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Yoru no tenshi

Engel der Nacht
von

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Süße Fünfzehn

Chaos pur!

Natsuki Nagoya schreckte hoch. Es war zwei Tage vor Ende der Sommerferien und sie hatte das Gefühl, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben. Angestrengt dachte sie nach, dann auf einmal fiel es dem Mädchen siedend heiß ein. Sie hatte noch keine einzige ihrer Hausaufgaben erledigt!

Ruckartig setzte Natsuki sich im Bett auf, sodass ihr einige Strähnen des grasgrünen Haars ins Gesicht fielen. Sie schälte sich aus der Decke und sprang zum Fenster hinüber, um den Vorhang aufzuziehen. Für einen Moment schloss das Mädchen, von der Helligkeit geblendet, die braun-grünen Augen, dann schaute sie sich im Zimmer um. Wo zum Teufel hatte sie ihre Schulbücher die Ferien über noch mal hin verbannt?

Natsuki kniete auf den Boden und beugte ihren Kopf hinunter, sodass sie unter das Bett sehen konnte. Reihenweise Kisten mit Büchern, Brettspielen und anderem Kram stapelten sich dort, jedoch von ihren Hausaufgaben gab es keine Spur. Das Mädchen richtete sich wieder auf und schlug den Kopf an der Bettkante an. Mit verzogener Miene hielt sie sich mit der Hand gegen die Stirn. Ging heute denn wirklich alles schief?

Überall im Zimmer schaute Natsuki nach, doch ihre Schulsachen konnte sie einfach nicht finden. Sie lagen nicht im Regal und auch nicht auf dem Schreibtisch, nicht hinter der Kommode oder unter der Couch. Verzweifelt knallte das Mädchen die Schrankschublade zu.

Dann öffnete sich ihre Zimmertüre mit einem leisen Klicken. Eine Frau, ungefähr Ende Dreißig, stand mit einer Tasse Kaffee in der Hand im Rahmen. Sie hatte langes, kastanienbraunes Haar, das mit Lockenwicklern hochgerollt war, und gleichfarbige Augen, die gerade ein wenig verdutzt dreinblickten. Die Frau trug einen pinken Morgenmantel, der ihre schlanke Figur betonte. Ihr Name war Marron Nagoya, sie war Natsukis Mutter.

„Was ist denn los, Liebes?“, fragte sie nun erstaunt und nippte an ihrem Kaffee.

„Meine- Hausaufgaben!“, zeterte die Tochter. „Ich kann sie nicht finden- Ich hab nur noch zwei Tage Zeit- Oh nein!“ Sie musste erst mal nach Luft schnappen.

„Beruhige dich“, Marron lächelte. „Hast du nicht etwas vergessen?“

„Meine- Hausaufgaben...?“, fragte Natsuki unsicher. Was sollte das? Nun ließ sie sich langsam auf ihren Schreibtischstuhl sinken.

„Das ist es nicht“, die Mutter musste vergnügt kichern. Wie ein kleines Schulmädchen. Ihre Tochter verdrehte die Augen.

„Deine Hausaufgaben hast du doch schon diese Woche erledigt, zusammen mit Aoko“, erklärte Marron. Aoko ging in die gleiche Klasse wie Natsuki und war außerdem ihre beste Freundin. Schon seit der Grundschule waren die beiden Mädchen unzertrennlich. „Und übrigens habe ich die schon längst in deine Schultasche gepackt“, fuhr ihre Mutter fort. Aha. Darum hatte sie die Hausaufgaben nicht finden können. Das war mal wieder typisch!

„Denk doch mal nach...“, meinte Marron verschwörerisch, doch Natsuki schüttelte den Kopf. Im Moment war ihr nicht sehr nach Nachdenken.

„Du hast heute Geburtstag!“ Die Mutter stellte den Kaffee auf dem Tisch ab und drückte ihre Tochter fest an sich. „Alles Gute zum Fünfzehnten, mein Schatz!“ Mühsam zwängte das Mädchen sich wieder aus der Umklammerung.

„Schon gut, Mom!“

„Entschuldige“, Marron musste grinsen. „Ich vergesse ständig, wie groß du jetzt schon bist.“ Dann wandte sie sich zum Gehen. „Ich richte Frühstück, ja? Komm einfach, wenn du fertig bist.“ Die Zimmertür wurde wieder zugezogen.

Geburtstag... das war es also gewesen. Das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Natsuki musste grinsen. Wie konnte sie nur ihren eigenen Geburtstag vergessen? Dann fiel es ihr wieder ein. Sie hatte heute Nacht einen dieser Träume gehabt...

Manchmal hatte das Mädchen sonderbare Träume. Reale Träume. Merkwürdige Träume. Sie spürte es oft am Tag danach, wenn sie wieder einen dieser Träume gehabt hatte. Dann war ihr ein wenig schwindelig und sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Es kam nicht sehr oft vor, doch seit Natsuki denken konnte, hatte sie schon diese Träume. Ihre Eltern und auch ihre Freunde wussten nichts davon. Sie würden sie ins Irrenhaus bringen.

Diese Träume waren voll mit Bildern. Bildern, so real, wie man es nicht glauben konnte. Natsuki nannte sie, wenn sie darüber nachdachte, ihre „eigenen Stummfilme“. Jedes Mal, nachdem sie wieder so einen Traum gehabt hatte, fielen ihr die Bilder ein. Dann bekam das Mädchen so einen Drang, diese schönen Bilder, manchmal waren sie einfach phantastisch, festzuhalten.

Dafür hatte sie ihren Skizzenblock. Er war schon ganz voll von diesen Bildern. Anfangs hatten sie noch ziemlich amateurhaft und stumpf ausgesehen, doch im Laufe der Jahre hatte Natsukis linke Hand sich zu einer Künstlerhand entwickelt. Der Skizzenblock war dem Mädchen sehr wichtig, wie für andere vielleicht ein Tagebuch. Manchmal, wenn sie unglücklich war oder erschöpft, blätterte sie darin und schaute sich die festgehaltenen Szenen aus ihren Träumen an. Da gab es zum Beispiel einen Garten, die Erdkugel, einen Palast... An bestimmten Tagen, wenn ihr danach war, zeichnete Natsuki auch Menschen. Viele verschiedene Menschen. Von einigen besaß sie nur ein Exemplar, andere kamen sehr oft vor. Das war auch ein Grund, niemandem von den Träumen zu verraten. Es war doch nicht normal, immer von denselben Personen zu träumen, obwohl man die noch nie zuvor gesehen hatte, oder? Und wenn einem die Menschen dann noch bekannt vorkamen...

Zu diesem Zeitpunkt bezog sie die merkwürdigen Träume auf ihren „Fluss der Ideen“. Ja, zu diesem Zeitpunkt.

Nun holte Natsuki den Block aus ihrer Schachtel unter dem Bett hervor. Sie musste unbedingt das Bild aufzeichnen, das sie nun im Gedächtnis hatte.

Das Zeichnen gab der Fünfzehnjährigen Kraft. Es war wie eine Befreiung. Die Bilder blieben solange in ihrem Bewusstsein haften und bedrängten sie, bis sie sie zu Papier brachte. Natsuki setzte den Bleistift an und lenkte ihn geschickt über die weiße Fläche.
 

Eine halbe Stunde später betrachtete sie nachdenklich das Bild. Ein junges Mädchen, vielleicht ungefähr in ihrem Alter oder ein bisschen älter, war darauf zu sehen.

Sie hatte langes, blondes Haar, das mit einer roten Schleife zu einem wehenden Pferdeschwanz zusammengebunden war. Außerdem trug das Mädchen eine Art rot-weißen Yukata und dazu passende, weiße Stiefel. Auf ihrer Brust prangte ein golden schimmerndes Kreuz. Mit violett-farbenen Augen blickte sie Natsuki direkt und entschlossen an.

Das Mädchen stand auf einem Hausdach und wurde vom Vollmond beschienen.

Natsuki hatte sie schon ein paarmal gezeichnet, also auch schon ein paarmal von ihr geträumt. Dieses Bild war aber deutlich klarer als die Vorherigen. „Ich sollte einmal Illustratorin werden“, überlegte sie laut. Seltsam war es aber schon. Das Mädchen sah so aus wie... nein. Die Fünfzehnjährige schüttelte energisch den Kopf. Das war nicht möglich.

Schließlich verstaute Natsuki den Skizzenblock wieder in ihrer „Schatztruhe“. Dort lag noch ein weiterer Gegenstand drin. Eine Halskette mit einem Anhänger, den man öffnen und etwas sehr Kleines darin transportieren konnte. Das Mädchen öffnete diesen nun und holte einen kleinen, schwarzen Ohrring heraus. Den besaß sie schon so lange, wie sie diese Träume hatte oder einfacher gesagt: Er war schon immer da gewesen.

Einige Male hatte Natsuki ihre Mutter bereits gefragt, woher der Ohrring gekommen sei. Früher hatte Marron ihr die Geschichte erzählt, sie hätte ihn bei ihrer Geburt in der Hand gehalten, aber an Märchen glaubte die Fünfzehnjährige, wie die meisten Teenager, eigentlich nicht mehr.

Auf jeden Fall bedeutete Natsuki das kleine Schmuckstück sehr viel, darum versteckte sie es in ihrem Anhänger, um den Ohrring immer bei sich zu haben. Irgendwann würde ihre Mutter wohl mit der Wahrheit herausrücken...

Jetzt legte das Mädchen sich die Kette um. Schnell wühlte sie einigermaßen ansehliche Klamotten, schließlich musste man an seinem Geburtstag ja etwas Besonderes tragen, aus dem Schrank heraus, zog sich an und spazierte durch die Wohnung hinüber in die Küche.
 

Ihre Mutter und ihr Vater, Chiaki Nagoya, erwarteten sie schon. Im Gegensatz zu Marron hatte dieser doch eine eher auffälligere Haar- und Augenfarbe: Himmelblau. Hinter seiner Lesebrille blickte ein verspieltes, jungenhaftes Gesicht hervor, was aber nicht schlecht aussah, im Gegenteil.

Nun rannte er auf seine Tochter zu und drückte sie fest an sich. „Mein kleines Mädchen ist jetzt schon so groß!“, meinte er stolz, „herzlichen Glückwunsch!“

„Papa!“, genervt rollte Natsuki die Augen und kämpfte sich frei, schon zum zweiten Mal heute. Ihre Eltern mussten doch nicht immer übertreiben, oder? „Ich glaube, du verwechselst da was“, erklärte das Mädchen grinsend. „Ich werde nicht fünf, sondern fünfZEHN.“

Ihr Vater musste lachen. „Jedenfalls habe ich heute deine Leibspeise gemacht: Pfannkuchen. Ich habe mir extra freigenommen, also hoffe ich, dass sie dir schmecken.“ Chiaki war Arzt in der Nagoya-Klinik, dem Krankenhaus seines Vaters, und hatte daher nicht so viel Zeit für die Familie. Deshalb freute Natsuki sich umso mehr, dass er sich heute, an ihrem Geburtstag frei nahm.

„Pfannkuchen zum Frühstück? Echt klasse!“, jubelte sie.

„Und gleich kommt das Beste“, erklärte ihre Mutter aufgeregt. „Dein Geschenk!“

„G-geschenk?“, Natsuki strahlte. Nicht umsonst war der Geburtstag der schönste Tag des Jahres.

„Ja, aber erst nach dem Frühstück“, meinte Marron. „Jetzt essen wir erst einmal etwas.“
 

„Einen Laptop?!?“, Natsuki konnte ihr Glück kaum fassen. „Wow, das ist unglaublich, danke!“

„Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass ihr der gefällt“, erklärte ihre Mutter Chiaki. „Jaja“, er verdrehte die Augen. „Ich geb zu, ich hab keine Ahnung.“

„Schön, dass du es einsiehst“, lachte Marron. Dann wandte sie sich wieder an ihre Tochter. „Wir müssen noch ein paar Sachen vorbereiten, wenn heute Nachmittag die Gäste kommen.“

„Du hast Leute eingeladen?“, fragte Natsuki überrascht, „ich will aber gar nicht...“

„Papperlapapp“, die Mutter schüttelte den Kopf. „Deine Großeltern Takumi und Korron freuen sich schon sehr, dich zu sehen, ebenso wie dein Opa Kaiki, dein Patenonkel Kagura, deine Patentante Miyako und noch ein paar Andere.“

„Was? So viele Leute kommen?“, rief die Fünfzehnjährige entsetzt. „Ich will aber gar keine Party!“ Wütend stampfte sie in ihr Zimmer und schlug die Türe zu.

„Siehst du? Und ich hab dir gesagt, dass ihr eine Feier nicht gefällt!“, meinte Chiaki triumphierend.

Seine Frau verdrehte die Augen. „Teenager“, murmelte sie mehr zu sich selbst. Dann wandte sich Marron wieder an ihren Ehegatten: „In Ordnung, ich gebe zu, ich habe ebenfalls keine Ahnung!“

„Schön, dass du es einsiehst“, spöttelte dieser.

Die Brünette grinste. „Nun...“, begann sie. „Da Natsuki ja als Hilfe für die Partyvorbereitungen wegfällt, wird mir jemand anders zur Hand gehen müssen.“

Chiaki seufzte. „Gut, gut. Ich helfe dir.“

Marron musste kichern.
 

Nachdem Natsuki ihre Zimmertür verschlossen hatte, warf sie sich zornig auf das Bett. Eltern! Wie konnten sie nur so verständnislos sein? Warum mussten sie auch eine Party organisieren, ausgerechnet heute? Heute, wo doch ER anrufen wollte...

Das war so gewesen: Diese Woche war das Mädchen mit Yumi, ihrer Freundin aus dem Kendo-Training, im Momokuri-Freizeitpark gewesen. Dort hatten die beiden Ren-kun kennengelernt, der sich dort Geld durch einen Ferienjob verdiente. Natsuki war sofort hin und weg von ihm gewesen.

Gestern hatte sie dann mit ihrer besten Freundin Aoko zusammen ein Café besucht und war dort Ren-kun zufällig über den Weg gelaufen. Daraufhin hatte dieser Natsuki versprochen, sie heute anzurufen und auf eine Verabredung einzuladen. Das Mädchen war furchtbar aufgeregt- ihr erstes Date!

Und dann kamen ihre Eltern und planten einfach so eine Party! Die Fünfzehnjährige konnte es nicht fassen.

Energisch holte Natsuki das Telefon vom Regal und tippte eine Nummer ein. Nun musste sie erst einmal mit Aoko reden. Nach zwei Tuuut-Geräuschen wurde am anderen Ende der Leitung der Hörer abgenommen.

„Natsuki?“, meldete sich die Stimme der Freundin.

„Ja“, antwortete die Fünfzehnjährige.

Aoko lachte. „Ich wollte dir auch gerade anrufen! Alles Gute zum Geburtstag!“

„Danke“, entgegnete Natsuki halbherzig.

„Und? Wie fühlt es sich an, fünfzehn zu sein?“, fragte ihre Freundin ein bisschen neidisch. Sie selbst musste noch bis zum Dezember warten.

„Gut“, erwiderte das Mädchen trocken.

„Ist alles in Ordnung mit dir? Du hörst dich an, als hättest du gerade erfahren, dass es die nächsten fünf Wochen dauerregnet“, bemerkte Aoko besorgt.

„Das würde mir nicht so viel ausmachen“, erklärte Natsuki. Dann platzte sie heraus: „Meine Eltern haben für heute eine Geburtstagsparty für mich organisiert!“

„Ist das denn schlimm? Das ist doch nett von ihnen“, meinte die Freundin verständnislos. Sie sah absolut nicht ein, was daran nun so tragisch sein sollte.

„Und ob das schlimm ist! Ren-kun... wir wollten uns doch heute verabreden“, jammerte Natsuki verzweifelt.

„Ach so“, überlegte Aoko. „Na dann frag ihn doch, ob du das Date verschieben kannst.“

„Denkst du, das kann ich machen?“, fragte die Fünfzehnjährige unsicher.

„Klar“, bestätigte ihre beste Freundin. „Erklär ihm das mit deinen Eltern. Ren-kun ist ein netter Junge. Er wird das bestimmt verstehen.“

„Danke, Aoko“, Natsuki seufzte erleichtert auf. „Tut mir leid, aber ich muss wieder auflegen. Bei den Vorbereitungen helfen. Du weißt schon.“

„In Ordnung“, entgegnete das Mädchen am anderen Ende der Leitung. „Bis bald.“

„Bis bald“, Natsuki drückte auf den roten Knopf.
 

Es klingelte. Die ersten Gäste waren da. Aufgeregt rannte Natsuki zur Wohnungstüre. „Ich mach auf!“ Im Laufe des Tages hatte sie begonnen, die Idee mit der Party doch nicht so übel zu finden.

Das Mädchen drückte die Klinke hinunter.

Ihr Großvater Kaiki stand auf der Türschwelle. „Natsuki-chan, alles Gute zum Geburtstag!“ Er umarmte seine Enkelin fröhlich.

„Werde ich heute von jedem erwürgt?“, keuchte die Fünfzehnjährige zappelnd. Dann lachte sie. „Schön, dass du gekommen bist, Opa!“

Kaiki hatte, wie sein Sohn Chiaki, blaues Haar, allerdings viel dunkler. Er sah um einiges jünger aus als er eigentlich war, warum er aus Spaß oft behauptete, Chiakis Bruder zu sein. Natsuki schüttelte den Kopf. Sie hatte schon merkwürdige Verwandte.

Bevor sie die Wohnungstür wieder schließen konnte, trudelten auch schon die nächsten Partygäste ein: Kagura Anataki und seine Frau Yashiro, außerdem deren beiden Kinder, Kimi und Daisuke.

Kagura war Sekretär in der Nagoya-Klinik und ein sehr guter Freund von Natsukis Vater. Darum war er auch ihr Patenonkel geworden. Kimi und Daisuke waren Zwillinge und zwei Jahre älter als die Fünfzehnjährige. Trotzdem verstand sie sich sehr gut mit den Beiden, vor allem Kimi und sie waren Herzensfreundinnen.

„Hallo, Natsuki-chan“, wurde das Geburtstagskind von der vierköpfigen Familie begrüßt.

Die Zwillinge ergriffen beide gleichzeitig je eine ihrer Hände und schüttelten sie kräftig.

„Glückwunsch“, sagte Kimi aufgeregt. „Ich kann mich noch genau an meinen fünfzehnten Geburtstag erinnern... das waren Zeiten!“

„Du tust so, als wärst du schon uralt“, stellte Natsuki fest.

„Ach ja... man wird eben nicht jünger“, erklärte die Siebzehnjährige scherzhaft.

„Natsuki-chan“, begann nun Daisuke, „auch heute siehst du wieder mal besonders hübsch... Au!“

Kimi hatte ihrem Bruder leicht in die Rippen geboxt. „Was soll das denn?“, rief er verärgert. Genervt verdrehte die Schwester ihre Augen. „Kannst du das nicht einmal sein lassen?“

„Schon gut, schon gut“, Daisuke seufzte und rieb sich an der schmerzenden Stelle.

Natsuki begleitete die Gäste ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern den großen Tisch aufgestellt und gedeckt hatten. Nun schauten Marron und Chiaki auf und begrüßten vergnügt die Neuankömmlinge.

Währenddessen schlich die Fünfzehnjährige unauffällig in ihr Zimmer, und kramte das Handy leise aus der Jackentasche. Keine neuen Nachrichten. Enttäuscht seufzte Natsuki auf.

„Wartest du auf einen Anruf?“, beim Klang von Kimis Stimme zuckte das Mädchen zusammen. Die Siebzehnjährige trat in das Zimmer und lächelte.

„Ja...“, Natsuki blickte niedergeschlagen auf den Boden. „Wir wollten uns eigentlich heute verabreden.“

„Oh, verstehe“, Kimi setzte sich neben ihre Freundin auf das Bett und nahm ihre Hände. „Hab nur Geduld.“

„Danke“, die Fünfzehnjährige grinste. „Lass uns wieder zu den anderen gehen.“
 

Schon wieder klingelte es. Ruckartig sprang Natsuki von ihrem Stuhl auf.

Mittlerweile waren auch ihre Großeltern mütterlicherseits, Takumi und Korron Kusakabe, eingetroffen und außerdem auch ihre Patentante Miyako Minazuki mit deren Mann Yamato. Miyako war die beste Freundin ihrer Mutter- das war sie schon immer gewesen. Marron erzählte ihr oft, wie Natsukis violett-haarige Tante früher immer eifersüchtig gewesen war, wenn Marron und Chiaki sich getroffen hatten. Bis sie sich schließlich in Yamato verliebt hatte. Schon tausendmal hatten ihre Eltern der Fünfzehnjährigen diese Geschichte erzählt.

Natsuki dachte nach, wer wohl geklingelt haben mochte. Wo doch eigentlich schon alle da waren, wer konnte das denn sein?

Vergnügt rannte das Mädchen zur Wohnungstüre und riss sie auf. Sofort erstarrte sie wie zu Eis und ihre Miene verfinsterte sich. Ein junger Mann lehnte lässig im Türrahmen und zwinkerte der Fünfzehnjährigen zu. Er hatte zerzaustes, violett-farbenes Haar und gleichfarbige Augen, die Natsuki im Moment schelmisch betrachteten. Das Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, wie es arroganter gar nicht aussehen könnte. Die Arme hatte der Besucher vor der Brust verschränkt. Shinji!

Er hob die Hand. „Hallo, meine liebe Natsuki!“

Wütend stampfte diese mit dem Fuß auf und schlug ihm die Tür vor der Nase zu, sodass man das Knallen noch zwei Stockwerke tiefer hören konnte.

„Natsuki-chan? Was ist denn los?“, rief Marron besorgt aus dem Wohnzimmer.

Ruckartig drehte das Mädchen den Kopf in Richtung ihrer Mutter. „Shinji ist los!“, fauchte sie. „Was fällt euch ein, DEN einzuladen?!?“ Verständnislos und zornig blickte die Fünfzehnjährige Marron an, welche gerade ein Tablett mit verschiedenen Kuchen in den Händen hielt und auf sie zukam.

Die Brünette schüttelte den Kopf. „Ach Natsuki-chan, was hast du denn gegen den armen Shinji?“

„Ganz- einfach“, brachte ihre Tochter mit stockendem Atem hervor. Sie war so wütend, dass sie sich ziemlich bemühen musste, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Dann tobte sie los. „Er ist faul, eingebildet, tollpatschig und dumm, schwänzt andauernd sein Basketball-Training, macht immer nur Schwierigkeiten und tut nie das, was man ihm sagt. Dazu kommt, dass er mich so wahnsinnig NERVT!“ Abermals stampfte Natsuki mit dem Fuß auf.

„Beruhige dich, Liebes“, Marron lächelte, stellte ihr Tablett ab und ging zur Türe. „Shinji ist der Sohn von Miyako und Yamato. Wenn wir die Minazukis einladen, können wir doch nicht sagen, dass ihr Sohn nicht kommen darf.“

„Warum denn nicht?“, zeterte die Fünfzehnjährige.

„Ach, Natsuki-chan, manchmal glaube ich, wenn es um Shinji geht, setzt dein Verstand aus“, ihre Mutter verdrehte die Augen.

Wütend blickte Natsuki sie an. „Wie kannst du nur so etwas sagen?“, fauchte sie und verschwand mit lautem Poltern in ihrem Zimmer.

Marron schüttelte den Kopf. Irgendwann würde ihre Tochter hoffentlich begreifen... Die Brünette drückte die Wohnungstürklinke herunter. Shinji stand noch draußen und hob belustigt die Augenbrauen. „Entschuldige bitte“, Natsukis Mutter seufzte. „Ich dachte, mit fünfzehn würde sie sich langsam etwas erwachsener verhalten. Naja... Komm rein.“

Der junge Mann folgte ihrer Aufforderung und nickte. „Sie wird sich niemals ändern...“, er zuckte mit den Schultern. Dann veränderte sich sein schelmischer, jungenhafter Gesichtsausdruck zu einer ernsten Miene. Besorgt blickte er Marron an. „Ich bin nicht zufällig mal hier hereingeweht. Natürlich wäre ich noch erschienen, um meiner Herzdame zum Fünfzehnten zu gratulieren... aber ich muss dir etwas berichten. Nicht jetzt, wo alle Leute da sind. Besser wir bereden das nachher mit Chiaki zusammen unter sechs Augen.“

Die Frau nickte. „In Ordnung. Natürlich bist du solange wie du willst auf unserer Feier willkommen. Vielleicht erbarmt sich Natsuki ja später noch und lässt sich blicken... um Himmels willen, dieses Kind ist so stur wie ein Esel. Sie bringt mich noch um den Verstand.“ Marron atmete einmal tief ein und aus. Dann lächelte sie Shinji wieder freundlich an. „Kann ich dir etwas anbieten? Ein Getränk? Oder etwas zu essen?“

„Ein paar Pfannkuchen hätte ich gerne, falls ihr welche dahabt“, meinte der Violett-Haarige höflich.

