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Lassie

von

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Situationsanalyse

Ähm. Das hier sollte eigentlich nur ein One-Short werden für meine Short-Stories-Sammlung, aber... Nun ist es doch anders gekommen xD Nun. Zu viele Ideen, bereits zu viele Seiten und unmengen Lust, noch ein kleines bisschen daran weiter zu arbeiten ;)

Ich möchte diese Geschichte aber auch nicht ZU lang gestalten. Ihr könnt mit 3-4 Kapiteln rechnen.

Und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen! Mal was Neues :D

Isis
 

- - - - - - -
 

Okay. Also. Wie fange ich an?
 

Ich hab mich bei dieser dämlichen Seite registriert, weil ich mir ziemlich sicher war, im „realen Leben“ (nennen wir es mal so), keinen Mann finden zu können. Seht ihr, meine Situation in diesem „realen Leben“ war eh schon scheiße genug. Ich war 18, ging langsam aufs Abitur zu und meine Noten waren nicht gerade so, wie mein Vater es von mir erwartete, was Grund dazu war, dass er ständig ausrastete und sich ein Drama bei uns zuhause abspielte. Zudem kam auch noch das Problem, dass viele Leute an meiner Schule es als Problem ansahen, dass ich schwul war, weil ich es als Problem betrachtet hatte, ein Geheimnis aus meiner Sexualität zu machen, als ich die Oberstufe begann und mal sofort „mit offenen Karten“ spielen wollte.
 

Natürlich. Einige Freunde hatte ich.

Inga, Martin und Josh.

Mit denen hatte ich mich schon in den Schuljahren davor gemeinsam durchgekämpft.

Und wären sie nicht da, dann wäre ich wahrscheinlich ganz schön alleine gewesen an dieser dummen Schule...
 

Naja, und wie bereits angedeutet, hatte ich auch keinen festen Freund. Und somit auch keinen Sex. Mein erstes Mal war mit 16 gewesen. Heutzutage galt ich wohl als Spätzünder, was?
 

„Jonaaaaaaaaaaaaaas!“
 

Dass war Inga. Ihre kristallklare Stimme hallte durch den langen Schulflur und ich drückte meine Zigarette bei dem offenen Fenster aus. Hier oben in den 6. Stock kam eigentlich niemand, also nutzten wir diesen Ort als Treff- und Rückzugspunkt.
 

„Hier!“, rief ich, als ich ihre Schritte hören konnte.
 

Inga hatte rotes, langes Haar und andere verglichen sie gern mal mit dieser rothaarigen Top-Model-Gewinnerin, auch wenn sie meiner Meinung viel hübscher war, trotz der Sommersprossen, die sie so sehr hasste. „Mann, kommst du jetzt endlich mal?“, blaffte sie, als sie näher kam. „Geschichte fängt gleich an und du weißt, dass Hinrichs sowieso schon angekotzt von uns ist!“
 

Ja, der Hinrichs. Unser geliebter Geschichtslehrer. Am Anfang fanden Inga und ich ihn ja noch echt zum Anbeißen, auch wenn der Kerl schon fast 40 war. Aber wir mussten schnell feststellen, dass er ein richtiges Arschloch war, der gerne Extraaufgaben verteilte, seine Schüler zum Nachsitzen verdonnerte, in Referate quatschte, nur um den Referenten zu verunsichern und nachzuprüfen, ob er genug recherchiert hatte und niemals Noten nach oben hin aufrundete.
 

Ich wusste jetzt schon, dass ich in der nächsten Geschichtsklausur durchfallen würde. Und Hinrichs freute sich bestimmt schon auf den Moment, in dem er mir dies mitteilen könnte. Um nicht ein weiteres Mal zu spät zu seinem Unterricht zu kommen, rannten Inga und ich quer durch die Schule. Wir schafften es nicht und er knallte uns die Tür vor der Nase zu, um uns eine Fehlstunde eintragen zu können.
 

„So ein blöder Wichser!“, fluchte Inga, als wir uns wieder in den 6. Stock verzogen und eine weitere Zigarette ansteckten. Ich sagte gar nichts, sondern starrte aus dem Fenster. „Noch keine weitere Nachricht von deinem Internet-Boy, was?“, fragte sie sarkastisch.
 

Wobei wir wieder beim Thema wären.
 

Ich werde euch den Namen dieser scheiß Gay-Flirt-Seite nicht verraten, sonst kommt ihr noch auf die Idee, dort nach mir zu suchen.
 

Ihr wisst gar nicht, was mein Problem ist, oder?
 

Also.
 

Ich habe mich bei dieser Seite angemeldet, weil ich dachte, es wäre eine gute Möglichkeit, Männer aus meiner Stadt kennen zu lernen. Und nach ungefähr zehn unseriösen „Ficknachrichten“, nach denen ich kurz davor war, mein Profil wieder zu löschen, schrieb mir jemand, dessen Profilbild kein nackter, durchtrainierter, mit Photoshop gepimpter Oberkörper war. Zugegeben, ein echtes Foto von sich hatte er auch nicht hochgeladen, stattdessen schaute mich eine niedliche, schlafende Katze an, als ich seine virtuelle Identität zum ersten Mal begutachtete. (Und ich LIEBTE Katzen!) Zudem hatte ich selbst auch nur ein Foto von mir hochgeladen, auf dem man mein Gesicht gar nicht erkennen konnte, da mein schwarzes Haar meine Augen bedeckte und ich mir eine Hand vor den Mund hielt. Ja, so etwas wie Kunst (oder einfach auch nur ein Bild, das Martin von mir gemacht hatte, als wir vollkommen betrunken gewesen waren).
 

Ich hatte angegeben, gern ins Kino zu gehen, und er fragte mich, ob ich nicht auch dieses neue Kino am Fluss bevorzugte, in dem die Sitzreihen breiter und länger waren und man trotz gefüllten Saales, immer noch alles überblicken konnte. Aus kurzen Nachrichten, wurden längere und wir „redeten“ über den „Star-Trek“-Film und Michael Moore, über die dunkle Atmosphäre „Twilights“, über die beste Sauce zu den Nachos und über alte Filme, die wir auf DVD besaßen – Wir waren beide große Fans von „Pulp Fiction“ und liebten die „Zurück in die Zukunft“-Reihe.
 

Wir hielten diesen virtuellen Kontakt über einige Wochen. Und wir schrieben uns immer mehr. Bei ihm konnte ich mich ausheulen, wenn mein Vater wieder einmal verbal auf mich losging, weil er meinte, ich würde nicht genügend lernen. (Ich hatte mich als Student ausgegeben und mein Alter auf 22 erhöht...) Er wiederum berichtete mir von nervenden Kollegen, die ihm auch gerne mal das Leben zur Hölle machten. Er arbeitete bei der Telekom und ich zog ihn deswegen gerne mal auf, was er mit Humor nahm.
 

Inga lachte mich schon aus, weil ich den Abenden immer entgegen fieberte, an denen wir chatten konnten. Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, uns einen Film auszusuchen, den wir dann mit unseren Laptops auf unserem Schoß schauten und zusammen kommentierten, über ihn diskutierten. Das konnte dann schon mal bis in die Morgenstunden dauern und wenn mein Vater mich dabei erwischte, konnte ich mit einer Schreiattacke seinerseits und einer langen Standpauke am Frühstückstisch rechnen.
 

Der Mann aus dem Internet nannte sich Rob und ich hatte mich James genannt. Wir fragten nicht nach unseren richtigen Namen. Zuerst nicht. Denn irgendwann nahm ich all den Mut zusammen, den Inga, Martin und Josh mir eingeredet hatten, und fragte ihn, ob wir uns nicht etwas zusammen im Kino anschauen wollten.
 

Er sagte ja.
 

Und daraufhin nahm ich noch ein bisschen meines Mutes zusammen und schickte ihm das Bild von mir, welches sogar Inga als „richtig hübsch“ bezeichnete, damit er mich erkennen könnte. Wie 18 sah ich auf dem Foto auch nicht aus. 22 hätte es also schon getroffen. Mein Herz klopfte wild, als ich mich dann am nächsten Morgen einloggte und nachsehen wollte, ob Rob mir was geschrieben hatte.
 

Das hatte er.
 

„Sorry, du bist überhaupt nicht mein Typ. Das wird nichts mit uns beiden. Mach's gut, Kleiner.“
 

Kleiner.

Tse. Rob war gerade mal 30.

8 Jahre älter.

Na gut.

Theoretisch 12…
 

Verärgert klappte ich den Laptop zu und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ich rief Inga an und erzählte ihr, was vorgefallen war und als sie zu mir kam, rauchten wir beide weiter. „Los, schreib ihm, dass er dir wenigstens ein Foto von SICH schicken soll!“, forderte sie mich auf. „Dann können wir uns ja über SEINE Visage lustig machen!“
 

Ich loggte mich ein, klickte auf sein Profil und erstarrte.

Es existierte nicht mehr.
 

Ich war so wütend.

Wir hatten uns so viel geschrieben.

Wir hatten so oft gechattet.

Theoretisch hatten wir bereits so viele Stunden unseres Lebens geteilt.

Und dann beendete er es vor unserem ersten Scheißtreffen.

Seine Emailadresse schien es auch nicht mehr zu geben und auf Offline-Nachrichten im ICQ antwortete er nicht und kam auch nicht mehr online.
 

Tja, das war die Lage.
 

Die ersten paar Tage nach diesem Vorfall war ich einfach nur wütend. Wie auch an diesem Tag, als Hinrichs uns aus Geschichte geschmissen hatte und Inga mich nach dem „Internet-Boy“ fragte. Josh versuchte mich zu beruhigen und Mathe-Müller schickte mich aus dem Klassenzimmer, weil ich ihm überhaupt nicht zuhörte und ihm das so gar nicht gefiel.

Und danach kam erst dieser Schmerz, den ich die ganze Zeit unterdrückt hatte; der Schmerz zurückgewiesen zu werden, der Schmerz als unattraktiv befunden zu werden. Der Schmerz wieder einmal versagt zu haben und alleine zu sein.
 

Ich setzte mich an meinen Laptop, nach einer weiteren Standpauke meines Vaters, und öffnete den „Rob“-Ordner. Er hatte mir viele Bilder geschickt. Keines von sich. Ich seufzte tief, als ich die Fotos seines Katers betrachtete. Es war eine Norwegische Wildkatze, der das rechte Auge fehlte und deren Fell weiß war, mit hellbraunen Flecken. Im Grunde genommen sah er aus wie Lassie. Deswegen hatte Rob ihn auch so genannt. Ich musste kurz kichern, als ich all die witzigen Bilderchen des Tierchens betrachtete, wie es völlig verdreht auf dem Parkettboden lag, von einem Sessel versuchte auf den Tisch zu springen, oder einfach nur total niedlich auf einem großen Kissen schlief.
 

Verdammt!
 

Ich wollte alles löschen.

