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気が違う - Going insane

Ki ga chigau
von

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Prolog

Es war lange her, dass Gackt diesen Ort besucht hatte, viel zu lange. Zwar dachte er nicht oft an ihn, aber immer, wenn er wieder hier war, fiel ihm auf, wie sehr er ihn doch eigentlich vermisst hatte. Und jedes Mal wünschte er sich nichts sehnlicher, als für alle Ewigkeit hier bleiben zu können.

Vielleicht war es die leichte Brise, die ihm so gefiel. Der Gesang der Vögel, die er nicht sehen konnte. Die klare, saubere Luft, der dieser wunderbare Blumenduft anhaftete. Die Sonne, in die er trotz seiner sonst so lichtempfindlichen Augen blicken konnte, ohne Schmerzen zu verspüren; die ihn niemals blendete und niemals unterging. Oder auch die frische, leicht feuchte Wiese, auf der er saß, mit ihren Hunderten und Tausenden von Blumen. Gackt konnte mit Blumen nie viel anfangen, aber diese hier erblühten in so schönen Farben, in solch einem kräftigen Rot, in dem reinsten Weiß und dem wässrigsten Blau, sodass selbst er sich ihrer Faszination nicht entziehen konnte.

Gackt saß auf dem weichen Gras, sein nach hinten geneigter Oberkörper auf beide Ellenbogen abgestützt. Ohne seine Sonnenbrille, die er an diesem Ort nicht brauchte. Ohne seine Kontaktlinsen. Ohne Make Up. Er saß einfach da und beobachtete mit einem leichten Lächeln auf den Lippen die Menschen, die sich ein paar Meter entfernt unter einigen Laubbäumen vergnügten. Gackt kannte keinen davon persönlich, aber es beruhigte ihn unheimlich, sie zu sehen.

Es waren eigenartige Menschen. Sie hatten keine Stimmen. Sie redeten miteinander, sie lachten, aber niemals verließ dabei ein Ton ihre Kehlen. Auch einen Schatten hatten sie nicht.

Als Gackt die ersten paar Male hier gewesen und ihm dieser Ort noch fremd war, dachte er, es liege wohl daran, dass das Licht hier scheinbar von überall kam. Jedes Blatt, jeder Wassertropfen schien von innen heraus zu leuchten. Aber dann fiel ihm auf, dass er selbst einen Schatten hatte und der einzige war, dessen Stimme man hören konnte. Zumindest fast der Einzige.

Auch ihre Stimme konnte man hören, und auch sie hatte einen Schatten.

Das gleiche galt für ihre Schwester.

Gackt sah auf, als sich ein Mädchen neben ihn setzte. Das war sie. Shi, wie er sie nannte. Wie sie wirklich hieß und ob sie überhaupt einen echten Namen hatte, das wusste er nicht. Er wusste nur, dass sie über diesen Ort wachte, zusammen mit ihrer Schwester. Und dass nur die beiden ihn sehen und mit ihm sprechen konnten.

„Es ist lange her, Satoru …“

„Ja, sehr lange.“

„Irgendetwas passiert in der Zwischenzeit …? Ich vernachlässige dich, ich weiß. Aber du siehst ja selbst, wie viel ich zu tun habe.“

Gackt nickte, ohne zu wissen, wovon sie sprach. Er konnte sich nicht vorstellen, was ein sechs, maximal sieben Jahre altes Mädchen hier an diesem Ort groß zu tun haben könnte. Aber Shi war sowieso ein Fall für sich, das wusste er schon, als er sie das erste Mal sah. Damals, als er selbst sieben Jahre alt war und die großartige Idee gehabt hatte, seinen Eltern auszubüchsen, um im Meer zu schwimmen …

Fast dreißig Jahre war das nun her. Er war erwachsen geworden. Shi war immer noch ein kleines Kind.

„Nichts Besonderes … Zumindest nichts, woran ich mich jetzt erinnern könnte“, antwortete Gackt ihr und fragte sich gleichzeitig, ob er in diesem Moment überhaupt beschreiben könnte, wer er war. In seinem Geist herrschte eine angenehme Leere.