„Ich wusste, dass du das sagen würdest“, lachte Marron, „Chiaki hat extra für dich vorhin noch ein paar gemacht.“

„Phantastisch“, erwiderte der junge Mann vergnügt. „Chiakis Pfannkuchen mag ich am liebsten...“
 

Natsuki schnaubte. Nachdem sie sich wie ein Elefant im Porzellanladen aufgeführt hatte, zornig in ihrem Zimmer verschwunden war und die Tür mit zitternden Händen verschlossen hatte, lag sie nun vor Wut kochend auf ihrem Bett, alle viere von sich gestreckt. Was hatte dieser Idiot nur auf ihrer Geburtstagsparty zu suchen? Es war ja nicht so, als wäre er letztes Jahr nicht auf ihrer Feier gewesen... oder vorletztes Jahr... oder vorvor- all die Jahre davor eben! Warum konnte Shinji sie nicht einfach in Ruhe lassen? Er war doch schon achtzehn, sollte er nicht eigentlich besseres zu tun haben als Natsuki auf die Nerven zu gehen? Sich möglicherweise sogar um sein Studium kümmern? Moment. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Shinji war schließlich in Faulheit die Nummer Eins. Wahrscheinlich zog er den ganzen Tag mit irgendwelchen Semester-Kumpels durch die Gassen oder so. Aber... was kümmerte Natsuki eigentlich ihr nerviger Nachbar? Ja, die Minazukis wohnten direkt neben den Nagoyas, beide im siebten Stock des großen Wohnhauses „Orleans“ mitten in der Hafenstadt Momokuri. Das konnte manchmal eine echte Plage sein, zum Beispiel, wenn Natsuki sich auf dem Balkon entspannen wollte und dann gleich Shinji neben ihr stand, auf seinem Balkon. Oder wenn Marron und Chiaki den Abend wegwollten und die Fünfzehnjährige mit den Minazukis zu Abend essen musste. Miyako war ja sehr nett, wenn auch etwas launisch, und konnte dazu noch ziemlich gut kochen, viel besser als Natsukis Mutter, dazu war Yamato ebenfalls immer freundlich gegenüber dem Mädchen... aber dieser Shinji war einfach eine Bazille! Seit sie lebte, konnte Natsuki ihn schon nicht ausstehen.

Nun blickte die Fünfzehnjährige auf das Display ihres Handys. Ren-kun hatte sich noch immer nicht gemeldet. Naja, es war erst vier Uhr nachmittags. Bis zum Abend konnte noch viel passieren.

Auf einmal vernahm das Mädchen ein Klopfen an der Zimmertür. „Natsuki? Bist du drin? Mach bitte auf“, das war die Stimme ihrer Mutter.

„Nein!“, erwiderte Natsuki stur und verschränkte entschlossen die Arme, obwohl Marron das ja nicht sehen konnte.

„Aber Liebes! Das ist doch nicht fair deinen Gästen gegenüber- Opa und Oma, Daisuke und Kimi, deine Paten, sie sind alle gekommen, um mit dir Zeit zu verbringen und ein schönes Fest zu genießen. Da kannst du dich doch nicht einfach die ganze Zeit in deinem Zimmer einsperren.“ Die Fünfzehnjährige verdrehte die Augen. Ihre Mutter hatte Shinji mit Absicht nicht erwähnt.

„Na gut“, murmelte Natsuki schließlich und versuchte, so genervt wie möglich zu klingen.

Sie erhob sich und stampfte betont laut zur Türe. Dann schloss sie auf und öffnete ruckartig. Ihre Mutter und Miyako standen vor dem Mädchen und schauten sie stirnrunzelnd an. „Du hast vielleicht eine Engelsgeduld mit dem Kind!“, schnaubte ihre Patentante. „Bei mir hätte sie schon längst ein paar hinter die Ohren bekommen. Erziehung macht sich nicht von selbst!“

„Natürlich“, Marron kicherte. „Und du gehst als gutes Beispiel voran mit deinem Sohn.“

„Shinji ist eine absolute Ausnahme!“, erwiderte Miyako sofort energisch, „der Junge hat noch nie auf mich gehört!“

„Jaaah“, meinte die Brünette gedehnt und musste wieder kichern. Beleidigt verschränkte ihre Freundin die Arme und verzog die Miene.

Natsuki drängte sich an den beiden Frauen vorbei und ging hinüber ins Wohnzimmer. Das war einfach typisch Marron und Miyako. Immer hatten die zwei einen Grund, sich zu streiten, obwohl sie sich eigentlich ziemlich gerne hatten. Vielleicht würden die Fünfzehnjährige und Aoko sich auch so verhalten, wenn sie einmal so alt waren wie die beiden, aber Natsuki bezweifelte es sehr. Ihre Mutter und ihre Patentante hatten sich schon immer wegen solcher Kleinigkeiten gezankt, um sich eine Minute später wieder bestens zu verstehen. Hatte Marron ihr zumindest erzählt.

„Hallo, liebste Natsuki“, begrüßte Shinji das Mädchen schelmisch. Die Fünfzehnjährige blickte ihn an, als wollte sie den Violett-Haarigen am liebsten erdolchen, und fauchte etwas Unverständliches. Dann setzte sie sich soweit es ging von ihm weg, ans andere Ende des Tisches, neben Kimi.

„Du kannst Shinji wohl immer noch nicht leiden“, stellte die Siebzehnjährige grinsend fest.

Natsuki schüttelte heftig den Kopf, sodass ihr grüner Schopf nur so umherwirbelte. Mussten jetzt unbedingt alle über diesen ätzenden Typen reden? Das war ja nicht zum aushalten!

„Schade...“, Kimi schien nachdenklich. „Ihr würdet so ein hübsches Pärchen abgeben.“

„WAS?!?“, riefen Natsuki und Daisuke zeitgleich.

Verwundert blickten die beiden sich an. „Meine Natsuki passt ganz und gar nicht zu diesem Idioten!“, erklärte Kimis Bruder kopfschüttelnd und mit verzogener Miene.

Die Fünfzehnjährige nickt und blickte ihre Freundin an: „Siehst du, wir sind uns einig... Moment: DEINE Natsuki?!?“

„Beachte ihn gar nicht“, murmelte Kimi und seufzte. „Er nervt nur.“
 

„Natsuki!“, rief Marron. Es waren drei Stunden vergangen, also war nun sieben Uhr am Abend. Die Großeltern Takumi und Korron und auch die Anatakis waren schon im Begriff zu gehen. „Natsuki-chan“, ertönte noch einmal die Stimme der Mutter, diesmal jedoch ein bisschen lauter.

„Was ist denn, Mom?“, fragte Natsuki und folgte dem Ruf.

„Dein Handy klingelt aus deinem Zimmer“, erklärte Marron genervt. „Kannst du vielleicht endlich einmal rangehen? Ich will dieses furchtbare Geräusch nicht noch den ganzen Abend hören.“

„Klar!“, aufgeregt stürzte das Mädchen zu dem klingelnden Gerät und drückte den grünen Knopf. Endlich! Endlich, endlich, endlich! Natsuki war so glücklich, sie könnte jubeln und eine Luftsprung machen.

„Hallo?“, sprach sie in den Lautsprecher.

„Ah, hallo, Natsuki-san. Ich bins, Ren.“
 

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Fortsetzung folgt am 28.04.2011

Kurze Vorschau:

„R-Ren-kun?“, stotterte Natsuki. Augenblicklich schoss ihr das Blut in den Kopf und sie wurde rot wie eine Tomate.

„Mit wem willst du dich morgen treffen?“, ruckartig wurde das Mädchen aus ihren Gedanken gerissen.

Dann auf einmal fiel es ihr ein. „Ich muss mit deiner Mutter reden“, murmelte die Grünhaarige vor sich hin.
 

Vielen Dank schon einmal im Vorraus für eventuelle Rückmeldungen<3

Über Zuneigung und Abneigung

„R-Ren-kun?“, stotterte Natsuki. Augenblicklich schoss ihr das Blut in den Kopf und sie wurde rot wie eine Tomate. Das war einfach nur phantastisch. Die Fünfzehnjährige hätte vor Glück platzen können.

„Hör zu...“, begannen beide gleichzeitig, in den Hörer zu sprechen. Dann mussten sie lachen. Natsuki war froh. Es war ein lockeres, erleichterndes Lachen.

„Du zuerst“, meinte Ren.

„Ok“, das Mädchen holte tief Luft und fasste Mut. „Weißt du... ich-ich wollte fragen, ob wir unsere Verabredung auf morgen verschieben können. Ich habe erst heute erfahren, dass meine Eltern eine Überraschungs-Geburtstagsparty für mich planen...“

„Ja richtig, du hast heute Geburtstag“, unterbrach der Junge sie überrascht. „Entschuldigung. Alles Gute wünsch ich dir.“

„D-danke“, die Fünfzehnjährige wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Ren-kun hatte ihr gratuliert. Ren-kun hatte ihr gratuliert! Unglaublich!!!

„Und natürlich können wir die Verabredung verschieben. Ich bin ehrlich gesagt auch froh darüber. Ich wollte dich dasselbe fragen, weil ich heute Abend auf meinen kleinen Bruder aufpassen muss“, fuhr der Junge fort.

Natsuki seufzte erleichtert auf. Er war so sensibel. So verständnisvoll.

„Also treffen wir uns morgen?“, fragte sie. „Vielleicht um vier Uhr? Im Café Umineko?“

„Am letzten Ferientag?“, fragte Ren belustigt. „Gerne. Ich verbringe Zeit mit dir, wann immer du möchtest, Natsuki-san.“

Wenn Natsuki nicht schon vorher die Farbe einer Kirsche angenommen hatte, dann tat sie es jetzt. Sie konnte sich Ren-kuns süßes Lächeln am anderen Ende der Leitung perfekt bildlich vorstellen. Er war einfach zum verlieben toll.

„I-in Ordnung“, meinte die Fünfzehnjährige, „bis morgen.“

„Bis morgen“, erwiderte der Junge. Dann legte er auf.

Natsuki seufzte. Er hatte so eine schöne Stimme. Und sah so gut aus. Und war so lieb. Konnte es sein... war sie vielleicht sogar verliebt?

„Mit wem willst du dich morgen treffen?“, ruckartig wurde das Mädchen aus ihren Gedanken gerissen. Wer hatte das gesagt? Langsam drehte Natsuki den Kopf. Shinji hatte ihr Zimmer betreten.

„Duuu!“, fauchte sie. Aus irgendeinem Grund stieg ihr wieder die Röte ins Gesicht. „Hast du mich belauscht? Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Misch dich gefälligst nicht ein, das geht dich nämlich nicht im Geringsten etwas an!“

„Und ob mich das etwas angeht“, beleidigt verschränkte der junge Mann die Arme vor der Brust, „ich muss schließlich wissen, mit wem meine Zukünftige sich morgen um vier Uhr nachmittags im Café Umineko trifft!“

„Deine Zukünftige?!?“, tobte Natsuki. Es war einfach unglaublich! Was erlaubte sich dieser Idiot eigentlich? Eine bodenlose Frechheit! „Du spinnst ja wohl! Verschwinde gefälligst aus meinem Zimmer und lass mich in Ruhe!“

Wütend sprang das Mädchen auf und stampfte auf Shinji zu. Mit Wucht boxte sie dem Achtzehnjährigen in den Bauch und schubste ihn weg. „RAUS HIER!“, donnerte sie.

„Au!“, jaulte der junge Mann und flüchtete aus Natsukis Zimmer. Dann musste er grinsen. „Eine Amazone warst du ja schon immer.“

„Was weißt du schon?“, zischte die Fünfzehnjährige.

Shinji blickte auf den Boden und schwieg eine Weile. „Ich weiß mehr, als du denkst“, sagte er schließlich. Verdutzt blickte das Mädchen ihn an. „Was...?“ Mit klaren, durchdringenden Augen sah er sie an. „Ich muss mit deiner Mutter reden. Bitte entschuldige mich.“ Der Violett-Haarige wandte sich um und ging zurück in Richtung Wohnzimmer. Natsuki starrte ihm nach. Was war das denn eben gewesen? Und dieser Blick... was hatte Shinji damit gemeint?

Ärgerlich und energisch schüttelte die Fünfzehnjährige den Kopf. Was interessierte sie schon dieser Typ? Tatsache war, dass sie sich morgen mit Ren-kun traf, und das waren mindestens fünfzig Luftsprünge wert. Mittlerweile waren die Gäste schon gegangen.

Was tat Shinji bloß noch hier?

„Natsuki-chan“, ihre Mutter rief laut ihren Namen.

„Was ist denn?“, antwortete das Mädchen gut gelaunt. Ihre Vorfreude konnte ihr nichts und niemand nehmen.

„Würdest du bitte den Müll nach unten zu den Mülltonnen bringen?“, fragte Marron.

Müll nach unten bringen? Dazu gab es doch Personal des großen Wohnhauses, welches dies erledigte. Was sollte das?

„Bitte, Liebes, ich habe vergessen, den Müll nach draußen zu stellen, damit die Leute ihn abholen können. Unser Mülleimer läuft bald über“, flehte die Mutter.

„Na gut“, erwiderte Natsuki. Wie gesagt. Nichts und niemand konnte ihr heute die Laune verderben.

Sie stapfte fröhlich in die Küche, schnappte sich die Müllsäcke und trat damit aus der Wohnung. Ein langer Gang erstreckte sich dort. An dessen Ende befand sich der Fahrstuhl. Eilig ging das Mädchen darauf zu.

Aber ein bisschen merkwürdig war das schon, nicht wahr? So viel Müll hatten sie gar nicht, dass man diesen jetzt so dringend loswerden musste. Und Natsuki hätte schwören können, dass der Müllmann erst morgen kommen würde. Hatte sie etwas verwechselt?

Sie drückte auf den Erdgeschoss-Knopf im Fahrstuhl. Unten angekommen, verließ das Mädchen die große Vorhalle mit den vielen Briefkästen und ging nach draußen, wo die großen Mülltonnen des Orleans standen. Mit Schwung warf die Fünfzehnjährige die Beutel hinein.

Dann auf einmal fiel es ihr ein. „Ich muss mit deiner Mutter reden“, murmelte die Grünhaarige vor sich hin. Das hatte Shinji doch gesagt. Wollten sie etwa nicht... dass Natsuki zuhörte?!?

Hatte Marron sie deshalb nach unten geschickt? Seltsam. Was sollte diese Heimlichtuerei?

Die ganze Fahrstuhlfahrt zurück in den siebten Stock dachte das Mädchen darüber nach, was wohl ihre Mutter und der Nachbarsjunge zu bereden hatten, was sie selbst nicht hören durfte. Dann fiel es ihr wieder ein. Miyako hatte in einem Monat Geburtstag. Bestimmt berieten sie sich, was sie der Mutter, beziehungsweise besten Freundin schenken sollten und wie die Party verlaufen sollte. Genau, das musste es sein. Shinji hatte ja schon immer einen guten Draht zu Natsukis Eltern gehabt.

Aber dann blieb noch eine Frage offen: Warum um alles in der Welt durfte die Fünfzehnjährige nicht zuhören? Dachten die etwa, sie würde aus Versehen etwas ausplaudern? Eine Frechheit!

Ärgerlich stampfte das Mädchen den Gang entlang. Denen würde sie jetzt erst einmal die Meinung geigen. So unzuverlässig war sie nun ja nicht, dass man ihr nichts anvertrauen konnte!

„Mom...“, rief Natsuki, als sie energisch die Wohnungstüre aufriss. Marron stand vor ihr und trank seelenruhig ein Weinglas aus. „Was soll die Heimlichtuerei?“, zeterte ihre Tochter wütend. „Heimlichtuerei?“, ihre Mutter blickte sie fragend an. „Was ist denn, Liebes?“

„Ach... Ihr - wisst genau, was ich meine!“ Die Fünfzehnjährige schnaubte, rannte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Sie schüttelte den Kopf und verbannte ihre Eltern und Shinji aus den Gedanken. Sie hatte Wichtigeres zu entscheiden. Zum Beispiel, was um alles in der Welt sie morgen bei ihrem Date mit Ren-kun anziehen sollte...
 

Natsuki quietschte fast vor Aufregung. Unfassbar. Sie würde sich in einer halben Stunde mit Ren-kun treffen. Oh mein Gott! Das war unglaublich.

Schon den halben Tag hatte das Mädchen damit verbracht, mit Aoko zu telefonieren und sich beraten zu lassen, was sie am besten anziehen sollte. Nun hatte Natsuki sich für ein weißes Top, eine kurze Jeanshose und rote Schuhe entschieden. Schnell legte die Fünfzehnjährige sich nun ihre Kette, in der der Ohrring verborgen war, um, ohne welche sie nicht aus dem Haus ging.

Eilig sprang das Mädchen nun auf und rannte aus dem Zimmer. Zu dieser Verabredung wollte sie auf keinen Fall zu spät kommen. „Mom, ich gehe“, rief sie schnell, und bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, hatte Natsuki auch schon die Wohnungstüre wieder zugeschlagen.

Schnell rannte die Fünfzehnjährige den Flur entlang, an den vielen Türen vorbei. Als sie an dessen Ende angelangt war, ging gerade die Fahrstuhltüre auf. Ohne zu sehen, wo sie hinrannte, prallte das Mädchen gegen eine alte Dame, die eben mit zwei großen Einkaufstüten im Arm die Kabine verlassen wollte.

Die beiden braunen Tüten platzten auf und der Inhalt verstreute sich auf dem Boden.

Das Blut schoss Natsuki in den Kopf. „E-entschuldigung, das tut mir wirklich leid!“, nervös bückte sie sich auf den Boden und sammelte hastig die Lebensmittel ein, die dort verstreut lagen. „Ich... ich habe sie nicht gesehen, wirklich.“

Bevor die alte Frau etwas entgegnen konnte, hatte die Fünfzehnjährige alle Waren wieder in die Tüten gepackt und drückte sie ihr in die Hand. „Wirklich, tut mir leid, ich muss jetzt weiter!“, rief das Mädchen noch, zwängte sich in den Fahrstuhl und drückte auf den Erdgeschoss-Knopf.

Verdutzt und kopfschüttelnd blickte die Dame ihr nach.

Natsuki stürzte aus der Kabine und rannte durch die Vorhalle nach draußen. Rasch warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Durch diesen Vorfall hatte sie ganze fünf Minuten verloren. Jetzt musste die Fünfzehnjährige sich wirklich sputen. Bis zum Hafen, wo der Treffpunkt lag, war es noch ein weiter Weg.

Aber Natsuki würde es schaffen. Das wusste sie einfach. Das Mädchen rannte die Straße entlang. Die Sonne strahlte an einem klaren, blauen Himmel und ein sanfter Wind wehte durch die belebten Straßen. Der perfekte Tag für ein Date.

Die Fünfzehnjährige hastete über eine Brücke, wo gerade eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter an der Hand vorbeispazierte. Alles schien so friedlich zu sein heute.

Oder doch nicht? „Hilfe!“ Natsuki drehte ruckartig den Kopf zur Seite, um zu sehen, woher der Schrei gekommen war. Mehrere Grundschüler hatten sich versammelt. In ihrer Mitte sah das Mädchen einen kleinen Jungen auf dem Boden sitzen. Er hatte Tränen in den Augen.

„Gib uns sofort dein Lunchpaket!“, drohte einer der Grundschüler und hob die Faust.

„Aber das hat Chiyo mir gemacht“, schniefte der kleine Junge verzweifelt. „Lasst mich doch in Ruhe!“

Die älteren Kinder lachten. „Wehr dich doch!“, tönten sie spöttisch.

Nun hob der Junge die Hände vor das Gesicht und begann, zu weinen. Wütend schnappte Natsuki nach Luft. Sie stapfte entschlossen auf die Grundschüler zu. „Verschwindet!“, fauchte sie die Kinder an. „Das ist nicht fair, alle gegen einen!“

„Sagt wer?“, der größte der Jungen verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Die kenne ich!“, rief ihm einer seiner Kumpels zu. „Die ist im gleichen Kendo-Verein wie mein Bruder. Die hat schon den zweiten Dan. Hau lieber ab, Nobu-kun!“

Nobu-kun schnaubte. Er wandte sich schon zum Gehen, drehte sich aber hastig wieder um, riss Natsuki ihre Kette vom Hals und warf sie auf den Boden, wo der Anhänger zerbrach. Dann rannten die Grundschüler eilig davon.

„Bleibt sofort stehen, ihr...“, die Fünfzehnjährige hob drohend die Faust, doch die Kinder waren schon längst hinter der nächsten Straßenbiegung verschwunden. „Oh nein.“ Das Mädchen bückte sich und schaute nach dem Anhänger. „So eine Gemeinheit“, fluchte sie.

„D-danke“, der kleine Junge hatte sich langsam aufgerichtet. „Du bist nett.“

„Ist schon in Ordnung“, Natsuki musste lächeln. „Warum haben sie dich angegriffen?“

„Das sind Nobu-kun und seine Bande“, erklärte das Kind. „Sie terrorisieren alle anderen Grundschüler, weil sie sich für die Größten halten, wo sie doch nächstes Jahr schon auf die Mittelschule gehen dürfen. Sie wollten mein Lunchpaket stehlen. Das hat meine große Schwester Chiyo mir als Abschiedsgeschenk gemacht, weil sie für ein Jahr nach Europa fliegt.“

„Gemein sind diese Kerle“, die Fünfzehnjährige nickte dem kleinen Jungen aufmunternd zu. „Lass dir von ihnen bloß nicht zu viel gefallen. Geh zur Lehrerin, wenn sie dir wieder blöd kommen.“

„Das werd ich machen“, das Kind strahlte. „Auf Wiedersehen.“ Fröhlich rannte er davon. „Wiedersehen“, murmelte Natsuki und kicherte.

Dann richtete sie den Blick wieder auf den Boden. Als der Anhänger zerbrochen war, war der Ohrring herausgefallen. Wo lag er denn nur? Das durfte nicht wahr sein, sie konnte den Ohrring nicht verlieren! „Nein, nein, nein“, murmelte das Mädchen verzweifelt.

Jemand lachte vergnügt. „Du bist süß, wenn du dich so für Kinder einsetzt!“ Natsuki zuckte zusammen. „Nicht DU schon wieder!“, schnaubte sie und versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken. Sie blickte Shinji wütend ins Gesicht, der an einer Mauer lehnte und ihrer Meinung nach ziemlich blöd grinste. „Misch dich nicht ein!“, schnaubte das Mädchen.

Der junge Mann öffnete seine Hand. Etwas Kleines, in der Sonne Glitzerndes befand sich darin. „Ich denke, du suchst das hier, oder?“, fragte er. Ihr Ohrring!

Natsuki rappelte sich auf und ging mit festen Schritten auf den Violett-Haarigen zu. „Her damit, das geht dich nichts an!“, zeterte sie und griff nach dem Schmuckstück, doch Shinji verschloss die Hand wieder und zog sie weg. „Sag mir zuerst, mit wem du dich heute triffst!“

Einen Moment lang blickte die Fünfzehnjährige ihn verdutzt an. „Was?!?“ Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und eine steile Falte des Zorns bildete sich auf Natsukis Stirn. „DU IDIOT!“, donnerte sie und schlug dem jungen Mann mit der Faust ins Gesicht. „Lass mich bloß zufrieden!“ Sie schnappte sich den Ohrring und stampfte wütend davon.

Kopfschüttelnd, doch grinsend schaute Shinji ihr nach... und hielt sich die blutende Nase.
 

Was sollte Natsuki bloß tun? Nachdenklich blickte sie den kleinen, schwarzen Ohrring an, welcher in ihrer offenen Hand lag. Ohne diesen ging sie nirgendwo hin. Aber die Kette war kaputt gegangen. Wo sollte sie das Schmuckstück hintun? Fürs Erste verstaute das Mädchen ihren Ohrring in der Hosentasche. Sozusagen eine Notlösung. Später würde sie sich genauer darum kümmern. Jetzt galt es, sich auf das Date mit Ren-kun zu konzentrieren.

Schnell ermittelte Natsuki die Uhrzeit mithilfe ihrer Armbanduhr. Oh nein! Sie hatte ziemlich viel Zeit durch diesen Vorfall mit dem kleinen Jungen verloren. Ihr blieben nur noch fünf Minuten. Fünf Minuten Zeit, um schnellstens zum Hafen und von dort zum Café Umineko zu gelangen.

Die Fünfzehnjährige beschleunigte ihre Schritte. Sie konnte es schaffen! Da... in der Ferne konnte Natsuki ein blaues Glitzern zwischen den Hausdächern erkennen. Es konnte nicht mehr weit sein. Der Weg wurde steiler, das Mädchen rannte eine Anhöhe hinunter und zwischen den nun immer enger werdenden Gassen hindurch. Kleine Hafenhäuser, Bars und Läden reihten sich aneinander. Momokuri war eigentlich eine sehr schöne Stadt.

Nun war Natsuki am Hafen angelangt. Sie blieb stehen und schnappte nach Luft. Der leichte Wind, der vom Meer hinüberwehte, schmeckte nach Salz. Nur vom Rauschen der am Ufer aufschäumenden Gischt übertönt, hörte man in der Ferne das laute Rattern eine Fähre, die auf das Festland zusteuerte. Am blauen Himmel kreisten Möwen um die warme Sonne, die mit ihren sanften, spätsommerlichen Strahlen über die unendliche, sich am Horizont ausbreitende, blaue Fläche strich.

