moment nicht erkennen. „Seid ihr in Ordnung? Soll ich einen Krankenwagen rufen? Es tut mir wirklich leid, nur weil ihr Elevens seid-“

Es war ein Fehler, dieses Wort zu verwenden, aber als Milly das begriff, war der Schaden bereits angerichtet.

Noch vor dem Bruchteil einer Sekunde hatten die Jungen sie nur verwirrt angesehen, vielleicht sogar ein wenig erleichtert und dankbar. Diese Emotionen verloschen jedoch unmittelbar, nachdem sie das Wort „Elevens“ ausgesprochen hatte.

„Elevens?!“ Ein leises, bedrohliches Zischen.

„Wir sind keine Elevens!“ Nun um einiges lauter und unverkennbar wütend.

Der Junge schlug ihre Hand weg und stand selbstständig auf.

„Es tut mir leid!“ Milly wich reflexartig vor ihm zurück, die kalte Wut in seinen Augen erschreckte sie mehr als die brutalen Schlägertypen, die sie gerade erst verscheucht hatte. „Es ist nur-“

„Ihr Britannier seid doch alle gleich! Ganz egal, was ihr tut, ihr denkt alle, ihr wärt was Besseres als wir! Wo wir auch hingehen, überall heißt es „Elevens, Elevens, Elevens!“, aber wir sind keine Elevens, wir sind Japaner! Und dieses Land ist nicht Area 11, es ist-„

„Nippon.“

Milly zuckte zusammen, als dicht hinter ihr eine Stimme ertönte, und drehte sich um. Lelouch! Sie hatte ihn in ihrer Aufregung total vergessen, aber jetzt war er plötzlich da. Lelouch trat noch ein paar Schritte nach vorne, sodass er zwischen ihr und den Elevens stand. Fast so, dachte sie in einem überdrehten Anflug von Belustigung, als wollte er mich schützen. Die Elevens – Japaner, korrigierte sie sich in Gedanken – waren anscheinend genauso verdutzt wie sie selbst, doch bevor sie die Gelegenheit hatten, etwas zu sagen, redete er weiter. Millys Verwirrung stieg, denn sie konnte kein einziges Wort verstehen.

Das allerdings schien bei den Japanern anders zu sein. Sie hörten Lelouch aufmerksam zu und schienen alles zu verstehen, auch wenn ihnen ihre Überraschung – und Angst? – immer noch deutlich anzusehen war. Und dann fiel es Milly wie Schuppen von den Augen.

Natürlich! Er spricht Japanisch! Ihre Muttersprache!

Es war so offensichtlich, dass sich Milly wegen ihrer Begriffsstutzigkeit am liebsten in den Hintern gebissen hätte. Sie hatte diese Sprache noch nie in ihrem Leben gehört, weil Britannia den Japanern nach ihrer Niederlage im Krieg verboten hatte, weiterhin Japanisch zu sprechen – genau, wie es ihnen verboten wurde, sich selbst „Japaner“ und ihre Heimat „Japan“ zu nennen. Aber das bedeutete selbstverständlich nicht, dass die Japaner ihre Muttersprache innerhalb der kurzen Zeit einfach vergessen hatten. Und Lelouch kannte die Sprache logischerweise auch noch, weil er sie schon vor der Invasion von Britannia lernen musste, als er und Nunnally als politische Geiseln an Japan verkauft wurden.

Was auch immer Lelouch sagte, es verfehlte seine Wirkung nicht. Schon nach kurzer Zeit traten die Japaner ihren Rückzug an, allerdings drehten sie sich dabei immer wieder um und warfen ihnen unsichere Blicke zu, als könnten sie kaum glauben, was sie gerade erlebt hatten. Nun, das konnte Milly ihnen nachfühlen.

„Wir sollten auch gehen, Milly“, sagte Lelouch. Milly war so durcheinander, dass sie seine Worte zuerst gar nicht registrierte. Mit einem ungeduldigen Seufzen ergriff er ihre Hand und zog sie hinter sich her.

Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass die Einkaufstüten verschwunden waren. „Wo willst du hin? Wir müssen in die andere Richtung! Was hast du mit unseren Einkäufen angestellt?“

„Hmpf, ist das alles, woran du denken kannst? Als würde ich das Zeug wegwerfen und riskieren, dass du mich ein zweites Mal zu einer Einkaufstour mitschleppst. Nein, ich habe schon alles im Taxi abgeladen. Ja, es kam gerade ein Taxi vorbei und ich habe den Fahrer mit einem großzügigen Trinkgeld davon überzeugt, dass es besser wäre, zu warten“, fügte er hinzu, als er ihren Blick bemerkte. „Wir sollten so schnell wie möglich fort von hier. Du hast ziemlich viel Aufmerksamkeit auf dich gelenkt ... wäre doch unschön, wenn meine Identität auffliegt, weil die Polizei die ganze Gegend nach einem Amok laufenden Schulmädchen mit Pistole absucht.“