Shi nickte verstehend und stand auf. Sofort suchte Gackt auf ihrem weißen Yukata nach Flecken, die das Gras oder die Erde darauf hinterlassen haben müssten. Er fand keinen einzigen.

„Sieh mal, dort drüben …“

Sie deutete mit dem Finger auf eine Baumgruppe ganz in der Nähe. Gackt sah zuerst nicht, was sie meinte, dann jedoch wurden seine Augen groß und er stand ebenfalls auf.

„Geh schon. Ist es nicht das, weshalb du hier bist?“

Ohne zu antworten setzte er sich in Bewegung. Langsam, mit weichen Knien und zitternden Händen, schritt er auf die Bäume zu, immer auf der Suche nach dem Träger des wehenden, violetten Haares, das er gerade erspäht hatte.

Er hatte keinen Zweifel daran, wer das war.

Es gab nur einen, der solches Haar hatte. Gackt traf sich zweimal im Jahr mit ihm, sonst nicht. Er durfte nicht öfter. Aber manchmal, wenn er hier war, an diesem Ort, da sah er ihn. Auch das war einer der Gründe, warum er sich oft wünschte, diesen Ort nicht mehr verlassen zu müssen.

Er erreichte die Baumgruppe, doch die violetten Haare hatte er aus den Augen verloren. Aufmerksam sah er in die Richtung, in die sie verschwunden waren, als ihn ein vertrautes Gefühl überkam.

Die gesuchte Person stand hinter ihm.

Mit vor Freude strahlendem Gesicht drehte Gackt sich um. Ja. Das war er.

Gackt wusste, dass der andere ihn nicht sehen und hören konnte. Aber er wusste auch, dass sein Gegenüber fühlte, dass er da war.

Manchmal, wenn er sich an diesem Ort befand und es ihm nicht gut ging, wachte sein alter Freund über ihn.

Er sah traurig aus. Als sei er sich nicht sicher, ob Gackt wirklich hier ist. Ob er ihn wirklich besuchte, oder ob er sich das vielleicht einbildete, so wie auch Gackt oft die Präsenz des anderen zu spüren glaubte. Hin und wieder sogar in der normalen Welt.

Gackt wollte sichergehen, dass er es wusste. Er trat näher an seinen alten Freund heran.

Dessen trauriges Gesicht hellte sich merklich auf. Er lächelte.

„Wach auf …“

Gackt erschrak und hielt inne. Diese Stimme kannte er nicht, nicht von diesem Ort. Sie gehörte nicht hierher.

„Gaku …“

Jemand rief ihn, wie aus weiter Ferne. Es war nicht nur einer.

„Er kommt zu sich, oder?“

„Ein Glück, ich hatte so eine Angst …“

„Hältst du ihm sofort seine Standpauke oder wartest du damit, bis es ihm besser geht?“

„Standpauke? Jetzt?! Spinnst du?“

„Vielleicht täuschen wir uns ja und er wacht noch lange, lange nicht auf …“

„Vielleicht träumt er …“

Das Durcheinander der Stimmen wurde lauter, aber Gackt verstand dennoch nicht alles, was sie sagten. Auch, wem die Stimmen gehörten, konnte er nicht eindeutig feststellen. Er war sich lediglich sicher, dass es mindestens fünf Personen sein mussten, darunter mindestens eine Frau. Fünf Personen, die er wahrscheinlich sogar kannte, auch wenn sie ihm jetzt wie neblige Erinnerungen aus einem früheren Leben erschienen, verschwommen und nicht greifbar.

„Nun ja, es ist seine eigene Schuld, findet ihr nicht auch? Also sollte er auch seine Standpauke erhalten, solange es ihm noch schlecht genug geht.“

„Ich glaube, jetzt ist nicht der passende Zeitpunkt, wir sollten lieber …“

„Gaku, bitte wach auf …“

Die Umgebung von Gackt veränderte sich. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Er war das Einzige, was sich hier noch bewegte. Die Menschen um ihn herum erstarrten in ihrer Bewegung und auch das Haar seines alten Freundes schien in der Luft gefroren zu sein. Kein Blatt bewegte sich mehr. Kein Vogel sang mehr. Gackt allerdings geriet langsam in Panik und sah hektisch hin und her, immer auf der Suche nach der Herkunft dieser Stimmen.