Ich hatte sogar schon „entfernen“ gedrückt.

Aber hatte dann nicht bestätigen können.
 

Ich saß im Deutschunterricht und starrte aus dem Fenster. Martin, der Mann mit den Rastazöpfen und hellblauen Augen, musste mich beinahe wachrütteln und Frau Monster (also Frau Raschinki) schenkte mir einen Blick, der mich hätte wahrscheinlich töten sollen. Ich musste den Rest der Stunde alles laut vorlesen und wollte einfach nur sterben. Und auf die Hausaufgaben hatte ich auch keine Lust. Ich hatte auf nichts Lust. Eigentlich wollte ich nur Pudding essen und rauchen und auf meinem Bett liegen und die Decke betrachten.
 

Leider fand mein Vater das richtig scheiße. „Du hängst den ganzen Tag nur sinnlos rum, anstatt mal endlich fürs Abi zu lernen! Denkst du, mit nem Dreierdurchschnitt bekommst du irgendwo problemlos nen Studienplatz?!“, maulte er, während ich mir Spaghetti auftat.
 

„Alter, ich mach mein Abi doch noch gar nicht! Und außerdem weiß ich noch nicht mal, ob ich überhaupt studieren will...“, gab ich leise zurück und sein Besteck klirrte, als er es energisch neben seinen Teller ablegte.
 

„Nicht schon wieder...“, sagte er und fuhr mit seinen Finger über seine Augen, als wäre er müde. „Erst sagst du, du willst ne Ausbildung machen, dann heißt es plötzlich Informatikstudium und nichts anderes und jetzt weißt du gar nichts mehr, oder was?“
 

„Ich hab jetzt einfach keine Lust darüber nachzudenken, okee? Ich hab noch Zeit, das ist immer noch das erste Halbjahr der Oberstufe, Mann!“, blaffte ich und er seufzte laut.
 

„Du hast Bock auf gar nichts. Ich merk das schon. Hast wohl Lust wieder ne Ehrenrunde zu drehen, was?“, sagte er resigniert, seine Stimme von Sarkasmus getränkt. Ja, an mein Sitzenbleiben damals in der 7. Klasse erinnerte er mich gern. War mir aber egal. So hatte ich wenigstens meine drei engsten Freunde kennen gelernt.

Wir aßen danach in Stille und ich musste den Abwasch erledigen. War mir aber ganz recht, weil ich eh nichts Besseres zu tun hatte bzw. einfach nicht mehr über Rob nachdenken wollte, dieses Arschloch, Wichser, Idiot und ACH!
 

Die kommenden Tage waren ebenso ätzend. Ich ging mit Inga und Josh in den Klub und verfluchte mich erneut, dass ich keine Freunde hatte, die auch schwul waren und ich somit gezwungen war, in diesem Kackclub abzuhängen, in dem alle Männer einfach nur auf kurze Röcke und große Ausschnitte geil waren. (Und nicht auf knackige, männliche Hintern...) Wenn das so weitergehen würde, fände ich nie einen Mann, dessen war ich mir schon im Klaren.
 

Ich rollte die Augen, als Inga mich auf die Tanzfläche zog und ich so tun musste, als sei ich ihr Freund, damit keine kaputten Typen sie anbaggerten. Sie sagte, mit meinen 1,87 m und tiefschwarzen Haaren wirkte ich manchmal bedrohlich und das sei wohl irgendwie gut. Mein Aussehen war ja nicht scheiße! Meine dunklen Haare waren kinnlang und fransig geschnitten, sodass sie meine ovale Gesichtsform irgendwie attraktiv zauberten. Manche nannten mich Emo, aber das war ich nicht. Meine Augen waren braun und mein Körper sah auch gar nicht so schlecht aus. Ich war schlank, wie auch mein Vater, auch wenn ich alles in mich reinstopfen konnte, was ich nur wollte. Und meine Klamotten waren auch Okay. Meistens trug ich dunkle Jeans und irgendwelche schlichten Pullover dazu. Ein Palituch fand auch öfters den Weg um meinen Hals.
 

Wieso zum Teufel war ich eigentlich immer noch Single?!?!
 

Es war zum Kotzen.

Und zum Verzweifeln.
 

Es wurde Winter und Schnee fiel. Die Weihnachtsferien kamen und ich hatte keine Lust auf die Familienfeier, die sich anbahnte. Meine Mutter wollte herkommen (ohne ihren neuen Macker) und wollte meine Großeltern mitbringen. Wir sollten wohl irgendwie heile Familie spielen. Ich war erstaunt, dass mein Vater da mitmachte, war er normalerweise nicht SO gut auf seine Ex-Frau zu sprechen (schließlich hatte sie ihn verlassen und schnell einen anderen gefunden...).
 

„Kannst du jetzt endlich einkaufen fahren?!“, schnauzte mein Vater mich an und strich seine grau werdenden, kurzen Haare nach hinten.
 

„Ist ja gut...“, murmelte ich genervt und schlüpfte in meine Jacke, den langen Einkaufszettel in die Hosentasche steckend. Eigentlich freute ich mich ja, dass mein Vater mir den Wagen gab. Machte er nämlich nicht oft. Aber ich könnte mir auch etwas Spannenderes vorstellen, als den Großeinkauf für die Familienfeier vorzubereiten...
 

„Schlaf nicht eiiiin!“, schnauzte mein Vater erneut.
 

„Jahaaaa!“, brüllte ich zurück und ließ die Tür so hart ins Schloss fallen, dass die wenigen Glaselemente in ihr klirrten. Umgehend wurde sie wieder von innen aufgerissen, sodass ich erschrak und auf den drei steinernen Treppenstufen beinahe ausrutschte.
 

„Knall die Tür noch EIN MAL so laut und du wirst dein blaues Wunder erleben!“, schrie mein Vater mich an und ich hastete zum Auto, weil ich wusste, dass ich ihm besser aus dem Weg gehen sollte. Natürlich musste ich Kratzen, den Schnee zur Seite schaufeln und saute mich dabei so richtig ein. Fluchend fuhr ich mit 40 km/h durch die verschneiten Straßen und fluchte umso mehr, als ich auf dem Supermarktparkplatz keine freie Stelle mehr fand. Wer war auch auf die Idee gekommen, den Einkauf erst am 23. Dezember zu erledigen?! Achja. Mein Vater.
 

Ich fuhr zu REWE und LIDL. ALDI klapperte ich auch noch ab. Erst dann hatte ich alles zusammen. Es war schon dunkel und dicke, weiße Flocken rieselten vom schwarzen Himmel herab. Ich musste wieder 40 km/h fahren und fluchte abermals. Man konnte ja nicht mal die Fahrbahnmarkierung erkennen. Und dann machte es RUMMS! Und ich trat erschrocken in die Bremsen, wurde mit meinem Kinn gegen das Lenkrad geschleudert.
 

Mein Herz raste wie wild und meine Hände zitterten, als ich die Autotür versuchte zu öffnen und in die Kälte hinaus trat.

Wenn ich gerade jemanden gerammt hatte, dann...
 

Ich drehte mich um.

Ein schwarzer, kleiner Haufen lag auf der Straße.

Es war kein Mensch!

Ich atmete auf und näherte mich dem Ding, welches auf der schneebedeckten Fahrbahn lag.

Fuck.

Es war ne Katze.

Und die war tot.

Scheiße.
 

Ich hatte vor einigen Monaten schon nen Igel überfahren und das hatte mir schon verdammt leid getan. Und jetzt hatte ich auch noch eine süße Katze auf dem Gewissen. Wieso war sie auch wie aus dem Nichts aufgetaucht???!!!!
 

Ich stand nun direkt über ihr und beugte mich herunter, um sie schnell von der Fahrbahn zu schaffen.

Ich erstarrte.

Entweder war ich gerade paranoid und befand mich in meiner eigens erschaffenen Halluzination, oder ich hatte gerade tatsächlich LASSIE überfahren...!
 

„Lassie!“, ertönte auch schon eine verzweifelte Männerstimme. „Miez, Miez, Miez! Jetzt komm schon her, Las-“
 

Sie brach ab und ich verstand, dass der Mann hinter mir stand und sah, wie ich das tote Tier aufhob. Langsam und völlig aufgewühlt, nervös drehte ich mich um und blickte in die Augen eines hochgewachsenen Mannes, der in eine dicke Winterjacke gehüllt war. Seine längeren Haare waren dunkelblond und streng nach hinten gekämmt, was zu seinem äußerst markantem Gesicht mit dem sich anbahnenden Drei-Tage-Bart aber passte und ihm noch mehr Reife verließ, von der die kleinen Fältchen an seinen Augenrändern schon zeugten.
 

HEILIGE SCHEISSE!
 

Der HINRICHS stand vor mir.

Und LASSIE war SEINE Scheißkatze!
 

Ich war so erschrocken, so dermaßen schockiert von diesem „kleinen“ Erkenntnis, dass ich das tote Tier tatsächlich fallen ließ und mich beinahe auf die Schnauze legte, als ich zurück zum Auto hastete und das Gaspedal beinahe durchdrückte, sodass Schnee aufwirbelte, als sich der Wagen ruckartig in Bewegung setzte und zur Seite ausscherte.
 

Mein Herz klopfte immer noch, als ich es irgendwie schaffte, den Wagen in unsere Einfahrt zu lenken und mir die ersten Einkaufstüten schnappte.
 

„Was ist denn mit dir los?“, schreckten mich die Worte meines Vaters auf, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete, als ich die Tüten in der Küche abstellte. „Ist was passiert?“, fragte er besorgt und ich schüttelte hastig den Kopf.
 

„Supermarkt voll“, stotterte ich und eilte wieder nach draußen, weitere Tüten lagerten schließlich noch im Kofferraum. Mein Vater hatte sich bereits daran gemacht, die Einkäufe auszupacken und einzusortieren. Er beäugte mich mit einem strengen Blick und als ich in ansah, zuckte er mit den Schultern und drehte sich weg. Schweigend machte auch ich mich nun daran, ihm ein wenig zu helfen.
 

„Das schaffe ich schon allein“, sagte er dann plötzlich warm. „Du kannst auf dein Zimmer gehen, wenn du möchtest“, fügte er freundlich hinzu und ich wollte mich auch gar nicht fragen, woher diese scheinbar gute Laune kam, sondern nickte einfach nur und schleppte mich mit weichen Knien die Treppe hinauf und schloss leise meine Zimmertür.
 

Und dann musste ich erstmal tief Luft holen, mich setzen und mir die Haare raufen, einen Schrei unterdrücken und mir ne Zigarette anzünden.
 

„FUCK!“, fluchte ich laut und es störte mich nicht, dass mein Vater diesen Kraftausdruck eventuell mitbekommen hatte. „Scheiße!“, jaulte ich und ließ mich mit der Kippe in der Hand aufs Bett fallen.
 

Hinrichs.

Es war Hinrichs.

Ich hatte die ganze Zeit mir Hinrichs gechattet!
 