Dieser Vergleich ließ sie erröten. „Ich wollte doch nur helfen!“

„Ich weiß. Aber es war trotzdem unnötig leichtsinnig. Du hättest dich vorher mit mir absprechen sollen. Uns wäre bestimmt eine sicherere Methode eingefallen, um diese Schlägertypen zu vertreiben, als sie mit Wasserpistolen zu bedrohen. Sei in Zukunft ein bisschen vorsichtiger, wenn du dich unbedingt in solche Streitigkeiten einmischen musst – viele Japaner verhalten sich gegenüber Britanniern nicht minder feindselig als umgekehrt.“

Sie bogen um die Ecke, wo auch schon mit geöffneten Türen ihr Taxi wartete. Lelouch ließ ihre Hand los und bedeutete ihr mit einer Geste, hinten einzusteigen, bevor er schließlich neben dem Fahrer Platz nahm. Die Fahrt verlief schweigend. Keiner von ihnen wagte es, das Thema in Anwesendheit des Fahrers fortzuführen und Milly hatte auch nicht die Nerven, gleich auf solch banale Themen wie Schulfeste umzuschwenken. Erst, als sie 20 Minuten später mit Tüten überladen vor den Eingangstoren der Ashford-Akademie standen, stellte sie die Frage, die ihr unter den Nägeln brannte.

„Die Japaner wirkten ziemlich entsetzt. Was hast du zu ihnen gesagt?“

Ein unwilliger Ausdruck trat in sein Gesicht. „Das musst du nicht wissen.“

„Ich bin aber neugierig.“

„Deine Neugier wird dir eines Tages noch zum Verhängnis werden. Manchmal ist es gesünder, sich nicht überall einzumischen.“

„Lelouch! Du weißt ganz genau, dass ich keine Ruhe gebe, bis du es mir verraten hast. Also gib lieber gleich auf!“

„Vielleicht habe ich ihnen gesagt, dass sie sich besser nicht mit dir anlegen sollten, weil du sie sonst einfach zu Tode quasseln würdest.“

„Lelouch!“ Sie boxte ihm mit einem unterdrückten Lachen spielerisch in die Seite.

„Also gut!“ Der Gedanke "Sei geduldig mit dem nervtötenden, Amok laufenden Schulmädchen!" stand ihm regelrecht auf der Stirn geschrieben. „Um es kurz zu fassen: Ich habe ihnen gesagt, dass sie ihre Zeit nicht damit verschwenden sollen, unschuldige Mädchen anzupöbeln und dass sie stattdessen etwas gegen ihre Besetzer selbst unternehmen sollten, wenn sie wirklich etwas an den Missständen in ihrem Land ändern wollen.“

„Lelouch!“ Ihre gerade erst wiedererlangte gute Laune war dahin. „Bist du wahnsinnig? Wie kommst du nur auf die Idee, sie gegen Britannia aufzustacheln? Du weißt genau, wie brutal das Militär die Widerstände der Japaner immer wieder niederschlägt, du schickst diese Jungen doch nur in den sicheren Tod!“

Sie starrte ihn an und hatte für einen kurzen Augenblick das grauenhafte Gefühl, dass er gleich in schallendes Gelächter ausbrechen würde – aber der Augenblick währte nicht lang, nach einem Wimpernschlag war er vorüber und plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie sich das vielleicht nur eingebildet hatte.

Als Lelouch sprach, war seine Stimme eindringlich und ruhig. „Milly, glaubst du wirklich, ich hatte das ernst gemeint? Ich habe bloß irgendwas dahergesagt, um sie zu schockieren und von dir abzulenken, das ist alles. Diese Kinder würden sich sowieso niemals gegen Britannia auflehnen. Sie hatten genug Mumm, um ein einzelnes Mädchen zu bedrängen, das war aber auch schon alles.“

„Wirklich? Aber ich dachte ... es ist nur ... ich weiß, dass du deinen Vater hasst, und ...“ Milly strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um das Durcheinander aus ihrem Kopf zu vertreiben. Dann atmete sie einmal tief durch und lächelte. „Du darfst mir nicht noch einmal so einen Schrecken einjagen, hörst du?“

„Ich werde mir Mühe geben, obwohl ich das gleiche auch von dir verlangen könnte.“ Lelouch erwiderte ihr Lächeln; es war das erste offene Lächeln, das sie an diesem Tag und seit langer Zeit von ihm zu sehen bekam.

„Versprochen?“

„Ich verspreche es.“
 

Milly wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Lelouch absolut miserabel darin war, Versprechen einzuhalten.

Shirley Fenette

Das Schwert verfehlt das Herz des Tyrannen. Ein stummer Schrei zeichnet sein Gesicht.
 

