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Die Zitrone und der Rabe

und andere Geschichten
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Die Zitrone und der Rabe

Die Zitrone und der Rabe I.

Es war fast Mittag, als das Metall des Zuges die Sonne reflektierte und ein Junge heraus auf den Bahnsteig trat. Letzterer war eigentlich nur eine leichte Erhöhung neben der Straße im Zentrum der Stadt. Der Schatten des Fremden zog sich über die sandigen Steine und jeder, der seinen Besitzer erblickte, kannte sofort das Ziel der beiden, obgleich niemand sie je zuvor gesehen hatte. Der Junge schaute sich nur kurz um, ein Auge für die niedrigen, an der Straße aufgefädelten Häuschen, ein anderes für die Schatten, die scharf zugeschnitten waren und tiefschwarz, und ein nächstes fing die verschwindenden Dachspitzen und Kanten ein, welche sich in einen dichten Nebel aus Lichtstrahlen einhüllten wie jeden vergangenen Tag auch. Er lief die Straße hinauf. Die Menschen, die seinen Weg kreuzten, starrten ihm nach. Besucher waren ungewöhnlich. Er mochte vielleicht sechzehn oder siebzehn sein, die silbergrauen Haare trug er fast schulterlang, in der blassen Hand hielt er eine Reisetasche, die zweite steckte in der Tasche seiner Jacke. Er klopfte an eine Tür, sie öffnete sich, verschluckte ihn. Jetzt war es nur ein vorübergehender Augenblick, ein flüchtiges Schauspiel mit bemerkenswertem Hintergrund, welcher seinerseits doch zu alltäglich war, um ihm Beachtung zu schenken. Erst später erinnerte man sich wieder an die Ankunft Severins, wie er mit seinem eiskalten Gesicht über die in Mittagssonne getauchte Straße wanderte, seine Haare im Wind wehten, der ebenfalls von Hitze getränkt war. Doch nicht vermochte zu schmelzen. Der Junge kam aus dem Osten hierher, um seine Tante zu pflegen, der es seit einiger Zeit sehr schlecht ging. Er war vom Ehemann der Schwester geschickt worden, um zu helfen. Vom Ehemann, sein Vater, der Schwester, die bereits verstorben trotz ihres jungen Alters. Sie war achtzehn gewesen, als sie mit ihrer älteren Schwester einen Ausflug gen Osten machte und dort heiratete. Die Ältere kehrte ein Jahr später zurück, die Jüngere niemals, starb 157 Monate darauf an einer Krankheit, wie man behauptete, dieselbe, die nun die Schwester quälte, dieselbe, wie sie auch der Großvater Severins erlitten hatte. Die Bewohner der Stadt nannten sie den Fluch des Grauen Blutes, das Schicksal, das alle teilten, die vom Blut der Grauäugigen gekostet hatten, es in ihrem Körper produzierten.

Der Junge zog bei seiner Tante ein, bei ihr und der Großmutter, und er ging zur Schule, in der er sehr gut war und dennoch nie ein Wort sagte. Kaum ein Mensch, den man draußen auf der Straße ansprach, hatte je seine Stimme vernommen. Aber man fand auch nicht alle Einwohner der Stadt auf der Straße. Manche drückten sich ebenso in den Schatten herum wie der Fremde selbst, nur konnte man sie nicht nach dem Klang seiner Stimme fragen, man begegnete ihnen nie.

Die Luft war kühl geworden, denn die Nacht schlich heran, heimlich wie immer, doch offensichtlich. Wie immer. Er zündete sich eine Zigarette an, der Nebel stieg auf, und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Das war eine Bewegung, die er oft ausführte, obwohl sie nichts nützte. Die Haare fielen zurück. Gerade wenn er am Abend im Dunkeln saß und rauchte, den Kopf schief gelegt, zur Hälfte als schaue er in den Himmel, zur anderen als wende er sich ab von was auch immer. Mit Abscheu, Stolz, Angst, Verlegenheit. Zu keiner Zeit gab er Gründe zu erkennen.

Ich saß neben ihm an der abgewandten Seite, die Knie angezogen, lauschte seinem Atmen. »Wie geht es deiner Tante?«

Er sog die Luft tief ein und sagte dann, als hätte er nichts gesagt: »Sie stirbt.«

Ein seltsamer Anflug von Vergnügen. »Wann?«

»Übermorgen.«

Ich war berauscht. Der Gedanke daran fesselte mich irgendwie. Ich konnte mir nicht erklären, warum. Ich kannte die Frau eigentlich nicht. Ich hatte sie nur wenige Male draußen gesehen, als es ihr noch besser ging, als ich noch klein war. Ich war nie in ihrem Haus gewesen, hatte Severin nicht einmal dort besucht, obgleich er schon drei Monate hier war. In der Schule war ich zwei Klassen unter ihm. Man bemerkte sich nicht. Erst hier waren wir uns begegnet. Und seitdem trafen wir uns auch fast nur an diesem Ort ohne Ohren, im Dunkeln, bis auf wenige Male auf den Bahnschienen. Tageslicht kam mit der Großstadt.

Er ließ die Zigarette ins Gras fallen, wandte sich zu mir und blickte mich an. Seine Augen waren durchdringend und einerseits sehr bösartig. Er sah alles, alles, was man sich vorstellen konnte. Es gab nichts, das man vor ihm verbergen konnte. Man versuchte es erst gar nicht. Ein schamloser, durchdringender Blick. »In zwei Tagen fahr ich nach Hause zurück.« Seine Augen saugten sich an meinen fest. »Kommst du mit?«

Ich strich mir eine schwarze Strähne von der Stirn. »Ich bin mit der Schule noch nicht fertig.«

Er verzog keine Miene, unbeweglich wie üblich. Seine Hand war kalt. Eine Wolke schob sich vor den Mond. Die Grillen zirpten laut, glaubte ich zu hören. In Wirklichkeit verschloss ich die Ohren.

Wie lagen im Gras, das nass war. Ich zupfte die Halme aus und verknotete sie. »Severin.«

Er antwortete nicht.

»Severin.«

»Mir ist furchtbar langweilig hier.«

Ich setzte mich auf, zog mir meine Sachen wieder über. »Wie ist deine Tante eigentlich?«

Er machte eine abwertende Bewegung mit dem Kopf wie andere Menschen mit der Hand. Das war seine Art. Jede Geste war unmerklich klein, auf ein Minimum reduziert, aber wirkungsvoller als alles. »Was willst du andauernd mit der?«

»Es gibt Gerüchte.«

Er schielte zu mir rüber, lächelte. »Haha«, machte er und pflückte ein Kleeblatt, küsste die Blätter und schob sie in meinen Mund. Dann beugte er sich zu mir und flüsterte: »Du kannst nicht mal dem trauen, was deine Augen sehen. Wie kannst du Gerüchten Glauben schenken?«

Und ich flüsterte zurück: »Ich höre sie nur.«

Seine Hand glitt unter mein T-Shirt. »Ich werde sie töten.«

»Warum?«

»Ich mag sie nicht.«

Der Mond legte einen Schimmer auf das silberne Haar, die weiße Haut, Gras, Gänseblümchen, nahe Dächer. Hinter einer Fensterscheibe wusste ich die Gestalt einer hageren Frau mit grauen Augen, die uns beobachtete. Wie immer. Ich blickte ihr ins Gesicht, ein kühler Ausdruck, vertraut. Eigentlich kannte ich sie nicht und durch das Glas sah man sie schlecht in Dunkelheit und Entfernung, doch schien ihr Gesicht das gleiche zu sein wie das, welches ich liebte, an diesem Körper jedoch verursachte es Abscheu. »Ja«, hauchte meine Stimme. »Ich auch nicht.«
 

Die Zitrone und der Rabe II.