Ich setzte mich abrupt wieder auf.

So machte diese ganze Misere auch einen Sinn!

Er hatte sich sofort abgemeldet, als er mein Foto erkannte.

Na klar!

Oh, Mann....
 

Ich griff zum Telefon und wählte Ingas Nummer, nur um den Hörer direkt wieder in die Ladeschale zu schmeißen.

Ich konnte Inga doch nicht erzählen, dass ich mit Hinrichs übers Netz geflirtet hatte und mich beinahe mit ihm im Kino getroffen hätte! Das war so urkomisch und tragisch zugleich, das könnte Inga niemals für sich behalten! (Und ich könnte ihr das dann auch nicht wirklich übel nehmen...) Diese Geschichte müsste ich für mich behalten.
 

Geschichte.
 

Als ich an die erste Stunde dachte, die ich nach den Ferien besuchen müsste, wurde mir plötzlich so schlecht, dass ich meine Zigarette ausdrücken musste und den heftigen Drang nach Alkohol verspürte.

Ich hatte Hinrichs nicht nur aus Versehen geoutet, ich hatte mich bei ihm über IHN ausgekotzt. Zwar hatte ich über einen „gewissen Dozenten“ gesprochen, schließlich war ich inoffiziell ja Student an der hiesigen Uni gewesen, aber mit dem Wissen über meine wahre Identität, konnte er sich ja mittlerweile denken, über wen ich mich da so ausgekotzt hatte.

Und jetzt hatte ich auch noch seine geliebte Katze getötet.

Oh, mein Gott.

Konnte es eigentlich noch schlimmer kommen???
 

Er würde mich für immer hassen.

Scheiße, er würde mir Punkte abziehen, wo immer es ging und mich tausend Stunden nachsitzen lassen und... ICH HATTE SEINE KATZE GETÖTET und war danach einfach so abgehauen.
 

„Jonas!“, drang die bassige Stimme meines Vaters zu mir. Er stand wahrscheinlich wie immer am Ende der Treppe und brüllte hoch.
 

„Was ist?!“, schrie ich zurück, denn ich war zu faul und zu erstarrt, um zur Tür zu gehen. Ich hörte ihn schnauben und dann die Stufen hinauf poltern. Er klopfte nicht an, sondern riss meine Zimmertür einfach auf.
 

„Du hast das Fleisch vergessen, Junge!“, motzte er und ich rollte mit den Augen.
 

„Ich war jetzt in DREI verfickten Supermärkten!“, protestierte ich.
 

„Kannst du dich auch normal ausdrücken...?“, presste mein Vater genervt zwischen seinen Zähnen hervor.
 

„Sorry...“, murmelte ich, als ich bemerkte, was ich eben gesagt hatte. Mein Vater seufzte.
 

„Ich hol's jetzt, kannst du bitte das Bad dann sauber machen?“, sagte er und nickte, entschied mich, einfach mal nicht zu rebellieren. Außerdem sollte Putzen ja auch gegen Liebeskummer helfen.

Oh Gott, hatte ich LIEBESKUMMER? Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, als ich unser Badezimmer schrubbte und versuchte, alles zum Blitzen und Blinken zu bringen, damit meine Mutter und Oma nicht meckern konnten, wir wären ein versiffter Männerhaushalt. Waren wir nämlich wirklich nicht, weil mein Vater Siff und Dreck verabscheute.
 

Ich war fertig, da war mein alter Herr noch gar nicht zu Hause. Also bediente ich mich an seiner recht gut gefüllten Hausbar. Etwas Glenfiddich, auf Eis, nur mit etwas Wasser, so trank mein Vater ihn immer. Die kalte, aromatische Substanz brannte sich ihren Weg meine Kehle hinunter und erfüllte meinen Magen mit diesem angenehm warmen, kribbelnden Gefühl. Ich ließ mich in das flauschige Polster des Sessels im Wohnzimmer sinken und nahm einen weiteren Schluck.
 

„Aha“, ertönte die etwas aufgebrachte Stimme meines Vaters plötzlich hinter mir und das Deckenlicht ging mit einem lauten Klicken an, blendete mich in den ersten Sekunden. „Bist du schon wieder am Saufen?!“, fuhr er mich mit schwerer Stimme an und ließ sich auf dem Sofa schräg gegenüber von mir nieder, seine Augen auf mir ruhend.
 

„Was heißt denn hier wieder am Saufen?!“, blaffte ich zurück.
 

„Wolltest du nicht das Bad sauber machen?“, fragte er genervt, meine patzige Antwort ignorierend.
 

„Hab ich schon“, meinte ich knapp und nahm einen weiteren Schluck.
 

„Kipp das Glas weg“, sagte er umgehend.
 

„Ich bin 18, Papa!“, fuhr ich ihn an und stand vom Sessel auf. „Wann checkst du es endlich?!“ Ich verließ das Zimmer und ließ ihn seufzend und Augen rollend zurück. Und ich knallte meine Tür so laut zu, dass ich über sein bedrohlich gebrülltes „JONAS!“, sogar ein wenig kichern musste. Er folgte mir nicht und ließ mich auch den Rest des Abends in Ruhe.
 

Und das war gut so.
 

Ich war so durcheinander. Und der wenige Alkohol half auch nicht. Weitere Zigaretten taten mir auch nicht gut. Immer wieder wählte ich Ingas Nummer, nur um mich dann im letzten Moment gegen eine Mitteilung dieses Geheimnisses zu entscheiden. Martin und Josh könnte ich es auch nicht sagen! Die hatten den Hinrichs in Religion und hassten ihn auch wie die Pest. Das wäre gefundenes Fressen für meine beiden Freunde.
 

Ich schlief diese Nacht kaum.

Irgendwann kam ich auf die grandiose Idee, sinnlos im Web zu surfen.

Natürlich loggte ich mich ein.

Und las diese etlichen Nachrichten die Rob mir geschickt hatte.

Pah!

Rob.

Hinrichs.

HINRICHS!
 

Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und stöhnte. So etwas Dämliches konnte auch wirklich nur MIR passieren!
 

Wie konnte Rob nur Hinrichs sein?

Gabriel Hinrichs.

So ein bekloppter Name. Und so ein bekloppter Mensch, der dahinter steckte!

Ich setzte mich auf.
 

War also alles, was Rob mir geschrieben hatte, auch nur eine riesengroße, fette Lüge gewesen? Ich meine, das mit der Arbeit bei der Telekom WAR eine große, fette Lüge. Aber Lassie, nein, Lassie war echt. (Schließlich hatte ich diesen „Beweis“ gerade erst überfahren...) Ich hätte mir die Haare ausreißen können.

Ich hatte Rob oder Hinrichs oder Gabriel auch einige Halbwahrheiten aufgetischt. Ich hatte gesagt, ich wäre Student, aber alles, was ich ihn über meine vermeintlichen Kommilitonen mitgeteilt hatte, war wahr – ich hatte ihm meine Mitschüler beschrieben. Als ich über meine Dozenten gesprochen hatte, hatte ich über meine Lehrer geredet. Und meine drei Freunde hatte ich nur anders benannt.

Und unsere Konversationen über Filme...

Das... Das hatte er sich doch nicht alles bloß ausdenken können, oder???
 

Wer war Rob?

War Rob wirklich ein Teil dieses fiesen, hinterhältigen Lehrers, dessen äußerliche Fassade einen zunächst dazu brachte, ihn anzuschmachten, und dessen Enthüllungen seines Charakters im nächsten Moment zu purem Hass führen konnten?

Oder existierte Rob überhaupt nicht?

Hatte Gabriel Hinrichs sich unsere komplette Konversation aus den Fingern gesogen?

Hatte er die gesamte Zeit nur mit mir gespielt?
 

Er HATTE sich ja im Grunde genommen mit mir treffen wollen. Nur die ungewollte Offenbarung, dass ich einer seiner Schüler war, hatte ihn gestoppt. War ja ganz logisch. Und dann hab ich seine Katze tot gefahren.
 

Großer Gott.

Das machte alles überhaupt GAR KEINEN Sinn!

Und ich hatte noch nicht mal jemanden, mit dem ich darüber reden konnte!
 

Langsam drehte ich durch.
 

Ich weiß nicht mehr, wann ich endlich Schlaf fand. Ich weiß nur noch genau, wie ich aufgeweckt wurde. Durch das schrille „Jonaaaaaaaaaaaas!“-Geschrei meiner Mutter, die die Treppe hinauf polterte und ebenso laut an meiner Tür anklopfte und genau drei Sekunden auf Antwort wartete, die sie nicht bekam, was sie aber von dem Stürmen meines Zimmers nicht wirklich aufhielt. „Guten Morgen, frohe Weihnachten, mein Spatz!“, flötete sie und bedeckte mein Gesicht mit fürchterlichen Küsschen.
 

„Gnade!“, flehte ich laut und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Ich hörte meinen Vater tief lachen und als ich wieder auftauchte, sah ich ihn gegen den Türrahmen lehnend stehen. Ich warf ein kleines Kissen nach ihm und verfehlte ihn. Stattdessen traf ich meine 77-jährige Oma (mütterlicherseits) damit, die wie ein aufgeschrecktes Meerschweinchen quiekte. Alle sprinteten zu ihrer „Rettung“.
 

„Jonas!“, keifte mein Vater mich an und ich wollte einfach nur schlafen. Ging aber nicht. Ich musste in der Küche helfen, meine Großeltern (ja, mütterlicherseits) entertainen, wieder in der Küche helfen, den Fernseher umstellen, den Tisch decken, wieder in der Küche helfen und mir dann von zwei Seiten anhören, dass ich mehr für die Schule tun müsste, wenn ich mein Abitur schaffen wollte.
 

„Ronald hatte bereits in den Sommerferien VOR dem ersten Halbjahr angefangen, fürs Abi zu lernen“, tadelte meine Mutter mich und ich schnaubte.
 

„Ronald ist ein hässliches Schweinchen, das nichts anderes als Biotope im Kopf hat und wahrscheinlich allein in einem Sumpf enden wird“, keifte ich zurück. Ronald war der Sohn von Ulf, dem Neuen meiner Mutter, mit dem sie zusammenlebte. Sie wollte gerade den Mund aufmachen, um noch etwas zu sagen, aber ich schnitt ihr das Wort ab: „Wer will schon etwas von Ronald wissen, ich bestimmt nicht!“, sagte ich patzig und drehte mich um, um nach oben zu gehen. Ich konnte noch das Gemurmel meines Großvaters mitbekommen. „Ich auch nicht...“ - Ich musste grinsen. Niemand war glücklich, dass sie sich so einen Heini da geangelt hatte, um meinen Papa alleine zu lassen. Ich war mal wieder so sauer auf sie.
 

Aber die Tür knallte ich trotzdem nicht. Wollte Oma ja nicht erschrecken...
 