Er hatte plötzlich das komische Gefühl, als ob ihn jemand an beiden Händen festhalten würde. Das Gefühl der Leichtigkeit, das ihn an diesem Ort immer überkam, verschwand. Er fühlte sich schwerer; seine Bewegungen wurden lahm, bis er schließlich selbst fast so starr war wie seine Umgebung, deren Umrisse langsam vor seinen Augen verschwammen …

„Wach auf!“

Da durchfuhr ihn ein starker Schmerz, und auf einmal sah und hörte er nichts mehr.

Als Gackt das nächste Mal die Augen einen Spalt breit öffnete, sah er zunächst nur eine weiße, blendend helle Fläche. Sofort kniff er die Lider wieder zusammen, schützte sich so vor weiteren Schmerzen. Doch geschlossen halten wollte er sie auch nicht, und so versuchte er, seine brennenden Augen an das grelle Licht zu gewöhnen.

Erleichtert wurde dies durch eine plötzliche Abdunkelung jener weißen Ebene, die er inzwischen als Zimmerdecke identifiziert zu haben glaubte. Wahrscheinlich hatte jemand das Licht ausgemacht, und als sich in seinen Augenwinkeln etwas bewegte und es kurz darauf noch ein bisschen dunkler wurde, vermutete er, dass man nun auch die Jalousien zugezogen hatte. Wer auch immer hier bei ihm war, diese Personen kannten ihn offensichtlich gut.

Allmählich gelang es ihm, die Augen länger als für ein paar Sekundenbruchteile geöffnet zu halten, und auch das bisher undeutbare Rauschen in seinen Ohren nahm ab, bis er schließlich außer seinem eigenen, merkwürdig lauten Atem, dem Geraschel von Stoff und einem monotonen, schon jetzt unerträglich nervtötenden Piepen im Hintergrund kaum etwas hören konnte.

Offensichtlich lag er auf seinem Rücken in einem Bett, und diese Leute, die er nach wie vor nur unscharf sehen konnte, standen um ihn herum. Besser gesagt: Die vier Männer standen, die Frau kniete neben dem Bett. Besonders gut umsehen konnte er sich allerdings nicht. Jede noch so kleine Bewegung war so anstrengend wie ein Marathon, oder vielmehr – er konnte sich gar nicht bewegen. So sehr er es auch versuchte, sein Körper blieb so schwer und gefühlstaub, wie er war. Er war wie gelähmt.

Sein Blick wurde nicht viel klarer, also vermutete er, dass er keine Kontaktlinsen trug, und wenn doch, dann welche ohne Sehstärke. An viel erinnern konnte er sich nämlich nicht, erst recht nicht daran, wie er hierher gekommen war. Dass er sich in einem Krankenhaus befinden musste war ihm inzwischen klar; viel zu oft schon war er in so einem Gebäude aufgewacht, um die typischen Eigenschaften eines solchen übersehen zu können. Allein der leicht chemische Geruch in der ansonsten sterilen Luft reichte aus, und er wusste, wo er sich befand. Krankenhäuser rochen alle gleich.

Gott, er hasste diesen Geruch.

Aber noch mehr hasste er die weißen Wände, die in ihm jedes Mal Erinnerungen hochkochen ließen, die er normalerweise sorgfältig unter geistigem Verschluss hielt.

„Gaku ...?“

Gackt sah mühevoll in die Richtung, aus der das dünne, unsichere Stimmchen gekommen war, und jetzt erkannte er einen der Männer. Das war Yukihiro „Chachamaru“ Fujimura, sein Bandleader und Gitarrist. Kein Zweifel. Die langen Haare würde er überall erkennen, auch ohne Brille, und selbst ohne dieses Merkmal hätte Gackt ihn problemlos identifizieren können. Chacha war von allen Freunden Gackts nämlich der einzige, der freiwillig grellpinke Jacken trug.