Eigentlich hörte ich die Leute immer nur schlecht über ihn reden, überhaupt hatte die Familie nicht den besten Ruf. Aber vor allem lag es daran, dass er seither ein Fremder geblieben war, ein seltsamer Junge. Im Unterricht passte er selten auf, beschäftigte sich mit anderen Dingen wie Büchern und Bauwerken aus Radiergummi und Stiften, bei denen Gleichgewicht und Gravitation alles waren. Dennoch schrieb er stets die beste Arbeit. Er war ein begnadeter Maler, ein guter Klavierspieler, ein schneller aggressiver Sportler. Er hatte nur heimliche Bewunderer, die nicht einmal sich selbst eingestehen konnten, dass Interesse in welcher Richtung auch immer vorhanden war. Die einzigen, die im Haus der Kranken verkehrten und ihn im Umgang mit der Tante erlebten, waren der Arzt, der Pastor, der Postbote und die Großmutter, die jedoch nur mit ihrem alten Schädel wackelte. Der Pastor sprach nicht über die Dinge, die er sah, nicht offiziell, vielleicht heimlich in Anspielungen. Der Arzt war ein ehrlicher Mann, wie es schien. Über Patienten sprach er nur mit seiner Frau, die ihrerseits noch ehrlicher war, was aber nicht bedeutete, dass sie Geschichten nicht weitertrug. Sie dichtete bloß nichts dazu. Der Postbote dagegen war noch jung, er verstand sich gut mit allen Leuten und redete sogar mit den Eichhörnchen auf den Bäumen. Und er war es, der die wenigen guten Seiten des jüngsten Blutverkosters der grauen Welt mitteilte, vergaß er jedoch meistens die Wahrheit.

»Guten Morgen, Azisan«, begrüßte er mich, als er mich auf dem Zaun der Weide am Stadtrand auffand.

»Du bist ein elender Lügner, Postjunge.«

Er lachte schallend, blinzelte mich an. »Soll ich es erst soweit kommen lassen, dass er sie totschlägt?«

»Nein«, sagte ich. »Er wird ihr ein Messer in den Bauch stechen.«

Seine Augen weiteten sich. »Über wen sprichst du?«

Ich sprang vom Zaun, lief ein Stück. »Haha«, machte ich. Ich war mir sicher, er kannte es. »Nicht nur du kannst lügen, Postjunge.«

Er schob seine Mütze ein Stück zurück. »Mein Name ist Régis.«

»Und wenn schon. Postjunge. »Ich warf den Kopf in den Nacken. »Ich weiß, wer du bist. Ich kenne dich doch.« Ich tat, als lachte ich. Das war meine Art.

*

Er beugte sich aus dem Fenster. Auf dem Bett hinter ihm saß eine ausgehöhlte Frau, angelehnt an ein riesiges Kissen. Die Haare waren dünn, hatten eine seltsame Farbe zwischen U und I und waren geflochten. Ihre Lippen waren blass und das Gesicht lebte von harten Zügen. »Was willst du von diesem Mädchen? Sie ist nicht schön«, meinte sie bösartig.

»Aber ihre Stimme ist süß wie Honig im Gegensatz zu deiner, alte Frau«, entgegnete er barsch.

Sie legte den Kopf schief, zog ein schiefes Lächeln auf. »Wenn ich sterbe, wirst du gehen? Und was wird aus Schwiegermutter?«

Er zuckte mit den Schultern. »Was soll aus ihr werden? Der Arzt wird sie zu sich nehmen. Er vermisst seine Mutter.«

Einen Moment herrschte Stille. Die Luft wirbelte durcheinander. »Du nicht?«, fragte sie. Ihre Augen bohrten sich tief in sein Fleisch.

Der Junge trat an das Metallgestell, beugte sich zu ihr, starrte sie an. »Nein«, sagte er dann in einem provozierenden Ton, einem, der meinte, es käme noch etwas nach ihm, doch wartete er vergeblich, sodass sich ein Gefühl der Unfertigkeit über dem Raum anhäufte.

Die Tante sank nieder mit dem Kopf auf das Kissen. »Ich bin müde. Lass mich schlafen.«

Er setzte sich auf den Stuhl am Tisch. »Ich will dir beim Schlafen zusehen.«

»Weshalb?« Ihre Stimme zwickte abfällig.

»Ich finde Gefallen an verwesenden Subjekten, die Faszination für das Tote, das sterbende Hässliche besonders. Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass es sich in etwas Schönes verwandelt, wenn es endlich still ist.« Eine Geschichte, die er mir ebenfalls einmal erzählte. Der Rabe, der nicht hässlich war wegen seiner Farbe, eher die Stimme stieß ab. Gleichzeitig aber waren es die Menschen, die es hässlich hörten.

Ihr war sehr unbehaglich in seiner Nähe einzuschlafen, aber irgendwann konnte sie sich selbst nicht mehr daran hindern. Er stand neben dem Bett, strich ihr über die eingefallene Wange. »Ich weiß, dass ich ein schlechter Mensch bin«, sagte er und mir lief draußen unter dem Fenster ein eisiger Schauer über den Rücken und mein Körper begann zu zittern. Seine Stimme drang tief in mich ein, schnürte mir die Kehle zu. Sein Schatten lag über dem Gesicht der Frau. Mir kamen die Tränen. Der Atem der Alten ging flach, aber regelmäßig, die Flecken auf ihren Händen waren hässlich geworden und über dem Feld schien die letzte warme Sonne.

Das Schrillen der Türglocke zerriss mir das Herz. Severin verließ den kleinen Raum, ging durch das Wohnzimmer in den Flur, öffnete. Vor ihm stand der Postjunge mit seiner Mütze und seiner Tasche und der Jacke, die er selbst im Hochsommer trug. Sie blickten sich an, ernst, still.

»Du sagtest ...«, begann der Ältere, doch der andere ließ ihn mit einem einzelnen winzigsten Zucken der Augenlider verstummen.

»Nein«, sagte er. »Ich sagte nichts. Das weißt du am besten. Ich sagte niemals etwas.« Wie ein Hypnotiseur sprach er und es war vollkommen klar, dass er Recht hatte, und er schloss die Tür, trennte die Glocke vom Auslöser und kehrte zurück zu uns. Der Augenblick setzte sich fort. Er war geduldig, hatte gewartet und jetzt beendete er sich. Der Fremde küsste die Kranke auf die blassroten Lippen. »Die Menschen können genauso wenig unterscheiden zwischen hässlich und schön wie zwischen Ewigkeit und Stillstand. Du bist nicht schuld daran. Was menschliche Sinne wahrnehmen, ist stets Einbildung.« Er legte ein Kleeblatt auf ihre Hände, trat in das anliegende Zimmer. Die Tante war verstummt. Ihr Gesicht aber wirkte entspannter, die Haut war nicht mehr blass, eher natürlich gerötet, die Flecken waren zurückgegangen, die Lippen waren blutrot.

Ich zitterte nur. In der Ferne entdeckte ich einen Farmer, der zu mir herüber blickte. Ich kauerte unter einem Fenster und er sah mich an und ich konnte nicht bemerken, dass es mir etwas ausmachte.

Severin dagegen stand noch lange im dunklen Wohnzimmer. Die Großmutter saß in ihrem Schaukelstuhl und wackelte mit dem Kopf, auf einem Hocker neben dem Klavier saß ein weiteres Mädchen kerzengerade mit zwei blonden Schwänzen. Ein Stillleben, denn sie wirkten wie tot. Bis die Uralte auf einmal aufblickte und anfing ein Lied zu summen. Mit ihrer alten krächzenden Stimme, doch hässlich behauptete niemand. Da, was die Ohren hörten, das Gehirn anders aufnahm und vermischte mit anderen Informationen. Und deswegen sah er nicht, was vermutete die Wirklichkeit zu sein, und Raben und Kleeblätter und Zitronen tanzten durch den Raum.
 

Die Zitrone und der Rabe III.

Er hämmerte an die Tür, sinnlos, man hörte ihn nicht. Auch sein Gebrüll verhallte. Irgendwann, dachte er sich, muss es zu Ende sein. Also verharrte er dort bis es stiller wurde, klopfte erneut. Sein Sohn schloss die Tür auf, öffnete ihm. Sein Gesicht war fragend, verwundert, genervt. Ebenso wie das des Vaters. Der schüttelte nur den Kopf über seinen Jungen, welcher seine langen silbergrauen Haare mit einem hellblauen Tuch zusammen gebunden und auf seinen Schultern Kopfhörer zu liegen hatte, eine Silberkette mit seltsamen Gesichtern um den Hals, den Gürtel der weiten schwarzen Hose passend dazu, eine weiße Jacke mit abgerissenen Ärmeln und komischen Aufnähern trug, eine E-Gitarre in der Hand. Im Hintergrund ein weiterer Junge, ein Freund, mit blau-schwarzen Haaren, schwarzen Sachen und nackten Füßen. »Ich kann die Musik nicht leiser stellen«, sagte der Sohn wissend um die Bitte des Vaters. Die Poster an der Wand blickten eindringlich.