Irgendwie gelang es uns tatsächlich, den Abend gemütlich miteinander zu verbringen. Und während andere, funktionierende Familien Würstchen und Kartoffelsalat fraßen, gab es bei uns ein fast schon pompöses Drei-Gänge-Menü, das mit Silberbesteck verputzt wurde. Ha! Beat this! Geschenke gab es keine, so hatten wir es abgemacht. Bis auf dass mir alle Familienteile Geld in die Tasche steckten. Hatte ich nichts gegen. Der Abend wurde immer besser! Nur als der Alkohol spät seinen Weg auf den Tisch fand, wurde es brenzlig. Nicht nur, weil mein Vater, meine Mutter und mein Opa und sogar meine Oma es schlimm fanden, dass ich ein bisschen mit trank, nein. Vor allem, weil meine Großeltern anfingen, sich an vergangene Weihnachtsabende zu erinnern, an denen ich noch ein Kind war, an Santa glaubte und meine Eltern noch verheiratet waren...
 

Meine Großeltern waren schon im Bett, als meine Eltern sich vor dem Weihnachtsbaum stritten - über eigentlich längst geklärte Vorkommnisse, Erinnerungen und Angelegenheiten. Sie rissen sich gegenseitig Wunden auf und streuten eine vermeintlich große Menge Salz hinein. Sie waren schlimmer als Kinder. Ich konnte es nicht mehr ertragen und hängte mich vor den Laptop.
 

Martin war online und er heulte sich bei mir aus, dass seine Familie furchtbar war und er sich um seine kleinen Cousins kümmern musste, die ihm scheinbar das ganze Zimmer zerlegten. Und dann war er einfach offline und teilte mir per SMS mit, dass die Kleinen wohl das Modem „aus Versehen“ geschrottet hätten und er nicht die Kraft besäße, sich jetzt damit auseinanderzusetzen. Ich schrieb Inga und Josh noch schnell eine SMS und bekam sofortige Antworten, in denen sie mir ein frohes Fest wünschten und fragten, ob man sich nicht direkt am 27. Dezember treffen wollte.
 

Wollte man.

Oder auch nicht.

Wie sollte ich mit dieser ganzen Hinrichs-Kacke umgehen???

Ich war so ein Plappermaul und erzählte meinen Freunden eigentlich ALLES.

A L L E S!
 

Gabriel Hinrichs.

Verdammt.
 

Ich träumte von ihm.

Bilder von seinen Unterrichtsstunden vermischten sich mit meiner Vorstellung von Rob, vermengten sich mit Erinnerungen an seine tote Katze... Sie miaute so verzweifelt in meinen Träumen. Bis ich aufschreckte.

Gott, war ich froh, als ich wach war!

Und es war erst 7 Uhr morgens.

Im Haus war es noch ganz still. Es roch immer noch ein wenig nach Plätzchen und draußen rieselte der weiße Schnee, bedeckte die Nachbarschaft erneut. Ich starrte mit einer Zigarette in der einen und einem gefüllten Kaffeebecher in der anderen aus dem Küchenfenster.
 

„Um Gottes Willen, musst du eigentlich schon früh morgens rauchen?“, ertönte die verschlafene Stimme meines Vaters hinter mir und ich drehte mich zu ihm um, während er sich in seinem Morgenmantel an den Küchentisch setzte.
 

„Guten Morgen, geliebter Vater“, antwortete ich sarkastisch und setzte mich dennoch zu ihm.
 

„Du siehst nicht gut aus, Jonas“, sagte er plötzlich ernsthaft und musterte mich eindringlich. Ich seufzte und nippte eilig am Kaffee, was natürlich dazu führte, dass ich mich verschluckte und erstmal eine gehörige Runde husten musste. „Was hast du verbrochen?“, fragte mich mein Vater ruhig, als ich mich beruhigt hatte.
 

„Nichts“, kam es wahrscheinlich viel zu schnell aus meinem Mund.
 

„Ist es wegen Mama? Weil sie immer noch nicht weiß, dass du...“, er brach ab. Mein Vater hatte sich eigentlich schon damit abgefunden, dass ich auf Männer stand, aber aussprechen war so ne ganz andere Sache. Nicht, dass ich es ihm übel nahm.
 

„Ne, darum geht’s nicht“, sagte ich knapp und drückte meine Zigarette aus.
 

„Um was geht es dann?“, hakte er umgehend nach.
 

„Um nichts!“, entgegnete ich etwas energischer.
 

„Dann quäl dich eben selbst damit weiter“, sagte er resignierend und war daran, aufzustehen.
 

„Ich hab die Katze meines beschissenen Geschichtslehrers tot gefahren!“, schrie ich ihm beinahe ins Gesicht und er verharrte in seiner Bewegung.
 

„Oh“, sagte er.
 

„Ja, OH!“, keifte ich und grummelte nicht verständliche Worte unter meiner Nase weiter.
 

„Hast du dich entschuldigt?“, fragte er nach einer weiteren Weile des Schweigens.
 

„Nicht... wirklich.“
 

„Soll heißen...?“
 

„Mann!“, blaffte ich. „Ich hab so'n Schock bekommen, dass ich einfach weggefahren bin!“
 

„Oh, Mann...“, kam es von meinem Vater und er fing an zu glucksen, während er dabei den Kopf ungläubig schüttelte.
 

„Das ist nicht komisch!“, fuhr ich ihn an.
 

„Nein, ist es nicht“, sagte er und sprang dabei fast schon auf die Beine. Ohne weiteren Kommentar verschwand er aus der Küche, nur um einige Sekunden später mit dem raschelnden Schlüsselbund in seiner Hand zurückzukehren. Mit einem etwas lauteren Klirren, landeten sie auf dem massiven Holztisch direkt vor meiner Nase, heraus stechend: Der VW-Schlüssel. „Weißt du, wo dein Lehrer wohnt?“, fragte er mich.
 

„So in etwa“, entgegnete ich, noch immer den Schlüssel betrachtend.
 

„Dann wirst du jetzt dorthin fahren und dich bei ihm entschuldigen und jegliche Kosten einer Beerdigung, wer weiß, wie der drauf ist, übernehmen“, sagte er ruhig.
 

„Beerdigung?“, wiederholte ich verwirrt.
 

„Tierfriedhof...?“, kam es lang gezogen von ihm und damit war er weg und ich starrte noch immer den Schlüssel an. Eine halbe Stunde später, saß ich immer noch am Küchentisch und mein Vater, nun vollends angezogen, stemmte seine Hände gegen seine Hüften und strafte mich mit einem erzürnten Blick. „Wolltest du nicht etwas erledigen, Joni?“, zog er mich auf und er wusste ganz genau, dass ich diesen Spitznamen, den meine Mutter mir irgendwann verpasst hatte, HASSTE!
 

„Ist nicht so leicht wie es klingt“, sagte ich und meine Gedanken wanderten zurück ins Internet, zu Rob, und den Filmen, den Chats, den Bildern Lassies, diesem Gefühl gemocht und verstanden zu werden, dem...
 

„Weil du ein kleiner Angsthase bist“, sagte mein Vater und wechselte den Filter der Kaffeemaschine, um neues Gebräu anzusetzen.
 

„Ich bin kein Angsthase“, protestierte ich nur schwach. Natürlich war ich das! Aber ich konnte meinem Vater nicht sagen, WARUM GENAU! Das ging einfach nicht!
 

„Jetzt fahr endlich. Du hast nicht aufgepasst, du hast die Katze tot gefahren, du musst dich entschuldigen“, predigte er.
 

„Ja ja ja“, murmelte ich und trottete in den Flur. Gott, wenn mein Vater wüsste, wie schwer dieser Schritt mir gerade fiel... Aber das wusste er nicht. Und ich besaß nicht das recht, ihn davon in Kenntnis zu setzen. Auch nicht, es ihm zu verraten. Und so fuhr ich los, mit dem Geräusch von knirschendem Schnee begleitet. Es war nicht wirklich weit. Eine kleine Straße unweit des letzten Supermarktes, den ich aufgesucht hatte. Ich parkte den Wagen und suchte die Gegend ab, in Hoffnung, es würden mich nicht all zu viele Bewohner sehen, wie ich die Häuser abklapperte und nach einem bestimmten Namen auf den Klingelschildern der Häuser suchte…
 

Ich war kurz vor dem Aufgeben, als ich die kleinere Einbiegung fand, die nur Fußgängern und Radfahrern zugänglich war und Zutritt zu einigen Reihenhäusern gab. Seines war das letzte… Ich betrachtete die in schwarz gestalteten Lettern der Türklingel wahrscheinlich mehr als fünf Minuten. Und nur eines ging mir durch den Kopf: Was zur Hölle sollte ich ihm sagen?
 

Ein Gefühl keimte auf in mir, welches ich nach wenigen Sekunden als schlichte Panik erkannte und ich machte auf dem Absatz kehrt, wollte flüchten und beschloss, meinem Vater eine Lüge aufzutischen. Leider funktionierte das alles nicht so auf Anhieb, denn als ich mich schwungvoll umdrehte, fand ich mich direkt gegenüber von Hinrichs stehen, der mich mit seinen grau-blauen Augen betrachtete.
 

Er trug einen knielangen, schwarzen Mantel und ein ebenso dunkler schwarzer Schal zierte seinen Hals. Wieder einmal erkannte ich neidisch, wie gut gebaut er eigentlich war. Er hätte in seinen jungen Jahren auch als Model arbeiten können. Aber stattdessen war er Geschichts- und Religionslehrer geworden. Und es waren genau diese Gedankengänge, die mich zurück in die Gegenwart katapultierten. Mein Lehrer stand vor mir und ich hatte sein Haus aufgesucht und als er mich ausdruckslos mit „Oh, Jonas. Guten Tag, wie kann ich dir helfen?“, begrüßte, wurde mir klar, dass ich etwas entgegnen müsste.
 

„Das mit Lassie tut mir unheimlich leid“, brach es direkt aus mir heraus. „Ich wollte das nicht, wirklich! Ich hab in der Dunkelheit nichts mehr gesehen und dann all der Schnee. Ich hab wirklich nicht gesehen, wie er auf die Fahrbahn gelaufen ist. Es tut mir so leid. Ich übernehm auch all die Kosten. Also, falls sie eine Beerdigung machen wollen…“, plapperte ich und er betrachtete mich immer noch mit dieser ernsten, typischen Lehrer-Miene, die einen manchmal zum Verzweifeln brachte.
 

Und dann bewegte er sich auf mich zu, ging galant, langsam und ohne auch nur ein Wort zu sagen an mir vorbei. Ruhig zog er den Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Er verschwand im Haus und tauchte nach wenigen Sekunden wieder auf, Lassie mit einem… großen, weißen Verband um das rechte Bein gewunden in seinem Arm. Ja, das war definitiv die Katze, die ich so gut von den Bildern kannte.
 

UND SIE LEBTE!
 

„Gebrochen“, sagte er knapp, der Gips war nicht zu übersehen.
 