Das Café Umineko war ein kleines, in hellem blau gehaltenes Gebäude, welches direkt am Meeresufer stand. Davor standen viele, zierliche, weiße Tischchen und Stühle. Auch kleine, blau-weiß-farbene Schirmchen waren aufgestellt. Hinter den Schaufenstern waren viele, leckere Kuchen und Torten zu sehen, die direkt den Appetit ansprachen.

Aufgeregt hielt Natsuki dort nach Rens rotem Schopf Ausschau und tatsächlich. Er saß an einem kleinen Zweiertisch und studierte ein wenig nervös die Karte. „Wie süß“, murmelte das Mädchen. Eilend ging sie auf den Jungen zu. Als die Fünfzehnjährige schließlich neben Ren stand und er sie immer noch nicht bemerkt zu haben schien, räusperte Natsuki sich leise und begann vorsichtig:

„Re...Ren-kun?“

Der Rothaarige schaute auf und seine Miene erhellte sich, als er sie erblickte. „Natsuki-san“, rief er erleichtert. Ruckartig richtete der Junge sich auf und schob der Fünfzehnjährigen den Stuhl gegenüber seinem eigenen Sitzplatz hin. „Setz- setz dich doch, bitte.“

Natsuki errötete und ließ sich auf das weiße, feingliedrige Möbelstück sinken. „Ja.“ Er war ein echter Gentleman. Sie seufzte.

„Hm?“, Ren blickte das Mädchen fragend an. „Was ist denn, Natsuki-san?“

„Ich...äh“, sie schüttelte den Kopf. „N-nichts.“

Natsuki wandte den Blick ab. Sie gab sich wirklich Mühe, woanders hinzuschauen. Die Möwen, die sich auf einer kniehohen Mauer zu einem Schwarm ansammelten, waren auf einmal sehr interessant, ebenso wie ein kleines Kind, dessen Eis auf den Boden gefallen war und welches nun fürchterlich zu schreien begann.

Als das Mädchen bemerkte, dass Ren sich ähnlich verhielt wie sie, blickte sie ihm vorsichtig in die Augen. Er erwiderte den Blick, worauf beide etwas rot um die Nasenspitze wurden.

„Ehm - schönes Wetter haben wir heute“, der Rothaarige fasste sich mit der rechten Hand an den Hinterkopf, eine klassische Geste der Unsicherheit, und lächelte ein wenig schief. Er hätte sich innerlich verfluchen können. Fielen ihm denn keine besseren Sätze oder Gesprächsthemen ein?

„Stimmt“, erwiderte Natsuki zaghaft. Wie süß er doch aussah, wenn er sie so anschaute. Das Mädchen hätte dahinschmelzen können.

„Äh... was willst du denn essen?“, vorsichtig schob Ren ihr die Karte hin, die er bis gerade eben fixiert hatte. „Ich bezahle natürlich.“

„Also, eh... such du dir etwas aus. Wir können uns ja etwas teilen. Die Portionen hier sind so riesig, ich schaffe das nicht alleine“, erklärte die Fünfzehnjährige. Der Junge nickte. „In Ordnung. Ich würde den Momokuri-Becher nehmen.“

„Momokuri-Becher?“, rief Natsuki überrascht, „der ist doch riesig!“

„Das schaffen wir schon“, Ren grinste freundlich. Das Mädchen errötete wieder. Dieses Lächeln. Einfach phantastisch. „Ok“, sie nickte und schloss die Augen, um die sanfte Meeresbrise einzuatmen. Sie roch salzig, und trotzdem trug der Wind einen süßen Duft herbei.

Ren rief die Bedienung zu sich und orderte den großen Eisbecher. Dann wandte er sich wieder Natsuki zu.

„Es ist eigentlich unfassbar, oder?“, fragte der Junge nun vergnügt und stützte den Kopf auf den Händen ab.

„Was?“, wollte die Fünfzehnjährige erstaunt wissen.

„Also...“, der Rothaarige blickte auf die Tischkante. „Ich- habe mich, ehrlich gesagt, noch nie getraut, ein Mädchen auf eine Verabredung einzuladen. Ich hätte nicht gedacht, dass das jemals passieren wird... dann habe ich dich getroffen.“ Er schwieg eine Weile, dann setzte Ren vorsichtig an. „Du...du bist wirklich ein besonderes Mädchen.“

Auf einmal begann Natsukis Herz, wie wild zu hämmern. Bis zum Hals spürte sie das rasende Pochen. Sie... war etwas Besonderes? Die Grünhaarige legte die Hand auf ihre Brust, direkt über das Herz. Sie musste Lächeln. Dieses Gefühl war unglaublich schön. War sie verliebt?

„Das... ist sehr nett, dass du das sagst“, erwiderte Natsuki leise.

Wieder breitete sich ein Mantel scheinbar endlosen Schweigens über den beiden aus. Ren starrte auf seine Hände. Was sollte er als Nächstes sagen? Oder tun? Er war absolut ratlos. Mit Mädchen hatte er relativ wenig Umgang. Zum Glück hatte Natsuki das bis jetzt scheinbar nicht bemerkt. Sie war wirklich hübsch. Er konnte tatsächlich kaum glauben, dass so ein hübsches Mädchen sich wirklich mit ihm treffen wollte.

„Der Momokuri-Becher“, die Stimme der Bedienung holte die beiden wieder in die Realität zurück. „Bitte sehr, die Herrschaften.“ Ein großes Tablett mit einem Glas voller verschiedener, bunter Eiskugeln wurde auf den Tisch gestellt.

Zwei Löffel lagen daneben. Als Natsuki und Ren beide danach griffen, berührten sich ihre Hände kurz. Eine ungewöhnliche Energie durchdrang das Mädchen.

„Ehm... Guten Appetit“, sagte der Rothaarige schüchtern. „Ich hoffe, du magst es. Ich gehe gerne hierher.“

„Also... ich gehe auch gerne hierher“, Natsuki lächelte.
 

Er lehnte an einer Hauswand und spähte vorsichtig zur gegenüberliegenden Straßenseite hinüber. Da, vor diesem Café. Da saß sie. Mit diesem ...Typen...

Was er selbst hier zu suchen hatte? Er wusste es nicht, es war ihn eben einfach überkommen. Ja, er war eifersüchtig. Natürlich war er eifersüchtig. Wie könnte es auch anders sein? Er musste schließlich andauernd an sie denken. Daran, ob Natsuki es wirklich nicht bemerkte, oder ob sie nur so tat. Ob sie ihn wirklich hasste, oder ob das nur gespielt war. Warum konnte sie nicht erkennen, wie sehr er sie liebte? Wie lange wartete er nun schon darauf, auf ihre Einsicht... seit sie lebte und länger. Würde Natsuki jemals verstehen? Aber wenigstens war es ihm möglich, in ihrer Nähe zu bleiben. Er konnte sie einfach nicht vergessen. Was hatte er einmal zu Chiaki gesagt? Daran erinnerte er sich noch, als wäre es gestern gewesen:

„Mir ist es lieber, wenn sie mich hasst, als wenn sie einen Anderen liebt.“

Nur sah es im Moment leider verdammt danach aus. Er könnte diesen Kerl, mit dem sie an einem Tisch saß, verfluchen. Er könnte... nein, lieber nicht an solch unschöne Dinge denken. Doch es war natürlich kein Wunder, dass er eine enorme Abneigung gegen den Jungen hegte.

Wie Natsuki dasaß... so zart, so zierlich. Sie sah aus wie eine Elfe. Die großen, runden Augen strahlten Fröhlichkeit, Glück und Sanftmut aus... und das beneidenswerte Geschenk der Ahnungslosigkeit. Wie gut sie es doch hatte, ohne die Erinnerung leben zu müssen. Manchmal war ihm selbst die Last so schwer, dass er sich wünschte, zu vergessen.

Doch diese Unschuld, die der doch sonst ziemlich temperamentvollen Natsuki innewohnte, machte sie wahrscheinlich auch so angreifbar. So verletzlich. Deshalb war er hier. Egal, ob sie ihn in diesem Leben jemals wenigstens mögen würde oder nicht, er musste immer auf sie Acht geben. Das war er ihr schuldig. Nie wieder würde er zulassen, dass Natsuki irgendetwas passiert.

Moment mal! Er zuckte zusammen und schaute genauer hin. Dieser Junge- mit dem roten Haar. War er etwa...? Oh nein!
 

Natsuki lachte. Ihr gefiel die Verabredung wirklich gut. Ren-kun war ein freundlicher Junge und konnte sehr gut zuhören. Sie unterhielten sich über die verschiedensten Dinge, während die beiden nach und nach ihren Momokuri-Becher löffelten. Die Fünfzehnjährige war glücklich.

„Und du sagst, du kommst nach diesem Schuljahr auf die Oberschule?“, fragte der Rothaarige neugierig und leckte sich etwas Eis von den Lippen.

„Genau“, Natsuki nickte. „Ich werde auf die Momokuri-High gehen. Vorausgesetzt, ich bestehe die Aufnahmeprüfung.“ Sie kicherte.

„Schade. Meine Eltern wollen mich auf die Biwa-High schicken, dann kann ich dich dort gar nicht sehen“, Ren seufzte.

Biwa-High. Das Mädchen dachte nach. Das war doch die Schule, welche Kimi und Daisuke Anataki besuchten, oder? „Dort gibt es bestimmt auch Mädchen, oder nicht?“, fragte sie ein wenig spöttisch.

„Natürlich gibt es dort Mädchen, aber...“, der Junge begann, zu stottern, „es... also... dort sind- äh... keine Mädchen wie du!“ Er musste nach Luft schnappen, so laut hatte er die letzten Worte zum Himmel gerufen. Einige Leute an benachbarten Tischen musterten den Rothaarigen mit hochgezogenen Augenbrauen und skeptischem Blick.

Natsuki errötete. Wie süß Ren-kun doch war, wenn er so etwas sagte. „Das ist...“, sie beendete den Satz nicht und blickte den Jungen an. In seinen klaren, braunen Augen konnte man förmlich versinken. Sie strahlten einen beruhigenden Glanz aus. Bildete das Mädchen sich das nur ein oder beugte der Rothaarige sich wirklich nach vorne über dem Tisch und näherte sich mit seinem Gesicht immer mehr ihrem? Natsukis Herzschlag beschleunigte und hämmerte rasend gegen ihren Brustkorb. Das würde er sein, ihr erster Kuss! Die Fünfzehnjährige schloss die Augen. Es konnten nur noch wenige Zentimeter sein, die ihre Lippen jetzt voneinander entfernt waren.

Nach ein paar Sekunden, in denen nichts geschehen war, öffnete das Mädchen langsam und verwirrt wieder die Augen. Was zum...?

Jemand war dazwischen getreten, hatte Ren-kun am Kragen gepackt und funkelte ihn zornig an. Aber das konnte doch nicht wahr sein. Shinji! Natsuki war so geschockt, dass sie sich keinen Zentimeter rühren konnte. Was tat dieser Typ bloß hier? Warum bedrohte er Ren-kun?

„Du...“, knurrte der junge Mann den Rothaarigen an. „Du wirst Natsuki nicht anrühren, verstanden? Verschwinde sofort!“

Was war dieses Licht, das in Ren-kuns Augen aufgeflackert war? Hatte das Mädchen sich das eingebildet? Jetzt wandte der Junge sich zu ihr um und blickte sie traurig und wütend zugleich an. „Warum tust du das, Natsuki-san? Warum triffst du dich mit mir, wenn du schon einen Freund hast? Willst du mein Herz brechen?“ Dann drehte er sich auf der Stelle um und rannte davon.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, fluchte Shinji mit erhobener Faust und wollte Ren schon hinterherlaufen, doch Natsuki packte ihn am Ärmel.

Verwundert schaute der junge Mann ihr ins Gesicht und traf auf einen Ausdruck tiefer Trauer und rasender Wut. „Shinji... Shinji Minazuki...“, keuchte die Fünfzehnjährige atemlos. Die Tränen stiegen ihr in die Augen und sie schrie: „Ich hasse dich!“

Dann rannte sie los. Weg von ihm. Weg vom Café. Weg von den Menschen. Natsuki rannte einfach, egal wohin. Bloß weg. Ihre Beine trugen sie automatisch. Anders wäre sie zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht imstande gewesen, sich fortzubewegen. Warum hatte er das getan? Er hatte alles zerstört. Ihre Verabredung, Ren-kuns Vertrauen zu ihr und ihren ersten Kuss. Sie hatte zuvor gar nicht richtig wahrgenommen, wie sehr sie Shinji eigentlich hasste. Doch jetzt wusste sie es, ja, sie hasste ihn mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt.

Natsuki blieb stehen. Die Tränen flossen nun unaufhörlich. Sie konnte es einfach nicht verhindern, sie musste jetzt weinen. Dieses schreckliche Gefühl, wo kam es nur her?

Es war alles Shinjis Schuld. Er wollte ihr Leben zerstören. Er tat es mit Absicht, um sie zugrunde zu richten.

„Fräulein?“ Natsuki zuckte zusammen. Wo war diese Stimme hergekommen? Sie kam ihr bekannt vor.

Der kleine Junge, dem sie heute Nachmittag geholfen hatte, gegen die Grundschüler zu bestehen, kam angelaufen. „Bitte weine nicht“, rief er aufgeregt.

„Was ist denn mit dir?“, die Fünfzehnjährige wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Was war los?

„Ich- ich möchte mich gerne bedanken, weil du mir geholfen hast, Fräulein“, erklärte das Kind. „Ich möchte dir etwas schenken.“

Der kleine Junge legte eine Halskette in Natsukis Hand. „Weil Nobu-kun doch deinen Anhänger kaputtgemacht hat.“ Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte, war er auch schon wieder davongerannt. „Bis bald.“ Verdutzt blickte die Fünfzehnjährige ihm nach.

Dann musste sie ein wenig lächeln und blickte die Halskette an. Diese hatte einen roten Anhänger, in den ein Herzförmiges Muster eingraviert war. An der Seite ragten kleine, weiße Engelsflügel heraus.

Natsuki legte ihn sich fröhlich um den Hals und machte sich auf den Weg nach Hause. Ein neues Versteck für ihren Ohrring hatte sie nicht gefunden, dafür hatte sie eine sehr hübsche Halskette geschenkt bekommen. Ein kleines bisschen ihrer Trauer war gelindert. Das Mädchen war auf einem guten Weg.
 

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Fortsetzung folgt am 30.05.2011

Kurze Vorschau:

„Fynn Fish!“, rief auf einmal eine Stimme.

Die Fünfzehnjährige blickte ihn mit Augen, zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, an. „Ich hasse dich!“

Natsuki fixierte ihren Gegner. Es war ein großer, stämmiger Junge in ungefähr ihrem Alter. Er schien zuversichtlich, den Trainingskampf zu gewinnen. Der musste wohl neu sein.

Das Erwachen

Schmale, bernsteinfarbene Augen blickten Natsuki vom Schatten her an. Ein bisschen sahen sie aus wie die einer Katze. Die Pupillen waren nur gebogene, senkrechte Striche. Das Mädchen bekam eine Gänsehaut. Bildete sie sich das ein oder hatten die merkwürdigen Augen einen vorwurfsvollen Blick?

„Fynn Fish!“, rief auf einmal eine Stimme.

Natsuki schaute sich überrascht nach allen Seiten um. Woher war das Geräusch gekommen? Und wer hatte da bloß gerufen? Sie konnte nichts sehen als undurchdringbare Dunkelheit. War dies ein Traum? Die Fünfzehnjährige fühlte sich auf einmal sehr leicht, so, als ob sie über dem Boden schwebte. Dieses Gefühl war unglaublich. Das Mädchen spürte die pure Energie in ihren Adern pulsieren. Was war nur los?

Dort, wo Natsuki eben noch die merkwürdigen Augen gesehen hatte, konnte man langsam eine Silhouette erkennen. Es war kein Mensch, nein, das verrieten die großen, gespreizten Schwingen aus tausenden von schwarzen Federn. Obwohl sich um sie herum nur Dunkelheit befand, leuchteten die Flügel in einem geheimnisvollen Licht und erhellten die stockfinstere Nacht ein wenig. Dies hier war ein Engel.

Natsuki versuchte, die Traumgestalt etwas genauer zu betrachten, da löste sie sich auch schon wieder in Rauch auf. Nur die auf merkwürdige Weise schönen, bernsteinfarbenen Augen blickten das Mädchen aus den Schatten weiter vorwurfsvoll an.

„Fynn...“, rief wieder eine Stimme. Es war seltsam. Obwohl die Fünfzehnjährige wusste, dass sie nichts gesagt hatte, schien der Ruf aus ihr selbst zu kommen. Etwas befand sich in ihrem Herzen. Und es wollte heraus.

„Natsuki!“, wie ein Erdbeben erschütterte nun die Stimme ihrer Mutter Natsukis Traumwelt. Ein Wirbelsturm brauste auf und sog sie in seinem Inneren nach oben, dem Himmel entgegen.

Das Mädchen öffnete die Augen.

Marrons kastanienbraunes Haar fiel ihr ins Gesicht. Die Mutter hatte sich über ihre Tochter gebeugt und rief die ganze Zeit aufgeregt deren Namen. Natsuki blinzelte. „Was’n los?“, nuschelte sie noch etwas schläfrig.

Die Frau sprang auf. „Was los ist?“, keifte sie hektisch. „Die Schule ist los!“ Marron musste erst einmal nach Luft schnappen. „Schnell, beeil dich!“, sie klatschte in die Hände. „Wir haben verschlafen!“

„Was?“, auf einmal hellwach, richtete ihre Tochter sich ruckartig im Bett auf. Das Mädchen sprang auf ihre Füße und stürzte zum Kleiderschrank. „Ich hab hier deine Schuluniform“, meinte Marron und hob das blaue-weiße Matrosenkleidchen hoch. Natsuki riss es ihr hastig aus der Hand. „Gib her!“

Sie streifte sich die weiße Bluse mit dem meeresfarbenen Kragen über und legte den blauen Faltenrock an. Aus einer Schublade kramte die Fünfzehnjährige ihre weißen Kniestrümpfe und zog sie sich über die Füße. „Meine Schultasche“, stieß sie hervor und blickte ihre Mutter an.

„Hab ich schon gepackt“, erwiderte Marron und warf den schweren Lederrucksack Natsuki auf den Schoß. „Beeilung.“

Die beiden rannten aus dem Zimmer der Tochter hinaus und geradewegs Chiaki in die Arme, der einen Marmeladentoast in der Hand hielt. Kopfschüttelnd betrachtete er seine Ehefrau und den Nachwuchs. „Am ersten Schultag nach den Sommerferien schon verschlafen. Du bist ja noch schlimmer als deine Mutter.“ Marron verschränkte die Arme und blickte den Blauhaarigen mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dieser drückte Natsuki den Marmeladentoast in die Hand. „Irgendwas musst du ja essen. Und jetzt geh.“

Das Mädchen nickte und stürmte durch die Wohnungstüre, welche ihr Vater für sie aufhielt.

„Wohin des Weges so früh am Morgen?“, lachte eine fröhliche Stimme, die im Moment die letzte auf Erden war, welche Natsuki hören wollte.

„Ah, Shinji.“ Marron streckte vergnügt ihren Kopf aus dem Türrahmen. „Sag, könntest du mir einen Gefallen tun und Natsuki zur Schule bringen? Das wäre doch ein gebührender Anlass, dein neues Auto einzuweihen, oder?“

„Natürlich, Marron“, der junge Mann schüttelte der Brünetten die Hand und grinste. „Ich könnte dir nie einen Gefallen ausschlagen, besonders nicht, wenn es um deine reizende Tochter geht.“

„Übertreib es nicht“, meinte Chiaki, der auf einmal mit verschränkten Armen neben seiner Frau stand und Shinji ärgerlich anblickte. Marron stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen und zischte leise, so dass nur der Blauhaarige es verstehen konnte: „Chiaki!“

„Ich glaube, bei euch piept’s wohl!“, rief Natsuki aufgebracht. „Ich werde niemals in diesem Leben mit dem da“, sie wies auf den violett-haarigen Jungen, „zusammen in ein Auto steigen!“

„Das ist aber schön, dass du mich so unentbehrlich findest, Natsuki-chan“, Shinji büßte kein bisschen von seinem fröhlichen Lächeln ein.

„Bitte, mein Liebes“, Marron fasste ihre Tochter an den Schultern und blickte ihr fest in die Augen. „Vergiss doch mal für einen Moment deinen ewigen Streit mit Shinji und sei vernünftig. Oder willst du etwa wirklich zu spät kommen?“

Trotzig schüttelte Natsuki den Kopf. „Nein.“ Sie steckte die Hände in ihre Jackentaschen und stampfte wütend mit dem Fuß auf. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Jede Sekunde, die sie mit diesem unverschämten Trottel verbringen musste, war eine Sekunde zu viel. Und nicht zu vergessen, schließlich hatte Shinji gestern ihr Date ruiniert. Ein Grund mehr, ihn zu hassen. Aber nur wegen diesem Idioten konnte sie es sich natürlich nicht leisten, zu spät zu kommen.

Mit verzogener Miene folgte Natsuki also dem jungen Mann die Treppen des siebenstöckigen Wohnhauses hinunter zum Parkplatz. Aber das war doch komisch. Erst jetzt fiel es der Fünfzehnjährigen auf. Seit wann hatte Shinji denn bloß ein Auto?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, beantwortete der Violett-Haarige die Frage des Mädchens: „Für die alte Schrottkarre hab ich schon seit drei Jahren gespart. Ich hab echt viele Nachhilfestunden dafür geben müssen.“ Er lachte. Natsuki zog die Augenbrauen hoch. Shinji und Arbeiten? Irgendwas in ihrem Inneren weigerte sich, daran zu glauben.

Der junge Mann hob die Tür zum Beifahrersitz des schon ziemlich ramponiert aussehenden Wagens auf. „Bitte, die Dame.“

„Spiel dich bloß nicht so auf“, Natsuki schoss in ihrer Vorstellung gerade tausend Giftpfeile auf den Achtzehnjährigen ab.

Wetten, der war auch noch stolz auf diese Karre? Männer und Autos!

Der Motor sprang an. Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust. Sie würde kein einziges Wort mit Shinji reden. Nie wieder.

„Du bist sauer wegen gestern, oder?“, fragte der Violett-Haarige nach einigen Minuten des Schweigens.

„SAUER?!?“, donnerte Natsuki. „Wie kommst du bloß darauf, dass ich SAUER sein könnte. Ich bin doch nicht SAUER! ICH BIN STINKWÜTEND!“ Sie holte tief Luft. „Du bist der größte Vollidiot, dem ich je in meinem Leben begegnet bin! Du machst mein Leben kaputt! Das ist doch deine Absicht, oder?“ Die Fünfzehnjährige blickte ihn mit Augen, zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, an. „Ich hasse dich!“

„Verstehe...“, Shinji lenkte den Blick wieder nach vorne auf die Straße. Seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er im Moment dachte. Aber das interessierte Natsuki eigentlich auch gar nicht. Jetzt fuhr der Wagen auf dem Schulgelände der Momokuri-Mittelschule vor. Das Mädchen öffnete die Autotür und sprang hinaus. Energisch stapfte sie auf das große Eingangstor zu, ohne sich noch einmal umzusehen.

Shinji schaute ihr kopfschüttelnd nach.
 

Erschöpft ließ Natsuki sich auf ihren Sitzplatz, direkt hinter dem von Aoko, fallen. Verwirrt schaute ihre Freundin sie aus wasserblauen Augen an. Aokos blasses Gesicht sah noch weißer aus, dadurch dass ihre Haare kohlrabenschwarz die Wangen des Mädchens umrahmten. Im Gegensatz zu Natsuki war ihre Freundin sehr groß und hatte eine schöne, kurvige Figur. Die Grünhaarige war der Meinung, wenn man sie selbst direkt Aoko stellte, sähe sie aus wie ein kümmerlicher Strich in der Landschaft.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte die Freundin. Über die Tatsache, dass Natsuki fast zu spät gekommen wäre, sah sie hinweg.

„Shinji ist los“, knurrte die Fünfzehnjährige. Natürlich hatte sie Aoko bereits am Telefon alle Einzelheiten über das Date mit Ren-kun am vergangenen Tag erzählt, und wie Shinji es geschafft hatte, dieses zu ruinieren. Deshalb blickte die Schwarzhaarige ihre Freundin nun auch fragend an. Das wusste sie doch schon.

„Dieser blöde...äh...“, Natsuki fehlten die Worte. „Siehst du, Shinji ist so schrecklich, dass kein Schimpfwort der Welt ihn beschreiben könnte!“

Aoko musste lachen. „Was hat er denn jetzt schon wieder getan?“

„Ich wüsste nicht, was daran so lustig sein sollte“, murmelte die Fünfzehnjährige ärgerlich. „Der Typ hat jetzt ein Auto. Und meine Mutter hat heute Morgen darauf bestanden, dass ich mitfahre. Stell dir das mal vor! Zehn Minuten lang mit dem Kerl im selben Raum. Das hält man ja im Kopf nicht aus!“

„Mhm...“, war der einzige Kommentar, welchen Aoko zu dieser Aussage bereit war, abzugeben. Sie hatte schon lange bemerkt, dass es sinnlos war, mit Natsuki über Shinji zu diskutieren. Mit vernünftigen Argumenten kam man bei diesem sturen Esel nicht weit. Der Schwarzhaarigen persönlich tat der Junge ja leid. Wenn er sich so eifersüchtig aufführte, musste er ihre beste Freundin schon ziemlich gern haben. Nur dummerweise bemerkte Natsuki das nicht.