»Wie soll ich mich so auf meine Arbeit konzentrieren?«, fragte der Ältere. »Wer verdient denn sonst das Geld?«

Der andere schnitt eine Grimasse. »Immer dasselbe. Aber das ist unsere Art von kreativer Energie.«

»Laute Musik ist doch nur Vertuschung. Ein Ausweichen. Stell dich.«

Der Junge blickte den Vater fest an, fuhr mit seiner Hand über die Saiten. »Schweigen auch.«

Einen Moment noch vibrierte die Luft, dann wandte der Sohn sich ab. »Wir können ja eine kleine Pause machen.« Und schloss die Tür.

Der Vater kehrte zu seinem Atelier zurück. Er betrachte das Bild, das er gerade gemalt hatte. Es gefiel ihm nicht mehr. Es war seicht, drückte nichts aus. Jemand würde es kaufen, aber ihm gefiel es nicht mehr. Er kannte noch nicht einmal den Namen des Freundes.

Ein leiser Windzug überfiel ihn von hinten. »Papa«, säuselte eine süße Stimme, »malst du mir einen Pierrot? Einen ganz bunten?«

Der Mann legte den Kopf in den Nacken, an seiner Hand hing das kleine Mädchen mit den blonden Schwänzen. »Simone«, sagte er. Sie lachte ihn an.

»Ist Nabu da?«, fragte sie und hüpfte herum. »Sie haben doch eben zusammen gespielt, oder? Es war doch laut vorhin? Nabu! Nabu!«, hallte es nach, als sie aus dem Raum stürmte zum Zimmer ihres Bruders. »Nabu! Nabu!« Sie fand sie nicht. Das Fenster stand weit offen. Kein Bruder, kein Freund. Die E-Gitarre lag auf dem Bett, lose Blätter daneben, auf denen Noten steppten und Buchstaben. Und sie machte einen Knicks und sagte: »Guten Morgen.« Und die düsteren Poster der Lieblingsband ihres Bruders blickten auf sie herab, ein Lächeln. Songtexte zwischen den schwarzen Papieren. Auf einem Regal CDs und Bücher, Videos und Bücher. Eigentlich hatte er tatsächlich sehr viele Bücher. Und eine Stereoanlage und. Schöne Schuhe. Aber Nabu war nicht da. Sie wandte sich fragend an die Gesichter über ihr. Keine Antwort. Sie senkte den Kopf, setzte sich auf das Bett, kuschelte sich in das Kissen. An der Wand ihr gegenüber, der zur Hälfte leeren, unmusikalischen, hing ein Bild, Aquarell, das Bild eines Raben, ein kleiner Rabe mit bläulich-violett schimmernden schwarzen Federn, ausgebreiteten Flügeln, einem Kleeblatt neben den Krallen. Er liebte Raben, der Bruder. Raben und Krähen, alles, was hässlich war auf dieser Welt, was von den Menschen nur Abscheu erhielt und Verachtung, nahm er in seinem Herzen auf.

Simone blinzelte. Ihr Bruder saß neben ihr, hörte über die Kopfhörer Musik und las. »Wir wollten dich nicht aufwecken. Deswegen hat Nabu sich nicht verabschiedet«, sagte er ohne aufzublicken.

Sie richtete sich auf, visierte seine grauen Augen an. »Du«, fragte sie, »bin ich auch ein Rabe?«

Er nahm die Kopfhörer ab, klappte das Buch zu. Sie hatte grüne Augen wie ihre Mutter. Ein trübes Grün. »Nein. Eine Raupe.«

Wer weiß schon heute, was einem am nächsten Morgen durch den Kopf geht, außer den Sternen. Sie sehen dir beim Schlafen zu und sie wissen was geschehen wird. Gibt es jemanden, der Sterne stiehlt? Simone, hörst du es? Das Licht, wie es summt? Summsumm summ. Summsumm. Das Geräusch der Grille, das Geräusch meines Herzens. Wenn es sich verdreht um sich selbst, sich erwürgt. Das Geräusch meiner Seele, wenn sie schreit. Ein flackerndes Licht, gestohlener Stern, die Zukunft geraubt ... Simone ...

Der Morgen.

*

Meine Mutter war früher Kfz-Mechanikerin. Sie liebte Autos, noch immer. Ich habe ihre Leidenschaft übernommen. Sie arbeitete in einer großen Stadt an der Ostküste, mein Vater studierte in derselben Medizin. Er kehrte zurück in seinen Heimatort, sie ging mit, gab ihren Beruf auf, schuld war die kleine Tochter. Am Anfang machte es ihr nichts aus, erst heute nach fünfzehn Jahren. Azisan, sagt sie, geh doch mit ihm. Und ihre Haare sind ganz schwarz und unglücklich. Du sollst endlich anfangen zu leben. Sie hat Recht. Ich bin tot. Nur ein toter Zustand, nicht einmal ein Mensch. Etwas Hässliches, einzig deswegen spricht er mit mir.

»Falsch«, sagte er und warf mir einen strafenden Blick zu. »Diese Stadt ist hässlich, ist abscheulich, aber niemand sieht es. Du dagegen bist nicht hässlich, doch alle denken es.«

Ein müdes Lächeln erfasste mich.

Er stand auf. Die mit blauer Tinte beschriebenen Blätter stürzten von seinem Schoß in Richtung Erde, nur der Nachtwind vermochte sie zu heilen und ihnen den Himmel zu schenken. »Lass mich«, hörte ich seine Stimme, »deine Entscheidung wissen. Morgen früh.«

Mein Körper fiel ins Gras, die Füße zogen die Schuhe aus. Es war kühl. Außen. Innen pochte es heiß. Er schaute mich vergnügt an, meine Finger in seinen, summte er ein Lied. »Meine Tante sang es oft.«

Seltsam waren die Augen. Der Mutter, der Tante, die grün waren oder grau je der Reihenfolge der Bezeichnungen nach. Die Großmutter und die Enkelin grün. Der Großvater grau, der Vater braun. Meine schienen blau zu sein und nicht von Bedeutung.

Lesen wir ein Buch. Über den Raben und die Zitrone. Die Menschen verschmähen die Zitrone, weil sie sauer ist. Der hässliche Rabe wird angezogen von dem Gelb, will sie mitnehmen. Die Menschen beschimpfen und verscheuchen erst ihn, dann schmeißen sie die Zitrone weg. ‘Citric Acid’ heißen die Gesichter an der Wand.

Morgen.
 

Die Zitrone und der Rabe IV.

Die Sonne erhob sich still über die Häuser, bedeckte sie mit dünnen Wolken. Die Straße entlang bewegte sich ein Schatten, sein Schatten. Silberne Haare, die inzwischen wieder bis über die Schultern reichten. Graue Augen. Heiter, kalt, zufrieden. Was auch immer. In einer Hand die Reisetasche, die andere in der Jacke. Ein leuchtend hellblaues Tuch um die Stirn gebunden. Feindselige Blicke begleiteten ihn auf dem Weg zur Bahnstation. Die Musik in seinen Ohren übertönte sie.

Die Gleise glänzten im Licht, in der Ferne sah ich bereits den Zug heran rauschen. In meine Sinne schlich sich eine seltsame Stimme. »War sie wirklich deine Mutter?«, fragte ich ihn.

Er warf den Kopf in den Nacken, lachte. »Ist das nicht egal? Sie sind beide tot. Aber ...« Er wandte den Blick zurück zu mir. »Auf deine solltest du aufpassen.«

Die Bremsen quietschten laut. Die Türen der drei Wagons öffneten sich geräuschvoll. Niemand stieg aus, vier ein. Severin und sein Schatten küssten mich ein letztes Mal, wurden vom Metallgehäuse verschluckt wie auch die schwarzhaarige Frau und was zu ihr gehörte. Der Zug fuhr ab. Zurück blieb Wind, der alles durcheinander wehte.

Das blonde Mädchen nahm meine Hand, lachte mich an. »Morgen«, sagte sie und ihr Gesicht war dasselbe wie das ihres Bruders, »stelle ich dir Nabu vor.«

Eigentlich hätte jeder glücklich sein müssen, dass man das Graue Blut hatte vertreiben können. Aber gebissen hatte man aus Versehen in die gelbe Frucht. Trümmerhaufen. Kahle Bäume. Irgendetwas war verloren gegangen. Vielleicht lag es daran, dass der Rabe seine Flügel nutzte. Vielleicht machte es die Ankunft eines neuen Reisenden, der kälter war und härter und erbarmungsloser und alle Steine erfrieren ließ und jeden Knochen. Plötzlich erinnerte man sich zurück an diesen unglaublich heißen Tag, als seine schwarzen Schuhe den Staub jener Stadt berührten.
 