„Ich… Oh, Gott sei Dank!“, japste ich. „Ich bezahl natürlich die Behandlung! Wie viel?“ Ich zückte mein Portemonnaie aus der Tasche.
 

„Die gesamte Behandlung wird wahrscheinlich auf die 100 Euro kommen“, antwortete er trocken und ich biss mir auf die Zunge. All das Weihnachtsgeld… „Jonas“, schreckte seine Stimme mich auf und ich sah ihn an. Seine Augen ruhten auf mir, während seine Finger langsam durch das Fell des Katers strichen. „Anstatt mir Geld zu geben, würde ich es gutheißen, würdest du dir mehr Mühe bei deinem Aufsatz geben.“ In seiner Stimme schwang ein gewisses Maß an Hohn und Tadel mit, doch in seinem Gesicht regte sich gar nichts. Ich sah ihn schweigend an und steckte mein Portemonnaie langsam wieder in die Jackentasche. Und so standen wir da. Hinrichs und ich. Rob und ich. Rob und James. Und ich wusste nicht, was zu sagen war, wo ich hätte anfangen können.
 

„War’s das?“, fragte er nach einer Weile, mich noch immer betrachtend. „Ich habe nämlich noch zu tun.“
 

„Ja… Äh, nein!“, antwortete ich schnell und holte Luft. Sein Blick machte mich nervös. Hinrichs machte mich IMMER nervös. Und die Tatsache, dass er Rob war, erwies sich nicht gerade als hilfreich in diesem Moment. „Ich… Also. Es geht… Es geht um Rob. Um Rob und James.“
 

Er zog seine rechte Augenbraue nach oben und Skepsis trat in seinen Blick. Ich starrte ihn an und wartete, dass er etwas dazu sagen würde.
 

„Rob und James?“, wiederholte er die Namen fragend.
 

„Jaaaa…“, antwortete ich mit zittriger Stimme.
 

Hinrichs grinste leicht und schüttelte etwas seinen Kopf. „Ich verstehe nicht so ganz… was du mir sagen willst“, sagte er dann und schaute mich weiterhin fragend an, so als ob er eine Erklärung erwarten würde.
 

„Äh“, stotterte ich und fühlte mich noch blöder als vorher. „Der… Chat… Die… Flirtsite?“, stammelte ich und er schüttelte wieder seinen Kopf, leicht lachend.
 

„Tut mir leid, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst, Jonas“, sagte er.
 

Am liebsten hätte ich ihn angeschrien.

Ich konnte mich nicht täuschen.

Das in seinen Armen war Lassie.

Und wenn Lassie seine Katze war, dann war ER Rob.

Oder?
 

„Tja, ist ja auch egal“, sprach er weiter und trat einen Schritt zurück. „Lassie geht es gut und du solltest jetzt nach Hause fahren, zu deiner Familie. Frohe Weihnachten.“ Er ließ mir gar keine Zeit zum antworten, sondern schloss einfach die Tür und ich blieb wie ein Idiot einige Minuten davor stehen, bevor ich mich zurück zum Auto schleppte.
 

Der Motor brüllte auf, als ich den Wagen startete, und auf meiner Unterlippe kauend davonfuhr. Ich war verwirrt. Und sauer. Und traurig. Alles zugleich.
 

Ich konnte mich nicht täuschen. Die Puzzleteile passten zusammen. Hinrichs war Rob. Und dass er mich eben so eiskalt abgewiesen hatte und mich wie einen Idioten behandelte, vervollständigte das Bild nur. Er wollte mich verwirren, er wollte mich an einen Irrtum glauben lassen. Ich seufzte. Ich ließ die kleine Familienfeier wieder über mich ergehen. Es gab Ente. Mein Vater hatte sogar zwei davon gemacht und wir wurden alle satt. Meine Mutter nervte nicht mehr all zu viel und mein Vater ließ mich gütigerweise auch in Ruhe. Ich erzählte meiner Oma von meinen Freunden und sie freute sich sehr darüber. Und dann war ich wieder alleine in meinem Zimmer, klebte geistesabwesend an meinem Bildschirm und betrachtete die blinkenden Chatfenster, die mich nicht tangierten.
 

Ich war am Boden zerstört.
 

Den gesamten Tag hatte ich diese Erkenntnis zurückhalten können. Ich hatte sie unterdrückt und nun kamen all diese Gefühle über mich, überschwemmten mich wie ein kleiner Tsunami.
 

Natürlich, Rob war mein Lehrer. Das war mehr als scheiße. Er war der Geschichtsdrache, den ich eigentlich hasste. Aber zugegebenerweise hatte ich mich in Rob verknallt, in seine Art mit mir zu reden, in unsere Konversationen; es hatte sich wie eine tiefe Freundschaft angefühlt, die mir ein Kribbeln im Bauch verursachte. Seit Langem hatte sich jemand für mich interessiert! Und dann wurde ich einfach fallen gelassen. Wie ein Stück Dreck. Ich fühlte mich schäbig.
 

In meiner Vorstellung hatte ich mir bereits ausgemalt, wie es wäre, endlich einen festen Freund zu haben, diese Geborgenheit spüren zu können, die sich bereits in unseren zahlreichen, virtuellen Unterhaltungen angefangen hatte zu formen...
 

Ich dachte an Hinrichs.

An Gabriel.

An sein markantes Gesicht, seine Statur, seine Augen, seine Stimme.

Ich wusste nicht, was ich fühlte.
 

Die Ferien vergingen viel zu schnell.

Es war hart genug, Inga nichts zu verraten. Ich musste mir so oft auf die Zunge beißen. Am Telefon, oder wenn wir uns alle zu viert in der Stadt trafen. Wir gingen ins Kino und ich fühlte mich erneut schäbig. Ich hatte mit Rob ins Kino gehen wollen... Es hätte unser erstes Date werden sollen...
 

In meinem Kopf sah ich plötzlich Hinrichs mit mir im Kino sitzen. Ich stellte mir seine Hand auf meinem Oberschenkel vor und seine Lippen auf den meinigen...
 

„Alter, alles klar?!“, herrschte Inga mich lachend an, als wir im Foyer noch auf Josh und Martin warteten.
 

„Hm?“, machte ich und sie legte ihren Kopf schief.
 

„Du wirkst den ganzen Tag schon irgendwie abwesend...“
 

„Internet-Boy“, sagte ich schnell und schluckte den Rest der Geschichte einfach hinunter.
 

„Get over it!“, sagt sie streng und haute mir kameradschaftlich auf die Schulter. „Du wirst schon jemanden finden.“
 

„Ja, sicher...“
 

Ich sagte es niemandem. Ich schwieg. Ich trank zu viel an Silvester, sodass ich das Neue Jahr gar nicht begrüßen konnte, weil ich bereits um 23 Uhr eingeschlafen war. Und dann kam der erste Schultag. Ja, richtig. Der erste Schultag mit der ersten Geschichtsstunde. Es war… seltsam. Eigentlich war er so wie immer. Hinrichs war schlecht gelaunt und Oliver musste ein Referat über Pearl Harbor halten. Was er dann natürlich total verkackte, weil er es am Vortag erst angefangen hatte und mit Szenen aus diesem ätzenden Hollywoodfilm gespickt hatte. Das Ende dieser kläglichen Geschichte war die Bestrafung mit einem weiteren Referat. Der gesamte Kurs schüttelte den Kopf und Hinrichs machte einfach weiter.
 

Und er sah mich kein einziges Mal an.
 

Auch nicht während der nächsten Doppelstunde.

Und auch nicht eine Woche später.

Er ignorierte mich komplett.

Bis die Deadline für den Aufsatz kam. „Dezentralisierung nach 1945“. Ich hatte es nur auf drei Seiten geschafft. Hinrichs hatte sechs gefordert.
 

„Der reißt dir den Kopf ab“, flüsterte Inga mir zu als der alte Schulgong das Aus der Stunde verkündete und wir uns als letzte zum Lehrerpult bewegten, um unsere Aufsätze abzugeben. Ich hatte wirklich Pech, denn Hinrichs blätterte die Mappe, in der wir unser „Werk“ abgeben sollten durch. Bei Ingas Erzeugnis nickte er nur kurz und sie machte sich schon auf den Weg zur Tür. Bei meiner Mappe, meinen drei kläglichen Seiten, stockte er und als ich mich umdrehen wollte, um meiner Freundin zu folgen, hielt er mich mit einem strengen „Jonas!“, auf. Inga blieb wie erstarrt im Türrahmen stehen und er richtete seinen Blick auf sie.
 

„Inga, geh bitte. Jonas und ich müssen kurz reden“, sagte er und Inga blinzelte einige Male.
 

„Äh, ich warte oben auf dich, OK?“, flüsterte sie mir noch schnell zu und schloss die Tür leise hinter sich. Ich schluckte und wandte mich meinem Geschichtslehrer zu, welcher schwer seufzte, wonach er seinen Blick endlich auf mich richtete. Ich wusste nicht so ganz warum, aber in diesem Augenblick machte mein Herz einen winzigen Sprung in meiner Brust und ich musste mir eingestehen, dass ich Hinrichs, Rob, Gabriel, wie auch immer ich ihn in meinen Gedanken bezeichnen sollte, heute als äußerst attraktiv empfand. Er trug eine neu erscheinende, schwarze Mustang-Jeans und dazu ein dunkelblaues Hemd, ebenfalls von guter Qualität. Seine Haare waren wie immer nach hinten gekämmt, doch einige Strähnen hatten sich gelockert und fielen ihm sachte ins Gesicht.
 

Verdammt! Ich stand hier und bedachte die Attraktivität meines Lehrers, den ich eigentlich hasste.

Und in den ich mich im Internet verknallt hatte…
 

„Du weißt, dass das nur drei Seiten sind?“, schreckte er mich mit dieser etwas kälteren Nachfrage auf.
 

„Ich hab echt nicht mehr geschafft…“, murmelte ich resigniert und ließ mich auf einen der Tische nieder, die dem Lehrerpult nahe standen.
 

Hinrichs seufzte laut und strich mit seiner Handfläche über seine Stirn. „Alle anderen konnte die Seitenvorgabe einhalten, nur du nicht“, sagte er dann und musterte mich länger, sodass mir ein kleiner Schauer über den Rücken strich. „Du wirst den Aufsatz aufarbeiten müssen. Ich geb’ dir eine Woche Zeit.“
 

Ich verdrehte die Augen, als er mir die Mappe zurückgab. „Das habe ich gesehen“, sagte er knapp und erhob sich. „Bis Donnerstag“, sagte er ebenso knapp und verließ mit seiner Ledertasche, in denen die fertigen Aufsätze waren, den Raum. Nun war ich es, der schwer seufzte und mich in den 6. Stock schleppte.
 