Nun wurde die Türe aufgeschoben und der Mathelehrer betrat das Zimmer. Auf einen Schlag verstummten alle Gespräche zwischen den Klassenkameraden und Schüler, die sich bisher vorne bei der Tafel unterhalten hatten, hasteten auf ihre Plätze. Bücher wurden aufgeschlagen und Schreibwerkzeuge gezückt. Der Unterricht begann.
 

Natsukis Gedanken drehten sich im Kreis. Sie kam an diesem Traum von heute Nacht einfach nicht vorbei. Ganz klar. Es war wieder ein Bildertraum gewesen, aber das Mädchen hatte noch nie einen so undeutlichen erlebt. Außerdem war dies das erste Mal, dass jemand in so einer Art Traum gesprochen hatte. Irgendetwas hatte sich verändert. Nur was? Und warum?

Wenn doch Natsuki nur ihren Skizzenblock mitgenommen hätte... dann könnte sie die Verwirrung etwas lindern, indem sie das Motiv, welches in ihren Kopf eingebrannt war, zu Papier brachte. Der Engel mit den schwarzen Flügeln und den alles durchschauenden, bernsteinfarbenen Augen.

Die Fünfzehnjährige hatte gewiss schon einige Engel in ihren Skizzenblock gezeichnet. Doch dieser hier war völlig neu in der Sammlung- und auf merkwürdige Weise auch ganz anders als alles, von dem Natsuki bis jetzt geträumt hatte.

Das Mädchen kramte in ihrer Schultasche, um den Taschenrechner hervorzuholen, denn eben hatte der Mathelehrer eine Aufgabe diktiert. Da entdeckte sie es. Das Skizzenbuch! Ihre Mutter hatte es wohl aus Versehen mit eingepackt, denn die Grünhaarige hatte es gestern unachtsam auf ihrem Schreibtisch liegen lassen. Was für ein Glück. Nachher in der Pause würde sich Natsuki sofort den Zeichnungen widmen.

„Fräulein Nagoya!“, rief der Lehrer in diesem Moment erbost. „Wenn ich dich langweile, dann sag es mir bitte jetzt!“

„Wie...äh...was?“, fragte die Fünfzehnjährige ein wenig verwirrt.

„Vor die Türe!“, knurrte der Pauker ärgerlich.

Natsuki seufzte und erhob sich. Langsam schlängelte sie sich durch die Sitzreihen hindurch und öffnete die Tür des Klassenzimmers. Kopfschüttelnd trat das Mädchen heraus und schloss die Tür hinter sich. Immer, wenn sie solch einen Traum hatte, war sie am Tag danach so unkonzentriert, dass sie meistens während dem Unterricht auf dem Gang landete. Normalerweise kamen die Träume auch nicht so häufig vor, was ein Glück war, doch dies war seltsam. Zwei Träume innerhalb von drei Tagen. Das gab es normalerweise nicht. Sehr merkwürdig.

Ach, daran war bestimmt nur Shinji schuld! Natsuki nickte entschlossen. Je öfter sie dieselbe Luft einatmen musste wie dieser Trottel, desto schlechter war das für ihre Gesundheit. Und dann erst die Nummer mit dem ruinierten Date. Ganz klar. Das konnte die einzige Erklärung sein.
 

Natsuki saß unter dem großen, alten Laubbaum auf dem Schulhof. Etwas Sonnenlicht brach durch das dichte Blätterdach und wärmte den Sitzplatz des Mädchens angenehm. Ein leiser Wind bewegte das noch sommerlich grüne Laub hin und her, so dass es leise raschelte. Als ob der Baum flüsterte. Die Fünfzehnjährige atmete einmal tief die frische Luft ein und genoss die wohltuende Stille. Hier, zum hinteren Ende des Schulhofes, kam so gut wie niemand hin. Wenn Natsuki einmal Zeit für sich brauchte, zum Beispiel um in ihr Skizzenbuch einzutragen, war dies der perfekte Zufluchtsort.

Das Mädchen holte den schon etwas zerfledderten Block und einen Bleistift aus ihrer Schultasche und setzte das Schreibwerkzeug auf der noch leeren, weißen Fläche an. Sie zeichnete den ersten Strich. Und noch einen. Und drei weitere. Linie um Linie, Punkt um Punkt kamen hinzu. Kreis um Kreis. Man konnte die Augen erkennen, nach einer Weile auch Umrisse und schließlich war die Skizze fertig ausgearbeitet.

Natsuki hatte sogar mehr gezeichnet, als sie sich im Traum erinnert hatte, gesehen zu haben. Auf irgendeine Weise wusste sie, wie der Engel richtig auszusehen hatte. Jetzt konnte man viel mehr Details schön und genau betrachten.

Die Person hatte schmale, katzenartige Augen, die einen direkt und analysierend anzuschauen zu schienen, umrundet von langen, dunklen Wimpern. Über den Augen, auf der Stirn, befand sich etwas, das Natsuki als ovalförmigen Kristall analysierte. Eine seltsame Macht schien davon auszugehen. Die Ohren sahen aus wie die eines Elfs: Lang, schmal und am Ende etwas spitz. Der Engel war groß und schlank, jedoch auch muskulös gebaut. Er trug ein elegantes, weißes Gewand, was ihn irgendwie magisch wirken lies. Langes, dunkles Haar wehte im Wind und umrahmte die Figur. Abgerundet wurde die gesamte Skizze durch die großen, schwarzen Schwingen, die aus schier tausenden und abertausenden feinen Federn zu bestehen schienen. Dieser junge Mann mit den Flügeln war doch nur eine Zeichnung... und trotzdem anders als alles andere, was Natsuki bis jetzt geträumt und skizziert hatte. Wieso wusste sie, wie er aussehen sollte, wo man den Engel im Traum doch nur schemenhaft erkennen konnte? Und warum klopfte ihr Herz auf einmal so laut?

„Also, Natsuki“, das Mädchen zuckte zusammen, als sie die leicht besorgte Stimme ihrer besten Freundin vernahm.

Etwas verwirrt blickte die Grünhaarige Aoko an.

„Was ist denn heute mit dir los? Du stehst ja total neben den Schuhen“, bemerkte diese und setzte sich neben sie. „Hat dich das mit dem Date gestern so sehr schockiert?“

„Nein“, Natsuki schüttelte heftig den Kopf. „Das ist es nicht. Ich meine, das war echt furchtbar und so, aber nein.“

„Du weißt, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt, kannst du es mir immer sagen“, erklärte Aoko und nickte dabei verständnisvoll.

Die Fünfzehnjährige lächelte. „Vielen Dank. Das weiß ich zu schätzen.“ Sie konnte ihrer Freundin trotz allem nicht erzählen, dass sie solche Träume hatte. Sie würde die Grünhaarige für verrückt erklären. Aber es war nett, wie sie sich sorgte.

„Wollen wir jetzt in die Cafeteria gehen und uns ein Lunchpaket holen?“, fragte Aoko. „Ich hab einen Bärenhunger.“

Natsuki musste kichern. Das war ihre beste Freundin eben. Deren Magen glich ohne Zweifel einem endlosen, schwarzen Loch. Ohne Essen konnte sie einfach nicht leben und trotzdem wurde Aoko nicht dick. Sie war ein echter Nimmersatt.

„Klar“, die Grünhaarige nickte. „Lass uns gehen.“
 

Natsuki atmete die etwas frische, feuchte Abendluft ein und füllte damit ihre Lungen. Am Horizont verfärbte sich der Himmel schon leicht rosa. Sie war auf dem Weg zu ihrem Kendo-Training und nahm dafür den etwas längeren, jedoch auch schöneren Weg durch den Momokuri Park. Jetzt war dort nicht viel los. Nur ein paar Jugendliche von der High School, die nun Schulschluss hatten, kamen ihr entgegen. Auf einer Parkbank saß eine alte Dame und fütterte Tauben mit trockenen Brotkrumen. Energisch hackten die Vögel mit ihren Schnäbeln auf den Boden ein, um auch ja jedes Körnchen zu erhaschen.

Natsuki musste lächeln. Die Tauben wirkten so unbeschwert und frei. Als ob es nichts Schlechtes gäbe auf der Welt.

Die Fünfzehnjährige warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr und erschrak. Sie sollte sich besser sputen, wenn sie nicht zu spät zum Training kommen wollte!

Das Mädchen beschleunigte die Schritte und hastete den schmalen, gepflasterten Weg, der sich quer durch den Park schlängelte, entlang. Zwischen den sorgfältig gepflegten Bäumen, Sträuchern und Blumen konnte man das leise Zirpen von ein paar Grillen vernehmen.

Endlich. Da vorne, am Ende des Parks baute sich die große Trainingshalle auf. Sie war einfach gigantisch. Umgeben von einem riesigen, grau gepflasterten Parkplatz war sie aus mächtigen, stählernen Metallstreben in den Himmel erhoben worden. Ein großes, flaches Dach lag schwer lastend auf dem Gebäude, gestützt durch majestätische Balken. Ein beeindruckendes Eingangstor stand offen, jede Minute gingen Menschen ein und aus.

Natsuki kam jeden Tag nach der Schule hierher, um ihre Sportart zu trainieren. Manchmal auch samstags, wenn ein Turnier oder ein Wettkampf stattfand. Dies war sozusagen ihr „Schloss“, ihr „Himmelreich“. Das Mädchen konnte sich keinen schöneren Zeitvertreib vorstellen, als sich beim Kendo abzureagieren und all ihre Kraft in dem langen Holzstab, der ein Schwert ersetzen sollte, zu konzentrieren.

„Ah, hallo, Nagoya-san.“ Als Natsuki die vergnügte, helle Stimme vernahm, drehte sie sich ruckartig um und erblickte ein Mädchen mit schokobraunem Haar. Dies war Yumi, ihre Freundin aus dem Training. Sie war recht klein und dünn, um einiges kleiner sogar als Natsuki selbst, hatte schneeweiße Zähne und das strahlendste Lächeln, das man sich vorstellen konnte. Ihre großen, dunklen Augen blickten einen immer herzlich an.

„Und, wie waren deine Ferien?“, fragte Natsuki die Freundin.

„Klasse!“, antwortete Yumi. Dann auf einmal blickte sie die Grünhaarige geschockt an und rief entsetzt: „Ach je, du hattest doch gestern Geburtstag, oder?“

„Vorgestern“, erwiderte Natsuki.

„Oh mein Gott“, platzte Yumi hervor. „Das hab ich total vergessen. Gomen nasai, Nagoya-san. Es ist mir wirklich komplett entfallen. Ach herrjemine. Gomen nasai!“ Bei jedem Wort, das das Mädchen aussprach, verbeugte sie sich einmal tief.

Die Fünfzehnjährige musste grinsen. Das war einfach typisch Yumi. Diese meinte das natürlich nicht böse, nein. Ihre Freundin aus dem Kendo-Training wäre nicht mal in der Lage, einer Fliege etwas zuleide zu tun. Aber Yumis Problem war, dass sie furchtbar vergesslich war.

Schon ein paarmal hatte Natsuki ihr eine Trainingshose oder eine Fahrkarte für den Nachhauseweg mit der Bahn ausleihen müssen, da die Brünette ihre eigenen vergessen hatte. Und einmal hatte sie sogar ihren Kampfstock zu Hause liegen lassen und musste einen Gebrauchten aus dem Bestand des Vereins benutzen. Ja, Natsuki konnte sich sogar an einen Tag erinnern, an dem das Training eine Stunde früher losgehen sollte. Völlig verdutzt war dann irgendwann Yumi während einer Lektion hereingeschneit gekommen und hatte sich gewundert, warum denn alle schon versammelt waren.

Tja, das war eben ihre Freundin, und Natsuki selbst würde nie auf die Idee kommen, dem übrigens dreizehnjährigen Mädchen für irgendetwas böse zu sein. Sie war der festen Überzeugung, dass eigentlich niemand auf der Welt Yumi wegen irgendeiner Sache böse sein konnte. Dieser Kindskopf war eben die Ruhe selbst, so aufgeweckt und fröhlich, dass man sie einfach gerne haben musste.

„Ich habe so ein schlechtes Gewissen“, meinte die Brünette traurig und schaute so niedergeschlagen, dass Natsuki sie erst einmal umarmen musste. „Das ist doch nicht schlimm“, erklärte sie ihr und nickte wichtig. „Ob du mir heute gratulierst oder in zehn Jahren, ist egal. Ich finde es schön, wenn du dich an mich erinnerst, und das ist doch die Hauptsache, oder?“
 

Natsuki fixierte ihren Gegner. Es war ein großer, stämmiger Junge in ungefähr ihrem Alter. Er schien zuversichtlich, den Trainingskampf zu gewinnen. Der musste wohl neu sein.

Die Fünfzehnjährige selbst war ja, wenn man sie von außen betrachtete, ziemlich zierlich, dünn und klein. Daher wurde sie oftmals von ihren meist viel kräftiger wirkenden Gegnern unterschätzt. Dies stellte sich meistens hinterher als schwerwiegender Fehler heraus. Die Menschen dachten, ‚Oh, was kann mir so ein kleines Mädchen denn schon anhaben?‘, und nach dem Kampf bemerkten sie erst: ‚Eine ganze Menge!‘

Natsukis Kampfstil war nicht zierlich, nein, ganz und gar nicht. Sie war schnell und wendig und konnte hart zuschlagen. Viele andere im Training bewunderten des Mädchens verbissene Art, zu Kämpfen.

Nun griff der Gegner an. Er schwang sein hölzernes Übungsschwert und holte zu einem weiten Schlag aus. Das hatte die Fünfzehnjährige schon vorhergesehen. Sie blockte den Angriff des Jungen ab und konzentrierte die Kraft in ihre eigene Waffe, um blitzschnell zuzuschlagen. Treffer.

Dann hörte sie den Trainer rufen. Anscheinend war der Kampf beendet. Das Training ging seinem Ende zu. Die beiden Kontrahenten, Natsuki und ihr Gegner, verbeugten sich und gingen auseinander.
 

Natsuki kramte den Schlüssel zur Wohnung aus ihrer Tasche und schloss die Türe auf. Sie warf ihre Trainingstasche, die Schuhe und die Jacke zur Seite und setzte sich auf das Sofa. Jetzt erst mal ein wenig entspannen. Nachdem das Mädchen ein paar Minuten lang so dagesessen war, blickte sie verwundert auf. Komisch. Wieso war es so still in der Wohnung? Kein spielerisches Gezanke zwischen ihren Eltern aus der Küche war zu hören. Keine Marron, die ihr um den Hals fiel und sie begrüßte, als wäre ihre Tochter zehn Jahre lang im Ausland gewesen. Kein Chiaki, der sich irgendwelche Sportsendungen im Fernsehen ansah und alle fünf Sekunden „FOUL! FOUL!“ brüllte. Was war los?

Dann entdeckte Natsuki den kleinen, weißen Zettel, der neben einem Teller noch warmer, gut duftender Ramen auf dem Tisch stand. Das Mädchen nahm ihn in die Hand und las.

„Natsuki, dein Vater hat heute Abend eine wichtige OP und kommt erst spät von der Arbeit nach Hause. Ich bin von Miyako zum Abendessen eingeladen worden, aber ich vermute, du willst nicht zu uns hinüberkommen und mitessen.“

„Richtig vermutet, Mom“, murmelte Natsuki und las weiter.

„Daher habe ich dir einen Teller Ramen auf den Tisch gestellt. Bitte sei nicht böse, wir werden dafür morgen Abend wieder alle gemeinsam essen können. –Marron.“

Tja. Natsuki faltete den Zettel zusammen und legte ihn beiseite. Dann sollte sie die Nudeln doch besser erst einmal aufessen, bevor sie kalt wurden. Das Mädchen setzte sich an den Tisch und schlang hastig ihr Abendessen hinunter. Das Training machte sie wirklich meistens furchtbar hungrig.

Als die Fünfzehnjährige fertig war, räumte sie eilig das Geschirr beiseite und ging ins Badezimmer. Nach dem Kendo brauchte sie immer ein heißes Bad. Also drehte Natsuki den Hahn auf und ließ warmes, schäumendes Badewasser in die Wanne. In zehn Minuten war das Becken mit heißem, nach Meer duftendem Wasser gefüllt.

Schließlich legte Natsuki ihre Kleider über die Heizung und ließ sich in die Wanne gleiten. Ein warmes, angenehmes Gefühl durchströmte sie und das Mädchen schloss die Augen.

Dann, auf einmal überkam die Grünhaarige eine merkwürdige Empfindung. Es war, als würde an ihrem Hals etwas vibrieren. Überrascht schlug Natsuki die Augen wieder auf und entdeckte, dass sie immer noch die Halskette trug, welche der kleine Junge ihr gestern Nachmittag geschenkt hatte. Diese hatte nun aber merkwürdig, ganz leicht zu zittern angefangen, als ob sich darin etwas Lebendiges befand.

Plötzlich begann der Anhänger, zu leuchten. Zuerst erhellte sich nur das eingravierte Herz, dann breitete sich das Glühen auf die gesamte rote Fläche und schließlich auf die seitlich herausragenden Flügel aus. Immer mehr Licht schien aus dem kleinen, so unscheinbar wirkenden Schmuckstück zu schießen und Natsuki mitsamt dem ganzen Badezimmer zu umhüllen. Der Boden wurde unter ihren Füßen weggerissen.

Das Mädchen fühlte sich, als würde sie gerade den gesamten Planeten Erde in Lichtgeschwindigkeit umkreisen, was ja eigentlich nicht ging, wie sie in ihrem ,räusper, „Lieblingsfach“ Physik gelernt hatten. Doch im Moment hatte die Fünfzehnjährige den Gedanken, sie sei das pure Licht.

Nun bekam Natsuki langsam wieder etwas Halt und versuchte, sich auszubalancieren. Das Leuchten wurde mit der Zeit etwas schwächer und man konnte die Umrisse des Badezimmers erkennen. Das Mädchen erschrak, dass sie schwankend auf der Kante der Badewanne stand. Wie war sie dort hinaufgekommen? Verdutzt blickte sie sich um, denn alles Wasser war auf einmal aus der Wanne verschwunden. Wohin war es denn gegangen?

Schließlich schaute Natsuki an sich herunter und erschrak gewaltig. Was hatte sie denn auf einmal für komische Klamotten an? Angefangen bei grünen, zierlichen Absatzschuhen mit einem Schaft, wo über der Ferse eine kleine, rote Kristallkugel prangte, trug das Mädchen silberne Knie- und Unterarmschoner, die ebenfalls mit roten Edelsteinen verziert waren. Außerdem hatte Natsuki einen grünen, genauso geschmückten Brustpanzer an, der ein weißes, luftiges T-Shirt festhielt, und eine kurze, grüne Hose. Darüber umrundete ein roter, glänzender Gürtel ihre Taille und ein weißes Tuch umwehte die Beine der Fünfzehnjährigen. Schockiert bemerkte sie schließlich auch, dass ihre Haare länger geworden waren und mehrere Strähnen nun fast bis zum Boden reichten, wo sie von roten Schleifen zusammengebunden waren.

Der größte Schreck jedoch überkam Natsuki, als sie sich umdrehte und in den Badezimmerspiegel blickte. Auf ihrer Stirn sah sie ein silbernes Diadem, in dessen Mitte ein großer, runder, roter Edelstein saß. In ähnlichem Design, silber und rot, waren auch die Ohrringe verfasst worden, die an ihren jetzt so spitz wie bei einer Elfe aussehenden Ohren baumelten. Ihre Augen waren nicht mehr wie gewohnt grün-braun, sondern hatten etwas von einer stechenden, giftgrünen Farbe. Die Pupillen waren zu schmalen, senkrechten Strichen geworden, so wie bei dem Engel aus ihrem Traum, oder wie bei einer Katze. Moment? ENGEL?

Erst jetzt bemerkte Natsuki es, doch da standen wirklich große, weiße Flügel zwischen ihren Schulterblättern heraus und umrahmten den Oberkörper wie eine Sphäre. Was war hier bloß los? War dies ein Traum? Das Mädchen kniff sich fest in den Oberarm. Sie spürte den Schmerz deutlich. Es war klar: Dies hier war real! Die Fünfzehnjährige musste tief Luft holen. Erschrocken stürzte sie aus dem Badezimmer und suchte nach ihrem Skizzenbuch. Vielleicht konnte sie sich beruhigen, nachdem sie darin eingetragen hatte. Was ein Glück. Es lag auf dem Wohnzimmertisch, Natsuki rannte darauf zu und schnappte sich den Block hektisch.

Dann, plötzlich hörte sie ein Brausen. Das Mädchen drehte den Kopf und sah das ganze Badewasser, das vorhin verschwunden war, auf sie zurollen. Wie ein Strudel wurde die Fünfzehnjährige davon umkreist und schoss in einer gewaltigen Fontäne durch einen regenbogenfarbenen Tunnel. Natsuki verstand die Welt nicht mehr. War das nun wirklich oder nicht? Drehte sie jetzt völlig am Rad?

Die Stimme war ganz leise und schien aus ihr selbst zu kommen, ohne dass das Mädchen persönlich den Mund aufmachte. „Erwache, Fynn Fish.“
 

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Fortsetzung folgt am 10.07.2011

Kurze Vorschau:

„Ich mache dir gleich eine heiße Schokolade“, mit diesen Worten stürmte Marron in die Küche und machte die Türe hinter sich zu.

Kaum war sie verschwunden, vernahmen Natsuki und ihr Vater, die beide noch im Hausflur standen, das Klingeln der Wohnungstüre.

„No... äh...“, Chiaki schüttelte den Kopf und knurrte dann bedrohlich: „Hijiri Shikaido!“
 

Enjoy<3

Vom Schicksal verhasst

Hallo =) Ich bitte vielmals um Verzeihung, ich weiß, es ist eine Woche später, als ich eigentlich angekündigt habe, aber dummerweise war ich letzte Woche verhindert. Ich hoffe, dass trotzdem noch Interesse an Ynt besteht.

Hinweis: In diesem Kapitel bekommt Hijiri Shikaido alias Noyn Claude einen Gastauftritt. Ich habe noch weitere Gastauftritte geplant, im fünften Kapitel wird Zen Takazuchiya seine Stunde haben, und vielleicht lasse ich sogar Silk im späteren Verlauf der Geschichte zur Tür hereinschauen. Freut euch darauf =3

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Vom Schicksal verhasst

Sie verspürte einen stechenden Schmerz. Ein Feuer so heiß, als würde ihre Seele aus ihr herausgerissen. Das Mädchen krümmte sich und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Es tat so sehr weh. Musste sie sterben? Auf einmal linderte sich das Brennen, als sie von jemandes Armen umschlossen wurde. Die Fünfzehnjährige spürte es, doch obwohl sie sich nach allen Seiten umsah, dort war niemand. Woher kam dann dieses Gefühl einer so innigen Umarmung?

„Mein Ohrring“, Natsuki vernahm eine Stimme. Die Stimme kam ihr ziemlich bekannt vor. Und doch war sie sich sicher, sie noch nie zuvor gehört zu haben. Die Stimme löste unkontrolliertes Herzklopfen bei der Grünhaarigen aus. „Gib ihn mir wieder.“

Das Mädchen blickte sich um. Doch sie konnte niemanden entdecken. Sie wollte rufen ‚Wer bist du?‘ und ‚Was soll ich dir wiedergeben?‘ Sie schüttelte aus Unverständnis den Kopf. Die vielen Fragen schienen ihren Schädel von innen sprengen zu wollen, so sehr verspürte die Fünfzehnjährige das Bedürfnis, sie in die Freiheit zu entlassen. Wer war es, der den Ohrring zurückhaben wollte? Wieso kam er ausgerechnet jetzt zu ihr? War es nun am Ende an der Zeit, das Geheimnis ihres Ohrrings zu lüften?

„Auf Wiedersehen... bitte...“, die Stimme sprach wieder. Sie klang unendlich traurig. Natsuki verstand nicht. Warum war es schon Zeit für einen Abschied? Sie wollte ‚Nein‘ rufen, wollte wissen, wem der Ohrring gehörte, doch die Stimme des Mädchens versagte.

„Fynn...“

Auf einmal verschwamm alles vor den Augen der Fünfzehnjährigen und sie spürte einen unendlichen Sog, der sie in die Tiefe riss. Sie wollte noch nicht gehen! Sie wollte bei dem Mensch bleiben, der mit ihr gesprochen hatte. Natsuki hatte noch so viele Fragen, welche sie diesem Menschen stellen musste. Der Sog wurde jetzt stärker und das Mädchen fühlte sich, als strömte gerade sämtliche Atemluft aus ihren Lungen heraus.