[Die Zitrone und der Rabe] - Ende
 

Epilog ⌠ORANGE CAFE⌡

„Sie wollte nur schön sterben“, erzählte er mir später, lachte und senkte gleichzeitig den beinah traurigen Blick. „Nichts weiter. Das ist das einzige, was unsere Augen sehen können. Schönheit und ihr Gegenteil. Oder umgekehrt“ Aus dem Raum nebenan tönte laute Musik. Man hörte sie selbst durch die dicken Mauern und sie hallte in dem leeren Zimmer wider, in dem wir uns befanden. Es kam mir groß und einsam vor wie damals auf der Bank am Stadtrand. Nur dass wir dieses Mal im Keller eines unbewohnten Hochhauses tanzten, mitten in der Stadt weit weg vom Hauptbahnhof, obgleich man ihn hören konnte, wenn man wollte, und das Meer. Wie das Klopfen an der Tür unbemerkt vorüber ging. Guten Morgen.

Der Stern über dem Weg des Schicksals

⌠ORANGE CAFE⌡Der Stern über dem Weg des Schicksals

Durch den dünnen Nebelschleier sah man die Sterne nicht. Der Junge fröstelte. Der kalte Hauch einer Novembernacht. Er war müde, aber das Geländer und das darunter liegende Meer ließen ihn nicht gehen. Er legte den Kopf in den Nacken, die silbergrauen Haare schimmerten wie frischer Schnee. Schmetterlinge sah man zu dieser Jahreszeit nicht, am Hafen nur die schwarzen Raben, deren Schwingen die Schneeflocken aufwirbelten, deren schwarze Federn sanft die blasse Wange streichelten. »Guten Morgen, Severin.«

Er blickte dem anderen ins Gesicht. »Es ist kalt«, sagte er bloß in gewohntem Tonfall.

Der andere trat einen Schritt zurück, betrachtete den Jüngeren. »Du bist groß geworden seit dem letzten Mal.«

Ein nicht ernst zu nehmendes Lachen und eine Handbewegung, die die Haare von der Stirn strich. »Was willst du erwarten nach mehr als elf Jahren?« Er löste sich von seinem Platz. »Warum bist du gekommen, Ba...«

»Für dich und heute Enlil Eo.«

Severin schwieg einen Moment. Seine Augen wurden kalt. »Herr Windeshauch ... Willst du mir Leb wohl sagen, oder was?«

»Meine Zeit geht zu Ende. Schicksal.«

Das letzte Wort hallte in seinem Kopf wider und er entgegnete: »Tout marche mystérieusement vers un destin. Ich weiß. Aber selbst wenn du nur noch einen Schritt entfernt bist, zwingt dich niemand diesen zu gehen. Ich will ...« Eine Nebelwolke schob sich zwischen sie, verschluckte ihre Gesichter. »Ich will nicht, dass du gehst.« Und dann: »Du bist auch nur ein Rabe, Herr Windeshauch. Und man hat dir deine Stimme genommen wie allen anderen.« Niemand hört dich mehr. Niemand nimmt dich wahr. Einzig geblieben ist ein leichter Wind ohne Temperatur, dem niemand Beachtung schenkt. Nicht einmal das große Meer lässt sich noch von dir bewegen. Kein Stern am Himmel erleuchtet deinen Weg.

»Geh nach Hause, Severin. Ich gehe auch. Es ist besser, wenn du mich vergisst. Dann bin ich zufrieden.«

»Du musst nicht gehen. Hier ist viel Platz.« Durch das weiße Geflecht aus Wassertröpfchen konnte man nur erraten, wohin er zeigte.

»Zum Glück ist es Nacht, sonst müsstest du mich so in diesem Zustand sehen.«

»Ich habe bessere Augen als du. Ich soll dich so oder so vergessen, wo liegt der Unterschied?«

Die Brücke zitterte unbemerkt. Jemand entfernte sich. Und die Lichter der Stadt waren gelb. »Du bist der einzige«, sagte der Ältere.

»Ich bin der einzige«, echote Severin und wusste, dass es nicht stimmte. »Du hättest ein Vogel sein können, stattdessen ...«, murmelte er und er wollte schreien, doch der Name, den er kannte, war nie der wirkliche gewesen und er durfte ihn nicht sagen. Und das Wasser rauschte so gleichgültig und die Lichter schienen ohne Bedeutung. Aber er glaubte Regen zu hören, über dem Geruch des Windes denjenigen des Regens zu sehen. Also legte er die Hand auf das harte Geländer und ging den Weg zurück zum Festland, zum Hafen, wo er aus einer der leeren Lagerhallen seinen gelben Regenschirm holte und von den feuchten Pflastersteinen die feinen schwarzen Federn einsammelte um, sie ins Wasser zu tragen. Es war eine kalte Nacht und er saß regungslos am Rand der Brücke über den Fluss wie die Raben auf ihren Stromleitungen wachten. Das kleine graue Windrad aus Papier war es, das er vermisste. Ein Windrad so grau wie der Schmetterling im Winter.
 

[Der Stern über dem Weg des Schicksals] - Ende

Regenengel und Nebelkissen

⌠ORANGE CAFE⌡Regenengel und Nebelkissen

Künstler sehen mehr. Ihre Augen sind anders angelegt. Deswegen ist er Severin und ich bin jemand anderes. Und der weiße runde Vollmond wird zu einer kleinen flackernden Kerze. Bon appetit. Hinter dem Vorhang brennt ein anderes Licht. Gelb. Es scheint durch die Spalte zwischen Boden und Stoff. Ein warmes Licht und Lachen aus diesem Raum, das bis zu unseren Ohren dringt, das wir hören und uns ebenfalls freuen. Jeder, der Simone’s helle Stimme hört, freut sich. Aber Severin schläft schon. Die Decke bis zur Nase gezogen, weil ihm kalt ist, weil, was er anhat, nicht ausreichend ist, um warm zu halten. Die Fensterscheibe beschlägt. Sie friert auch. So hüllt sich die Außenwelt in trüben Nebel, der starr bleibt und selbst vom Wind unbewegt. Still von oben. Erst mit der Wiederkehr der Sonne am Morgen kehrt auch die Wärme zurück und belebt das Herz. Guten Morgen. Guten Morgen.

*

Er zog die Metalltür zurück ins Schloss, sodass der Lärm dahinter blieb. Obgleich es vielleicht ein angenehmer Lärm war und die vielen vertrauten Gesichter, welche wortlos laut sein können und glücklich. Er reichte mir den Schirm, schwarz mit weißem Muster. Severin hatte ihn ihm vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt. Es regnete nicht mal. Ein Regenschirm für den Jungen mit dem Hut. Er benutzt ihn für den Schnee. Er sammelt Schneeflocken darin und schenkt mir dieselben.

»Willst du wirklich schon nach Hause?«, fragte Nico und rückte seinen Hut zurecht.

»Mmh. Eigentlich wollte ich noch zum Hafen, aber wenn du mich jetzt nach Hause bringst ...«

»Sev mag es nicht, wenn du mitten in der Nacht alleine unterwegs bist, und ich bin der, der den Ärger bekommt.«

Eine falsche Aussage. Severin ist niemals böse auf Nico. Er ist vernarrt in ihn. Wenn er die Wahl hätte, würde er wählen.

Nico trägt einen schwarzen Hut, schon immer und zu jeder Zeit. Der Hut ist schwarz wie die Haare darunter. Gelegentlich lässt er sie fast lang wachsen, sodass sie vielleicht irgendwann die Schultern erreichen. Dann ähnelt er jemand anderem.

Das Wasser rauschte leise ganz nah an unseren Füßen. Es reflektierte kein Licht. Es war keines vorhanden. Erst weit hinten standen vereinzelte Hafenlaternen, keine Schiffe, schweigende Lagerhallen, in denen manchmal Konzerte von kleinen Bands stattfinden. Weil sie eine gute Akustik haben, sagt Severin. Und er nennt sie die schweigenden Hallen, wer weiß warum. Von hier aus konnte man weit sehen. In alle Richtungen und es war gleichgültig, in welche man schaute. Die Brücken waren zu sehen, wenn man wusste, wo sie waren, die Brücke über den Fluss und die, welche das Meer überquerte zur Insel, auf der der Rest der Stadt erbaut war. Und man sieht schwarze Raben, wenn man gute Ohren hat. Sie sitzen auf Stromleitungen und warten. Schweigsam. Es ist beinahe bemerkenswert, aus wie vielen Farben die Welt besteht.