„Ich hasse Hinrichs“, brachte Martin aus, als ich meinen Freunden von dem Vorfall berichtete und alle pflichteten ihm bei. Auch ich. Leider war ich mir dabei gar nicht mehr so sicher…
 

Ich wollte den Aufsatz wirklich schreiben. Ich setzte mich am Wochenende hin und starrte den PC an. Ich kämpfte mich durch die Geschichtsbücher, die ich mir in der Schulbibliothek geliehen hatte und kein einziger Satz blieb in meinem Kopf hängen. Es war zum Verrücktwerden! Mir war schwindelig, mir war schlecht. Und immer wieder betrachtete ich die Bilder von Lassie. Von Gabriels Katze. Robs Katze.
 

Er hatte mich nun zwei Mal eiskalt abserviert.

Und das tat weh.

Und ich war durcheinander.
 

Ich rauchte eine nach der anderen und starrte letztendlich die Decke über meinem Kopf an. So als wäre dies der Ausweg, die Lösung all meiner Probleme… Obwohl ich nur ein einziges besaß: Ich hatte mich in Hinrichs verknallt.

Nein, in Rob.

Der ja Hinrichs war.

Also Gabriel.

Mein Lehrer.

ARGH!
 

Ich ging nicht zur Geschichtsstunde am Donnerstag.

Ich kam auch nicht zum nachfolgenden Termin, meiner neuen Deadline.

Weil der Aufsatz nicht fertig war.

Ich hatte nicht einen Satz dazugeschrieben.

Und ich hatte Schiss.

Angst, ihm unter die Augen zu treten.
 

Ich saß im 6. Stock. Alleine, während die anderen zum Sport gegangen waren. Auch darauf hatte ich keine Lust. Ich wollte einfach nur rauchen und aus dem Fenster starren.
 

„Hier bist du also“, erklang plötzlich diese samtige Stimme hinter mir und ich schreckte auf. Hinrichs stand direkt vor mir, seine Arme vor der Brust verschränkt, sein strenger Blick starr auf mich gerichtet.
 

„Herr Hinrichs…“, stammelte ich und mir wurde auf einmal richtig kalt.
 

„Wenn du mir deinen Aufsatz nicht gibst, werde ich dir eine 6 geben müssen“, sagte er und lehnte sich gegen die Wand, ohne seinen Blick von mir zu nehmen, dem ich nicht standhalten konnte.
 

„Dann geben Sie mir eine 6“, sagte ich.
 

Er schnaubte. „Ist dir die Schule so egal?“, hakte er im harten Ton nach und ich zuckte trotzig mit den Schultern. Momentan war mir vieles egal. Ich war verletzt worden und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte es satt zu leiden. Ich war sauer, dass er mir die Chance auf eine Beziehung genommen hatte und nicht einmal zugeben konnte, dass er Rob war. War er so ein Feigling? „Du hast meine Katze angefahren“, sprach er plötzlich weiter und ich zuckte bei der Erinnerung zusammen. „Und ich habe dich deswegen gebeten, dir Mühe bei deinem Aufsatz zu geben. Und das hast du absolut nicht getan. Hast du wegen dieser Sache überhaupt gar kein schlechtes Gewissen?“
 

Der Linoleum-Boden, den ich anstarrte, war grau und übersät von irgendwelchen Flecken. Hinrichs schnaubte erneut. „So kenne ich dich gar nicht“, sagte er schließlich leiser und als ich noch immer nichts sagte, seufzte er schwer. „Was muss ich tun, damit du den Aufsatz schreibst?“, fragte er plötzlich warm und erneut machte mein Herz diesen Sprung und eine Welle der Verwirrung erfasste mich.
 

Hinrichs konnte mir eine 6 reindrücken und hier bettelte er mich beinahe an, meinen Aufsatz NACH der Deadline einzureichen, um eine bessere Note zu bekommen?!?!?

Was zur...?!
 

Als ich ihn schließlich ansah, war sein Blick warm. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Seine Gesichtszüge waren entspannt, so etwas wie Freundlichkeit spiegelte sich in seiner gesamten Haltung wieder. Es erschien beinahe so, als hätte jemand seine Persönlichkeit ausgetauscht… Als wäre er Rob…
 

„Ich kann dir helfen“, fuhr er fort, als ich zu durcheinander war, um zu antworten. „Lass uns jetzt nach unten gehen, Raum 101 ist frei, das ist der kleine“, sagte er und ließ mich nicht aus den Augen. „Dann zeige ich dir, was du verbessern kannst und du gibst mir deinen Aufsatz dann einfach eine Woche später, OK?“
 

Bevor ich auch nur nachdenken konnte, machte sich mein Mund selbstständig und ich hörte mich selber mit „einverstanden“ antworten. Ich hätte mich direkt ohrfeigen können, aber dazu war es bereits zu spät. Es war ein seltsames Gefühl, als Hinrichs die Tür hinter uns beiden schloss und wir uns gemeinsam an einem der Tische setzten, direkt nebeneinander. Ich war ihm noch nie so nah gewesen und um ehrlich zu sein, machte mich diese Nähe nervös. Als er meinen Aufsatz mit mir durchging, war seine Stimme stets warm, so anders als im Unterricht. Wirklich, ich hatte ihn noch nie so sanft mit jemandem sprechen hören. Er klang so schön…

Verdammt, ich musste mich konzentrieren.
 

Wie lange wir dort saßen?

Bestimmt etwas über eine Stunde.

Hinrichs hatte mir sogar noch die Seiten in den Büchern markiert, die wichtig waren und er hatte mir seine Notizen mitgegeben.

Es war seltsam sich freundlich von ihm zu verabschieden. Noch seltsamer war allerdings die Tatsache, dass ich die kommenden Tage an meinem Rechner saß und an meinem Aufsatz arbeitete. Mein Vater brachte mir sogar Kekse. Und er ließ mich in Ruhe. Und er sagte nichts, als ich mir ein Bier in der Küche aufmachte. Vielleicht gefiel im ja, dass ich endlich mal etwas für die Schule tat…
 

Eine Woche war vergangen. Hinrichs hatte mich im Unterricht erneut ignoriert und ich hatte meinen Freunden auch nichts von unserem „Treffen“ erzählt, ich hatte das für klüger gehalten. „Geh schon mal vor, ich muss Hinrichs noch meinen Aufsatz geben“, sagte ich zu Inga, als abermals der Schulgong ertönte.
 

„OK“, gab sie zurück und grinste mich noch leicht an, bevor sie verschwand. Wie damals waren wir wieder allein im Klassenraum und ich musste feststellen, dass meine Knie weich waren, als ich auf das Pult zuging. Endlich richtete er seinen Blick auf mich und lächelte mir aufmunternd zu. Schon wieder etwas, was ich niemals von ihm erwartet hätte.
 

„Äh, hier. Sechs Seiten dieses Mal“, sagte ich und versuchte dabei lässig zu klingen.
 

„Danke, Jonas“, antwortete er und blätterte kurz durch die Mappe. „Ich lese es mir gleich heute Abend durch“, fügte er noch hinzu und mein Aufsatz verschwand endlich in seiner Tasche. Eine seltsame Stille legte sich um uns und Hinrichs sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Ist noch was?“, fragte er mich.
 

„Äh. Danke, Herr Hinrichs“, brachte ich schließlich heraus und bewegte mich endlich aus dem Raum. Ich brauchte ne Zigarette.
 

„Alter, hast du mit Hinrichs geschlafen, oder warum hat er dir eigentlich ne zweite Chance gegeben?!“, war das erste, was Josh mir entgegen warf, als ich im 6. Stock ankam. Ich erstarrte und er blinzelte einige Male, wonach er etwas verwirrt und irritiert lachend den Kopf schüttelte. „Hallo, Scherz?“, fügte er immer noch kopfschüttelnd hinzu und nahm einen Zug seiner Zigarette.
 

„Hat er dich wieder fertig gemacht, oder was?“, richtete sich nun Martin an mich und ich log meinen Freund zum ersten Mal an.
 

„Ja, ein bisschen“, entgegnete ich und damit hatte sich die Konversation bereits erledigt. Und ich war heilfroh darüber. Ich verstand Hinrichs Benehmen momentan ja selbst nicht. Ich verstand meine eigenen Gefühle nicht. Oder wollte sie nicht verstehen… Was ich noch am selben Tag tat, überschritt meinen eigenen Verstand ebenfalls. Es verschlug mich in die Innenstadt, in die DVD-Abteilung eines großen Kaufhauses und in ein teures Schokoladengeschäft.
 

Es war stockfinster, als ich mich nachts aus dem Haus schlich und den Wagen startete. Ebenso dunkel war es, als ich den kleinen Fußgängerweg zu Hinrichs Wohnung entlang schlenderte und die „High Noon“-DVD zusammen mit der dünnen Schachtel teurer Pralinen in den Briefkasten zwängte. Rob hatte mir damals noch erzählt, dass dieser Film in seiner Western-Sammlung fehlte. Nun sollte er ihn bekommen. Auf dem kleinen Kärtchen stand sogar sein Name…
 

Erst als ich wieder in meinem Bett lag, musste ich mir an den Kopf fassen und mich bitterlich auslachen. Was zur Hölle hatte ich da getan?!?!?!

Ich war so naiv. Kindisch und naiv und peinlich.

Ich wollte mir die Haare ausreißen.

Die kommende Geschichtsstunde schwänzte ich. Wie hätte ich Hinrichs nach dieser Aktion in die Augen blicken sollen? Wahrscheinlich dachte er jetzt, ich würde auf ihn stehen!

Was im Grunde genommen der Wahrheit irgendwie doch entsprach…
 

Ich log meinen Vater an und erzählte ihm, die letzte Stunde wäre ausgefallen, als ich viel zu früh nach Hause kam. Wie immer surfte ich sinnlos im Web. Und dieses Mal beschloss ich, auch mein Profil bei dieser dämlichen Website zu löschen. Ich erschrak, als ich mich einloggte. Das kleine Brief-Symbol blinkte. Und es war eine Nachricht von… Rob. „Rob2.0“ hatte er sich genannt und ich schnaubte. Und dann verschluckte ich mich beinahe, als ich die bereits drei Tage alte Nachricht las, die den Namen eines Kinos in einem kleinen Vorort nannte, einen Filmtitel und eine Zeit.
 

DAS WAR HEUTE!!!!

Und ich hatte noch zwei Stunden Zeit, um mich fertig zu machen und dorthin zu kommen.

Oh – Mein – Gott!
 

Hinrichs, mein LEHRER, wollte mit mir ins Kino gehen.

Ich wusste, dass es wahrscheinlich ein Fehler war, aber ich konnte mich nicht stoppen.

„Kann ich das Auto haben?“, fragte ich mit bebender Stimme meinen Vater als ich komplett fertig gemacht nach unten hastete. Er runzelte die Stirn.
 

„Kannst du nicht lieber den Bus nehmen?“, entgegnete er müde.
 

„Nein! Das geht nicht! Dann komme ich zu spät!“, herrschte ich ihn an.
 

„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, sagte er patzig.
 