Der Schmerz nistet sich in seinem Körper ein. Schmerz, so qualvoll und lieblich, so betäubend und erlösend, so willkommen. Der Tyrann umarmt den Schmerz. Er hat lang genug auf ihn gewartet.
 

Der Befreier vergießt seine Tränen, der Tyrann vergießt sein Blut, die Zuschauer vergießen ihren Hass. Der Tyrann atmet ein, ein, ein. Sein Atem geht schwer, doch er atmet weiter, atmet all den Schmerz und den Hass in sich hinein, weiter, weiter ins Verderben.
 

Der Tyrann stürzt in die zitternden Arme des Befreiers, federleicht und schwer zugleich. Er hebt seine Hand, als wollte er die Tränen fortwischen, die er nicht sehen kann, die niemand sehen kann, die niemand sehen darf. Er murmelt die Worte des Abschieds, die niemand hören darf.
 

Das Schwert, Todbringer und Stütze zugleich, gleitet aus dem Körper des Tyrannen. Es singt die letzten vom Blute verunreinigten Töne seines Lieds. Der Tyrann, eine Marionette mit gekappten Fäden, taumelt in den Abgrund.
 

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Lelouch Lamperouge, der Junge, den sie liebte, aber nicht kannte, starrte in den Nachthimmel.

Gedankenversunken wie sie war, bemerkte sie den dunklen Umriss erst, als zwischen ihnen nur noch ein Abstand von drei Metern herrschte. Shirley erstarrte auf der Stelle, damit sie nicht in ihn hineinrennen musste. Am liebsten wäre sie sofort umgekehrt, doch dafür war es zu spät, denn er hatte die Schritte hinter sich längst bemerkt und sich bereits zu ihr umgedreht; das Gesicht ein blasser Schemen in der Dunkelheit. Shirley blinzelte überrascht, dann erkannte sie ihn endlich – und ihr Herz vollführte einen aufgeregten Hüpfer.

Oh nein. Ohneinohneinohnein. Nicht er!

Der Drang, umzudrehen und wegzulaufen, war mächtig.

Der Drang, auf ihn zuzugehen, mit ihm zu reden, ihn zu umarmen, zu küssen, zu atmen, zu schmecken, zu fühlen, war übermächtig.

Ja, die Anziehung, die er auf sie ausübte, war mächtig, gefährlich und verwirrend. So verwirrend.

Dabei kannte sie ihn doch gar nicht. Himmel, sie konnte sich an keines ihrer angeblich gemeinsamen Erlebnisse erinnern! Und doch schlug ihr Herz jedes Mal wenn sie ihn sah so wild, dass es schmerzte.

Seine Lippen bewegten sich. Er musste irgendetwas zu ihr gesagt haben.

„... Wie bitte?“

„Shirley, was tust du hier um diese Zeit? Es ist fast 22 Uhr!“

„Ich habe nur einen Spaziergang gemacht.“

„Ah ...“

Sie ging einen kleinen Schritt auf ihn zu, dann noch einen, vorsichtig wie eine Tänzerin auf einem Drahtseil. Nun konnte sie sein Gesicht besser erkennen, das schwache Mondlicht reichte gerade aus, um den besorgten und fragenden Ausdruck darauf auszumachen.

„Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich ... zum Nachdenken“, fügte sie hinzu.

Die Besorgnis wurde zu Mitleid, und es war seltsam schmerzhaft, das zu sehen, denn sie kannte diesen Blick nur zu gut. Seit dem Tod ihres Vaters vor wenigen Tagen wurde sie von den anderen ständig so angesehen und es war furchtbar. So furchtbar, dass sie glaubte, irgendwann daran ersticken zu müssen. Sie wollte auf keinen Fall, dass Lelouch sie so ansah, sie musste ihn ablenken.

„Ich könnte dich eigentlich das gleiche fragen. Was tust du hier um diese Uhrzeit, ganz allein?“

Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich ... zum Nachdenken.“

Shirley errötete, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass er diese Worte nicht gewählt hatte, um sie aufzuziehen, und dass er es wirklich ernst meinte.

„Worüber hast du denn nachgedacht?“ Die Frage stolperte aus ihrem Mund, bevor sie richtig darüber nachdenken konnte, und sie bereute es augenblicklich. Es war zu aufdringlich, zu neugierig, zu privat-

„Wenn du die Macht hättest, die Welt zu verändern, würdest du sie nutzen? Auch auf die Gefahr hin, dass die Veränderungen, die du auslöst, alles nur noch schlimmer machen?“

„... Huh?“ Shirley war so perplex darüber, dass er ihr tatsächlich geantwortet hatte, dass die eigentliche Antwort sie heillos überforderte. „Äh ... wie kommst du denn auf so etwas?“

Das schiefe Lächeln wurde noch schiefer. „Eine Hausaufgabe für meinen Philosophie-Kurs.“

Sie glaubte ihm nicht. Lelouch schien zu wissen, dass sie ihm nicht glaubte. Keiner von ihnen sprach es an.