Das Klicken des Feuerzeugs ließ mich auflauschen. Nico spielte. Eine neue Farbe, rot- orange. Das ist seine Art. Einzig vermisse ich das Zirpen der Grillen.

»In der Altstadt kannst du welche hören«, sagte er.

Ich lächelte. »Bei Rochee im Garten gibt es sogar vierblättrige Kleeblätter.«

»Ja. Weil es der Garten von Rochee’s Ma ist. Die sorgt schon dafür.« Er hatte doch eine Zigarette rausgeholt und angezündet.

Wenn er die Wahl hätte, würde er wählen. Er, Severin. Wenn er sich entscheiden müsste zwischen Nico und mir. Er würde Nico wählen. Weil Nico ein Junge ist und Azisan ein Mädchen. Weil Nico eine schöne Stimme hat und Azisan ebenfalls. Weil er den Rest seines Lebens einsam und niedergeschlagen sein würde, weil Azisan besser tröstet. Wenn er die Wahl hätte, würde er Nico wählen. Weil Nico ein Junge ist und Azisan ein Mädchen. Weil Nico siebzehn ist und Azisan fünfzehn. Weil er jeden Tag verrückt und wütend werden und den Pinsel in die Ecke schmeißen würde, weil Azisan ein besseres Modell ist und mehr Inspirationen bietet. Trotzdem und allem wählte er Nico, weil er nicht glücklich sein will, wenn ein Teil seines Herzens fehlt, der etwas größer ist als der andere. Weil er nicht sein kann ohne seine Flügel. Weil er trotzdem glücklich wäre mit Azisan, weil sie besser tröstet. Aber Severin hat nicht die Wahl. Und wenn er wählen soll zwischen Sonne und Mond, nimmt er den Himmel. Und Stürme und Regen und Apfelbäume. Orangen, Zitronen und Sahnetorte. Schwarze Schuhe und ein Blatt Papier, das er zerreißt, um sich über das Geräusch zu freuen und zu wissen, dass er seine Ohren nicht vergessen hat. Denn die schweigenden Raben neben den schweigenden Hallen sagen niemals einen Ton wie ihr Flügelschlag lautlos ist und die Federn wie Schnee auf die feuchten Steine fallen. Gute Nacht. Bis morgen früh, wenn die Sonne im Aufgang auf euer Gefieder scheint und euren Schmerz ein wenig lindert. Denn Severin sagt, dass ihr leidet. Er hat bessere Augen als ich. Er sagt es, weil er es weiß, weil er euch gesehen hat. Auf einem seiner Bilder habt ihr einen Platz gefunden, zu dem ihr zurückkehren könnt, wenn ihr müde seid. Ein Sonnenaufgang und fliegende Vögel, schwarz vor rotem Himmel, und sitzende und welche mit aufgerissenem Schnabel, die dennoch wortlos bleiben. Die schweigenden Raben, wer sonst. Seid willkommen, sagt er, in meinem Herzen, wenn er den Pinsel nimmt. Und es interessiert ihn nicht, wer sie wirklich sind, und es interessiert ihn nicht, dass der Hafenmeister sie abschießen lässt. Er kann sie gar nicht töten, sagt er, weil sie jetzt bei mir sind und sich ein wenig aufwärmen.

»Gute Nacht, Nico. Bis morgen!«

»Schlaf gut.«

*

Im Hafenbecken ist es neblig. Sagt er. Und: In der Dunkelheit sieht man den Regen nicht. Aber man hört ihn und riecht und spürt ihn auf den Lippen, schmeckt das Wasser, lauwarm. Severin hustet. Lacht geräuschlos. Er bindet sich sein hellblaues Tuch um die Stirn und nimmt einen tiefen Zug. In seinem Kopf spielt Musik. Das sieht man ihm an. Denn über dem Hafenbecken liegt Nebel, kein Schnee. Und im Dunkeln tropft der Regen auf die nackte Wange, man wischt ihn ab, streicht sich Haarsträhnen hinter die Ohren und lächelt. In Gedanken hüpft eine fröhliche Melodie auf und ab und fragt sich, wo sie ist. Kein Lächeln ist für die Welt bestimmt, die Berührung nur für den Stern. Heute ist er philosophisch. Er möchte die Violine zur Hand nehmen und die Luft vibrieren lassen, den Nebel zittern, der von hier aus unendlich fern erscheint. Er möchte Wind und die Schmerzen in den Ohren und von einem Moment auf den anderen wird man unglücklich.

»Was ist los, Azisan?«, fragte er und plötzlich war es still geworden um uns herum.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht nur ein bisschen Schwermut.«

»Mut kann keine schwere Last sein.«

»Ich hatte bloß einen Gedanken, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, was es gewesen ist.«

Er legte den Kopf schief, sodass die Haare vor seine Augen fielen, und betrachtete den aufsteigenden Nebel und die nachtschwarzen Raben dahinter nicht auf der Suche nach passenden Wörtern, einfach so, weil ein Gefühl in der Luft lag, das ihm eben dies sagte. Severin ist ein Künstler. Seine Augen sehen anders, seine Sinne nehmen anders auf. Und dieses bestimmte Gefühl erscheint ihm wie ein eigenes Gemälde, ein unvollkommenes Bildnis einer Stimmung der Dominante. »Die wichtigsten Gedanken deines Lebens sind die, die du vergisst. Sagen manche Leute.«

»Und du?«

Ein kleines Lächeln blitzte auf, ein Funken in der Finsternis. »Ich muss noch darüber nachdenken.« Wie über den Regen. Doch dort sagt er: Der Regen ist da. Ich sehe ihn nur nicht.

Ich spannte den Regenschirm auf, lehnte mich an Severin’s Schulter. Wenn man sich anstrengte, konnte man die Züge fahren hören, und wenn man wusste, wie es war, blickte man leer geträumt auf die leicht schaukelnden Boote auf dem Wasser. Man kippte einen Benzinkanister aus und zündete ein Streichholz an. Wärme stieg auf und eine herrliche Farbe, von der man die Augen nicht abwenden konnte, der Geruch, das Geräusch, die Vögel sitzen schweigend auf den Strommasten. Die Schatten spielen miteinander und die Nacht wird hell erleuchtet. Nur ein weiteres Bild, denn in Wirklichkeit bleibt es kühl auf der Brücke und kein einziges Auto fährt vorüber, der letzte Zug ist lange an seinem Zielort angekommen und die einzige echte Farbe, die das müde Auge vom Fenster über dem Bahnhof aus sieht, ist das passive Gelb des Regenschirms, unter dem er sitzt und über den Regen nachdenkt. Und ich denke mir, ich sollte runter gehen, und wenn ich mich beeile, sehe ich Nico noch in die andere Richtung laufen. Aber stattdessen nehme ich den Stuhl und setze mich vor das Fenster und versuche den Regen zu sehen. Denn auf der Brücke hinter dem Bahnhof scheint es zu regnen. Ein gelber Regenschirm und ein schwarzer mit weißem Muster und der Junge unter dem gelben fragt den anderen: Wozu brauchst du einen Schirm? Es regnet gar nicht. Guten Morgen. Guten Morgen.
 

[Regenengel und Nebelkissen] - Ende

Tout marche mystérieusement vers un destin

⌠ORANGE CAFE⌡ Tout marche mystérieusement vers un destin

Alles geht rätselhaft einem Schicksal entgegen. Ja? Welche Farbe haben seine Augen? Sind sie auch grau? Sind seine Haare ebenso silbern und die Lippen zur Hälfte schwarz? Das Gesicht des Schicksals. Sein Gesicht? Alles geht rätselhaft einem Schicksal entgegen. Haha, macht er und freut sich. Das Licht blendet, aber seine Hand ist warm. Ich weigere mich, geradewegs geradeaus zu gehen. Lieber laufe ich rückwärts Schleifen und springe herum. Was ist schon Schicksal? Solange er da ist, brauche ich keinen geraden, beleuchteten Weg. Wir schalten die Laternen ab, spannen den Regenschirm auf und tanzen. Mit glühenden Augen widmen wir unser Herz einem winzigsten Teil der Welt. Wir saugen dieses auf und den Rest und nennen es Leben und sehen doch nur Sahnetorte und den zerrenden Schmerz in den Ohren. Danke. Wofür? Für dein großes Herz, in dem die ganze Welt Platz findet. Nein, nicht die ganze, flüstert er und senkt den Blick, nur ...