„Ach, komm schon! Ich fahr es schon nicht zu schrott!“, maulte ich und wollte Mitleid erregen.
 

„Das Ding ist, dass seit gestern der Motor gefährlich rattert und ich den Wagen morgen in die Werkstatt bringen will“, erklärte er milder und mein Herz fing wie wild an zu schlagen. NEIN!
 

„W-was?“, stotterte ich.
 

„Ich will nicht, dass du mit dem Wagen fährst, weil es gefährlich werden könnte. Wo willst du überhaupt hin?“
 

„Ich… Nirgendwo!“, platzte es aus mir heraus und ich rannte die Treppe wieder hoch. Vom Hauptbahnhof fuhren doch bestimmt Busse. Und das taten sie auch. Stündlich. Und vor fünf Minuten war einer gefahren. Dennoch hastete ich zum Bahnhof und schnappte mir den nächsten. Das Kino zu finden war nicht schwer. Allerdings war ich 45 Minuten zu spät. Ich sah mich im kleinen Foyer um. Das Kino besaß nur einen Saal. Ich wartete bis zum Ende des Filmes.
 

Nur eine kleine Gruppe von Menschen ging an mir vorbei. Gabriel war nicht unter ihnen. Und als ein Mann in Uniform nach 20 Minuten den Saal schloss, wurde mir klar, dass er bereits vor dem Film gegangen sein musste. Weil ich nicht aufgetaucht war.

Scheiße.
 

Der Nachhauseweg war lang.

Ich war müde als ich endlich ankam und den nervigen Fragen meines Vaters ausweichen musste, als ich mich endlich einloggte und panisch feststellen musste, dass Rob sein dämliches Profil schon wieder gelöscht hatte.
 

„Jetzt reicht’s!“, fluchte ich und ging mit schweren Schritten nach unten, um mir erneut meine Jacke zu schnappen. Ich musste sofort zu ihm!
 

„Und wo willst du jetzt schon wieder hin?!“, ertönt die scharfe Stimme meines Vaters, der sich vor der Haustür aufbaute.
 

„Zu Inga“, murmelte ich.
 

„Es ist beinahe 22 Uhr, ruf an. Ihr habt morgen schließlich Schule“, sagte er immer noch streng.
 

„Nein, ich muss zu ihr. Ihr… Geht es nicht so gut“, log ich.
 

„Du wirst jetzt nirgendwo mehr hingehen!“, schnauzte er. „Reicht es nicht, dass du heute schon geschwänzt hast?!“
 

Ich schaute ihn mit großen Augen an. „Ich hab nicht geschwänzt…“, entgegnete ich mit leider sehr unsicherer Stimme.
 

„Ach, Jonas!“, platzte es aus ihm heraus. „Denkst du, du kannst mich veräppeln? Ich bin nicht dumm! Denkst du ich merke nicht, wenn du mich anlügst?“ Ich wusste wirklich nicht, was antworten war. „Übrigens würde ich mich auch äußerst freuen, wenn du mir sagen würdest, warum du letztens mitten in der Nacht das Auto genommen hast…“, fügte er etwas sarkastisch hinzu.
 

„Geht dich nichts an“, blaffte ich und wollte an ihm vorbei gehen.
 

„Du bleibst zu Hause und basta!“, herrschte er mich mit solch einer Wucht in der Stimme an, dass ich einen Schritt nach hinten stolperte. Wow, er hatte mir wirklich Angst eingejagt. „Hoch mit dir und wenn ich dich heute Nacht wieder beim Rausschleichen erwische, dann gibt’s eine auf’n Deckel, kapiert?!“
 

„Ich bin ACHTZEHN!“, schrie ich.
 

„Das, mein Lieber, ist mir ziemlich scheißegal“, entgegnete er süffisant und ich wusste, dass ich verloren hatte. Und ja, mein Vater konnte mir, obwohl ich schon 18 war, immer noch richtig mies Angst einjagen. Und gepfeffert hatte er mir auch schon mal eine. Und das war echt erschreckend gewesen. Hatte ich aber auch verdient, als ich in meinem Zimmer gekifft hatte…
 

Ich konnte trotz Müdigkeit nicht schlafen.

Ich konnte mich die nächsten Tage nicht konzentrieren. Immer wieder spielte ich mit dem Gedanken, zu ihm zu fahren. Aber mir fehlte der Mut.

Und dann stand endlich wieder Geschichtsunterricht auf meinem Stundenplan. Zu meinem Erstaunen… ignorierte mich Hinrichs komplett. Er war schlecht gelaunt. Er war wie immer. Als ich die Bilder seines freundlichen Lächelns ins Gedächtnis rief, mich an seine sanfte Stimme erinnerte, war ich nicht imstande zu glauben, dass sie Realität gewesen waren. Es war, als stellte ich mir eine völlig andere Person vor…
 

Der Schulgong erschreckte mich.

„Jonas, ich habe deinen Aufsatz mitgebracht“, richtete er endlich sein Wort an mich, als nur noch wenige Personen im Raum waren, ihn verließen. Ich nickte Inga kurz zu und auch sie verschwand. Wir waren alleine. Und er war kalt. „Ich habe dir eine 2- gegeben, du solltest wirklich zufrieden damit sein.“
 

„Das bin ich auch“, sagte ich, als ich die Mappe entgegen nahm. Er sah mich nicht an, als er seine Tasche packte und als er sich mit einem „Tschüß“, verabschiedete, brach es aus mir heraus.
 

„Ich war gestern da! Aber du nicht mehr! Ich konnte den Wagen nicht haben, der war kaputt und vom Hauptbahnhof fährt nur stündlich ein Bus. Und den hab ich verpasst, also habe ich den nächsten genommen, deswegen war ich auch so spät da!“
 

Hinrichs blieb stehen und richtete seinen ziemlich verwirrten Blick auf mich. Er schüttelte den Kopf. „Von was redest du da, Jonas?“
 

„Tu nicht so, du Feigling!“, schrie ich beinahe schon und merkte, wie heiß mir momentan eigentlich war und dass meine Stimme sich äußerst zittrig anhörte. Aber das war mir egal, denn ich war sauer, und zwar so richtig. „Wieso löschst du immer dein Scheißprofil?! Wieso hast du mir nicht ne Nummer mitgegeben, dann hätte ich anrufen können!“ Ich wurde langsam heiser und Hinrichs, dieser Idiot, sah mich immer noch völlig entgeistert an.
 

„Ich gehe jetzt und du solltest vielleicht lieber zum Arzt“, sagte er und war… fort.
 

Erst jetzt bemerkte ich, dass mir eine einzelne, heiße Träne über die Wange lief. Erzürnt wischte ich sie weg und schnaubte trotzig.

Ich hasste Hinrichs.

Und dieser Hass motivierte mich den ganzen Tag über.

Als ich nach Hause kam, stampfte ich verbittert nach oben und schaltete umgehend den Laptop ein. Heute würde es zu Ende gehen und ich würde nie wieder einen Gedanken an Rob/Hinrichs/Gabriel verschwänden und mich auch nie wieder bei irgendeiner Flirtsite anmelden!
 

Ich löschte mein Profil.

Ich löschte all die dämlichen Bilder von Lassie.

Lassie am Arsch!
 

Mit einem guten Gefühl aß ich eine Pizza, zappte im TV herum und checkte anschließend meine Emails. Und stockte.
 

Im Posteingang befand sich tatsächlich eine Email von niemand anderem als „Gabriel Hinrichs“. Der Betreff war mit „Sorry“ tituliert. Ohne nachzudenken öffnete ich diese an mich adressierte Nachricht. Sie war nicht lang. Aber sie brachte mich vollends durcheinander und ließ meinen Puls beschleunigen.
 

„Sorry für vorher, aber was zwischen uns gelaufen ist, sollten wir wirklich nicht in der Schule besprechen. Komm heute Abend vorbei. Wir müssen dringend reden. Wenn du keine Zeit hast, ruf mich an.“
 

Wow. Er hatte mir tatsächlich seine Handynummer gegeben.

Aber ich hatte Zeit.

Mit zittrigen Knien machte ich mich auf den Weg. Einige Haltestellen mit dem Bus, etwas mit der Bahn, ein kleines Stück zu Fuß. Schneller als erwartet befand ich mich erneut vor dieser Haustür, diesem Anblick, der mir all den Mut aus meinem Bewusstsein saugte und mich wie einen weichen Pudding zurück ließ. Erneut war ich wieder kurz davor abzuhauen, aber die Tür öffnete sich und ich fand mich direkt in Hinrichs Blickfeld wieder.
 

Er lächelte vorsichtig und trat dann einen Schritt zurück. Es war eine einladende Geste, die ich auch ohne Worte verstand. Und so trat ich ein, mit einem seltsamen, neuen und irgendwie auch leicht beklemmenden Gefühl, das Haus meines Lehrers zu besuchen, es von innen zu betrachten. Und überhaupt mit Hinrichs verabredet zu sein.

Rob.

Gabriel.
 

„Möchtest du einen Tee oder Kaffee?“, fragte er mich, ohne mich dabei wirklich anzusehen, während ich meine Jacke an der großen, fein wirkenden Garderobe aufhängte und meine Schuhe auszog.
 

„Kaffee“, japste ich und er bedeutete mir ihm zu folgen. Wir befanden uns schnell in der wirklich großen, hellen Küche. Eine gesamte Wand bestand nur aus Glas, bot den Blick auf einen immer noch verschneiten großen Garten, in dem riesige Tannen den neugierigen Blicken der Nachbarn einen Strich durch die Rechnung machten. Hinrichs scheuchte Lassie von dem großen, ebenso wie die Küche, hellen Holztisch fort und bedeutet mir mich zu setzen.
 

Eigentlich hatte ich mir sein Haus ganz anders vorgestellt. Uriger. Nicht so dieser moderne, anmaßende Ikea-Mischmasch. Ikea – aber mit Stil. Es war gemütlich, aber irgendwie auch modern. Während Hinrichs den Kaffee zubereitete, sprachen wir nicht. Erst als er uns ins geräumige Wohnzimmer führte und wir auf dem braunen, breiten Sofa Platz nahmen, begann eine Unterhaltung. Jazzmusik erfüllte leise den Raum und bot ein akustisches Bett für unsere Stimmen.
 

„Du hattest Recht“, setzte er an und sah mir in die Augen. „Ich bin Rob.“ So weit war ich auch schon… „Und es tut mir leid, dass alles so gelaufen ist… wie es eben gelaufen ist.“
 

Ich wusste nicht, was zu sagen war und wir lauschten für einige Sekunden einfach der Musik.

Er seufze langgezogen und ich trank einen Schluck Kaffee. Er war lecker…
 

„Hätte ich gewusst, dass du mein Schüler bist, hätte ich dich nie angeschrieben“, sprach er mit ruhiger Stimme und betrachtete den Kamin. „Ich hab dich auf dem Foto einfach nicht erkannt!“
 

„Ich weiß“, sagte ich matt. „Das erkennt man auch nicht.“
 

Wir schwiegen erneut.
 