„... Ich muss erst darüber nachdenken.“

Er starrte sie nur an.

„Also, ich, ähm ...“ Shirley gab das einfältige Stottern auf und zwang sich, ruhig durchzuatmen. Lelouch hatte ihr eine ernste Frage gestellt. Also gut, dann würde sie eben darüber nachdenken und ihm eine ernste Antwort geben. So einfach war das.

Also: Wenn sie die Macht hätte, die Welt zu verändern, würde sie es dann tun? Im Prinzip ähnelte es der Frage, die sie schon seit Tagen beschäftigte, allerdings in viel bescheideneren Maßstäben. Shirley wollte nicht unbedingt die Welt verändern. Sie wollte nur ihren Vater zurück. Und sich über ihre Gefühle für Lelouch endlich Klarheit verschaffen. Eigentlich wollte sie nur das. Eigentlich.

Aber jetzt, da sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte ... fiel ihr auf, dass es noch viele andere Dinge gab, die sie gern ändern würde, wenn sie könnte. Der Gedanke „Rache an Zero“ spukte ihr kurz doch den Kopf, aber ... nein. Shirley verstand nicht genau, warum, doch obwohl sie wusste, dass Zero für den Tod ihres Vaters verantwortlich war, sträubte sich irgendetwas in ihr gegen diese Vorstellung. Sie wollte sich nicht an Zero rächen. Sie konnte ihn nicht einmal hassen. Aber stoppen wollte sie ihn trotzdem, oder genauer gesagt: Sie wollte, dass Zero keinen Grund mehr dazu hatte, zu kämpfen und unschuldige Dritte wie ihren Vater in den Tod zu reißen. Sie wollte, dass die Elevens ein freies und zufriedenes Leben führen konnten, und sie wünschte sich das nicht nur für die Elevens, sondern auch für die Britannier und alle anderen Menschen.

Ja, so naiv und verklärt es auch war, Shirley wünschte sich eine friedliche Welt, und wenn sie die Macht hätte, solch eine Welt zu erschaffen, dann würde sie diese Macht auch nutzen, das wusste sie instinktiv. Sie hatte bisher nur nie darüber nachgedacht, weil es ihr völlig abstrakt und schlichtweg unmöglich erschien.

„Ich glaube nicht, dass man diese Frage mit Logik und rationalen Argumenten beantworten kann“, sagte sie leise. Sie wusste nicht, wie lange sie nachgedacht hatte; vielleicht eine Minute, vielleicht zehn, vielleicht auch zwanzig, aber Lelouch hatte die ganze Zeit über still und geduldig abgewartet und hörte ihr nun aufmerksam zu.

„Man muss dabei auf sein Herz hören, und auf sein Gewissen“, fuhr sie fort. „Und ...“

Es machte sie ein wenig nervös, seine Aufmerksamkeit so stark auf sich gerichtet zu wissen, aber sie atmete noch einmal tief durch und schob das Gefühl beiseite. „Wenn ich so eine Macht hätte, würde ich sie auch nutzen.“

„Und wenn du damit alles nur verschlimmerst?“

„Das wäre schrecklich“, räumte sie ein. „Und ich müsste mein ganzes Leben lang diese Schuld mit mir herumtragen. Aber ich glaube, dass ich dieses Risiko trotzdem eingehen würde. Weil jeder, der etwas verbessern will, zuerst Veränderungen wagen muss. Von allein verbessert sich nichts. Und ich würde lieber mit guten Absichten ein Risiko eingehen und dabei scheitern, als ein Leben lang zu bedauern, dass ich eine Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ.“

„Ich verstehe“, sagte er nur. Dann: „Ich glaube, du hast recht. Danke.“

Und dann lächelte er auf einmal, und das Lächeln verschlug Shirley die Sprache. Sein Lächeln war wie ein Sonnenstrahl, der unverhofft durch eine dunkle Wolkendecke brach, so einzigartig, so erwärmend ... und Shirley begriff mit plötzlicher Klarheit, dass sie ihn liebte. Sie verstand nicht, warum sie ihn liebte, aber es spielte keine Rolle. Entscheidend war, dass sie ihn liebte, entscheidend war sein Lächeln, das allein ihr galt. Sie hatte ihn noch nie zuvor auf diese Weise lächeln sehen, und das Wissen, dass sie es geschafft hatte, Lelouch zum Lächeln zu bringen - Lelouch, der sonst immer so verschlossen und ernst war, Lelouch, der genau wie sie eine erdrückende Last mit sich herumschleppte - erfüllte sie mit einem inneren Frieden, der sogar den Schmerz über den Tod ihres Vaters linderte. Ja, sie hatte es geschafft, ihn zum Lächeln zu bringen und ihrer beider Kummer für einen kurzem Moment zu mildern, und sie schwor sich, dass sie Lelouch in Zukunft noch oft so ein Lächeln schenken würde, dass sie alles tun würde, um ihm beizustehen und ihm ein wenig dieser geheimnisvolle Bürde, die er trug, abzunehmen. Sie öffnete den Mund und-