„Du hörst mich, oder?“

Gackt wollte etwas sagen, doch Chacha hatte seinen Satz noch nicht mal beendet, als jemand anderes ihm mit einem Zischen deutlich machte, dass er still bleiben soll. Eine Hand legte sich auf seine vom kalten Schweiß nasse Stirn und hinderte ihn auch am Nicken.

„Stell nicht solche dummen Fragen, Yuki. Er sieht dich an, wenn du mit ihm sprichst, also ist er wach und hört dich.“

Diese barsche Stimme gehörte Jun-Ji. Er stand irgendwo rechts von Gackt und konnte von dem Liegenden kaum gesehen werden. Noch immer konnte er seinen Kopf kaum bewegen, und dank der schweren Hand darauf jetzt erst recht nicht.

„Ist ja gut, beruhige dich, Jun-Ji ... Und komm bitte ein wenig runter, ja? Muss ja nicht sein, das Gackt aufwacht und als erstes merkt, wie schlecht du heute wieder drauf bist.“

„Was soll das heißen, ich bin schlecht drauf?“, rief er in einem Ton, der schon erahnen ließ, dass er höchstwahrscheinlich demnächst lauter werden würde. Und er wurde lauter. Mit jedem Wort.

„Soll ich jetzt etwa jubeln!? Weil er aufgewacht ist? Weil er aufgewacht ist, nachdem er bereits-“

„JUN-JI!!“

„Hör auf!“

Die Stimmen der anderen vier unterbrachen, was auch immer Jun-Ji noch sagen wollte. Einer der anderen ging sogar auf ihn los und drängte ihn ein Stück in den Hintergrund, um ihm etwas zuzuzischen, was Gackt wohl nicht hören sollte.

Gackt versuchte wieder, zu sprechen. Doch etwas, was ihm über Mund und Nase lag, erschwerte das erheblich.

„Nicht sprechen“, erklang da auch schon die ruhige, etwas erschöpfte Stimme von You, seinem besten Freund. Er war wohl auch derjenige, dessen Hand auf Gackts Stirn lag. Seine andere Hand hielt die bewegungslose Rechte Gackts.

„Du trägst eine Sauerstoffmaske. Aber ich glaube, die Schwester wird sie dir gleich wieder abnehmen. Vielleicht noch fünf Minuten.“

Es war so beruhigend, seine Stimme zu hören. Sofort wurde Gackt wieder müde. Doch er wollte auch wissen, was denn nun schon wieder passiert war, und versuchte krampfhaft, wach zu bleiben. Was hatte er denn nur gemacht, ehe er ins Krankenhaus kam?

„Wenn du dich nicht gut fühlst, dann schlaf“, meinte nun seine ältere Schwester Tomoko. Also war sie die Frau, die links neben ihm kniete und nervös seine linke Hand knetete. Sie fing an, ihm beruhigende Wörter zuzuflüstern, als hoffte sie, ihn dadurch zum Einschlafen bringen zu können.

Gackt konzentrierte sich jedoch so gut er konnte auf die Person, die Jun-Ji zur Schnecke machte. Er wusste noch nicht genau, wer das wohl war, doch als die beiden etwas lauter sprachen, schnappte er einen Teil ihres Streits auf.

„... wie soll ich denn ruhig bleiben, wenn er fast-“

„Reiß dich wenigstens etwas zusammen, denk dran, wir dürften eigentlich gar nicht hier sein ... Wenn diese nette Schwester uns nicht reingelassen hätte ...“

Hamada, schoss es Gackt durch den Kopf, und er überlegte, welchem Gesicht dieser Name und diese Stimme zugeordnet sein könnten.

Hamada. Ein Fernsehmoderator von HeyHeyHey. Zwar einer, mit dem Gackt ziemlich gut befreundet war, aber ... Was um alles in der Welt machte der denn hier? Drehten die jetzt etwa schon Reportagen darüber, wie er im Krankenhaus lag?