Wer kennt schon das Gesicht eines durch den Zufall bestimmten Schicksals, in dem dem Künstler der Pinsel aus der Hand gleitet und nach ihm auf dem Boden aufschlägt.
 

[Tout marche mystérieusement vers un destin] - Ende

Winterschmetterlinge

⌠ORANGE CAFE⌡Winterschmetterlinge
 

I. Grauäugige Schmetterlinge

Sie trat hinaus auf die Straße, die dunkler war als der Rest der Stadt, denn die nächste Laterne leuchtete erst hinter der Ecke Richtung Bahnhof. Leuchtete auf ihrem hohen hellgrauen Pfahl grellweißes Licht in die Welt. Lovalis rückte ihr Mütze zurecht, in ihren Augen spiegelte sich der Lichtschimmer der Ferne, doch dann wandte sie sich um, ging tiefer in den Schatten der einen Kellertür, vor der still jemand saß und atmete in regelmäßigen Abständen und sehr leise und sie nicht beachtete. Aber hatten seine Haare die Farbe eines dunklen Flieders und seine Augen waren rötlich-braun. Die Uhr an seinem rechten Handgelenk tickte unwürdig leise, die schwarzen Sachen bildeten eine Einheit mit dem Hintergrund.

»Fare«, sagte das Mädchen und ein wenig später: »Severin und Rochee haben dich vermisst.«

Der andere senkte den Blick, der stets still zu sein schien, ganz still, obgleich doch etwas fehlte. Und er sagte nichts, sondern erinnerte sich bloß an die schönen silbergrauen Haare Severins. Grau, so weiß wie Schnee.

»Was passiert ist, war nicht deine Schuld.«

»Was weißt du schon davon.«

Keine Antwort mehr, stattdessen eine lange atemlose Pause. »Tschüs«, sagte sie noch kurz kaum hörbar und schon wieder in Richtung der Laterne laufend, da schaute er plötzlich auf.

»Lovalis.« Sie stoppte. »Gehst du nach Hause?«

Sie nickte, zog ihre Mütze tiefer über die Ohren. »Ich muss noch Hausaufgaben machen. Mathe.«

»So.«
 

II. Frühling (1)

Draußen zog gerade ein Sonnenblumenfeld vorbei, als Régis auf den silberhaarigen Jungen traf. Der Zug ratterte unüberhörbar durch die hitzegetränkte Luft und Severin setzte ein kaltes Lächeln auf. Die silbergrauen frisch abgeschnitten Haare, graue Augen, zur Hälfte geschwärzte Lippen, die blasse Haut schimmerte matt im unwirklichen Licht. »Du musst der Postjunge sein«, sagte er und einen Augenblick lang erweiterten sich Régis’ Pupillen. Ein lauter Herzschlag. Severin spürte die Bodenvibration. Er schob sich vorbei an dem anderen, ein vergnügtes Gesicht, spöttisch. Der Ältere hielt ihn fest.

»Und du bist?«

Der Junge strich sich die Haare von der Stirn, neigte den Kopf zur Seite. »Bist du verliebt?«

»Severin.«

»Severin, mein Name, jawohl, der dich willkommen heißt« Er legte seine Hand auf diejenige von Régis, löste sie sanft von seinem Ärmel. »weil er Zauberer mag. Jedoch ...« Die Bremsen quietschten, die Menschen schaukelten, nahmen ihre Taschen auf. »das Mädchen, das dein Herz begehrt, wirst du wohl nicht bekommen.« Er hatte aufgehört zu lächeln, denn schon strömte die stickige Luft der kleinen Stadt in das Abteil und zog sie nach draußen, den Postjungen und jenen anderen Fremden. Eine gefährliche Stimmung legte sich über die Gebäude, getragen von Sonne und Wind. Severin kniff die Augen zusammen. Willkommen, willkommen. Er wünschte sich zu schreien und mit den nackten Fäusten gegen das heiße Metall zu schlagen. Er wusste, mit der Zeit würde es leichter werden. Aber Zeit schien hier vernachlässigt. Einzig auf dem Kirchendach saß die einzelne Krähe.
 

III. Frühling (2)

Die CD drehte sich. Eine schwarze Scheibe mit grauer Schrift. Nur neun graue Buchstaben, am Ende des Wortes leicht rötlich eingefärbt. ‘Chou Rouge’ stand dort und drehte sich. Drei Jahre alt, seit drei Jahren zum ersten Mal. Das schwarzhaarige Mädchen saß daneben. Durch das offene Fenster zirpten die Grillen. Damals hatte sie mit dieser Musik nichts anfangen können, ein Geschenk von jemandem. Heute jedoch fühlte sie noch immer das Loch, das er hinterlassen hatte. Seine Augen hatten sich tief in ihre Seele gebohrt, grausam und rücksichtslos. Aber Schmerz kannte sie nicht und ihre nackten Füße wippten im Takt. Allein die weiße Nacht neigte sich dem Ende. Übermorgen lächelte sie entgegen. In ihren Händen lag die CD-Hülle und ein Gedanke schlich sich herein, schloss die Tür hinter sich ab.
 

IV. Raison d’être

Ich spiele nicht mit Puppen. Ich möchte nur ein wenig so sein wie sie, die mit den lebendigen spielt, die Meisterin des Spiels, die Prinzessin der Puppen mit ihrem leuchtend roten Haarschopf, dem feurigen Blick, mit dem schönen Namen und dem Stolz des Künstlers.

*

Sie saß auf der Couch gegenüber dem Dach der Turmuhr, die gerade fünf geschlagen hatte. Es war ein ungewohnter Anblick, denn es war Nabus Wohnzimmer, in dem sie sich befand, wie es auch sein Plüschhase war, den sie im Arm hielt. Und hinter der durchsichtigen Scheibe fiel vor dämmerblauem Himmel eine Schneeflocke nach der anderen, deren Wolken man ignorierte. Sterne sehen. Heute. Die Tür öffnete sich, wurde leise wieder geschlossen. Es war eine schöne Tür, sehr schön, Nabus Mama hatte sie ausgesucht. Wandte man die Ohren in ihre Richtung, hörte man die Falten des Stoffs und die Schnürsenkel der schwarzen Schuhe. Aus der anderen drangen nur Autoreifen und Benzin. Nicht einmal ein kleiner Vogel mit einer Schneeflocke. Ein sanfter Windzug bewegte die Gardinen. Der Junge trat ein. Seine schönen langen schwarzen Haare mit den blaugefärbten leicht gewellten Spitzen kamen im Halbdunkel nicht zur Geltung. »Du bist hier, Simone?«, fragte er erstaunt.

»Hier bin ich.«
 

V. Sommer (1) oder Graugeflügelte Schmetterlinge im Friedhofsgras

Der Geruch von frischem Gras. Oder war es Blut? Rochee öffnete die Augen nicht. Er wollte es nicht wissen. Es war kalt und dicht über dem Boden schwebte eine dünne Nebelschicht. Man sah sie nicht, aber spürte sie an den Fingern. Von einem nahen Grab war bis vor kurzem ein eigenartiger Trauergesang ertönt. Verstummt. Das Schattenvolk war weitergezogen. Nur der alte Grabwächter verweilte noch dort, setzte das Lied für sich allein fort mit seiner tiefen rauen Stimme. Ein Husten zwischendurch und ein Husten auch neben dem Jungen. »Es ist verdammt kalt«, sagte Severin und rieb sich die Hände. Die Kamera schlief ins Gras gebettet wie auf ein Kissen, die Brille, der graue Schlüsselbund, an dem sich eine Soichiropuppe und eine Furiperupuppe in die Augen sahen, wie es schien, denn in Wirklichkeit waren sie blind wie die Welt. Rochee wandte den Kopf nach rechts. Der Geruch von frischem Gras. Und auf seinen Händen lagen die des anderen. Kalt, aber seine Hände waren warm und er beugte sich zu ihm herunter und flüsterte etwas. Der Jüngere lachte, schob Severin beiseite. Die Welt zeigte sich jetzt verschwommen und umrisslos, aber das Gras war grün und weit weit entfernt stand Fanon auf der Brücke über den Fluss und spielte Violine. Es war dasselbe Lied. Dasselbe ein wenig glücklicher. Aber das Gras ist grün trotz der Kälte, sagt er noch einmal. Und Severin bindet sich seine Haare zusammen und freut sich.