„Es ist kalt hier draußen und schon sehr spät. Du solltest dich jetzt besser auf den Weg machen, wenn du die Schlafsäle vor der Nachtruhe erreichen willst. Ich bringe dich hin.“

-und all der Mut, den sie zusammengekratzt hatte, stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Er berührte sie leicht am Ellenbogen als er sich in Bewegung setzte, und sie taumelte wie in Trance hinterher. Der Weg zu den Schlafsälen war nicht weit, sie legten ihn schweigend zurück. Lelouch verabschiedete sich vor dem Haupteingang von ihr, dankte ihr noch einmal und wünschte ihr eine gute Nacht. Sie blieb noch vor der Tür stehen und sah ihm hinterher, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwand und von der Dunkelheit verschluckt wurde.
 

...

...

...
 

Morgen werde ich es ihm sagen. Morgen.

Rivalz Cardemonde

Die Inszenierung endet mit Musik.
 

Es ist eine Sinfonie aus widerstreitenden Klängen, schrecklich und schön, freudig und herzzerreißend. Jubel und Klage, einander überlappend. Der Tyrann liegt in den Armen der Schwester, schwach und gebrochen, ein Lächeln auf den bleichen Lippen als letzter Nachhall eines entsetzlichen Geheimnisses. Das Leben rinnt der Schwester aus den Armen, und mit dem Leben des Tyrannen verlischt auch der Hass. Nur die Trauer bleibt im Herzen der Hinterbliebenen zurück.
 

Die Augen des Tyrannen fallen zu.

Der Tyrann atmet aus, ein letztes Mal.

Die neue Welt atmet ein, ein erstes Mal.
 

Der Himmel ist strahlend blau.
 

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Lelouch vi Britannia, der Herrscher der Welt, lachte.

Es war ein hartes, grausames Lachen, bar jeder Menschlichkeit und Freude. Rivalz hörte dieses Lachen jeden Tag – im Fernsehen, im Radio, oder persönlich, wenn Lelouch eine seiner öffentlichen Propaganda-Veranstaltungen oder Hinrichtungen abhalten ließ. Und wenn Rivalz die Augen schloss, um all das Chaos, all das Grauen und all den Hass dieser verirrten Welt für einen kurzen Moment auszublenden, dann hörte er es ebenfalls. Das Gelächter hatte sich so tief in sein Bewusstsein eingebrannt, dass Rivalz glaubte, es niemals wieder vergessen zu können.
 

Es gab Zeiten, da war Rivalz überzeugt, dass alles nur ein schrecklicher Albtraum sein konnte.

Dass er bald aufwachen und sich über seine eigene obskure Fantasie wundern würde. Dass dieses Gefühl jedoch nicht lange anhalten würde. Dass er den Albtraum schon nach kurzer Zeit abschütteln würde, so wie er es als Kind auch immer getan hatte, und in seinen normalen Schulalltag zurückkehren würde. Lelouch würde nicht länger der machtgierige Dämonenkönig sein, sondern sein altbekannter bester Freund – unnahbar und verschlossen, doch im Grunde seines Herzens ein guter Mensch. Shirley würde noch am Leben sein. Milly würde Schulfeste organisieren und die Mitglieder des Schulrats genussvoll herumkommandieren. Und seine einzige Sorge würde darin bestehen, wie er all seine Hausaufgaben bewältigen und Milly zu einem Date überreden sollte.

Ja ... Es gab Zeiten, da war Rivalz überzeugt, dass alles nur ein schrecklicher Albtraum sein konnte.
 

Wieder einmal ließ Lelouch eine öffentliche Hinrichtung durchführen. Rivalz stand inmitten der Zuschauer; das Gemurmel der Menschen um ihn herum erinnerte ihn an das gehetzte Brummen eines Bienenstocks, in dessen Nest irgendjemand unverhofft hineingestochen hatte. Die Todgeweihten – Männer, Frauen und Kinder – wurden gewaltsam in einer Reihe aufgestellt. Einige weinten, andere schrien, manche bettelten, doch die meisten von ihnen starrten teilnahmslos zu Boden. Die Gewehrschüsse rissen sie alle gleichsam aus dem Leben. Die Welt tat ihr Missfallen mit einem kurzen Augenblick empörter Stille kund. Rivalz betrachtete die zerfetzten Leiber, ihre bizarr verdrehten Gliedmaßen, das Blut, das in schweren Pfützen das Pflaster benetzte – und dachte an Shirley.

Lelouch lachte.