Schließlich schlug die Grünhaarige in Panik die Augen auf und blickte sich um. Sie lag auf der Sofacouch im Wohnzimmer. Alles war dunkel. Sie musste wohl geträumt haben. Und langsam... kamen die Erinnerungen an den Traum hoch. Sie hatte geträumt, dass sie ein Engel war. Es war ganz seltsam gewesen. Dann war da das mit der Welle und dem Schmerz. Und dann... diese Stimme.

Wenn Natsuki auch nur daran dachte, verspürte sie entlang der Wirbelsäule ein merkwürdiges Kribbeln. Wieso bekam sie jetzt Herzklopfen? Was war bloß los mit ihr? Das Mädchen wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und atmete einmal tief ein und wieder aus.

Dann fasste sie sich wieder. Es war merkwürdig, nicht? Die Fünfzehnjährige könnte darauf schwören, diese Stimme noch nie zuvor in ihrem Leben gehört zu haben. Und doch... und doch kam sie ihr so schrecklich bekannt vor. Die Stimme löste eine tiefe Sehnsucht in Natsuki aus. Es war aber keine Sehnsucht, wie sie es schon jemals in ihrem Leben verspürt hatte, wenn sie zum Beispiel auf Wochenendreise war und ihre Eltern vermisste oder wenn sie sich danach sehnte, mit einem Jungen auszugehen. Nein, diese Sehnsucht war uralt, älter als Natsukis Erinnerungen zurückreichten und außerdem war sie viel... tiefer. Das Mädchen hatte das Gefühl, dass wenn ihre Sehnsucht nicht bald befriedigt werden würde, sie daran verginge.

Doch das Merkwürdige war doch, die Fünfzehnjährige hatte keine Ahnung, woher diese plötzliche, unendliche Sehnsucht kam, und das Wichtigste, nach was sie sich überhaupt sehnte.

Wie konnte sie solche tiefen Sehnsüchte in sich aufkommen spüren, ohne zu wissen, nach was sie sich sehnte?

Natsukis Gedanken wurden unterbrochen durch das Klicken der Haustüre, das die Rückkehr entweder ihres Vaters oder ihrer Mutter oder am Ende sogar beider ankündigte.

Das Mädchen warf einen raschen Blick auf die Uhr. Es war halb zehn.

„Natsuki?“, sie vernahm die helle, freundliche Stimme ihrer Mutter. Die Fünfzehnjährige blickte sich um. Ihre Eltern standen beide im Türrahmen.

„Endlich seid ihr wieder da“, bemerkte Natsuki erleichtert.

Marron stürzte sich auf sie und erdrückte ihre schockierte Tochter beinahe. „Tut uns leid, dass wir dich so lange alleine gelassen haben! Ich verspreche dir, dass das nicht zur Gewohnheit wird!“

Das Mädchen schaute ihre Mutter mit verständnisvollem Blick an. Die Brünette hatte immer ein sehr schlechtes Gewissen, wenn sie und Chiaki ihre Tochter alleine ließen, und war es auch nur für einen Abend. Dabei war Natsuki nun wirklich nicht einsam und manchmal sogar froh, wenn sie ein wenig Zeit für sich hatte. Doch die Fünfzehnjährige wusste, dass Marron früher sehr viel alleine gewesen war, weil ihre Eltern im Ausland gearbeitet hatten und da keine Zeit für sie übrig geblieben war. Ihre Mutter wollte sicher gehen, dass sie selbst ihr Kind nicht so vernachlässigte, wie es mit ihr geschehen war.

„Ich mache dir gleich eine heiße Schokolade“, mit diesen Worten stürmte Marron in die Küche und machte die Türe hinter sich zu.

Kaum war sie verschwunden, vernahmen Natsuki und ihr Vater, die beide noch im Hausflur standen, das Klingeln der Wohnungstüre.

„Welcher Idiot kann denn jetzt noch etwas wollen?“, fluchte Chiaki verärgert und riss die Türe auf. Noch während der Bewegung erstarrte der Mann zu Eis. Sämtliche seiner Muskeln schienen eingefroren zu sein.

Neugierig trat seine Tochter neben ihn, sie wollte wissen, wer in der Lage war, ihren Vater so sehr zu erschrecken. Vor ihnen stand ein junger Mann, Natsuki schätzte ihn auf vielleicht 22- 25 Jahre. Der Fremde hatte dunkelrotes Haar, das hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und ebenso stechend rote Augen. Er trug dunkle, eng anliegende Kleidung, die den athletische Körperbau und die Größe des Besuchers betonte. Der Blick des Mannes war auf den Vater gerichtet und gab keinerlei Emotionen preis, während Chiaki diesen wiederum voller Abscheu anblickte.

Insgesamt war der Fremde ziemlich attraktiv, fand Natsuki, doch hatte er irgendetwas Unheimliches an sich, das dem Mädchen das Gefühl gab, lieber nicht alleine mit ihm in einem Raum sein zu wollen.

Der Besucher trug in den verschränkten Armen ein großes Bündel voll blutroter Rosen.

„No... äh...“, Chiaki schüttelte den Kopf und knurrte dann bedrohlich: „Hijiri Shikaido!“

Der Mann mit den dunkelroten Haaren neigte den Kopf ganz leicht, um eine spöttische Verbeugung anzudeuten. „So sieht man sich wieder, Nagoya.“ Dann fiel sein Blick auf Natsuki, die er von Kopf bis Fuß musterte. „Ist das eure Tochter?“, fragte er und klang dabei ziemlich unschuldig.

„Ja“, antwortete Chiaki trocken.

„Sie sieht ihr ähnlich“, bemerkte Hijiri Shikaido, der Fremde, knapp.

‚Wem soll ich ähnlich sehen?‘, fragte Natsuki sich in Gedanken. Meinte dieser Typ ihre Mutter? Komisch, fand das Mädchen. Sonst wurde sie eigentlich vom Aussehen her, vom Gesichtsausdruck und den Augen eher mit ihrem Vater verglichen.

„Und wenn schon. Lass Natsuki aus dem Spiel!“, erwiderte Chiaki und klang dabei sehr verärgert. Wollte er nicht, dass Natsuki ihrer Mutter ähnlich sah? Wieso war er so wütend?

„Natsuki heißt sie also?“, Hijiri Shikaido zog eine Augenbraue hoch. Sein Mundwinkel neigte sich nach oben zu einem leichten Grinsen. „Sehr einfallsreich.“ Seine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus.

Das Mädchen legte mit fragendem Blick den Kopf schief. Machte der Kerl sich über ihren Namen lustig? Aber wieso sollte es nicht einfallsreich sein? Natsuki als Mädchenname war doch eher einer, der nicht so besonders häufig verwendet wurde, oder? Sie meinte, jetzt im Vergleich zum Beispiel zu Sakura oder Yuki oder Nanami oder so...

„Marron hat ihr den Namen gegeben“, knurrte Chiaki und verschränkte wie zur Abwehr die Arme vor der Brust. Dann blickte er voll Abneigung die Rosen an, welche der Fremde in der Hand hielt. „Was sollen die Blumen? Wenn du dich einschleimen willst, kannst du deinen dämlichen Hintern gleich wieder von hier fortbewegen und-“

Der Wutausbruch von Natsukis Vater wurde durch die verärgerte Stimme seiner Ehefrau unterbrochen, die den fertigen Kakao für ihre Tochter in der Hand hielt.

„Chiaki!!!“, schimpfte sie. „Geht man so mit seinen Gästen um?“

Chiaki zog den Kopf ein und blickte niedergeschlagen auf den Boden wie ein geprügelter Hund. „Du hast diesen ...Bastard... doch nicht etwa eingeladen, oder?“

Marron ignorierte ihn und begrüßte den Besucher lächelnd. „Schön, dich wiederzusehen, Shikaido-san.“

Der junge Mann fiel vor der Frau auf die Knie, nahm ihre Hand in seine und küsste diese vorsichtig. „Es ist schon so lange her.“

Chiaki blickte den Fremden an, als würde er ihn am liebsten mit tausend giftigen Messern erdolchen. Natsuki wunderte sich sehr darüber. Ihr Vater war doch sonst nicht eifersüchtig, oder? Und woher kannte ihre Mutter bloß so einen Typen?

Hijiri Shikaido stand wieder auf und überreichte Marron die Rosen, die er mitgebracht hatte. „Diese Blumen sind alleine für dich, Marron. Sie sind nicht zu vergleichen mit deiner Schönheit, aber ich dachte mir, ein Geschenk wäre angebracht, deiner reinen Seele, die noch bezaubernder ist als die Sterne am Nachthimmel, zu huldigen.“

Natsuki und ihr Vater mussten beide ihre plötzlich aufkommenden Würgereize unterdrücken. Was war los mit diesem Kerl, fragte das Mädchen sich in Gedanken. Der hatte ja eine Ausdrucksweise wie zu Zeiten des Mittelalters.

Marron kicherte wie ein kleines Schulmädchen. „Du bist und bleibst ein Schmeichler, Shikaido-san.“

„Wir müssen uns unterhalten“, Hijiri Shikaido blickte die Frau mit ernstem Gesicht an. Dann musterte er Chiaki. „Unter vier Augen“, fügte der Besucher stichelnd hinzu.

Der Blauhaarige ballte die Hände zu Fäusten und donnerte: „Was erlaubst du dir eigentlich, hier einfach so hereinzuschneien und Marron zu verführen und ihr Blumen zu schenken und dann auch noch zu verlangen, dass-“

„CHI-AKI!“, unterbrach seine Ehefrau den vor Wut Tobenden abermals. Dann wandte sie sich wieder zu Hijiri Shikaido um und flötete mit honigsüßer Stimme, als sei nichts geschehen: „Am besten, wir gehen in die Küche.“

Marron packte den Besucher am Jackenärmel, zog ihn hinein in die Wohnung, in die Küche, und schloss dann die Türe hinter sich.

„Wer ist denn das, Papa?“, fragte nun Natsuki, wie aus einer Starre erlöst, nachdem die beiden verschwunden waren.

„Ein ehemaliger Geschichtslehrer von deiner Mutter, Miyako, Yamato und mir“, antwortete Chiaki. Er spähte immer wieder besorgt in Richtung Küche.

„Euer Lehrer?“, wiederholte die Fünfzehnjährige verdutzt. „Aber der sieht doch viel jünger aus als ihr!“

„Ach das...“, ihr Vater schnappte hörbar nach Luft. „Ach, der... äh... hat einfach schon ganz viele Schönheits-Operationen hinter sich! Also im Ernst, der ist viel, viel älter als wir!“

Jetzt wandte Chiaki sich von seiner Tochter ab, schlich leise und auf Zehenspitzen vor die Küchentüre und hob vorsichtig ein Ohr an das Schlüsselloch.

Natsuki musste kichern. Wie ihr Vater so dasaß, sah er aus wie ein eifersüchtiger, kleiner Schuljunge. Sie kniete sich neben ihn auf den Boden, neigte den Kopf nach vorne zum Türspalt und lauschte ebenfalls.

„-bist nicht zum Süßholzraspeln hergekommen, Noyn.“ Das war Marrons Stimme. Sie klang nun leicht streng. Aber wer war denn Noyn? War das eine Art Kosename für diesen Typen namens Hijiri Shikaido? Sehr seltsam.

„Ich weiß, ich weiß“, nun sprach der Fremde. Er klang merkwürdig traurig. „Auch wenn ich wünschte, du hättest dich damals für mich entschieden anstatt für Nagoya.“

Natsuki sah, wie ihr Vater neben ihr sich anspannte und lautlos, doch mit verzogener Miene die Fäuste ballte.

Von hinter der Türe konnte man nun einen tiefen Seufzer vernehmen, der ohne Zweifel von dem Besucher, Hijiri Shikaido kam. „Naja, dann werde ich wohl auf das nächste Mal warten müssen. Daran bin ich ja gewöhnt.“ Was meinte er bloß mit „nächstes Mal“? Dieser Kerl war Natsuki ein absolutes Rätsel? Was beredeten er und ihre Mutter da bloß?

„Noyn...“, Marrons Stimme hörte sich sehr mitleidig an.

„Also, kommen wir zum Thema“, auf einmal fasste sich der Fremde. „Du hattest mich ja gebeten, deine Tochter zu beobachten.“

Ihre Mutter hatte WAS? Das konnte doch nicht wahr sein! Natsukis Augen weiteten sich und schockiert blickte sie ihren Vater an. Wie konnte Marron nur so etwas tun? Dieser schüttelte den Kopf. „Geh!“, murmelt er, „das ist wohl nicht für deine Ohren bestimmt.“

„Aber-“, das Mädchen wollte wiedersprechen, doch Chiakis Augen verengten sich zu Schlitzen. „Bitte geh!“, zischte er.

Beleidigt richtete die Fünfzehnjährige sich auf und stapfte auf ihr Zimmer zu. Das war total ungerecht! Sie wollte auch wissen, worum es ging! Vorsichtig blickte sie sich um. Ihr Vater hatte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schlüsselloch zugewandt. Leise schlich Natsuki um die Ecke, ins Esszimmer. Da hätte sie auch früher draufkommen können! Hier gab es auch eine Tür, die zur Küche führte.

Das Mädchen hockte sich hin und hob ihren Kopf ans Schlüsselloch. Nun konnte sie weiter dieses hochinteressante Gespräch verfolgen.

„-es steht Ernst um sie“, das war die Stimme des fremden Mannes. „Ihre Verwandlung ist schon fast vollendet.“

Tausende Fragen wirbelten in Natsukis Kopf umher, nach einer Antwort gierend. Was redeten die da? Was denn bitte schön für eine Verwandlung? War dieser Typ am Ende sogar... so ein merkwürdiger Erziehungsberater, der Eltern half, besser mit ihren pubertierenden Jugendlichen umzugehen? Die Fünfzehnjährige hatte so etwas schon ein paar Mal im Fernsehen gesehen. Aber wieso suchte ihre Mutter nach so jemandem, um sie zu beobachten? War sie denn ein Problemkind? Soweit das Mädchen sich zurückerinnern konnte, hatte sie noch nie ernsthaften Streit mit ihren Eltern gehabt.

„U-und was bedeutet das?“, ihre Mutter dämpfte die Lautstärke, sodass Natsuki sie hinter der Türe kaum verstand.

„Das bedeutet, dass sie bald beginnt, sich vollständig zu erinnern“, fuhr Hijiri Shikaido fort. „Und je mehr sie über ihre Vergangenheit herausfindet, desto anfälliger ist sie für Dämonen. Ich habe schon jetzt einige in ihrer direkten Umgebung ausmachen können.“

Dämonen? Die Fünfzehnjährige schüttelte aus Frust und Unverständnis den Kopf. Sollte das ein Scherz sein? Wurde jetzt gleich die versteckte Kamera enthüllt und vor sämtlichen Bildschirmen Japans lachten die Leute sich kaputt über sie? Nein, das konnten ihre Mutter und dieser merkwürdige Lehrer, der aussah wie zwanzig, doch nicht ernst meinen. Oder?

„Und“, das war wieder die Stimme von Marron, die nun sehr besorgt und angstvoll klang, „was können wir tun, um sie zu schützen?“

„Wir könnten womöglich versuchen, die vollständige Erinnerung so gut es geht hinauszuzögern, das würde jedoch schwierig werden“, schlug Hijiri Shikaido vor. „Sie dürfte keinen Kontakt mehr haben zu Personen, die sie schon vorher gekannt hat. Allen voran natürlich nicht zu dem Jungen.“

„Shinji? Aber das wäre doch schlimm für den Ärmsten“, klagte die Mutter. „Er musste schon so lange warten. Und außerdem... das würde bedeuten, dass sie auch keinen Kontakt mehr zu mir und Chiaki haben dürfte, oder?“

Moment! Was hatte Shinji jetzt mit der ganzen Sache zu tun? Ach, was fragte sie überhaupt noch. Es war ja sonnenklar. Immer, wenn es scheinbar genau der falsche Augenblick war, dann, genau dann tauchte dieser Vollidiot in Natsukis Leben auf! Wie hätte die Fünfzehnjährige auch etwas anderes erwarten können?

„Ja“, der Fremde stimmte Marron zu. „Jedoch bezweifle ich, dass diese Lösung uns auf Dauer wirklich weiterbringt. Irgendwann wird eure Tochter sich so oder so wieder erinnern.“

„Und was schlägst du dann vor?“, fragte Natsukis Mutter.

„Ich denke, der Junge könnte vielleicht auch die Lösung unseres Problems sein. Schließlich hat er seine Erinnerungen behalten, oder?“, überlegte Hijiri Shikaido.

Die Fünfzehnjährige ging mit dem Kopf dichter an das Schlüsselloch und lauschte aufmerksam. So langsam wurde dies hier wirklich unheimlich.

„Ja“, meinte Marron. „Aber das würde auch nicht einfacher werden. Sie hasst ihn und lässt in nicht auch nur mit fünf Meter Abstand in ihre Nähe.“

Die redeten DEFINITIV von Shinji. Natsuki nickte. So langsam wurde ihr alles klar. Sie musste wohl immer noch träumen. Das war einfach zu verrückt, um wahr zu sein.

„Ist wohl immer noch so kratzbürstig, was?“, fragte der fremde Mann, und in seiner Stimme schwang ein wenig Spott mit.

Machte dieser Kerl sich etwa über sie lustig? So langsam ging dieser merkwürdige Traum echt zu weit. Der Typ kannte sie doch gar nicht! Woher wollte er denn wissen, ob sie kratzbürstig war oder nicht?

Wütend erhob sich Natsuki aus ihrer Sitzposition. Nun hatte sie genug gehört. Das hier konnte doch alles gar nicht wahr sein! Ihr reichte es wirklich für die nächsten paar Wochen an seltsamen Ereignissen. Energisch stapfte sie in Richtung ihres Zimmers, als sie den Schrei ihrer Mutter vernahm.

„Finger weg!“

Ruckartig drehte die Fünfzehnjährige sich um und stürzte in Richtung Küchentür. Zur gleichen Zeit platzte auch Chiaki in den Raum hinein.

„Das reicht jetzt! Lass Marron sofort in Ruhe!“, rief er aufgebracht und blieb packte den ehemaligen Lehrer Hijiri Shikaido am Kragen.

Verärgert stemmte seine Ehefrau ihre Arme in die Seiten und blickte Natsukis Vater wütend an. „Chiaki!“, schimpfte sie. „Du hast doch an der Türe gelauscht, stimmts? Eine Unverschämtheit ist das! Nicht mal vor einem Gast kannst du dich ordentlich benehmen!“

„Aber du hast doch geschrien... und...“, der Blauhaarige schnappte nach Luft und gestikulierte wie wild mit den Armen. Er hatte sich ernsthafte Sorgen gemacht und verstand einfach nicht, was daran hätte falsch sein sollen. Ebenso wenig verstand seine Tochter, wieso Marron sich so sehr über ihren Gatten aufregte. Was war vorgefallen?

Als hätte die Frau die Gedanken ihrer beiden Liebsten gelesen, antwortete sie auf deren Frage: „Shikaido-san hat sich gewundert, was in diesen Boxen da ist!“ Sie wies auf zwei hübsch verpackte Kästchen, die auf dem Küchentisch standen. „Ich wollte nicht, dass er sie öffnet, weil das mein Überraschungsbento für euch beide ist! Als Entschuldigung dafür, dass wir heute nicht miteinander zu Abend essen konnten! Aber die Überraschung habt ihr mir ja gründlich verdorben! Herzlichen Glückwunsch!“

Natsuki und ihr Vater liefen beide rot an, jeder aufgrund seines eigenen Empfindens in dieser peinlichen Situation. Nur Hijiri Shikaido ließ das völlig unberührt. Feixend drehte er sich zu Chiaki um und blickte ihn herausfordernd an.

„Mich würde es sehr interessieren, was du denn gedacht hast, das wir machen“, ein leichtes, doch alles sagendes Grinsen lag auf seinen Lippen.

„Spiel nicht den Unschuldigen!“, knurrte Marrons Ehemann und ballte die Hände zu Fäusten. „Wir wissen beide ganz genau, was wir uns darunter vorzustellen haben!“

„Chiaki, um Himmels willen! Das ist wirklich unhöflich“, die Brünette hörte sich an, als wäre sie mit ihrer Geduld am Ende. „Diese Zeiten sind doch längst vorbei! Was erwartest du? Dass Natsuki jetzt jeden Moment mit einem Messer auf mich losgeht?“

Schockiert blickte ihre Tochter sie an. Wie kam sie denn jetzt auf die Idee? „Mom! Wie kannst du nur so etwas sagen?“, verständnislos schüttelte das Mädchen den Kopf und ging wütend aus dem Zimmer. Darauf hatte sie wirklich keine Lust mehr.

„Natsuki, warte!“, rief Marron ihr hinterher. „So war das nicht gemeint!“ Dann blickte sie Hijiri Shikaido mit einem etwas bedauernden Gesichtsausdruck an. „Ich danke dir für deine Hilfe. Doch ich denke, es ist für uns alle besser, wenn du jetzt gehst.“

Der Mann nickte. Es war ein vernünftiges, doch auch trauriges, enttäuschtes Nicken. Marron hatte ihre eigene Familie. Sie wollte ihn nicht in ihrer unmittelbaren Nähe haben. Damit musste er sich wohl abfinden und noch ein bisschen warten. Ein sehr, sehr langes bisschen warten. Aber das war Noyn ja gewohnt.
 

Eiligen Schrittes trat Natsuki auf den Bordstein und beschleunigte ein wenig. Sie war heute Morgen extra früh aufgestanden, damit sie ja nie wieder zusammen mit Shinji in seinem blöden Auto zur Schule fahren musste. Das war zu vermeiden, denn der Achtzehnjährige war wirklich im Moment der Allerletzte, den das Mädchen treffen wollte. Sie musste nun ein wenig alleine sein und über die seltsamen Ereignisse nachdenken, die gestern Abend nach dem Kendo-Training vorgefallen waren. Zuerst war da dieser merkwürdige Traum gewesen, in welchem Natsuki sich in einen Engel verwandelt hatte. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob dies real gewesen war oder nicht. Es hatte sich so echt angefühlt. Dann kam das mit der Stimme, die den schwarzen Ohrring wiederhaben wollte. Wer war das gewesen und woher kannte ihn das Mädchen? Sie hatte die Stimme noch nie gehört, trotzdem kam sie ihr so vertraut vor. Und der Gipfel von alledem war ja dann der merkwürdige Besucher gewesen, welcher mit Marron zusammen über Natsuki und irgendwelche Erinnerungen geredet hatte. Wie passte das alles bloß zusammen?

Die Fünfzehnjährige schüttelte energisch den Kopf und versuchte, all die Gedanken an solche seltsamen Ereignisse zu vertreiben. Hoffnungslos. Dabei hatte sie eigentlich vorgehabt, ein halbwegs normales Leben zu führen. Als halbwegs normales Mädchen. Wieso passierte ausgerechnet ihr all dies?

„I-ich glaube, ich mag dich wirklich sehr...“, die Grünhaarige blieb abrupt stehen, als sie eine Stimme vernahm, die ihr ziemlich bekannt vorkam.

Vorsichtig versteckte sie sich hinter einer niedrigen Mauer und lugte dann unauffällig um die Ecke. Das... war unfassbar. Dort saß ein Mädchen aus Natsukis Jahrgangsstufe... ihr Name war, wenn die Fünfzehnjährige sich richtig entsinnen konnte, Hoshigawa Momoko. Aber sie kannten sich nicht gut genug, als dass die Grünhaarige viel mehr über sie hätte aussagen können, als dass sie auffällig blass war und große, runde Augen mit einer pinkfarbenen Iris hatte. Die Haarfarbe der Schülerin war von einem hellen Rosa. Ansonsten war sie eher ein zurückhaltendes, braves Mädchen, das nicht so sehr auffiel.

Jedoch, dass Hoshigawa Momoko dort saß, an einem Tisch vor einem kleinen Restaurant, schockierte Natsuki nicht so sehr. Jeder schwänzte einmal im Leben die Schule oder vertrödelte sich die Zeit ein wenig, sodass er zu spät kam. Laut Chiaki war das ihrer Mutter früher sogar öfters passiert. Aber, der Junge, der ihr gegenüber am selben Tisch saß und ihr ohne Pause Komplimente machte... das war Ren-kun!

„Momoko-san... ich kann es kaum glauben. Ich- ich hatte ehrlich gesagt noch nie eine Verabredung mit einem Mädchen“, beteuerte der rothaarige Junge und wirkte dabei so schüchtern und unschuldig, dass Natsuki ihm dies fast geglaubt hätte. Aber sie wusste es besser. Was war das für ein Kerl? Er sagte zu Hoshigawa-san haargenau dasselbe, wie er auf der Verabredung mit ihr gesagt hatte! Dieser gemeine... Dem Mädchen stiegen die Tränen in die Augen. Ren-kun hatte also nur mit ihren Gefühlen gespielt. Ihre Unerfahrenheit ausgenutzt. Er hatte die Dinge, die er zu ihr gesagt hatte, nicht ernst gemeint. Und dazu hatte er ihr noch ein schlechtes Gewissen gemacht, wegen der Sache mit Shinji! Shinji ihr Freund... und Natsuki eine Betrügerin! Das war wirklich... schrecklich. Ren-kun hatte das gesagt und dabei so verletzt gewirkt. Und jetzt traf er sich mit einem anderen Mädchen.