Die Kamera surrt und der Atem wird zu Nebel wie weiße Gespenster. Man denkt an den Sommer, denn die Finger schmerzen. Man denkt an die Öllampe mit den schmutzigen Gläsern, die Nacht für Nacht wie ein Irrlicht zwischen den Gräbern umherwandert.
 

VI. Sommer (2)

Draußen war es still, kein Windhauch wehte durch die kahlen Bäume, aber der Himmel war blutrot und selbst durch die Fensterscheibe spürte man die Kälte des Winters. Azisan neigte den Kopf zur Seite, lauschte auf die Musik, denn Severin spielte Klavier. „L’est est près“ hatte man das Lied genannt, im Kopf ein anderes. Es erinnerte ein wenig an einen warmen Sommerabend und die verwelkten orangefarbenen Blüten rochen noch immer, erfüllten den gesamten Raum. Der Blick des Jungen blieb an ihrem Rücken haften. Das netzartige Oberteil, schwarz mit Muster, ein noch schwärzeres darunter, ein ganz weißer Hals, ihre Haare zum Teil hochgebunden, zum anderen vor den Schultern und ein schöner weißer Hals, ganz weiß gegenüber der tiefschwarzen Umgebung. Dass er aufgehört hatte zu spielen, bemerkte er erst, als sie sich umwandte. Große dunkelblaue Augen. Sie kniff sie zusammen in einer Art, die nur Severin zu deuten wusste. Er schob sich die Haare aus dem Gesicht und lächelte vergnügt. Seltsam war, dass sie kurz waren, vom Sonnenlicht nur wenig gefärbt. Azisan trat an den Flügel, stützte sich auf das Holz. Sie lachte. Es war wie damals zwischen den Kleeblättern oder im gelben Sonnenblumenfeld. Es war dieselbe Melodie, ebenso strahlend und lebendig, wie Wind lüftete sie den Nebel und vertrieb den Regen, obgleich die Sonne gerade erst unterging, noch kein Stern am Himmel. Er verschloss die Tasten unter dem Deckel. Die Schatten fielen an die Wand. Eine blutige Staubschicht. Lange war niemand mehr hier gewesen. Aber die Blumen rochen noch. Er senkte den Kopf. Das Licht war sehr wenig geworden und ließ ihn wieder blass und fast krank wirken. Aber, sagte er, solange sie riechen, und er meinte es so, ist der Sommer nicht vorbei. Eine vibrierende Saite.
 

VII. Sieben (Winterschmetterlinge)

Ich möchte ein Vogel sein, sagt er. Und.

Nico öffnete die Tür. Es hatte nicht geklingelt, aber er öffnete sie, weil er wusste, dass jemand auf der anderen Seite stand, welcher niemals klingeln würde, denn es war mitten in der Nacht. Er hatte Steinchen ans Fenster geworfen und war dann die Treppe hinaufgerannt und hatte gewartet bis Nico aufgestanden und angezogen war. Es war mitten in der Nacht. Sein Gesicht war leicht gerötet, ungeschminkt, die Lippen hatten ihre natürliche blassrote Farbe, die Haare waren kurz und zerzaust. Sie waren selten kurz, aber diese Nacht fiel es auf, denn der Wind hatte sie durcheinander gebracht. Sein Atem ging schnell und laut, die Schultern hoben und senkten sich im Takt. Anstelle von seinen schwarzen Stiefeln trug er Sportschuhe. Er hatte einige Paar Schuhe und Sportschuhe nur für die Schule. Sie waren weiß mit schwarzen Streifen und den Füßen fiel es schwer stillzuhalten und er blickte den anderen fest an. Er dachte nicht.

»Was ist?«, fragte Nico, strich sich mit dem kleinen Finger die schwarzen Haarsträhnen hinters Ohr und legte die Hand zurück auf die Klinke.

»Dieses Brennen«, sagte der silberhaarige Junge und seine Mimik blieb unverändert, die großen Augen und der atmende Mund. »Es brennt so heiß.«

»Und was willst du von mir? Um diese Uhrzeit?«

Severin senkte den Kopf, sodass sein Haar vor die Augen fiel. Seine Fäuste spannten sich an. »Wenn ich tanzen könnte, würde ich tanzen, aber …«

»Du kannst nicht tanzen.«

»Ich kann laufen.« Seine Füße wippten wie zum Absprung bereit. Sechs Sekunden noch herrschte Stille, die wusste, was sie sagte. Plötzlich drehte er sich um und rannte los, die Stufen hinunter.

»Severin!!«, brüllte Nico und es war ihm egal, ob das ganze Haus aufwachen würde, und er stürzte zurück in sein Zimmer, zog sich eilig seine Schuhe an, griff sich seinen Hut und lief hinterher. Die Wohnungstür knallte und als er über die Geländer sprang, machte die Landung dumpfe Geräusche, aber es war gleichgültig. Die Luft war kalt und der Wind wehte vom Meer. Die Straße hart und dunkel, denn es war die Zeit, zu der sich selbst die Großstadt beinah unbeleuchtet gab, um Energie zu sparen.

Severin rannte voraus. Er wusste nicht, wohin, es spielte keine Rolle. Er spürte den Luftwiderstand und den Wind, der an ihm zerrte, und er war glücklich, denn dieses Gefühl hatte er spüren wollen und hinter sich hörte er Nico rufen und schimpfen. Wenn man die Stadt langsam betrachtete, sah man jedes Detail, jeden Makel. Erhöhte man das Tempo, blieb einzig das Schöne übrig. Vereinzelte vorbeirauschende Lichter, verschwommene Bilder, unklare Eindrücke, sodass man dachte, man hatte jenes Etwas noch nie zuvor wahrgenommen. Die Brücke erschien höher und schmaler und viel länger, obgleich man schneller war als sonst. Und die Luft war so kalt, trotzdem es fast Sommer war, so kalt, sie besänftigte das Feuer, dieses quälende Ziehen im Herzen.

Irgendwann fühlte er etwas Weicheres unter seinen Füßen. Er ließ sich fallen, schloss die Augen. Nur Sekunden später legte sich Nico neben ihn. »Hundert Meter mehr und ich hätte dich gehabt«, keuchte er.

»Haha«, machte Severin. Er blickte in den Himmel, eine schwarze Kuppel, an die jemand ein paar Sterne geheftet hatte. Der Gedanke stimmte ihn lustig. »Und wenn der Kleber sich löst, fällt der Stern als Sternschnuppe zur Erde und ich fange ihn auf.«

»Dann brauchst du einen großen Regenschirm.«

»Ich fange ihn mit bloßen Händen. Ich strecke ihm meine Arme entgegen und wenn er kommt, halt ich ihn fest. Einfach so.« Er machte eine Pause. Das Gras roch stark. »Kennst du das? Du möchtest etwas tun, du weißt, dass du es kannst, und du willst es unbedingt und trotzdem tust du es nicht, weil du nicht darfst, weil es gegen die Ordnung ist oder deinem Ansehen schaden könnte oder so?« Nico antwortete nicht. »Oder wenn du etwas tun willst, weil du es liebst, aber nicht kannst, aber nur die Ausübung dieser Tätigkeit dir Erfüllung geben kann?« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ich hasse das. Eine Gesellschaft, die die Persönlichkeit einschränkt, oder eine Persönlichkeit sich selbst. Das ist widerwärtig.«

»Deswegen läufst du.«

»Weil ich ja nicht tanzen kann und das Ergebnis dasselbe ist. Fanon macht das jeden Morgen, am Hafen, wenn er geigt wie ein Besessener.«

»Er ist ein Besessener«, meinte der Junge mit dem Hut und sein Freund musste lächeln.