Und Rivalz wusste, dass dies alles kein Albtraum sein konnte.

Denn seine Fantasie wäre niemals im Stande gewesen, sich ein derartiges Schreckensbild auszumalen.
 

Warum?

Warum hat Lelouch mir nie erzählt, dass er ein britannischer Prinz war?

Warum nutzt er seine Macht jetzt dazu, die Welt zu tyrannisieren?

Warum bringt er unschuldige Menschen um, deren einziges Verbrechen darin bestand, sich kritisch über ihn zu äußern?

Warum musste Shirley sterben?

Wie konnte es nur so weit kommen?

Wie konnte sich der Junge, der jahrelang mit mir befreundet war, zu so einem Monster entwickeln?

Ich habe so viele glückliche Erinnerungen an ihn. Wir haben zusammen gelacht, versnobte Adlige bei Schachspielen gedemütigt, über Milly geschimpft, bei Schularbeiten betrogen. Ich habe immer geahnt, dass es irgendetwas gab, das Lelouch belastete, aber ich hatte geglaubt, dass ihm diese Momente genauso viel bedeuteten wie mir. Dass seine Freunde ihm etwas bedeuteten. Ist das alles von Anfang an nur eine Lüge gewesen?

Hatte dieser Junge, der im Sportunterricht nicht einmal imstande war, einen 5-minütigen Ausdauerlauf zu überstehen, schon vor Jahren geplant, die Welt eines Tages mit seinem Terror ins Chaos zu stürzen?

Und wie konnte ich so blind sein, das nie zu bemerken?

Bin ich tatsächlich ein solcher Vollidiot? Der naive, durchschnittliche Rivalz, zu blöd, seinen besten Freund zu durchschauen?

Lelouch, hast du eigentlich eine Ahnung, wie sehr du mir und den anderen mit deinen Taten das Herz gebrochen hast?

Interessiert es dich überhaupt?

Ich muss es herausfinden.
 

Vielleicht war es Wahnsinn, ihn anzurufen, aber welche Rolle spielte das noch, wenn die ganze Welt im Wahnsinn versank? Rivalz wäre lieber zum Palast gegangen, um persönlich mit Lelouch zu sprechen – auch wenn die Vorstellung, dem Dämonenkönig Auge in Auge gegenüberzustehen ungleich furchterregender war als die Vorstellung, nur durch ein Telefon zu ihm zu sprechen, erschien es ihm als angemessener – doch es war angesichts der hohen Sicherheitsmaßnahmen unmöglich zu Lelouch vorzudringen. Also hatte er nach einer anderen Möglichkeit suchen müssen, und etwas besseres als die Nummer von Lelouchs altem Telefon anzuwählen war ihm noch nicht eingefallen. Ohne sich großartige Hoffnungen zu machen, tippte er die Nummer in das ausgeliehene Telefon ein – er wollte nicht, dass Lelouch ihn anhand der Rufnummernanzeige schon im Voraus erkennen konnte und das Gespräch vielleicht deswegen nicht entgegen nahm – und wartete.

Das Telefon klingelte; dreimal, viermal, fünfmal. Allein die Tatsache, dass es überhaupt klingelte, war bemerkenswert. Rivalz hatte befürchtet, dass Lelouch sein altes Telefon weggeworfen oder zumindest ausgeschaltet hatte, aber dem war offensichtlich nicht so.

In den ersten Sekunden wartete er voller Anspannung. Nach dem siebten Klingen stellte sich die Resignation ein.

Er wird natürlich nicht rangehen. Das ist eine schwachsinnige-

„Hier spricht der alleinige Herrscher Lelouch vi Britannia! Wer ist da?“

Der unerwartete Klang der harschen Stimme jagte ihm einen solchen Schreck ein, dass er das Telefon beinahe fallen ließ. Rivalz stand wie erstarrt in seinem Zimmer und glotzte hilflos auf das Telefon. Er ist also doch rangegangen.

Lelouch sprach weiter: „Nun, eigentlich sind die Möglichkeiten sehr begrenzt, wenn man bedenkt, wie wenig Leute diese Telefonnummer kennen. Milly, bist du das?“

Ein leises Lachen.

„Nein, Milly hätte mehr Schneid und wäre direkt zu mir gekommen, statt sich feige hinter einem Telefon zu verkriechen. Kallen und Nunnally kommen auch nicht infrage, es sei denn, sie haben es irgendwie zustande gebracht, ein Telefon in meine Kerker zu schmuggeln. Shirley? Ah, zu Shirley würde es perfekt passen, sie hat in ihrem ganzen Leben niemals den Mumm aufgebracht, ihre Wünsche zu verwirklichen und sich stattdessen mit halbherzigen Kompromissen zufrieden gegeben. Aber das ist das Problem: Leider, leider ist Shirley nicht mehr am Leben und scheidet somit ebenfalls aus. Bleibt also nur noch ... Rivalz. Du bist es, nicht wahr? Wieso sagst du nichts? Hat es dir die Sprache verschlagen?“

Das hatte es tatsächlich. Rivalz wusste nicht, was schlimmer war: Die Tatsache, dass Lelouch ihn so schnell durchschaut hatte, oder die Art, wie er mit ihm redete ... wie ein Kind, das seinen Spielkameraden beim Versteckspiel viel zu schnell gefunden hatte und ihn nun auf grausame Weise verspottete.