„Du bist wirklich etwas Besonderes. Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen“, die beiden fassten sich an den Händen.

Die Fünfzehnjährige spürte einen furchtbaren Stich in ihrem Herzen.

„Anscheinend zieht der so eine Show öfters ab“, grummelte jemand in Natsukis Nähe, sodass sie es kaum verstand. Langsam drehte sie den Kopf und ihre Miene verfinstert sich.

Shinji lehnte an der Mauer, mit verschränkten Armen, und blickte sie an.

„Du Idiot!“, fauchte das Mädchen und richtete sich auf. „Musst du immer dann auftauchen, wenn man dich am wenigsten braucht?“

„Heißt das, es gibt auch Momente, in denen du mich brauchst, Natsuki-chan? Du weißt, ich bin immer für dich da“, der Achtzehnjährige grinste frech.

Wütend wandte Natsuki sich von ihm ab und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ren-kun und seine Verabredung. „Sei gefälligst still, Shinji. Lass mich in Ruhe. Ich hab hier noch etwas zu erledigen.“

Sie wollte nicht, dass irgendjemand, den sie kannte, und war es auch nur dieser Vollidiot, sie so niedergeschlagen und verletzt sah. Konnte er sie nicht einfach sich selbst überlassen?

„Ich hab dir doch gesagt, der macht so was öfter“, Shinji redete munter weiter, als hätte er das Mädchen nicht gehört. „Ich hab den Typen schon oft in der Stadt gesehen, und jedes Mal hat er sich eine andere angelacht.“

„I-im Ernst?“, Natsuki konnte es kaum fassen. Wieso hatte sie sich auf so jemanden eingelassen? War sie so naiv?

„Würde ich dich anlügen, Natsuki-chan?“, der Violetthaarige blickte ihr entschlossen ins Gesicht. „Ich hab ja gleich gewusst, dass mit dem etwas nicht stimmt. Der erzählt jedem Mädchen die gleiche Leier von wegen ‚Es gibt keine, die so ist, wie du.‘ oder so etwas in der Art. Dann macht er vielleicht eine Woche lang auf ewiges Glück und dann bricht er seiner Freundin das Herz. Es gibt Kerle, die das sozusagen als Sport betreiben! Du solltest mir dankbar sein, dass ich dein Date mehr oder weniger unterbrochen habe.“

Natsuki verschränkte die Arme. Langsam aber sicher wandelte sich ihre Enttäuschung über diesen Verrat Ren-kuns in Wut um. „Komisch, dass du dich so gut in solchen Dingen auskennst. Du nutzt doch genauso jede Gelegenheit aus, um mir das Leben schwer zu machen!“

„Also das finde ich jetzt etwas weit hergeholt, Natsuki-chan“, meinte Shinji und klang ein wenig pikiert. „Immerhin-“

„Lass mich in Ruhe!“, fuhr das Mädchen den Achtzehnjährigen an. „Ich werde mich an diesem Ferkel jetzt rächen! Ich hab keine Zeit, mit dir zu diskutieren! Entweder hilf mir oder lass es bleiben!“

Verdutzt blickte der Violetthaarige sie an. Hatte seine Angebetete, die ihn doch eigentlich über alles hasste, gerade um Hilfe gebeten? Natsuki hatte ihre Aufmerksamkeit schon längst wieder dem anderen Jungen mit seinem Date zugewendet. Jetzt trat sie mutig aus ihrem Versteck hervor.

„R-Ren-kun“, stotterte sie und zog sich betont geschauspielert die Nase hoch. Dann ließ die Fünfzehnjährige ein wehleidiges Schluchzen hören. „Wie k-kannst du nur... ich dachte, ich wäre die einzige für dihiiiich!“

Verdutzt und mit großen Augen blickten sie alle drei, Hoshigawa Momoko, Ren-kun und Shinji, an. Letzterer begriff dann aber und nickte dramatisch.

„Du hast meine Freundin betrogen! Nur wegen dir hat sie mit mir Schluss gemacht, du Schwein!“, knurrte er, und es hörte sich so echt an, dass Natsuki sicher war, dass der Violetthaarige seinen Ärger nicht nur vortäuschte. Sollte doch mal einer diesen Kerl kapieren...

„W-was?“, Ren-kun richtete sich auf und erlangte seine Fassung wieder. „Wovon redest du da?“, fragte er die Fünfzehnjährige ärgerlich. „Ich kenn dich doch gar nicht.“

„So schnell hast du mich also schon vergessen?“, klagte das Mädchen und lies ein paar Tränen über ihre Wangen laufen. „Und ich dachte, es wäre ernst zwischen uns. Wie kannst du mich nur soo verleugneheeen?“

Hoshigawa Momoko stand ruckartig auf. „Ren-kun? Was hat das zu bedeuten?“, fragte die Schülerin verständnislos.

„Was das zu bedeuten hat?“, wiederholte Natsuki gespielt hysterisch. „Er hat mir das Herz gebrochen. Mein Leben zerstört. Meine Hoffnung genommen. Meine...“

„Sei still, du eingebildete Zicke“, unterbrach Ren-kun sie wütend.

„Lass Natsuki in Ruhe!“, Shinji verschränkte seine Arme und stellte sich wie ein Bodyguard vor das Mädchen.

Wütend blickte sie ihn an. „Was soll das?“, zischte die Fünfzehnjährige und zog die Stirn kraus. „Ich kann meine Standpunkte selbst verteidigen, danke!“

Der Violetthaarige grinste in sich hinein. Natsuki fand immer etwas, dass sie an ihm auszusetzen hatte.

Hoshigawa Momoko schüttelte verständnislos den Kopf. „I...ich...“, sie wandte sich von Ren-kun ab.

„Warte“, bat sie der Junge ruhig. „Du solltest mir Zeit lassen, das zu erklären.“

„Ich... muss zur Schule. Ich bin schon viel zu spät dran!“, rief die Schülerin und rannte los, so schnell ihre Beine sie tragen konnten. Nach weniger als einer halben Minute war sie in der nächsten Straßenbiegung verschwunden.

Ren-kun blickte ihr kurz nach, dann drehte er sich ruckartig wieder zu Natsuki und Shinji um. Die Hände waren zu Fäusten geballt, der lodernde Hass stand ihm auf die Stirn geschrieben. „Wir haben uns nicht zum letzten Mal gesehen!“, rief der rothaarige Junge aufgebracht. Dann rannte auch er los, allerdings in die entgegengesetzte Richtung, in der Hoshigawa-san verschwunden war.

Eine Weile lang stand Natsuki nur da und blickte ihm nach. Ja, sie würden sich ganz sicher wiedersehen... allerdings anders, als Ren-kun sich das vorstellte! Entschlossen nickte das Mädchen. Sie würde es diesem miesen Betrüger schon noch zeigen!

„Natsuki-chan?“, als die Fünfzehnjährige Shinjis Stimme vernahm, schreckte sie aus ihren Gedanken hoch.

Widerwillig verschränkte sie die Arme und rang sich zu einer kleinen Andeutung von Dankbarkeit durch. „Danke, dass du mir geholfen hast.“

Der Student blickte Natsuki überrascht an. Sie hatte doch tatsächlich in normalem Ton mit ihm geredet, ohne zu schimpfen, zu toben oder ihm eine Beleidigung an den Kopf zu werfen. Der junge Mann konnte es kaum glauben.

„Also“, fuhr das Mädchen fort. Und schon war der Groll wieder da. Ach, es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. „Warum bist du ausgerechnet jetzt hier? Solltest du nicht an der Uni sein? Bist du mir gefolgt?“, die Augen der Fünfzehnjährigen waren zu Schlitzen verengt. „Und lüg mich ja nicht an.“

Shinji seufzte einmal tief. Diesem bohrenden Blick hatte er noch nie wirklich standhalten können. So hatte sie ihn schon früher dazu gebracht, alle seine Missetaten zu gestehen, wenn er einmal wieder den Unterricht von Rill-sama geschwänzt hatte. Da hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Oh, das war schon so lange her... und sie konnte sich sicher nicht daran erinnern. Er hatte schon oft mit Marron und Chiaki darüber gesprochen.

„Ich gebs ja zu. Ich wollte dich gerne zur Schule fahren, aber du warst nicht da. Ich hab mir Sorgen gemacht. Deshalb bin ich deinen Schulweg entlanggelaufen.“

„Wieso, Shinji?“, verständnislos schaute Natsuki den jungen Mann an. „Ich komme sehr gut allein zurecht. Ich brauche keinen Schatten.“

„Weil ich...“, der Violetthaarige atmete einmal tief ein und aus. ‚Reiß dich zusammen, Mann!‘, fluchte eine Stimme in seinem Inneren. ‚Sag es ihr jetzt‘, anscheinend hatte sein Gewissen den heutigen Tag ausgewählt, um Shinji auf die Sprünge zu helfen. ‚Hast du vergessen, was letztes Mal passiert ist? Du warst zu feige. Wegen dir musste sie leiden! Lernst du nie aus deinen Fehlern?!?‘, schalt die Stimme weiter. ‚Vollidiot. Du bist ein echter Vollidiot.‘

„Hallo?“, Natsuki wedelte mit der Hand vor dem Gesicht des Achtzehnjährigen herum, der tief in seine Gedanken versunken war. „Naja, es ist mir egal, was du jetzt machst. Ich werde zur Schule gehen. Ich bin eh schon spät dran!“ Das Mädchen drehte auf dem Absatz um und stolzierte hoch erhobenen Hauptes davon.

Kopfschüttelnd, doch grinsend schaute Shinji ihr nach. Er konnte es einfach nicht lassen. Dabei sollte er längst in einer langweiligen Vorlesung sitzen. Wenn das so weiterging, würde er noch Stress mit dem Professor bekommen.

Shit.
 

Nachdenklich kaute Natsuki an ihrem Bleistift herum. Das mit Ren-kun hatte sie sicherlich schockiert. Es war noch ein schlimmeres Gefühl als damals an dem Tag, da Shinji ihr Date ruiniert hatte. Das Mädchen fühlte sich so leer an, so ausgenutzt. Wenigstens hatte sie eine weitere unschuldige Seele davor bewahrt, ebenfalls in eines der gemeinen Spiele des rothaarigen Jungen zu geraten. Dabei hatte er so ehrlich und nett gewirkt...

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Aoko leise, während sie eine Formel von der Tafel in ihr Heft übertrug.

„J-ja...“, murmelte Natsuki abwesend.

Sie musste sich irgendwie ablenken. Sie brauchte etwas Zeit, um sich zu sammeln. Vorhin in der Pause hatte das Mädchen in ihren Skizzenblock eingetragen. Sie hatte den Engel gezeichnet, von dem sie geträumt hatte, in dessen Körper zu stecken. Das weibliche Wesen, welches ihr so verblüffend ähnlich sah und doch ganz anders war. Die Fünfzehnjährige holte die Seite hervor und blickte sie nun genau an. Natsuki wusste nicht, wieso, doch sie hatte das Gefühl, dass dieser Engel die Person war, die mit ‚Fynn Fish‘ gerufen worden war.

Wenn das Mädchen das Bild anblickte, wusste sie es einfach. Das passte auch alles mit der Stimme zusammen, von der sie geträumt hatte. Doch... was hatte dies nur mit Natsuki selbst zu tun? Das war das Rätsel. Wie hing das alles mit dem Ohrring zusammen und mit all den anderen merkwürdigen Dingen, die passiert waren?

Es war sehr seltsam.

„Oh, hast du das gemacht?“, fragte Aoko ihre Freundin neugierig und blickte die Skizze an. „Du kannst aber schön malen. Malst du mal ein Bild für mich?“

Natsuki schüttelte entschuldigend den Kopf. „Tut mir leid. Ich kann das nicht. Ich habe das nicht gemalt.“ Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber sie konnte der Schwarzhaarigen ja schlecht erzählen, dass sie des Nachts manchmal eigenartige Träume hatte und dann, nach dem Aufwachen ein Gefühl in ihr wohnte, als sei sie in Trance. Nur in diesem Zustand war das Mädchen fähig, die Bilder zu malen. Sie hatte es schon oft versucht, wenn sie nicht geträumt hatte. Es hatte nicht geklappt. Und Natsuki konnte auch nicht malen, was sie wollte. Immer nur das Bild, was ihr im Kopf eingebrannt war, fand den Weg auf das Papier. Es war wie eine geheimnisvolle Kraft, welche die Gedanken der Fünfzehnjährigen steuerte.

Seufzend lenkte das Mädchen ihren Blick wieder nach vorne an die Tafel.
 

Natsuki trat aus dem Fahrstuhl heraus, der sie bis ins siebte Stockwerk des großen Wohnhauses Orleans hochgefahren hatte. Sie war, wie jeden Spätnachmittag, aus dem Kendo-Training heimgekehrt und freute sich schon auf eine schöne, warme Dusche. Der restliche Tag war eigentlich ganz normal verlaufen und keine seltsamen, verstörenden oder provozierenden Ereignisse hatten sich dem Mädchen mehr in den Weg gestellt. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn das so hätte bleiben können. Aber anscheinend war die Fünfzehnjährige am heutigen Tag vom Schicksal verhasst.

Als Natsuki die Wohnungstüre aufschloss, vernahm sie zunächst einen verlockenden Duft aus der Küche. Anscheinend hatte Marron ihr Versprechen gehalten und machte nun für alle zusammen Abendessen. Das Mädchen streifte sich also eilig ihre Schuhe von den Füßen, hängte ihre dünne Jacke an einen Haken und warf ihre Trainingstasche in eine Ecke. Dann betrat die Fünfzehnjährige gut gelaunt das Esszimmer- das heißt, sie wollte es betreten, doch vor Schreck und Überraschung blieb Natsuki im Türrahmen stehen.

Na? Wer saß wohl an dem einen Ende des länglichen Holztisches, aufgeregt auf die Speisen wartend? Ihr könnt es sicher erraten. Shinji!

Freundlich blickte der junge Mann sie an, seine Augen mit der violettfarbenen Iris waren weit geöffnet und glänzten vor Erwartung. „Oh, Natsuki-chan! Wie schön, dich zu sehen“, begrüßte er das Mädchen mit einem Grinsen.

Wütend schüttelte die Fünfzehnjährige den Kopf. Sämtliche Dankbarkeit oder eventuell aufkeimende Sympathie wegen des Vorfalls heute Morgen waren völlig verflogen. Was erlaubte dieser Kerl sich eigentlich? Schleimte sich bei Natsukis Eltern ein, um sich dann, so wie es aussah, bei den Nagoyas zum Abendessen einzuladen, sich wie der Herr des Hauses aufzuführen und dann auch noch zu meinen, dem Mädchen den Tag verderben zu müssen!

„Duuu!“, fauchte die Fünfzehnjährige und richtete ihren Zeigefinger in Richtung Shinji. In diesem Moment betrat Chiaki das geräumige Esszimmer mit vier Tellern und Besteck in der Hand.

„Papa!“, rief Natsuki verzweifelt. „Was macht DER denn hier?“

Verwundert blickte der Mann mit der himmelblauen Haarfarbe seine Tochter an. Dann seufzte der Vater schwer. Er hätte es wissen müssen. „Na, wonach sieht es denn aus? Deine Mutter und ich haben Shinji zum Abendessen eingeladen.“

Das Mädchen sah so aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann schluckte sie es herunter, murmelte grimmig etwas Unverständliches und setzte sich, soweit von Shinji entfernt, wie es nur ging, an den Tisch, allerdings nicht, ohne den Gast mit bösen Blicken zu strafen.

Chiaki beendete das Tischdecken und gleich darauf kam auch Marron mit einem großen Teller voller Pfannkuchen in das Zimmer, welchen sie auf dem Esstisch abstellte.

„Schon wieder Pfannkuchen?“, fragte Natsuki mit hochgezogenen Augenbrauen.

Natürlich war es ihr Lieblingsessen und sie sollte sich eigentlich freuen, das war der Fünfzehnjährigen klar, doch da steckte bestimmt etwas dahinter. Es hatte doch erst vor vier Tagen welche gegeben. Normalerweise achteten die Eltern des Mädchens nämlich auf eine abwechslungsreiche Ernährung und ließen sich oft neue Dinge einfallen.

„Shinji hat sich das gewünscht“, erklärte Marron lächelnd, während sie sich auf einen Stuhl neben ihren Ehemann setzte.

Der Achtzehnjährige nickte und blickte Chiaki leicht feixend an. „Stimmt. Schließlich hat der alte Herr noch ein Versprechen einzuhalten.“

Der Vater seufzte abermals und murmelte etwas wie „Gedächtnis wie ein Elefant.“ Dann blickte er Shinji leicht beleidigt an. „Ich bin nicht alt!“

Beschwichtigend neigte der junge Mann den Kopf nach vorne. „Natürlich.“ Chiaki runzelte die Stirn. Er hatte den leichten Sarkasmus in Shinjis Stimme nicht überhört. Aber das war er ja von ihm gewohnt. Früher, als der Violetthaarige das einzige annähernd menschliche Wesen gewesen war, mit dem der damals noch Schüler seine Wohnung geteilt hatte, waren derartige kleine Streitereien an der Tagesordnung gewesen. Shinji hatte immer einen Weg gefunden, sich aus dem Schlamassel zu reden und Chiaki damit zu reizen. Trotzdem hatte er mit Ernst auf die Arbeit beharrt und den Freund angetrieben, nicht aufzugeben. Daher hatte der Familienvater, auch wenn er es nicht so offen zugeben würde, den Jungen eigentlich sehr gerne. Wenn er so darüber nachdachte, war es schließlich zum Teil auch Shinjis Verdienst, das er und Marron zueinander gefunden hatten. Hach, die Jugend... das waren Zeiten gewesen. Aber- Chiaki schüttelte den Kopf. Nicht sentimental werden.

Natsuki richtete sich auf und blickte die drei anderen, welche an dem Tisch saßen und Pfannkuchen in sich hinein schaufelten, herausfordernd an.

„Shinji hat es sich also gewünscht, ja?“, fragte sie wütend. „Ich würde gerne wissen, was hier los ist, wenn es euch nichts ausmacht!“

Die Eltern des Mädchens wechselten einen kurzen Blick miteinander, dann schauten sie ihre Tochter entschlossen an.

„Natsuki...“, begann Marron. „Du hast am Ende dieses Schuljahres die Aufnahmeprüfung für die Oberschule, richtig?“

Die Fünfzehnjährige nickte vorsichtig. Ihr schwante Übles...

„Und... wir wissen alle, dass deine Matheklausuren bis jetzt keine berauschenden Ergebnisse eingebracht haben“, fuhr Chiaki fort und blickte Natsuki mit strengem Gesichtsausdruck an. „Glaub nicht, dass du eine Wahl hast. Es wird keine Wiederrede geben, verstanden?“

Oh Gott, betete die Grünhaarige heimlich. Ich bin immer ein guter Mensch gewesen, dachte sie, alles, bloß nicht das!

„Wir haben Shinji gebeten, dir Nachhilfeunterricht in Mathe zu geben“, erklärte Marron.

Geschockt blickte das Mädchen ihre Eltern an. Sie hatte gewusst, was kommen würde... doch sie konnte und wollte es einfach nicht glauben. „D-das ist ein Scherz, oder Mom?“, fragte die Fünfzehnjährige gequält. „Das meint ihr nicht ernst, nicht war, Papa?“

Ihre Mutter nickte. „Natürlich meinen wir das ernst. Wenn es um die Zukunft unserer Tochter geht, können wir uns doch keine Scherze erlauben, oder denkst du das?“

„Du solltest dankbar sein, das Shinji so gut ist und sich bereiterklärt hat, jeden Nachmittag mit dir zu üben“, Chiaki verschränkte die Arme und schaute seine Tochter mit einem Gesicht an, das keinen Widerspruch duldete.

Shinji lächelte freundlich. „Keine Sorge, Natsuki-chan. Ich beiße nicht.“

Natsuki verzog die Miene und blickte den jungen Mann gehässig an. „So? Bereiterklärt hat er sich? Das tut er doch nur, um mir noch mehr auf den Wecker zu gehen, als er es sowieso schon tut!“ Wütend stand das Mädchen auf, stampfte in ihr Zimmer und schloss die Türe hinter sich ab. Dann warf die Fünfzehnjährige sich auf ihr Bett und vergrub den Kopf im Kissen. Es musste so sein.

Sie war vom Schicksal verhasst!
 

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Achtung: Yoru no tenshi geht in die Sommerpause. Das nächste Kapitel wird erst am 30.09.2011 folgen.

Kurze Vorschau:

„Was gibt es zu berichten?“, fragte Kowage eilig.

„Rache?“, es war das erste Mal im Verlauf des Dialoges, dass Itasa seinen Mund öffnete. In seiner ausgehöhlt und leer klingenden Stimme schwang leichter Spott mit. „Und du erwartest Unterstützung?“

Die Augen des rothaarigen Jungen weiteten sich vor Erstaunen, doch Kowage konnte auch seine Furcht in ihnen erkennen. „D-du meinst...“, stotterte Katari, „s-sie ist...?“

Ich bin Fynn

Willkommen zurück =)

Nach einer relativ langen Sommerpause geht es jetzt endlich weiter mit "Yoru no tenshi". Ich bin stolz darauf, das bisher längste, fünfte Kapitel präsentieren zu dürfen, und hoffe, der Umfang entschädigt ein wenig für die lange Wartezeit.

Und wie immer gilt: Rückmeldungen sind gerne gesehen<3
 

Achtung: In diesem Kapitel bekommt Zen Takazuchiya einen Gastauftritt.

Viel Spaß beim Lesen!

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Ich bin Fynn

Der rothaarige Junge blickte sich um. Er befand sich in einer engen Seitengasse Momokuris, wo das Böse allgegenwärtig war und die Dunkelheit sich in jeder Ecke sammelte. Dies war sicherlich kein angenehmer Ort, jeder Mensch hätte die schattenhafte Aura gespürt, die einem einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Aber für ihn war es ein angenehmes Gefühl, wenn er spürte, wie die Energie der Schwärze ihn durchfloss.

Die Person wartete auf jemanden. Wie es aussah, würden Itasa, der Schmerz, und Kowage, die Angst, bald eintreffen. Die beiden hatten sich mit ihm verabredet. Sein wahrer Name war schließlich auch nicht Ren, nein, so hieß nur die menschliche Hülle, die der Dämon besetzt hielt. Er trug einen viel ehrwürdigeren Namen, einer, der einem Wesen, geboren in den Tiefen der Hölle, angemessen war.

„Katari“, das war die Stimme Kowages, die ihn mit seinem wirklichen Namen anredete, der Betrug. Sie klang hoch und schrill, so wie der Körper, den seine Komplizin besetzt hielt. Die Frau, die dem Jungen nun entgegenkam, hatte langes, helles Haar, das ihr fast bis zu den Hüften ging und ihre Figur ebenso betonte wie die dunkle, eng anliegende Kleidung.

Ihr folgte ein eher schweigsamer Mann mit groben Gesichtszügen und dunklem Haar, der eine seltsam verzerrte Miene aufgesetzt hatte. Dies war der dritte im Bunde, Itasa.

„Was gibt es zu berichten?“, fragte Kowage eilig. Sie hielt nichts von langen Vorreden. Es musste gesagt werden, was zu sagen war, nicht mehr und nicht weniger.

Ren, oder besser, Katari, holte tief Luft, als sammele er seine Kräfte. Dann beschwor er ein flimmerndes Fenster in die Luft, wie aus dem Nichts, auf dem man eine Person, es war ein Mädchen, erkennen konnte. „Dies“, erklärte er mit kalter Stimme, „ist das Ziel meiner Rache. Sie unterbrach mich, als ich mir die Macht eines weiteren Menschen aneignen wollte.“

Die Silhouette wurde klarer und man erkannte darauf Natsuki wie in einem Stummfilm, wie sie Ren-kuns Date mit Hoshigawa Momoko unterbrochen hatte.

„Rache?“, es war das erste Mal im Verlauf des Dialoges, dass Itasa seinen Mund öffnete. In seiner ausgehöhlt und leer klingenden Stimme schwang leichter Spott mit. „Und du erwartest Unterstützung?“

„Ja“, Katari nickte. „Doch es wird sich auch für euch lohnen. Dieses Mädchen trägt eine göttliche Kraft in sich. Wenn wir sie zerstören, teile ich die Kraft mit euch.“

Itasa und Kowage nickten. Das Angebot klang vernünftig und ehrlich. Doch trotz allem wussten sie, dass dies Betrug war, der vor ihnen stand.

„Und es gibt noch einen Grund, weshalb wir Rache nehmen sollten“, fuhr Katari mit einem gehässigen Lächeln auf den Lippen fort. „Ihre Mutter... ich will ihre Mutter leiden sehen.“

„Wieso ihre Mutter?“, fragte Kowage misstrauisch.