»Ja. Und es ist gut so.« Die Luft war laut. Sogar die Stille machte ein Geräusch und vielleicht das Meer in der Ferne. »Ich möchte ein Vogel sein, Nico«, sagte er in seinem eigenen Tonfall. »Ein großer Vogel mit starken schwarzen Flügeln, die Wind machen können, wenn sie schlagen, der einem hart ins Gesicht weht. Ich tue immer so als wäre ich einer, lasse die Leute glauben … In Wirklichkeit bin ich auch nur ein kleiner Schmetterling und nicht einmal ein bunter wie Simone, sondern ein grauer, der im grauen Winter fliegt, weil er der Meinung ist, dass man Kälte besser spürt als Wärme. Acht Wochen eine dicke Raupe, drei Tage ein kleiner grauer Schmetterling und dann …«

»Dann schlägst du einmal mit den Flügeln und auf der anderen Seite der Welt entsteht ein Taifun. Sie ist zu einfach gestrickt für dich, Sev.« Er setzte sich auf und blickte den anderen an. »Aber schau nicht so traurig. Große schwarze Vögel sieht man das ganze Jahr. Dagegen ein Schmetterling im Winter und ein grauer …das ist was Besonderes … Du bist, was du bist, Sev, und wenn du nicht weißt, was du bist, kannst du sein, was du glaubst, du bist.« Er sank zurück ins Gras. »Oder so ähnlich und jetzt lass mich schlafen.«

»Du willst hier schlafen?«

»Zu müde zum Nachhauselaufen. Außerdem ist es Sommer und warm genug. Gute Nacht.« Er zog den sich den schwarzen Hut über sein Gesicht und rührte sich nicht mehr.

»Sommer«, echote Severin irgendwann für sich selbst und dachte ohne zu denken. Er dachte an die Wolken, die sich in Regen auflösten und eins mit dem Meer wurden, und Schiffe, die auf diesen Wolken fuhren, fast nah an den Sternen. Danach blieb immer ein bisschen Leere, nach dem Feuer. Die Asche war grau. Platz für neue Dinge und Eindrücke. Wie feuchtes Gras zwischen den Fingern.
 

[Winterschmetterlinge] - Ende

Neujahr

⌠ORANGE CAFE⌡ Neujahr

Die Nacht war kalt und klar und gefüllt von seltsamer Stille. Vom Dach des Cafes aus konnte man weit über die Stadt sehen, zu Bahnhof und Kirchturm, zur Insel hinüber und auf der anderen Seite Park und Zentrum. Über allem lag eine dünne Schicht Schnee durchsichtig weiß. Die Tür zum Treppenhaus wurde leise geschlossen. Schwarze Schuhe bewegten sich fast lautlos über den Boden, nur das Geräusch der Hose. Er legte die blassen Hände auf die Brüstung. Der andere rührte sich nicht. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Fare.« Es war die erste Nacht des Jahres, auf die der erste Morgen folgen würde, und alle drei waren, wie sie immer waren. Der silberhaarige Junge mit seinen kalten grauen Augen und den halb schwarzen Lippen, sein Freund mit dem fliederfarbenen Haar und dem Kreuzanhänger und die Nacht. Natürlich. Wie sollte sie sich auch unterscheiden, wo es doch dieselbe war wie alle vorangegangenen. »Wieso kannst du nicht wenigstens heute lachen?«

»Was ist heute anders als sonst?«

»Tu mir den Gefallen. Ich mag Neujahr.« Er beugte sich zu ihm, strich mit beiden Händen die Haare aus Fare’s Gesicht nach hinten, band sie mit dem schwarzen Band zusammen, das er in der gleichen Bewegung aus seinem eigenen gezogen hatte.

»Wa …«

Severin lächelte ihn an. »Du bist schön. Ein bisschen wie Yva.« Mit einem Satz war er auf der schmalen Mauer und lief ein Stück. Es war ein sonderbares Bild, das, wie es war, nicht stimmte. Aus vielen Einzelteilen zusammengesetzt und irgendetwas war falsch. Niemand sagte ein Wort und alle redeten viel. Hast du keine Angst. Doch. Wenn du fallen würdest. Ich falle nicht. Man würde dich vermissen. Wer. Alle. Und du? Der Wind blies heftig, aber die Schneeflocken schwebten ganz sanft hinab, schmolzen im Gesicht und auf den Händen. Der Vogel in Severins Nähe und Fare’s stumme Augen. Es soll Menschen geben, die den Wind drehen können und die Zeit umkehren, erzählt jemand und dabei schaut er in den Abgrund und lacht.

»Den Wind verändern?«

»Schweigende Vögel wieder singen lassen.«

Die schwarze Schleife löste sich im Wind, wurde wieder eingefangen. Der andere hockte sich hin und zündete eine Zigarette an. Sogar Camille sei gekommen, sagt er abwesend. Er träumt schon wieder. Und der Wind, der an die Frühlingsstürme erinnert. Wenn er fiele. Der Rabe würde ihn nicht halten. Er ist nicht echt. Seine Raben verlassen den Hafen nicht. Wenn er fiele. Plötzlich blickte er ihn an. Durchdringende graue Augen. Wenn er fiele, würde Nico gerade auf der Straße rauchen und ihn auffangen. Das war seine Art von Flügeln. Von schwarzer Farbe wie seine Vögel und ebenso stark. »Du lächelst ja«, stellte Severin zufrieden fest. »Ein beeindruckendes Lächeln. Woran denkst du?«

Fare schüttelte den Kopf. »Geh wieder zu den anderen. Ich komm gleich nach.«

Der silberhaarige Junge sprang zurück aufs Dach Richtung Treppenhaus. »Dein Wort in Gottes Ohren.« und verschwand in der Dunkelheit hinter der Tür.

Der Jüngere legte den Kopf in den Nacken. Im Osten färbte sich der Himmel bereits hellblau. Er schien weiter entfernt als sonst, aber die Nacht war wie immer, war wie auf Dawn’s Fotos, die unten an seiner Wand hingen und den Tisch bedeckten. Derselbe Himmel, dieselbe bizarre Schönheit. Einige Minuten noch blieb er stehen, atmete die kalte Luft und dachte an Balthasar. Der Vogel saß noch immer auf der Mauer. Schwarze Federn anstelle von weißen Flocken. Jemand rief ihn, das Tier flog davon. Er blickte über die Schulter nach unten. Zwei kleine Gesichter wach und heiter. Eine der vier Hände hielt eine Croisic-Karte. Aber von hier aus konnte er nicht erkennen, welche es war.

Fare verließ seinen Aussichtspunkt. Der erste Morgen des Jahres. Was wünschst du dir?, hatte Severin gefragt. Und sag nicht, gar nichts. Dann lügst du.

*

Die Sonne hatte den Schnee geschmolzen und die Straßen getrocknet und auf den Steinen vor dem Cafe lag eine einsame Croisic-Karte im Staub. Neujahr war ihr Name. Als einzige im Spiel erfüllte sie einen beliebigen Wunsch.
 

[Neujahr] - Ende

Following the wind?

⌠Orange Cafe⌡ Following the wind?

Die Laternen leuchteten noch. Aber im Osten war der Himmel bereits hellblau, fast gelb. Die Straßen waren still und leer und das Meer lag glatt wie Seide, kein Laut berührte die Luft, denn das Rauschen des Wassers zu leise für die Ohren und am Hafen nur die schweigenden Raben. Und auf der langen Brücke, die hinüber zur Insel führte, hinüber zu einem unter vielen Häusern, stand er. Auf dem metallenen Geländer, gerade breit genug für seine Füße, für seine schönen schwarzen Schuhe mit der dicken schwarzen Sohle und dem Absatz, für seine schönen schwarzen Schuhe, die man an der Außenseite mit unendlich langen Schnürsenkeln zuband und die irgendwo zwischen Knöchel und Knie endeten. Er stand da, hielt den Kopf in den kaum spürbaren Wind, seine Haare ruhten auf seinen Schultern, das schwarze Haarband, das sie sonst zusammenhielt, schlang sich um sein blasses Handgelenk. Man konnte weit sehen an diesem Morgen. So weit wie es den Augen möglich war. Er hatte gute Augen. Vielleicht sah er etwas und vielleicht war es das, das er mit seiner Frage meinte: »Was hältst du davon?«, denn vielleicht war er nicht allein. Vielleicht war der bei ihm, der in dem einen von vielen Häusern auf der Insel wohnte, und rauchte. Vielleicht war es jemand anderes und wer auch immer es war, vielleicht stellte er eine Gegenfrage, weil er vielleicht nicht sehen konnte, sehen wollte, sah oder etwas anderes gemeint war. Vielleicht fragte er: »Wovon?« Und wäre es die Frage gewesen oder nicht, der Junge auf dem Geländer hätte gelacht. Wäre es Sommer gewesen. Aber es war Frühling und deswegen war alles anders.
 

[Following the wind?] - Ende



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