Aber er musste etwas sagen. Er musste.

„Hallo Lelouch.“

„Hallo Rivalz!“ Die Stimme klang lässig, beinahe fröhlich, und doch irgendwie kalt. „Warum verrätst du mir nicht, weshalb du angerufen hast? Es würde das Gespräch beschleunigen. Du musst wissen, meine Zeit ist knapp bemessen.“

Ja, sicher, der „alleinige Herrscher“ Lelouch vi Britannia hat natürlich viel zu tun.

Rivalz atmete einmal tief durch, um seine Nerven zu beruhigen.

„Ich will nur eines wissen“, sagte er, und er war äußert erleichtert darüber, dass er seine Stimme trotz seines inneren Aufruhrs einigermaßen unter Kontrolle halten konnte. „Hat dir unsere Freundschaft jemals etwas bedeutet – oder war sie von Anfang an nur eine Lüge?“

Für ein paar Sekunden – oder waren es Herzschläge? – oder Minuten? – herrschte Stille.

Dann brach Gelächter aus dem Telefon, so freudlos, gehässig und bösartig, wie er es schon von den Hinrichtungen kannte. Rivalz schloss die Augen, sank kraftlos auf seinen Stuhl und hielt das Telefon verkrampft in der Hand, während er stumm abwartete, bis das Gelächter verebbte.

„Rivalz, deine Einfältigkeit amüsiert mich immer wieder aufs Neue“, sagte die Stimme schließlich.

„Beantworte einfach meine Frage. Bitte.“

Ein leises Seufzen. „Die Menschen sind so leicht zu manipulieren ... sie verlassen sich lieber auf ihre Gefühle als auf ihren Verstand. Und sie glauben lieber das, was sie glauben wollen als das, was logisch ist. Rivalz, unsere „Freundschaft“ hat nie existiert. Sie war eine Illusion, aber diese Illusion kam uns beiden sehr gelegen, nicht wahr? Du brauchtest einen Freund, der deine jämmerliche Existenz aufwertete und ich brauchte eine Tarnung, die mich vor meinen Feinden schützte. Ich spielte den Schüler Lelouch Lamperouge, und dafür brauchte ich „Freunde“ wie dich, Milly und Shirley. Ihr wart Werkzeuge für mich, und jetzt, da ich euch nicht mehr brauche, habe ich kein Interesse mehr an euch – wofür du dankbar sein solltest.“

„Du hast Shirley umgebracht, nicht wahr? Suzaku hatte solche Andeutungen gemacht, aber ich wollte es nicht glauben-“

„Shirley“, sagte die Stimme sanft, „wusste zu viel und hat mit ihrer Neugier meine Pläne gefährdet. Ich musste sie aus dem Weg räumen.“

„Und Rolo?“

„Rolo hat sich als ein äußerst nützliches Werkzeug erwiesen, doch leider haben Werkzeuge die Angewohnheit, zu verschleißen, wenn sie zu starken äußeren Einflüssen ausgesetzt sind.“

Das war es also. Die Antwort. Es gab keinen tieferen Sinn hinter Lelouchs Tyrannei, keine Überraschung, die im letzten Moment alles besser machte, keine Hoffnung. Es gab nur Lelouch und die unzähligen Menschen, die er in den Tod gerissen hatte. Es machte ihn krank.

„Ich verstehe.“

„Oh, Rivalz, ich bezweifle, dass du jemals wirklich in der Lage sein wirst zu verstehen.“

„Vielleicht hast du Recht.“ Nun lachte Rivalz selbst; er lachte, obwohl ihm eigentlich nach Weinen zumute war. „Ich habe nie verstanden, was in dir vorgeht, Lelouch. Wenn ich ein guter Freund gewesen wäre, hätte ich besser aufgepasst, aber ich war kein guter Freund. Ich war einfach nur ein Versager, und es gibt nichts, das ich mehr bereue als das. Wenn ich nicht so blind gewesen wäre, hätte ich vielleicht noch etwas ändern können, aber dafür ist es jetzt zu spät, nicht wahr, Lelouch?“

„... Es ist schon lange zu spät.“

„Lebwohl, Lelouch.“ Rivalz brach die Verbindung ab, bevor Lelouch noch etwas erwidern konnte. Er hatte gehofft, dass es ihm ein wenig Genugtuung verschaffen würde, den Spieß ausnahmsweise einmal umzudrehen und das Telefonat unverhofft zu beenden, so wie Lelouch es immer getan hatte. Aber er empfand keine Genugtuung.