„Du hattest einen Zusammenbruch“, murmelte You ihm zu, der inzwischen auch wie Tomoko neben dem Bett kniete. Seine Augen schimmerten rötlich.

„Du solltest doch in dieser Show auftreten ... Wir wollten 'The Next Decade' performen. Wir hatten gerade unsere Proben dafür beendet, als Hamada ankam, um mit dir nochmal über das Interview zu reden ... Du bist ihm quasi von der Bühne aus in die Arme gefallen ... Erinnerst du dich?“

Nein, er erinnerte sich überhaupt nicht. Kein Stück. Aber er wusste, dass tatsächlich ein Auftritt bei HeyHeyHey geplant gewesen war, aber erst in ... wie viel Wochen? Oh je, was hatte er denn noch alles vergessen?

Jun-Ji und Hamada schienen fertig zu sein, jedenfalls kehrten sie zu Gackts Bett zurück. Hamada entschuldigte sich in seinem und in Jun-Jis Namen für die unnötige Aufregung. Gackt machte etwas, von dem er hoffte, dass es als angedeutetes Nicken durchging. Er wurde aber das Gefühl nicht los, dass außer ihm selbst niemand die leichte 'Bewegung' wahrnehmen konnte. Gott, er war so schwach ... so müde ...

Es klopfte leise an der Tür und eine Krankenschwester trat ein. Wie von You vorhergesagt nahm sie ihm die Sauerstoffmaske ab, wobei sie ähnliche, vermeintlich 'beruhigende' Phrasen abspulte wie Tomoko. Gackt hasste es, wenn Menschen auf so mitleidige Art mit ihm sprachen, selbst wenn es ihm so schlecht ging wie jetzt. Wäre er nicht so unerträglich erschöpft gewesen, hätte er wohl versucht, ihr zu sagen, dass sie damit aufhören soll.

Doch gerade, als die junge Frau erklärte, dass sie nun den Arzt holen wird und Gackts Freunde demzufolge das Zimmer verlassen sollten, wurde ihm wieder schwarz vor Augen.
 

Im Verlauf der nächsten Tage besserte sich Gackts Zustand kaum. Er war meist nur für wenige Minuten wach, ehe er wieder einschlief. Wie viel Zeit zwischen den einzelnen Wachphasen verging, konnte er kaum abschätzen; sein sonst so gutes Zeitgefühl war ihm irgendwie abhanden gekommen.

Er konnte inzwischen wieder ganz normal sprechen, aber dafür hing er am Tropf. Naja, war ja nicht das erste Mal.

Manchmal, wenn er aufwachte, war You bei ihm. Oder seine Schwester, der es nie gelang, die Tränenspuren auf ihren Wangen rechtzeitig zu verbergen. Langsam fragte Gackt sich, was denn nur mit ihr los war. Sie hatte doch schon vor Jahren damit aufgehört, wegen seinem Gesundheitszustand zu weinen. Warum fing sie jetzt plötzlich wieder mit dieser lästigen Geste an?

Und warum genau ging es ihm eigentlich so dreckig? Normalerweise reagierte er nie so heftig auf eine simple Bewusstlosigkeit. Zwar hatte You ihm erzählt, was passiert war, und auf Gackts Nachfragen auch noch ein paar weitere Details hinzugefügt, doch er wurde nicht das Gefühl los, dass man ihm irgendetwas verschwieg. Etwas verdammt Wichtiges. Doch selbst sein Arzt sagte ihm das nicht, obwohl der eigentlich dazu verpflichtet war, ihn auf Nachfragen hin umfassend über seinen körperlichen Zustand zu informieren.

Es schien ewig zu dauern, doch nach einer schieren Unendlichkeit von sich immerzu abwechselnden kurzen Zeiten des Wachseins und den deutlich längeren Phasen traumlosen Schlafens wachte Gackt eines Abends auf und spürte sofort, dass er sich von nun an langsam wieder normalen Verhältnissen nähern würde. Seine Erschöpfung war nun so weit abgeschwächt, dass er schon versuchen wollte, aufzustehen.