„Ihre Mutter... ihr Name ist Nagoya, Marron. Sie war es“, der Hass schien den rothaarigen Jungen zu übermannen. „Sie tötete einst unseren Meister!“

Erschrocken blickten die beiden Komplizen Kataris sich an und tauschten wissende Blicke aus. Schließlich ergriff Itasa abermals das Wort: „Katari, du machst einen Fehler, wenn du mit der Rache zu voreilig wirst.“

Der Junge mit dem roten Haar setzte eine fragende Miene auf. Hier bestand offensichtlich Erklärungsbedarf.

„Nagoya, Marron... der Name der Tochter lautet Nagoya, Natsuki, richtig?“, überlegte Kowage. „Du solltest vorerst nicht versuchen, an diese göttliche Kraft zu gelangen.“

„Und wieso nicht?“, wollte Katari leicht ärgerlich wissen. Langsam wurde er ungeduldig.

„Nun, es ist, wie du weißt, der höchste Verrat, das Schwert zu erheben...“, die Frau mit dem hellen Haar hielt kurz inne, „...gegen die Königin der Schatten.“

Die Augen des rothaarigen Jungen weiteten sich vor Erstaunen, doch Kowage konnte auch seine Furcht in ihnen erkennen. „D-du meinst...“, stotterte Katari, „s-sie ist...?“
 

Natsuki seufzte und stützte ihr immer schwerer werdendes Kinn auf den Armen ab. Die ganze Woche lang hatte sie versucht, es zu ertragen, schließlich meinten ihre Eltern es ja nur gut mit ihr, aber warum sie auch noch heute, wo doch Samstag war, mit Shinji Mathe büffeln sollte, war der Fünfzehnjährigen ein Rätsel. Der junge Mann hatte doch bestimmt ebenfalls besseres zu tun, als in der Wohnung der Nagoyas zu sitzen und einem aus seiner Sicht wahrscheinlich ziemlich unreifem Gör den Satz des Pythagoras zu erläutern. Schließlich war heute Shinjis Geburtstag!

Endlich klappte der ab heute Neunzehnjährige das Mathematik-Übungsbuch zu und schob seinen Stuhl zurück, um aufzustehen.

„Das sollte für heute reichen“, der junge Mann lächelte freundlich.

Ich hoffe doch, dachte Natsuki grimmig.

Der Violetthaarige blickte das Mädchen hoffnungsvoll an. „Du kommst doch nachher noch vorbei, oder?“, fragte er vorsichtig. Seine Angebetete schien heute keine besonders gute Laune zu haben.

Die Fünfzehnjährige verzog wie erwartet die Miene. „Ich hab ja wohl keine Wahl, oder?“, knurrte sie, darauf bedacht, die Abneigung deutlich mit ihrer Stimme zu betonen.

Natsuki und ihre Eltern waren, wie jedes Jahr an Shinjis Geburtstag, von den Minazukis zum Mittagessen eingeladen worden und das Mädchen wusste, dass in diesem Punkt jede Diskussion mit Marron und Chiaki sinnlos war. Natürlich passte es ihr nicht in den Kram, dass der ungeliebte Nachbar auf den Tag genau eine Woche nach ihr Geburtstag feierte, doch sie konnte es nicht ändern. Wohl oder übel musste die Fünfzehnjährige die Einladung annehmen.

Nun packte Shinji seine Sachen in die Tasche und ging zur Türe, nicht, ohne sich übertrieben freundlich von Marron, die gerade mit einem Buch in der Hand zur Küche hereingekommen war, zu verabschieden. „Schleimer“, murmelte Natsuki verärgert.
 

Die dreiköpfige Familie, Marron, Chiaki und Natsuki an der Zahl, hatte sich vor der Wohnungstüre der verehrten Nachbarn versammelt. Die Mutter trug ein kleines Paket unterm Arm. Jetzt streckte sie ihre Hand aus und drückte auf den kleinen Klingelknopf, der unter dem Türschild prangte.

Sofort wurde die Wohnungstüre aufgerissen und eine ziemlich unter Stress stehende Miyako stand im Rahmen. Sie hatte eine Schürze umgebunden und hielt zwei Topflappen in der Hand.

„Kommt rein!“, keuchte die violetthaarige Frau und bedeutete den Gästen mit einem Wink, einzutreten.

Chiaki bemerkte mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht, dass aus der Küche der Geruch verbrannten Essens und Rauch zu ihnen hinüberwehte.

„Was ist los?“, fragte er lachend. „Erzähl mir doch nicht, dass Shinji versucht hat, zu kochen!“

Miyako verzog die Miene. „Der Bub wird mich eines Tages noch in den Wahnsinn treiben. Wird neunzehn und benimmt sich immer noch wie ein Kind“, sie fasste sich mit der Hand an die Stirn und wischte einige Schweißperlen ab. „Er hat darauf bestanden, das Essen selbst zu machen. Er lässt mich nicht auch nur in die Nähe der Küche!“ Die Mutter musste einmal schwer seufzen.

„Ach, so schlimm kann es ja nicht sein“, Marron legte ihrer besten Freundin beruhigend die Hand auf die Schulter, „Shinji ist ein guter Junge.“

In genau diesem Moment hörte man aus der Küche ein lautes Poltern und einen Schreckensschrei. Sofort waren Miyako und die Nagoyas bei der Türe und rissen sie auf. Entsetzt blickten die Vier plus Yamato, der aus dem Esszimmer herbeigestürmt war, sich das Chaos an.

Aus dem geöffneten Backofen stieg schwarzer Qualm auf, die Türe war von der kleinen Explosion weggesprengt worden. Im Inneren konnte man ein schwarzes Etwas erkennen, das wahrscheinlich ein Braten hätte werden sollen. Ein leichtes Glimmen war immer noch im Ofen zu erkennen. Der Ruß war in der gesamten Küche verteilt und sammelte sich in kleinen, schwarzen Häufchen auf dem Fußboden. Inmitten des furchtbaren Durcheinanders stand Shinji, beide Hände zu Fäusten geballt, und murmelte mehr zu sich selbst: „Shit!“ Er wirkte ein wenig niedergeschlagen.

Entsetzt blickte seine Mutter den jungen Mann an. Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Miyako ballte die Hände krampfhaft zu Fäusten, ihre Augen traten hervor. Dann holte die Frau tief Luft.

„SHIIIIINJIIIIIIIIIIIIIIIII!“
 

Miyako brach zusammen und begann, hysterisch nach Atem zu ringen.

„B-beruhige dich, Schatz“, flehte Yamato und kniete neben seine Ehefrau auf den Boden. „Das ist kein Schaden, den wir nicht reparieren können.“

Auch Marron fasste ihre beste Freundin an den Schultern und schüttelte sie leicht, damit sie sich wieder fasste. „Miyako, bitte versuche, dich im Zaum zu halten. Wir können ja auch an einer Imbissbude schnell etwas zu Essen holen.“

„Genau“, Shinji, der schon wieder völlig gelassen wirkte, nickte und fuhr sich grinsend durch seinen zerzausten, violetten Haarschopf. „Mach mal kein so ein Drama draus, Mutter. Das bekommen wir schon wieder hin. Ich geh einfach nach nebenan zu-“

Miyako hatte sich, während ihr Sohn versucht hatte, beruhigend auf sie einzureden, langsam aufgerichtet und sammelte ihren Ärger. Energisch unterbrach sie den Neunzehnjährigen, während er sprach. „Oh nein!“, befahl die Frau, „du wirst nirgendwo hingehen! Du bleibst gefälligst hier und räumst die Küche auf! Das wäre ja noch schöner! Einfach unsere Wohnung verwüsten und dann auch noch verschwinden wollen! Bilde dir das nicht mal in deinen schönsten Träumen ein!“ Miyako sog einmal tief Luft ein und schnaubte wie ein Stier. „Unverschämtheit!“

Marron seufzte und legte ihrer Freundin lächelnd einen Arm um die Schulter. „Keine Sorge!“, erklärte sie der aufgebrachten Mutter, „Chiaki wird schnell nach nebenan zur Imbissbude gehen und uns allen etwas Warmes mitbringen.“

„Werde ich das?“, verdutzt blickte der Blauhaarige seine Ehefrau an.

„Wirst du!“, erwiderte Marron, diesmal mit etwas lauterer, kräftigerer Stimme. Sie blickte Chiaki herausfordernd an mit einem Blick, der eindeutig sagte: „Ich dulde keine Widerrede!“

„Schon gut, ich geh ja schon“, brummte Natsukis Vater, drehte sich auf der Stelle um und stapfte unmotiviert in Richtung Wohnungstüre. Mit einem Ruck riss der Mann die Tür auf und zog sie höchst unsanft wieder zu. Er mochte es nicht, wenn seine Frau in so grobem Ton mit ihm sprach. Es kam zwar nicht oft vor, doch manchmal konnte auch die sanfte Marron ziemlich ungemütlich werden. Sie musste sich große Sorgen über die Ausbrüche ihrer Freundin Miyako machen.

Die Brünette unterdessen hatte ihre Aufmerksamkeit längst Shinji und seinem Vater Yamato zugewandt. Sie klatschte in die Hände und rief: „Also los. Wir werden dafür sorgen, dass diese Küche wieder wie eine Küche aussieht, und nicht wie ein Schlachtfeld.“

Natsuki musste grinsen. Ihre Mutter war wirklich eine starke Frau. Sie scheute sich nicht im Geringsten davor, mit anzupacken oder in Krisensituationen die Führung zu übernehmen. Marron hatte eine unglaubliche Persönlichkeit. Das Mädchen beneidete sie darum.

„Stark, bereit, unbesiegbar, schön, entschlossen und mutig!“, hatte die Mutter früher einmal zu der Fünfzehnjährigen gesagt. „Dies ist mein Lebensmotto. Du solltest auch ein Motto haben, das dir Kraft gibt, Natsuki-chan.“

Ja, dachte Natsuki mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, als sie sich daran erinnerte. So ein Motto wäre doch eigentlich nicht schlecht, oder?
 

Hungrig biss Natsuki von dem immer noch warmen Cheeseburger ab. Innerhalb von zehn Minuten war ihr Vater in der Lage gewesen, zur Imbissbude von nebenan zu rennen, ihnen allen etwas mitzunehmen und wieder in die Wohnung der Minazukis zu stürmen. In dieser Zeit hatten die Übriggebliebenen natürlich nicht geschafft, die Küche fertig aufzuräumen, doch Marron hatte Miyako versprochen, dass sie mit der Arbeit fortfahren würden, sobald alle ihre Mahlzeit beendet hatten. Die aufgebrachte Frau hatte sich auch wieder ein wenig beruhigt. Natsuki hatte das Gefühl, dass ihre Mutter die einzige Person auf der Welt war, der es mit ihrer gelassenen Art möglich war, Miyako in ihrem oft aufbrausenden Zorn zu dämpfen.

„Habt ihr heute Morgen die Zeitung gelesen?“, fragte Marrons beste Freundin auf einmal.

„Ja, natürlich“, erwartungsvoll blickte die Brünette sie an, damit sie doch endlich fortfahren möge. Sie hatte keine herausragende Neuigkeit in den Nachrichten des Tages bemerkt. Hatte Marron etwas Wichtiges übersehen?

„Ich habe von einem Kaito gelesen“, erklärte Miyako geheimnisvoll und blickte in die Runde. „Einem Kunstdieb.“

Die Reaktionen auf diese Aussage fielen sehr unterschiedlich aus. Natsukis Mutter zuckte zusammen und wirkte ein wenig bestürzt, fasste sich aber schnell wieder. Yamato starrte seine Ehefrau überrascht an. Chiaki grinste Marron auf eine ziemlich merkwürdige Weise an. Shinji zeigte überhaupt keine Reaktion, was irgendwie sonderbar aussah. Und Natsuki selbst- ja, die seufzte und wünschte sich im Stillen, dass Menschen über dreißig doch bitte etwas moderner sein sollten und nicht über Themen redeten, die niemanden interessierten. Sie meinte: Es gab tausende und abertausende von Dieben auf der Welt, und auch genug Kunstdiebe. Warum sollte sie dies so aus der Bahn werfen?

„Dieser Kaito schickt immer Ankündigungen an den Ort, von dem er zu stehlen gedenkt“, Miyako kicherte, als sie das sagte. „Der Polizei ist er ein Rätsel. Augenzeugen behaupten, er verfüge über geheimnisvolle Fähigkeiten und könne seltsame Zauber beschwören. Als ob so etwas möglich wäre. Und komischerweise verschwindet er immer spurlos, egal, was man tut, um den Dieb zu fangen. Kommt euch das bekannt vor?“

Nun musste Marron lachen. Als ihre Tochter sie mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrte, rang die Frau nach Atem und erklärte: „Miyakos Vater ist Polizist, das weißt du, oder? Früher hat sie selbst eine Kunstdiebin gejagt, daher kommen ihr jetzt die Erinnerungen.“

„Miyako? Hat eine Diebin gejagt?“, wiederholte Natsuki ungläubig. War das ein schlechter Scherz?

„Ja“, Chiaki nickte. „Kamikaze Kaito Jeanne nannte sich diese. Miyako hat ewig versucht, sie zu fassen, hat es aber nie geschafft, obwohl Jeanne vor jedem ihrer Diebstähle eine Warnung geschickt hat, damit die Polizei informiert war.“

Die Violetthaarige schnaubte hörbar. „Ph. Ich hätte sie fast gefasst. Aber die hat wohl gemerkt, dass ich ihr langsam auf die Spur komme, denn eines Tages ist sie verschwunden und hat sich nie wieder irgendwo sehen lassen. Wahrscheinlich war sie zu feige!“ Sie blickte Marron herausfordernd an.

Die nickte und lächelte leicht. „Natürlich, Sherlock Holmes.“

„Oder sie hat durch ihre Diebstähle so viel Kohle zusammengescheffelt, dass sie jetzt in einer abgelegenen Villa in den Bergen versteckt lebt und es sich gutgehen lässt“, überlegte Yamato.

Plötzlich sehr wütend, musterte Miyako ihn wie eine Rachegöttin. „Das stimmt nicht!“, rief sie erzürnt.

Ihr Ehegatte zuckte zusammen. „O-Ok.“

Ein Schweigen breitete sich nach Miyakos Ausbruch über allen am Tisch Sitzenden aus, die Minazukis und die Nagoyas. Jeder schlürfte gedankenverloren sein Getränk und aß. Hätte man Natsuki nach ihrer Meinung gefragt, hätte diese Stille ruhig noch ein wenig andauern können. Aber natürlich, das war zu erwarten gewesen, war Shinji mal wieder derjenige, der alles kaputtmachen musste.

Ruckartig richtete der junge Mann sich auf einmal auf und schob seinen Stuhl zurück. „Das hab ich ja ganz vergessen!“, rief er mehr zu sich selbst und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

Alle anderen musterten den Neunzehnjährigen ein wenig verdutzt. „Was ist es denn, das du vergessen hast?“, wollte Marron neugierig wissen.

„Keichi und Sakura wollten noch eine Feier für mich schmeißen“, erklärte Shinji hastig, „mit ein paar Freunden und so. Ich muss schnell los.“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, war der junge Mann auch schon aus der Wohnung gestürmt.

Natsuki wusste, dass Keichi ein guter Freund von ihm war. Die beiden kannten sich schon seit der Mittelschule und belegten denselben Studiengang. Man sah sie oft hier in der Nähe herumstreunen oder vor dem Orleans herumlungern. Aber wer zur Hölle war diese Sakura? War das wohl seine Freundin oder so? Elender Heuchler. Wenn er eine Freundin hatte, warum machte er sich dann immer an Natsuki ran? Der flirtete wohl mit jedem weiblichen Wesen, das nicht bei drei auf einem Baum war. Ekelhaft, so etwas. Natsuki schüttelte energisch den Kopf. Was regte sie sich so auf? Das ging sie doch eigentlich gar nichts an. Sollte dieser Nichtsnutz von Shinji doch machen, was er wollte!

Eine Welle der Erleichterung überkam das Mädchen, als sie und ihre Eltern wenig später wieder zu ihrer eigenen Wohnung hinübergingen, natürlich nachdem sie Miyako geholfen hatten, die Küche aufzuräumen. Die Fünfzehnjährige fühlte sich meistens unwohl im feindlichen Gebiet, womit das Appartement der Minazukis gemeint war. Selbst wenn dieser Trottel von Shinji nicht anwesend war, hing doch sein Schatten über der Wohnung. Vielleicht lag das aber auch daran, dass Miyako an allen Wänden, auf Kommoden, Tischen und Schränken Bilder von der Familie und ihrem geliebten Sohn aufgehängt hatte. Bilder von Shinji als Neugeborenes, Bilder von Shinji als Kind, Bilder von Shinji mit Freunden, Bilder von Shinji beim Basketball-Spielen, Bilder von Shinji bei Kindergeburtstagen und noch viele, viele mehr. Für Natsuki war es beinahe unerträglich, überall, wo sie auch hinblickte, Shinjis arrogantes Grinsen sehen zu müssen. War das dem jungen Mann denn überhaupt nicht peinlich? Die Fünfzehnjährige gelobte sich selbst jedes Mal, wenn sie wieder in der Wohnung der Minazukis gewesen war, dass sie, wenn sie einmal Mutter werden würde, die Wände nicht zuzupflastern mit den Bildern ihrer Kinder.

Natsuki ließ sich erschöpft auf ihr Bett plumpsen. Jetzt wollte sie sich nur noch ausruhen. Das Mädchen begann, langsam und stetig ein und auszuatmen. Doch die Ruhe und Stille, die im Zimmer der Fünfzehnjährigen herrschte, wurde abrupt jäh unterbrochen von Marron, die aufgeregt durch den Türrahmen hereinstürmte.

„Natsuki!“, rief sie und fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft. „Natsuki, es ist dringend, du musst mir helfen!“

Das Mädchen blinzelte und richtete sich auf. „Mom“, stöhnte sie genervt. „Was ist denn jetzt schon wieder? Ich bin echt müde!“

Die Mutter ließ sich von dem leicht säuerlichen Ton ihrer Tochter nicht beirren und fuhr fort, ohne Luft zu holen. „Du musst dich beeilen, Natsuki! Ich muss deinem Vater dringend ein Bento machen, weil er heute im Krankenhaus Nachtschicht hat, und mir ist der Reis ausgegangen. Aber ich kann nicht weg, weil ich noch andere Sachen auf dem Herd stehen habe. Kannst du dich bitte beeilen und schnell Reis im Supermarkt holen? Es ist wirklich wichtig! Mir bleibt nicht mehr viel Zeit!“

Natsuki stand auf und zuckte mit den Schultern. „Schätze, das kann ich machen“, murmelte sie.

„Gut“, Marron drückte dem Mädchen einen Geldbeutel in die Hand. „Nimm dir eine Jacke mit, es soll heute Abend regnen.

„Mach ich“, bestätigte die Fünfzehnjähre, ging aus dem Zimmer, schlüpfte in ihre Schuhe und zog den Regenmantel vom Kleiderhaken. Dann öffnete Natsuki die Wohnungstüre und trat auf hinaus auf den Korridor.
 

Als das Mädchen die Vorhalle des Orleans verlies, bemerkte sie, dass es draußen schon dunkel geworden war. Eine Straßenlaterne beleuchtete den Gehweg mit ihrem milchigen Licht, und nur ab und zu hörte man den röhrenden Lärm eines vor dem großen Wohnblock vorbeifahrenden Autos, der schließlich in der Ferne wieder erstarb.

Natsuki überlegte, ob sie einen Bus nehmen sollte, entschied sich dann aber doch für den Fußweg, da der große Supermarkt nur einen Marsch von zehn Minuten entfernt war, der nächste Bus in diesen Stadtteil fuhr aber erst in einer Viertelstunde. Die Fünfzehnjährige seufzte und beschleunigte ihre Schritte. Sie musste sich beeilen, wenn ihr Vater sein Bento noch rechtzeitig bekommen sollte.

Schließlich stand das Mädchen direkt vor dem großen Einkaufscenter, das Einzige in der Innenstadt Momokuris, dass um diese Uhrzeit noch offen hatte. Natsuki warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war schon zehn nach zehn! Jetzt sollte sie sich besser sputen.

Schnell war der dringend benötigte Reis eingekauft und die Fünfzehnjährige verließ den großen Supermarkt wieder. Zu ihrem Pech hatte es zu regnen begonnen, und das Mädchen stöhnte aus Frust. Da war es doch gut gewesen, dass sie ihren Regenmantel mitgenommen. Natsuki zog eilig das schützende Plastik über und bedeckte mit der Kapuze ihr grasgrünes Haar.
 

Katari verschränkte die Arme und verzog das hübsche Gesicht zu einer hässlichen, wütenden Grimasse. Wie jeder Dämon, Kreaturen geboren aus den Tiefen der Hölle, hasste er es mehr als alles andere, wenn er etwas nicht bekommen sollte, nach dem er verlangte. Und im Moment verlangte er nach Rache, oh ja, sein schwarzes Herz triefte, es schrie geradezu nach Rache. Die Hände des Körpers, die der finstere Geist besetzt hielt, ballten sich zu Fäusten. Es war ihm egal, was Kowage oder Itasa einzuwenden hatten. Sie waren doch nur schwach, fast so schwach wie diese armseligen Menschen, deren Leid er genüsslich aufzusaugen pflegte. Katari fürchtete sich nicht vor dieser verdammten Göre. Und selbst wenn die die Königin der Schatten sein sollte... das konnte ihm doch egal sein! Der Meister war tot, gebannt auf alle Zeit von diesem elenden Weibsstück von ihrer Mutter. Er würde ihn von keiner seiner Taten abhalten oder ihn bestrafen können.

Nun bogen sich die Mundwinkel des rothaarigen Jungen nach oben zu einem bösartigen, doch freudvollem Grinsen. Er hatte sich schon einen guten Plan ausgedacht, wie er seine Rache ausüben wollte. Ja, wahrlich, ein sehr guter Plan. Wie sehr er sich doch danach sehnte, ihn auszuführen...
 

Nun musste Natsuki sich aber wirklich beeilen. Sie musste ihrer Mutter die Zutaten für das Bento liefern, noch bevor die Nachtschicht ihres Vaters begann. Und Marron, wenn sie auch keine schlechte Köchin war, brauchte etwas Zeit, um es zuzubereiten. Würde sie rechtzeitig kommen? Das Mädchen hoffte es, sonst würde Chiaki seine ganze Schicht lang ohne etwas zu Essen auskommen müssen.

Auf einmal begann ein starker Wind, der Fünfzehnjährigen entgegenzuwehen. Das Heulen des Sturms wurde immer lauter und die Blitze zuckten wild und wütend am Himmel, als wollten sie alle Häuser der Stadt in ihrem grellen Licht absorbieren. Der Donner rollte tief und bedrohlich, und der Regen prasselte nun erbarmungslos auf die Erde, um diese und alle darauf lebenden Wesen zu ertränken.

Dann flackerte etwas Weißes vor Natsukis Augen auf, und sie hob einen Arm, um ein kleines Blatt Papier aus der Luft zu schnappen, dass die Böen ihr zugetragen hatten. Das Mädchen faltete den kleinen Zettel vorsichtig auseinander und nieste, während sie die krakelige Handschrift zu entziffern versuchte. Auf dem weißen Papierchen stand etwa Folgendes:

An Nagoya, Natsuki, das Mädchen mit grasgrünem Haar, Tochter von Nagoya, Chiaki und Nagoya, Marron ehemals Kusakabe:

Wenn du das Leben des echten Ren-kun retten willst, dann komm sofort zur Momokuri-Kunstgalerie in der Innenstadt, nahe dem Rathausplatz. Andernfalls könnten schlimme Dinge passieren. Ich weiß, wo du wohnst, kenne außerdem die Adresse all deiner Freunde und Verwandten. Mache daher besser keine Fehler, also: Keine Polizei!

Gezeichnet,

Ren oder Katari, der Betrug

Mit vor Überraschung und Furcht weit geöffneten Augen faltete Natsuki den Brief wieder zusammen. Ihre Lippen bebten vor Aufregung. Das war ein Erpresserbrief! Wie in einem schlechten Krimi. Ob es wohl nur ein böser Scherz war? Das Mädchen kniff die Lider zusammen und blickte sich nach allen Seiten um, um vielleicht eine Sicht auf den erhaschen zu können, der den Zettel fallengelassen haben könnte. Doch in dem schweren Sturm mehr als nur einen Meter weit zu sehen war beinahe unmöglich.

Was sollte Natsuki nur tun? Wenn es ein Erpresserbrief war, dann musste dort doch auch stehen, was der Erpresser verlangte, oder? Und außerdem besaß die Fünfzehnjährige ja nicht so viele wertvolle Dinge, mal von ihrem Laptop und ihrem Fahrrad abgesehen. Sie war doch nur ein Schulmädchen!

Das Mädchen überflog die Notiz noch einmal und seufzte. Was das wohl bedeuten sollte, das „Leben des echten Ren-kun“ zu retten? Gab es denn zwei? Hatte er einen Zwillingsbruder? Wieso hatte der Erpresser dann mit dem Namen Ren-kuns unterschrieben? Und vor allem: Wer war Katari, der Betrug? Natsuki kannte niemanden mit diesem Namen.