Er hatte auch gehofft, dass Lelouchs Antworten ihn ein wenig von seinem Kummer erlösen würden, aber das taten sie nicht. Die Gewissheit, einen Freund verloren zu haben, war nicht angenehmer als die Ungewissheit darüber, das erkannte er nun. Rivalz fühlte sich weder erlöst, noch erleichtert. Er empfand nur Erschöpfung ... und Trauer.

Lebwohl, Lelouch. Ich werde nicht länger um dich trauern ... aber um den Menschen, der du hättest werden können.
 

Und Lelouch vi Britannia, der Herrscher der Welt, lachte nicht. Er begrub das Gesicht in seinen zitternden Händen und seufzte.

Es tut mir leid, Rivalz ... Es tut mir leid. Aber es ist besser so.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Yumegatari
2012-01-26T21:29:13+00:00 26.01.2012 22:29
Und da war das letzte Kapitel >-<
Ich fand das Kapitel wirklich sehr traurig. Die Art wie Lelouch mit Rival geredet hat, war furchtbar. Ich konnte mir richtig vorstellen, wie der Arme sich gefühlt haben muss. Nach all dem, was geschehen war sowas zu hören, ist schlimm. Nicht einmal bis zum Schluss wusste Rival nur annähernd über alles bescheid. Hat einen ihm sehr guten Freund verloren. Oder vielleicht auch wirklich nie kennen gelernt. Einer deiner letzten Sätze, dass er quasi nie einen anderen Lelouch kennen lernen konnte, macht mich auch nachdenklich.
Nicht desto trotz ein sehr passender Abschluss! Die Story ist in sich durch und durch stimmig und hat einen interessanten Leitfaden mit Lelouchs Untergang. Auch deine Ausdrucksweise ist sehr fließend lesbar. Ich finde, du hast dich gut mit der Thematik auseinander setzen können. Es wirft einige interessante Fragen auf. Hat Spaß gemacht zu lesen ^^b
Von:  Yumegatari
2012-01-16T20:20:25+00:00 16.01.2012 21:20
Bis jetzt hat mich dieses Kapitel am meisten beeindruckt *_* Es ist ausdrucksstark geschrieben und lässt einem zum Nachdenken anregen. Die Einleitung in das Kapitel hat mich dieses Mal besonders traurig gemacht TT Aber ebenso das Gespräch zwischen Shirley und Lelouch. Ich finde, du hast ihre Gefühle gut beschrieben, wie sie sich fühlen musste, nachdem sie ihre Erinnerungen an Lelouch vergessen hatte. Und wie sie auf das ernste Thema reagiert hat, fand ich süß und schön zugleich. Irgendwie zeigt es auch ein wenig, dass sie Verständnis für Lelouch und seine Taten haben konnte. Es ist schade, dass er sie nicht damit belasten wollte und sich ihr deshalb nicht anvertrauen konnte. Gleiches gilt natürlich auch bei den anderen >-< Auch die Stimmung, die in der Luft herrschte, fand ich sehr gut beschrieben! Freu mich schon auf den nächsten Part ^.^
Von:  Yumegatari
2012-01-16T20:00:19+00:00 16.01.2012 21:00
Auch Millys zweiter Part gefällt mir gut! Ihre übereilte Reaktion passt zu ihr. Ich konnte mir richtig vorstellen, wie sie auf die anderen losgeht xD Mit diesem Kapitel merkt man aber auch zugleich, was für ein ernstes Thema hinter der Geschichte steckt. Besonders an Lelouch merkt man es natürlich. Beim Lesen kam in mir eine bedrohende Spannung auf. >-< Auch der Schreibstil ist schön, weiter so x3
Von:  Yumegatari
2012-01-16T19:49:44+00:00 16.01.2012 20:49
Hallo ^^
Nachdem ich die Beschreibung deiner FF gelesen hatte, wusste ich, dass ich sie auch gerne lesen wollte. Denn ich mag die 3 auch wirklich sehr x3 *alle knuff*
Zu dem ersten Part: Ich finde es sehr herzlich, wie Milly und Lelouch miteinander umgehen. So wie wir die Präsidentin und ihren Vize halt lieben und kennen xD Auch ihre Dialoge haben mir gefallen, das hat einfach zu ihnen gepasst. Außerdem finde ich Millys Gedanken, die kursiv erscheinen, auch sehr passend und erheiternd für die Geschichte ^^
Von:  Tonja
2012-01-10T19:46:08+00:00 10.01.2012 20:46
Hi,
du hast Recht, es gibt viel zu wenig über die Drei.
Wobei ich vor allem Milly interessant finde. ;)
Daher freue ich mich schon wirklich auf den nächsten Part.
LG Tonja


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