Die tagelange Bettlägerigkeit jedoch hatte Spuren hinterlassen und da er allein war und immer noch am Tropf hing, ließ er das vorerst lieber bleiben. Stattdessen klingelte er nach der Schwester, die nur wenige Sekunden später durch die Tür gerauscht kam, als hätte sie geradezu auf sein Erwachen gewartet.

„Gackt-san, wie fühlen Sie sich? Sie sehen heute viel besser aus.“ Sie sah ihn an, strahlend wie der Sonnenschein persönlich.

„Ich fühle mich meistens so, wie ich aussehe“, sagte Gackt lächelnd. Abgesehen von der Tatsache, dass er sich ohne Hilfe unmöglich aus dem Bett bewegen konnte, ging es ihm ja auch blendend. Er fühlte sich wie neugeboren.

„Dann geht es Ihnen heute mit Sicherheit wunderbar! Der lange Schlaf hat Ihnen sichtlich gut getan!“

Gut, so viel zu seiner bisher guten Laune.

„Wie lange habe ich eigentlich geschlafen ...? Ich meine, welcher Tag ist heute?“

„Freitag, 14. August.“

Gackt erstarrte. Hatte er richtig gehört?

„Können Sie sich denn inzwischen an den Tag erinnern, an dem Sie zusammengebrochen sind? Ich habe gehört, dass Sie damit gewisse Probleme hatten.“

Ja, genau das war das richtige Wort dafür. Probleme.

„Probleme, die sich bisher noch nicht gelöst haben, fürchte ich ...“

Fast ein Monat fehlte ihm. Das letzte, an das er sich klar und deutlich erinnern konnte, war das Finale in der Saitama Super Arena. Danach folgten nur noch einzelne Brocken von Interviews, Fotoshootings und Meetings. Und irgendwann kam gar nichts mehr.

Geistesabwesend starrte er vor sich hin, während sie ihn von dem Tropf befreite.

„Oh ... Das passiert schon mal. Früher oder später kommt Ihr Gedächtnis sicher wieder. Der Arzt hat schon angedeutet, dass so etwas vorkommen kann. Als Sie von der Bühne auf Hamada-san gefallen sind, scheinen Sie mit dem Kopf in einem etwas ungünstigen Winkel gegen seine Schulter geprallt zu sein. Aber das ist nicht schlimm, dauerhafte Schäden haben Sie definitiv nicht. Das braucht nur ein wenig Zeit, dann wird Ihnen alles schon wieder einfallen, ne?“

Gackt nickte erleichtert. Wenigstens das. Jetzt musste er sich nur noch Gedanken über die vielen Termine machen, die er aufgrund seines kleinen Missgeschickes verpasst hatte. Und darüber, wie er hier möglichst bald wieder rauskam.

„Könnten Sie trotzdem meinem Manager sagen, dass ich wach bin? Ich will ihn so schnell wie möglich sprechen.“

„Gerne. Ich werde ihn gleich anrufen und morgen zur Besuchszeit herbestellen. Keine Widerrede!“, rief sie, als Gackt den Mund aufmachen wollte.

„Wir haben hier feste Zeiten, an die sich auch ein Manager halten muss. Die Besuchszeit ist eine davon. Aber wenn Sie wollen und brav die Suppe essen, die ich Ihnen gleich bringen werde, können wir heute noch mit dem Training beginnen. Sie möchten doch bald wieder auf eigenen Beinen stehen können, oder?“

Mit einem Lächeln, das Gackts Meinung nach etwas Hinterhältiges an sich hatte, verschwand sie aus dem Raum.
 

Trotz seines wahrhaft eisernen Willens und vielen heimlichen Übungsstunden brauchte Gackt eine knappe Woche, ehe er zwar wackelig, aber immerhin wieder freihändig laufen konnte. Das berauschende Gefühl, dass er bei den ersten Schritten ohne Hilfe empfand, war der bisher erste wirkliche Lichtblick seit Beginn seines Aufenthaltes im Krankenhaus.