Vielleicht war das wirklich nur ein Dumme-Jungen-Streich, um die Fünfzehnjährige einmal gehörig zu erschrecken. Aber andernfalls... dort stand, dass der Absender die Adressen ihrer Freunde und Verwandten kannte. Wenn er mit „Schlimmen Dingen“ drohte, was konnte der Erpresser damit meinen?

Das Mädchen wusste, dass die Momokuri-Galerie für moderne Kunst ein der Innenstadt um diese Zeit längst geschlossen haben sollte. Daher entschied sie sich, dem Ort vorsichtshalber einen Sicherheitsbesuch abzustatten. Nur für alle Fälle. Wenn es sich als ein gemeiner Scherz herausstellte, dann würde Natsuki ein Stein vom Herzen fallen. Wenn nicht... Natsuki streckte den Arm aus und brach ein langes Stück Holz von einem Ast ab, der über eine graue Gartenmauer ragte... dann war sie vorbereitet.
 

Das Gewitter hatte sich gelegt, als Natsuki vor dem Gebäude der Momokuri-Galerie für Moderne Kunst stand. Trotzdem spürte das Mädchen, wie ein leichter Nieselregen immer noch auf ihre Kapuze und den Regenmantel prasselte. Ein unbehagliches Gefühl überkam sie, wenn die Fünfzehnjährige die dunkle Fassade des großen Hauses näher betrachtete. Sie hatte das Gebäude schon bei Tageslicht nicht sehr ansehlich gefunden, aber nun, in dieser Finsternis... da lief Natsuki buchstäblich ein Schauer über den Rücken.

Ein leichter Wind kam auf, und die Pforten des Hauses öffneten sich einen Spalt, sodass ein schummeriges Licht aus dem Gebäudeinneren drang. Ein schiefes Grinsen schlich sich auf die Wange des Mädchens. Das hier war wie in einem schlechten Horrorfilm. Zögerlich, doch trotzdem mit festem Schritt, trat sie näher heran und schob die schweren Tore ein wenig weiter auf, um durch den kleinen, geöffneten Schlitz hindurchschlüpfen zu können. Manch einer mag Natsuki wohl als mutig bezeichnen, dass sie einfach das Haus betrat, ein anderer hält sie vielleicht für waghalsig... doch das, was die Fünfzehnjährige tatsächlich antrieb, war schlicht und einfach ihre Neugier. Sie musste einfach wissen, was sie erwartete. War es eine geheime Party? Oder ein schlechter Witz? Vielleicht auch etwas mit versteckter Kamera. Und, für den Notfall hatte sie schließlich den Stock. Das Mädchen schüttelte den Kopf darüber, dass sie bis eben ein mulmiges Gefühl gehabt hatte. Was sollte schon passieren? Sie hatte den zweiten Dan im Kendo!

Als sich Natsuki innerhalb der Eingangshalle befand, fielen die großen Pforten mit einem leisen Knarzen ins Schloss. Das schummerige Licht kam von einer Laterne, die auf dem Empfangsschalter stand. Der ganze Saal schien menschenleer. Vielleicht drehten sie hier auch einen Fantasy-Film oder so. Man konnte ja nie wissen.

Das Mädchen stellte die Einkaufstüte mit dem Reis aus dem Supermarkt ab. Dann ging sie zur Rezeption. Neben der Laterne befand sich eine kleine Klingel, die man läuten sollte, wenn der Arbeiter, der sich normalerweise am Empfang befinden sollte, einen Moment abwesend war.

Natsuki wollte die Hand ausstecken und sie betätigen. Vielleicht würde gleich ein Mitarbeiter kommen und sie einweisen, obwohl die Fünfzehnjährige es merkwürdig fand, dass hier jetzt noch offen war. Zu dumm, dass sie die Öffnungszeiten auf dem Schild neben dem Eingangstor nicht beachtet hatte. Vielleicht war aber auch nur der Nachtwächter anwesend, was die menschenleere Halle erklären würde. Doch wieso waren dann die Pforten geöffnet? Langsam ging dem Mädchen ein Licht auf. Konnte es sein, dass... dies alles ein verrückter Werbegag war, um mehr Besucher herzulocken?

Als Natsukis Fingerspitzen die kleine Klingel berührten, durchfuhr sie ein kalter Schauer. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung, und dass sie nicht wusste, was, bereitete der Grünhaarigen ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Die Fünfzehnjährige lehnte sich über die Rezeption und erstarrte vor Überraschung und Schock. Hinter dem Tresen lag jemand auf dem Boden... ohnmächtig.

Hastig stürzte das Mädchen um die lange, hohe Ablage herum und kniete sich neben die Person, die sich nicht rührte.

„Oh mein Gott“, hauchte Natsuki und versuchte, sich daran zu erinnern, welche Erste Hilfe man leisten musste, wenn jemand reglos auf dem Boden lag. Erst einmal den Puls fühlen, dachte sie, denn es konnte ja sein... das dies eine Leiche war. Die Fünfzehnjährige schauderte.

Nachdem sie erkannt hatte, dass der Mensch vor ihr noch lebte, atmete das Mädchen erleichtert auf. Was hätte sie getan, wenn sie in einen Mordfall verwickelt worden wäre? Während sie noch ratlos einen Moment lang überlegte, was nun weiter zu tun war, traf Natsuki die Erkenntnis ganz plötzlich wie ein Schlag. Der Ohnmächtige vor ihr, das war... Ren-kun!!!
 

Natsuki starrte Ren-kun mit offenem Mund an, doch der rothaarige Junge rührte sich immer noch nicht. Hatte der Zettel etwas damit zu tun gehabt? Immerhin hatte dort doch etwas von einem ‚echten Ren-kun‘ gestanden, oder? Was um aller Welt war hier nur los? Träumte die Fünfzehnjährige mal wieder? Sie befand sich hier in einem Krimi-Roman!

Auf einmal spürte das Mädchen, dass sich etwas hinter ihr befand. Es war eine seltsame Präsenz, die die kleinen Härchen in Natsukis Nacken sich sträuben ließen. Langsam drehte die Grünhaarige sich um.

Es war buchstäblich ein Schatten, dessen rote Augen die Fünfzehnjährige anstarrten, sie beinahe durchbohrten. Sie wusste, dass Schatten eigentlich keine Augen haben durften, doch sie schob es auf ihre eigene Einbildung und Träumerei und rieb sich sorgfältig die eigenen Augen. Als die brennend roten Kreise danach immer noch da waren, richtete sich das Mädchen langsam auf und umklammerte fest den Stock, den sie sich zur Verteidigung abgebrochen hatte.

Einen Moment lang war alles mucksmäuschenstill. Natsuki hielt den Atem an, nicht ein Staubkorn innerhalb der riesigen Halle regte sich.

Dann schoss der Schatten ohne jegliche Vorwarnung direkt nach vorne und versuchte, sich auf die Fünfzehnjährige zu stürzen. Sie keuchte und sprang zur Seite und stellte erschrocken fest, dass es kein Schatten war, der sie angesprungen war. Es war ein riesiges, rabenschwarz gefiedertes Wesen, dessen einzige Farbkleckse die roten Augen waren. Es hatte aufrechten Gang und an Händen und Füßen befanden sich lange, scharfe Krallen, die jedes Licht, das von der kleinen, milchigen Laterne hinüber schien, absorbierten. Was dem Mädchen ebenso sehr auffiel waren die langen, entsetzend spitzen Fangzähen, von denen jeder dicker war als ihr Oberschenkel. Was war dies für eine Kreatur?

Natsuki blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, da das Wesen abermals auf sie zukam. Blitzschnell entschied sie sich, nach links zu rollen um hinter einem großen Zierbaum, der in der Eingangshalle stand, Schutz zu suchen. Doch der Schatten kam schnell hinterher und riss den Stamm der Pflanze mit seinen Krallen in der Mitte entzwei, sodass das Holz nur so splitterte und die Fünfzehnjährige zurückgeworfen wurde.

Das Mädchen schnappte heftig nach Luft und rang, um Atem zu fassen. Das konnte doch alles nur ein schlimmer Traum sein, oder? Das konnte nicht real sein! Es war alles nicht echt!

Die Albtraum-Kreatur wollte Natsuki keine Verschnaufpause gönnen und wetzte ihre Klauen, um eine Sekunde später zu versuchen, mit den dolchartigen Vorderläufen auf die Grünhaarige einzustechen. Mutig schwang die Fünfzehnjährige ihren Stock, durch den die Krallen des Wesens jedoch hindurch schnitten wie durch Butter. Panisch wich das Mädchen zurück, und der Vorderfuß des Schattens zersplitterte stattdessen das Glasfenster, vor dem sie einen Augenblick zuvor noch gestanden hatte.

Natsuki schrie entsetzt auf. Die Scherben flogen wild umher und einige streiften sie, schnitten ihr ins Fleisch. Durch das nun offene Fenster heulte der Wind und der Regen sprühte in feinen Tropfen hinein, um die Haut und die Kleidung der Fünfzehnjährigen wie sanfter Nebel zu benetzen. Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass ihr Regenmantel nur noch in Fetzen an ihrem Oberkörper herunterhing. Hatte das die Kreatur mit ihren scharfen, messerartigen Pfoten zu verschulden?

Das Wesen aus dem Albtraum schien für ein paar Momente lang Kraft zu sammeln. Dann drückte es sich wieder mit seinen Hinterfüßen vom Boden ab und sprang mit einem mächtigen Satz auf Natsuki zu, die langen Krallen ausgestreckt, um die Kehle der Grünhaarigen zu durchbohren.

Die Fünfzehnjährige sah sich verzweifelt nach einer Möglichkeit um, auszuweichen. Doch es war unmöglich, ihr war jeder erdenkliche Fluchtweg durch die Fänge des Schattens abgeschnitten. Sollte das ihr Ende sein? Das Mädchen schüttelte den Kopf. Es gab immer noch die Option, jetzt ganz fest die Augen zu schließen und darauf zu hoffen, dass dies alles nur ein böser Traum war, aus dem sie jeden Moment wieder erwachen würde, wenn sie sich nur fest genug konzentrierte.

Also presste Natsuki ihre beiden Augenlider fest zusammen, sodass ein Flimmern in ihrem Sichtfeld entstand. Bitte wach auf, dachte sie und ballte die Hände zu Fäusten, wach bitte auf.

Als die Fünfzehnjährige langsam wieder wagte, aufzuschauen, war sie auf einmal von einem grellen Licht umgeben. Verwundert blickte sie um sich, denn sie hatte das Gefühl, dies schon einmal erlebt zu haben. Ein Déjà-vu? Das Mädchen versuchte, den Boden unter ihren Füßen wieder zu spüren, doch unter ihr befand sich gähnende Leere. War dies also doch ein Traum? Oder war es Wirklichkeit?

Auf einmal erkannte Natsuki den Grund, warum ihr das alles so bekannt vorkam. Sie hatte dies schon einmal geträumt! Sie trug genau die gleiche, merkwürdige Rüstung wie in dem Traum, den sie vergangenen Montag gehabt hatte. Ihre Haare waren auch wieder viel länger geworden und mit zwei roten Schleifen zusammengebunden. Und... sie hatte wieder diese seltsamen, weißen Flügel!

Das grelle Licht, von dem die Fünfzehnjährige umgeben war, verblasste nun nach und nach, und sie fand sich in der Eingangshalle wieder, in dem sie eben von dem geheimnisvollen Monster attackiert worden war. Doch, wie das Mädchen feststellte, war sie scheinbar noch am Leben. Oder nicht? Vielleicht war sie ja doch gestorben und trug deshalb jetzt diese Flügel. Unsicher kniete Natsuki auf den Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Was sollten ihre Eltern wohl denken, wenn sie erfuhren, dass ihre Tochter tot war? Und Aoko und ihre Großeltern und all ihre Freunde? Es war doch viel zu früh, oder nicht? Sie hatte alt werden wollen.

Du bist nicht tot.

Die Fünfzehnjährige schreckte hoch. Hatte sie sich die Stimme nur eingebildet? Sie war nur sehr leise gewesen, trotzdem durchdrang sie die Ohren des Mädchens wie ein gewaltiges Echo.

Steh auf und kämpfe.

Da Natsuki im Moment endlos verwirrt war, entschloss sie sich, der merkwürdigen Stimme einfach mal zu gehorchen. Viel verrückter konnte der Traum ja nicht mehr werden, oder? Und falls es kein Traum war, was die Fünfzehnjährige nicht hoffte, dann war Kämpfen wohl wirklich die einzige Option. Doch was sollte sie tun. Was konnte das Mädchen gegen so ein Schattenmonster nur ausrichten?

Natsuki bekam keine Zeit mehr zum nachdenken, da die Kreatur, die sie einen Moment lang überrascht angestarrt hatte, sich nun wieder fasste und abermals angriff. Die Fünfzehnjährige sprang wieder zur Seite, bis sie entsetzt bemerkte, dass sie mit den merkwürdigen Engels-Flügeln, die ihr vorhin einfach so gewachsen waren, tatsächlich fliegen konnte.

Und dann spürte das Mädchen es. Da war auf einmal dieses Gefühl. Dieses sonderbare, drückende Gefühl, dass sie immer hatte, nachdem sie einen Bildertraum gehabt hatte. Dieses Gefühl, dass sie dazu drängte, ihren Traum zu Papier zu bringen. Aber, wenn sie dieses Gefühl jetzt hatte, musste das doch heißen, dass sie... wach war!

Während sie wieder sanft mit den Füßen auf dem Boden aufsetzte, stürzte Natsuki zum Tresen des Empfangs hinüber, wo Ren-kun immer noch lag und sich nicht rührte. Dort würde sie bestimmt Papier und Stifte finden.

Hastig riss sie alle Schubladen auf und suchte nach irgendwelchen Schreibmaterialien. Egal welche, doch das Mädchen musste unbedingt dieses Bedürfnis, zu zeichnen, befriedigen. Sie wusste nicht, warum, doch die Fünfzehnjährige hatte das Gefühl, dass dies die Lösung war, um das Schattenmonster zu vertreiben.

Besagte Kreatur kam Natsuki nun immer näher, obwohl sie mit ihren Flügeln einen kleinen Vorsprung gewonnen hatte. Eilig zog das Mädchen ein bedrucktes Blatt Papier aus irgendeiner Mappe, dessen Rückseite jedoch noch weiß war. Vom Boden einer kleinen Box fischte sie einen Kugelschreiber.

Das Schattenwesen war nun nur noch ein paar Meter von ihr entfernt. Konzentration, dachte die Fünfzehnjährige bei sich. Wenn sie jetzt in Panik verfiel, wäre das verhängnisvoll. Natsuki musste Ruhe bewahren. Sie schloss die Augen und sah prompt ein Bild vor sich. Es flackerte nur eine Sekunde lang auf, doch das reichte dem Mädchen, um zu erkennen, was sie zeichnen musste. Der Betrug. Das Bild des Betrugs. Katari.

Die Fünfzehnjährige umklammerte den Kugelschreiber und fuhr ihn ein wenig zitternd, doch ruhig über das Papier. Die Albtraum-Kreatur war nun nur noch einen oder zwei Meter entfernt. Linien entstanden auf der weißen Oberfläche. Immer näher kam das Wesen, die messerscharfen, ausgestreckten Krallen berührten Natsuki schon fast. Noch ein letzter Strich.

Gerade in dem Moment, als das Mädchen befürchtete, von dem Schatten aufgeschlitzt zu werden, beendete sie ihre Zeichnung, die darauf zu leuchten begann. Das Licht schien die böse Kreatur zu umschließen und zu läutern, und eine Sekunde später war das Albtraum-Wesen verschwunden. Dort, wo es einen Moment zuvor noch gestanden hatte, befand sich nun nur noch ein wenig Rauch, der langsam verblasste.

Meine ...Rache.

Eine böse, doch erstickt klingende Stimme hatte gesprochen, von der Natsuki sich sicher war, dass sie aus dem Inneren der Zeichnung kam, die sie immer noch fest umklammert hielt.

Erst jetzt sank das Mädchen entkräftet auf den Boden. Das hier konnte doch alles nicht wahr sein, oder? Sie hatte einen merkwürdigen Zettel bekommen. Ein Monster hatte sie angegriffen. Ihr waren Flügel gewachsen. Das Monster war von einer Zeichnung, die ihr plötzlich in den Sinn gekommen war, aufgesogen worden. Ren-kun lag ohnmächtig hinter dem Tresen. Was für eine verrückte Zeit. Vor einer Woche war alles noch ganz normal gewesen, dann waren Natsukis Träume immer merkwürdiger geworden, dazu dieser seltsame Besucher letzte Woche und nun ...das?

Die Fünfzehnjährige schüttelte den Kopf und hielt sich die Stirn mit den Händen. Was passierte nur mit ihrer heilen Welt?
 

„Shirotenshi“, hörte sie auf einmal eine Stimme. Die Stimme klang leicht und sanft und nicht boshaft wie die, die aus dem Inneren der Zeichnung gerufen hatte.

Es war dieselbe Stimme, die sie vorhin schon aufgefordert hatte, zu kämpfen.

Natsuki blickte sich um. Dann entdeckte sie etwas, dass sie niemals erwartet hätte. Ein winziger Junge mit zerzaustem, blonden Haar und weißen Flügeln flatterte vor ihrem Gesicht. Auf seiner Stirn befand sich ein fröhlich glitzernder, rot leuchtender Kristall. Die Ohren liefen seltsam spitz an, ähnlich wie die des Mädchens selbst im Moment, und seine Pupillen waren schmale Striche, wie die einer Katze.

„Hallo“, sagte der Junge. Er hatte also gesprochen.

„Uhm, hi“, entgegnete Natsuki verwirrt. „Äh... bist du eine Fee?“

Der Fremde lachte heiter. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich bin das Gleiche wie du im Moment. Ich bin ein Engel.“

Das Mädchen blickte ihn ungläubig an. „Aber das... aber warum-“ Sie konnte ihren Satz nicht ausformulieren, denn der Engel unterbrach sie: „Ich verstehe, dass du jetzt viele Fragen hast. Ich habe aber nicht die Zeit, sie dir alle zu beantworten. Ich versuche, mich kurz zu fassen, in Ordnung?“

Die Fünfzehnjährige konnte nur nicken. Im Moment herrschte in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander.

„Ok, ich sollte mich zuerst einmal vorstellen“, überlegte der winzige Junge. „Mein Name lautet Zen, aber das tut nicht zur Sache. Ich habe den Auftrag bekommen, dir einiges zu erklären. Du hast in den letzten Tagen bestimmt viel Aufregendes erlebt, nicht wahr?“

„Ja!“, entgegnete Natsuki.

„Nun gut, wo soll ich anfangen?“, Zen sprach mehr mit sich selbst. Dann begann er: „Das Schattenwesen, das du bekämpft hast, das war ein Dämon. Dieser Dämon hatte sich in Ren-kuns Seele eingenistet und ihn dazu gebracht, böse Dinge zu tun, wie Mädchen das Herz zu brechen.“

Erschrocken blickte die Fünfzehnjährige ihn an. Das war unglaublich! Ren-kun hatte das alles nur getan, weil ein Dämon ihn kontrolliert hatte? Die ganzen Mädchen, mit denen er sich getroffen hatte, auch Natsuki selbst... das war nicht wirklich Ren-kun gewesen?

„Vor einigen Jahren sah es einmal so aus als hätten wir über diese Kreaturen gesiegt“, erklärte Zen weiter, ohne von dem Gefühlschaos, in dessen Mitte die Fünfzehnjährige sich gerade befand, Notiz zu nehmen. „Damals haben wir es geschafft, den Meister der Dämonen, Satan selbst, zu für immer zu bannen. Doch seine Diener streifen noch immer auf der Erde umher und treiben ihr Unwesen. Bis wir nicht jeden einzelnen von ihnen eingefangen haben, ist die Welt noch nicht vollständig vom Einfluss des Teufels befreit.“ Der Engel machte eine kurze Pause und blickte dann Natsuki an. „Und hier kommst du ins Spiel. Du wurdest mit einer enorm mächtigen, göttlichen Kraft geboren, die den Dämonen ebenbürtig ist. Du musst sie alle finden, bevor sie dich finden. Du musst dich in Shirotenshi verwandeln und auf die Jagd gehen.“

Das Mädchen runzelte die Stirn an. Ok, das hörte sich nun verrückt an. Wie in einem Magical Girl- Manga oder so ähnlich. Sie konnte sich unmöglich verwandeln und auf Dämonenjagd gehen, oder?

Zen deutete nun auf Natsukis Halskette mit dem geflügelten Anhänger, in dessen Mitte ein Herz eingraviert war. „Immer, wenn diese Kette mit Wasser in Berührung kommt, verwandelst du dich“, meinte der kleine Engel nun.

Nun, das erklärte einiges. Zuerst war da dieser Vorfall mit dem Bad gewesen, von dem Natsuki angenommen hatte, dass es ein Traum gewesen war. Dann hatte sie sich doch vorhin auch in genau dem Moment verwandelt, in dem ihr Mantel zerrissen war und durch das zerbrochene Fenster Regen herein gesprüht war. Oder?

Das Mädchen wollte noch so viel mehr wissen. Erst jetzt spürte sie, wie viele Fragen ihr überhaupt im Kopf herum gespukt waren. Je mehr sie von Zen erklärt bekam, desto dringender wurde das Bedürfnis nach Antworten.

„Du kannst dich nur nachts verwandeln“, fuhr der blonde Engel fort. „Bleib stark, Kamikaze.“ Mit diesen Worten erhob sich Zen hoch in die Luft und es sah so aus, als ob er schon davonfliegen wollte. Verdutzt starrte Natsuki ihm nach. Bleib stark? Das war alles? Und sie sollte nun ganz alleine Dämonen bekämpfen, obwohl sie nicht mal so richtig verstand, wie sie den Dämon vorhin überhaupt besiegt hatte?

„Warte!“, rief das Mädchen, befürchtete aber, dass der Engel sie schon nicht mehr hören konnte. Zu ihrer Überraschung hielt er inne und kam dann noch einmal auf die Fünfzehnjährige zu.

„Ich habe noch eine Frage“, meinte Natsuki. Gut, ihr brannten noch massenhaft Fragen auf der Zunge, doch sie hatte das Gefühl, dass dies der richtige Zeitpunkt war, um eine ganz bestimmte Frage zu stellen. „Wer ist Fynn?“

Zen lächelte. „Schön, dass du dich noch an den Namen erinnerst. Es ist dein eigener.“

Das Mädchen blickte den Engel an als hätte er chinesisch gesprochen. „Ich... ich bin Fynn?“

Der blonde Junge nickte. „Dies ist dein Seelenname. So wie mein Seelenname Zen lautet. Behüte ihn gut...“

Dann verblassten die winzigen Umrisse Zens zu einem kleinen Licht und er war verschwunden. Natsuki wusste nicht ganz sicher, ob sie sich den Engel nicht doch nur eingebildet hatte. „Ich bin Fynn“, murmelte sie.

Sie verstand noch nicht ganz. Irgendetwas gab es, an das sie sich nicht erinnerte, und von dem sie das Gefühl hatte, dass es sehr wichtig war.

Das Mädchen schloss die Augen. Sie musste... ja, sie musste schnell nach Hause und ihrer Mutter den Reis bringen! Es war doch dringend gewesen, nicht wahr? Natsuki blinzelte und blickte auf ihre Armbanduhr. Es war schon nach elf! Sie hatte sich soeben unbewusst zurück in Natsuki verwandelt. Sie war nicht mehr Shirotenshi, wie Zen gesagt hatte. War alles nur Einbildung gewesen?

Kamikaze.

Die Fünfzehnjährige schüttelte den Kopf. Nein. Sie hatte sich den Engel nicht eingebildet, ebenso wenig wie sie sich den Dämon eingebildet hatte. Es war kein Traum gewesen. Verrückt. Schnell zog das Mädchen ihr Handy aus der Tasche. Sie wählte die Notruf-Nummer und gab die Adresse der Kunstgalerie an. Jemand musste sich schließlich um den armen Ren-kun kümmern, der immer noch ohnmächtig war.

Nein, Natsuki hatte ihm noch nicht verziehen. Aber sie verstand nun. Vielleicht ergab sich in Zukunft noch einmal eine Gelegenheit, um sich auszusprechen. Hoffentlich.

Dann nahm die Fünfzehnjährige ihre Einkaufstüte und verließ das Gebäude, noch bevor der Rettungswagen angekommen war. Sie musste dringend nach Hause. Die sollten alleine klarkommen mit Ren-kun.

Was Natsuki die ganze Zeit nicht bemerkt hatte war, dass das große Gemälde, das in der Eingangshalle der Galerie in einer Vitrine aufgestellt gewesen war, nun fehlte.
 

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Info: Demnächst wird kein Kapitel folgen, das die Hauptgeschichte weitererzählt. Zuerst kommt ein Spezial, in dem Shinji im Mittelpunkt steht. Dieses Spezial enthält Spoiler zum siebten Band des "Jeanne"-Mangas. Wenn ihr den siebten Band des Mangas noch nicht gelesen habt, würde ich euch empfehlen, das Spezial erst zu lesen, wenn "Yoru no tenshi" Kapitel 16 hochgeladen wird.

Das Spezial wird am 14.11.2011 folgen.

Auf Wiedersehen und bis bald =)



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