Mit jedem weiteren Tag, den er hier verbringen musste, sank seine Laune ein weiteres Stückchen in Richtung Erdmitte. Mittlerweile freute er sich selbst über Besuch kaum noch, zumal dieser ihn gern wieder in sein Bett verfrachtete, wenn er laufen üben wollte. Außerdem vergaßen You und Tomoko immer wieder, Gackts Laptop mitzubringen, obwohl dieser sie jedes Mal aufs Neue darum bat.

Besonders aber nervte ihn sein Manager, der erst aus Gründen, die er Gackt am Telefon nicht mitteilen wollte, keine Zeit für ihn hatte und schließlich drei Tage nach Gackts 'Wiederauferstehung' kurz vor Ende der Besuchszeit vorbeikam und in der knappen Zeit nicht viel mehr machen konnte, als zu erklären, was innerhalb des Monats geschehen war, an den Gackt sich nicht erinnern konnte. Wenigstens war da alles nach Plan verlaufen.

Jetzt, wo er wieder auf eigenen Beinen stehen konnte, sah Gackt keinen Grund mehr, warum er noch länger hier bleiben sollte. Alle weiteren körperlichen Unstimmigkeiten würden sich im Verlauf seines täglichen Trainings bestimmt von selbst geben. Aus diesem Grund kündigte Gackt am 20. August an, dass er am folgenden Tag entlassen werden wollte. Sollte man ihm das verweigern, fügte er hinzu, würde er sich eben einfach selbst entlassen. Er hatte genug Zeit damit verschwendet, krank zu sein.

„Hab damit gerechnet, dass Sie so etwas sagen würden ... Und ich sehe kein Problem, wenn Sie morgen nach Hause gehen“, sagte Morikawa, der Arzt, und überraschte Gackt damit völlig. Er hatte geglaubt, dass man ihn – wie üblich – nicht so schnell gehen lassen wollte. Das hatte doch sicher einen Haken.

Welchen Haken genau, erfuhr er auch bald darauf.

„Allerdings entlasse ich Sie nur unter der Bedingung, dass Sie sich an eine Reihe medizinisch notwendiger Anweisungen halten, die ich für Sie bereits zusammengestellt habe. Am besten, Sie folgen mir in mein Büro.“

Was sein musste, musste sein, und so lief Gackt etwas unsicher, aber mit stolz erhobenem Haupt hinter dem Arzt her. Er meinte zu wissen, was jetzt kommen würde. Mehr essen, mehr trinken, mehr schlafen, weniger Sport, weniger Alkohol, weniger Stress. Das Übliche eben.

„Ich kann mir vorstellen, dass Sie sehr stolz darauf sind, sich wieder selbstständig bewegen zu können“, sagte Morikawa mit vor Amüsement zuckenden Mundwinkeln zu dem immer noch mitten im Raum stehenden Mann. „Aber Sie sollten sich vielleicht trotzdem lieber hinsetzen, Gackt-san. Sie werden es brauchen.“

Schulterzuckend griff Gackt sich einen Stuhl und ließ sich nieder; wartete, das Kinn auf die zusammengefalteten Hände abgestützt, auf den Vortrag des Arztes.

„Zunächst einmal das Wichtigste. Sie werden in nächster Zeit jede Art von Stress vermeiden. Wirklich jede Art, hören Sie? Sie überanstrengen sich nicht, Sie feiern nicht und vor allem arbeiten Sie nicht. Dieses Mal müssen Sie sich wirklich erholen. Es ist medizinisch dringend erforderlich, dass Sie sich ausruhen und ein paar Wochen lang gar nichts Anstrengendes tun, verstehen Sie das?“

Schwach lächelnd nickte Gackt. Natürlich. Es lief auf genau die gleichen Benimmregeln raus, die er immer wieder zu hören bekam. Einfach nicken und warten, bis es vorbei ist. Das war bisher immer die beste Lösung. Woher nur wildfremde Menschen immer zu wissen glaubten, was das Beste für ihn ist ...?

„Ich weiß, was Sie denken, Gackt-san.“

„Ach ja, wissen Sie das?“

Gackt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Es kam zwar nicht besonders häufig vor – Respekt und Promi-Bonus sei dank – aber hin und wieder tauchten immer wieder mal Ärzte auf, die versuchten, ihn mittels psychologischer Tricks zu manipulieren. Die ihm Schuldgefühle einpflanzen wollten, damit er ihren Worten Folge leistet.

„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass das dieses Mal nicht funktionieren wird. Ihre Freunde und Ihr Manager haben dafür schon gesorgt.“

Diese zwei Sätze machten Gackt schon eher nervös. Seine Freunde? Sein Manager? Was sollten die denn getan haben?

Ruhig bleiben ... Das ist bestimmt nur ein Trick.

„Wie meinen Sie das?“

„Ich meine damit, dass ich Sie krankgeschrieben habe. Für drei Monate. Drei Monate Ruhe, die Sie dringend brauchen. Und ehe Sie weitersprechen: Ihr Manager hat bereits alle Termine für diese Zeit abgesagt und die Presse weiß Bescheid. Niemand, der auch nur halbwegs etwas auf sich hält, wird Ihnen in diesen drei Monaten eine Show oder ein Shooting anbieten. Und Ihre Freunde haben bereits geschworen, darauf zu achten, dass Sie sich an Ihre Vorgaben halten und erholen.“

Gackts Gesichtsmuskeln schliefen ein. Sein Mund öffnete sich. Die Augen blitzten ungläubig.

Was ...?

„Sie haben schon richtig gehört. Und jetzt, wo wir das geklärt haben, sprechen wir erst mal über Ihren Ernährungsplan ...“

Und so erklärte Morikawa Gackt alle Einzelheiten über die für ihn vorgesehene Ernährung, seinen neuen und verhältnismäßig sportlosen Bewegungsplan, Ver- und Gebote und den ganzen anderen ach so gesundheitsfördernden Kram, während der wenig aufmerksame Gackt sich nicht entscheiden konnte, ob er nun lieber sterben, ohnmächtig werden, schreien oder dem Arzt tierisch eine in die Fresse hauen will.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Astrido
2011-10-16T21:16:40+00:00 16.10.2011 23:16
das hört sich richtig interessant an.
ansonsten kann ich vampire-mad-hatter nur zustimmen was die andere welt angeht!
ich bin vor allem gespannt, was nun zu seinem zusammenbruch geführt hat, dass die anderen so drüber schweigen^^

lg
Mayu
Von:  Vampire-Mad-Hatter
2011-02-14T16:39:12+00:00 14.02.2011 17:39
Ich hab jetzt mal die beiden Kapitel gelesen. Die Idee für diesen "anderen Ort" fand ich super, vor allem wie du alles beschrieben hast. Traurig fand ich aber irgendwie die Szene als Gackt vor seinem Freund stand und er ihn aber nicht sehen kann, ihn aber dennoch Gefühlt hat! o_o
Das Gackt von diesem Ort nicht weg will, kann man gut verstehen.
Gut beschrieben hast du auch wie er dann im Krankenhaus aufgewacht ist. Und wie sie alle um ihn rum standen und er nur Bruchstücke davon verstand was sie geredet haben.
Aber es scheint ihn diesmal schlimm erwischt haben. Ruhe braucht er auf jedenfall und diese 3 Monate sollte er ausnützen um wieder zu kräften zu kommen und einmal auf seine Freunde hören. Die machen sich nämlich sorgen.
Ich bin gespannt was du noch alles bringst!^^
Also schnell weiter! ;)
Von:  NyappyJCT
2011-01-13T16:18:00+00:00 13.01.2011 17:18
Hey du!

Ich bin gerade zufällig über die FF gestolpert.
Der Anfang gefällt mir schon mal sehr gut.
Ich hoffe du schreibst sie noch weiter. Gackt soll es doch bald wieder gut gehen.

lg
Schoki
Von:  Asmodina
2010-08-04T17:33:39+00:00 04.08.2010 19:33
Sehr schön...ich bin gespannt, wie es weiter geht


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