„Wir müssen einen Weg finden, damit umzugehen“, sagte er schließlich und ich richtete meine Augen auf ihn. Es dauerte einige Sekunden, bis er meinen Blick erwiderte. Und wieder umringte uns Stille, während wir uns musterten. Sein blondes Haar hing ihm heute fransig ins Gesicht und zeugte von einem langen Tag. Ich betrachtete seine rauen Lippen, seinen markanten Kiefer und diese kleinen Fältchen um seine Augen.

Er war wirklich attraktiv.

Es machte keinen Sinn sich zu belügen.
 

Er räusperte sich und rückte gegen das Polster des Sofas, wonach er seufzte und sich fahrig durchs Gesicht strich. Erneut sah er mich an.
 

„Wie alt bist du eigentlich?“, hörte ich mich selbst fragen und erschrak. Hinrichs lächelte kurz.
 

„Seit wann duzt du mich denn?“, entgegnete er etwas keck.
 

„Rob und James haben sich die ganze Zeit geduzt…“, gab ich leise zurück und spürte dieses kleine Ziehen in meiner Brust. Ja, ich hatte gehofft in Rob endlich den Mann gefunden zu haben, der mich toll finden würde und mit dem ich vielleicht sogar eine Beziehung führen könnte. Ich hatte gehofft. Auf Geborgenheit, auf Glück, auf Liebe. Und nun saß ich hier mit ihm und wir mussten einen Weg finden „damit umzugehen“.

Ich wusste selbst nicht so genau, ob ich mega depressiv war, oder kurz davor an die Decke zu gehen…
 

„Ja, das stimmt…“, entgegnete er etwas in Gedanken verloren, besann sich dennoch umso schneller wieder. „Jonas“, setzte er an. „Es wäre wirklich nicht schön für mich, wenn sich in der Schule rumsprechen würde… ich sei schwul“, erklärte er und ich nickte etwas geistesabwesend, weil ich noch immer in der „Rob und James“-Fantasie meinerseits gefangen war.

Es hätte so schön werden können…

„Ich werd’s niemandem erzählen“, murmelte ich.
 

„Ich bin dir zum Dank verpflichtet“, sagte er und erneut trat eine kleine Pause ein. „Danke übrigens auch… für den Film. Und die Pralinen“, meinte er und wir blickten uns wieder an. Er lächelte schwach und ich tat es ihm gleich. „Sie waren sehr lecker“, fügte er noch hinzu, als wüsste er nicht, was er noch sagen sollte.
 

„Hmmhhhmmm…“, machte ich und trank meinen Kaffee weiter.
 

„Jonas, ich… Wir können uns nicht sehen, verstehst du?“, sagte er plötzlich und ich versteifte mich. „Du bist mein Schüler. Ich bin dein Lehrer und das geht einfach nicht. Und wir müssen das vergessen, alles, was im Internet vorgefallen ist, okay?“, seine Stimme war samtig. Ich erschauderte und eine Frage keimte in mir auf.
 

„Was wäre, würde ich nicht dein Schüler sein?“, fragte ich ihn und unsere Augen trafen sich. Eine kleine Gänsehaut breitete sich über meinen Nacken aus. Gabriel sah… verführerisch aus und sein Blick war tief, wenn auch zum Teil von leichter Traurigkeit geprägt.
 

„Ich weiß es nicht…“, gab er nach einer Weile zu und lächelte traurig. Mein Herz pochte mittlerweile so laut, dass ich dachte, es würde mir meinen Brustkasten zersprengen.
 

„Findest du mich attraktiv?“, platzte es aus mir heraus und ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich mich in seine Richtung gebeugt hatte. Er erschrak ein wenig über meine Frage und sein Gesicht wurde ernst. Er erhob sich.
 

„Das ist kein Thema, über das wir sprechen sollten“, sagte er knapp und wanderte mit seiner leeren Kaffeetasse in die Küche. Ich folgte ihm.
 

„Warum nicht?!“, entgegnete ich patzig, so wie ich immer mit meinem Vater umging.
 

„Ich hab’s dir doch schon gesagt!“, keifte er und für diese Sekunden erkannte ich den Geschichts-Hinrich in ihm wieder. Er lehnte sich gegen die Küchenzeile und verschränkte die Arme vor seiner Brust, über die sich der schwarze Rollkragen Pullover aus dünnem Stoff sichtbar spannte.

Ja, er sah gut aus. Auch wenn er so wütend war.
 

„Du bist mein Schüler….“, sagte er etwas ruhiger. „Das geht nicht, Jonas.“
 

„Aber wenn ich nicht dein Schüler wäre, wäre es anders?“, hakte ich erneut nach und er schnaubte laut.
 

„Jonas, dieses „was-wäre-wenn“ ist sinnlos. Es ist wie es ist und du kannst es nicht ändern.“
 

„Ja, aber ich will doch nur wissen, ob es anders wäre, was ist denn so schlimm daran?!“, maulte ich und er strich sich erneut übers Gesicht.
 

„Dann wäre ich erbost über den Altersunterschied. Zufrieden?“, entgegnete er kalt und starrte mich an.
 

„Wie alt bist du denn?!“, blaffte ich, wütend, dass er vorher nicht auf meine Frage eingegangen war.
 

„Ich bin 39 und jetzt darfst DU rechnen.“
 

„21“, sagte ich laut.
 

„Zufrieden?“, kam es wieder von ihm.
 

„Es gibt Krasseres.“
 

„Und es gibt hier nichts zu diskutieren“, wandte er wieder ein. „Jonas, ich bitte dich nur, die Sache zu vergessen, Okay?“
 

„Und warum dann das Kino?!“, schrie ich jetzt fast schon und er seufzte schwer.
 

„Ich wollte dir noch dieses quasi Versprechen erfüllen, das war alles“, erklärte er müde.
 

„Ja, ich bin ja nicht dein Typ!“, keifte ich und erinnerte mich an diese Nachricht, die er mir damals geschickt hatte. „Ich bin nie jemandes Typ, schon klar!“, schrie ich weiter und stapfte zur Garderobe. Ich bemerkte nicht, dass er mir folgte, während ich unter meiner Nase weiter über mich selbst fluchte. „Ich bin nur der hässliche Schwule, der sein Abi sowieso nicht schafft und dessen Eltern getrennt sind, weil die Mutter unbedingt einen jüngeren Stecher haben wollte und dem sein eigener Vater nicht mal das Auto anvertraut und der seine Scheiß Freunde an einer Hand abzählen kann….!“
 

„Jonas, hör auf…“, drang eine ruhige Stimme von weit weg zu mir.
 

„Ich hatte bisher nur einen Freund und der hat mich auch betrogen. Ist ja klar, ich tauge einfach nichts, ich kann nur saufen und rauchen. Ist klar, dass mich niemand attraktiv findet, ich bin nun mal ein hässliches Stück Scheiße…!“
 

Ich erschrak, als zwei Hände harsch meine Schultern ergriffen und als ich in diese schokoladigen Augen blickte.
 

„Jonas, du bist attraktiv. Du bist sehr attraktiv und du bist mir schon am Anfang des Schuljahres aufgefallen“, redete Hinrichs auf mich ein, ohne mich loszulassen und ich konnte nichts anderes tun, als die Worte, die aus seinem Mund kamen, aufzusaugen. „Du weißt ja gar nicht, wie dich die Mädchen an der Schule ansehen, mit diesem wehleidigen Blick, der verrät, dass es sie schmerzt, niemals dein zu sein. Du hast keine Ahnung, was für eine Wirkung du auf andere hast. Du bist anmaßend mysteriös und hast diesen total niedlichen, verträumten Blick drauf. Denk nicht immer so negativ über dich, mein Gott!“
 

Sein Atem kitzelte mein Gesicht, seine Hände ruhten schwer auf meinem Körper und sonderten Wärme ab. Meine Knie waren weich.
 

„Darf… darf ich dich küssen?“, flüsterte ich, weil ich meine Gedanken einfach nicht mehr kontrollieren konnte und Hinrichs erstarrte. Augenblicklich zog er sich von mir zurück und ich hätte in diesem Moment einfach nur heulen können.
 

„Das… Das geht nicht… Es tut mir leid. Das geht einfach nicht, Jonas…“, sagte er im ruhigen Ton und schaute mich entschuldigend an. „Das geht nicht…“, flüsterte er erneut, doch als ich auf ihn zuging, rührte er sich nicht. Er war lediglich drei Zentimeter größer als ich und als sich unsere Nasenspitzen berührten, blickte er mich endlich wieder an. Und dann spürte ich zu meinem eigenen, wohligen Erstaunen, wie sich seine Hände sanft um meinen Rücken wanden.
 

„Was machst du mit mir…“, wisperte er und fasste mir in den Nacken, zog mich noch weiter zu sich und ließ seine rauen Lippen auf meine sinken. Unweigerlich schloss ich die Augen und lehnte mich gegen ihn, ließ meine Handflächen auf seinen breiten Schultern ruhen. Es war fantastisch, als er meine Lippen vorsichtig mit den seinigen spreizte und seine Zunge in meinen Mund eintrat, nach meiner suchte und anfing sie spielerisch zu umkreisen.
 

Er schmeckte nach Kaffee, sein Mund war warm, seine Zunge umso heißer.
 

Abrupt beendete er seinen Kuss und stieß mich so heftig von sich, dass ich beinahe nach hinten umkippte. Ich starrte ihn verwirrt an und er fasste sich sichtlich durcheinander gebracht an den Kopf. „Scheiße…“, murmelte er. „Es tut mir leid… Das geht nicht!“
 

Ich ging langsam wieder auf ihn zu.
 

„Aber es ist passiert“, versuchte ich hart zu sagen, doch meine Stimme versagte unmittelbar. Er starrte mich an. Und plötzlich war er wieder bei mir, seine Arme fest um mich geschlungen, seine Lippen auf meinen, seine Zunge in meinem Mund. Es war kein stürmischer Kuss. Eher war er leidenschaftlich, vorsichtig und zart. Als wir unsere Münder voneinander lösten, blickte er mir tief in die Augen. Stille umgab uns. Er atmete schwer. Und ich wusste nicht, was passierte…

Verwirrung

EIn groooßes Dankeschön an ALLE Reviews, die motivieren einen ;)

Und natürlich an Mondlilie für diese schnelle Korrektur :)
 

VERWIRRUNG
 

Es war bereits dunkel, als ich meine Straße entlang ging, der beißend kalte Wind mir ins Gesicht peitschend. Der Bus war einfach nicht gekommen, ich hatte die letzten Stationen zu Fuß gehen müssen. Ich war nass, durchgefroren, verwirrt und aufgewühlt. Sauer? Er hatte nichts mehr gesagt. Er hatte mir tief in die Augen geschaut. Minutenlang. Ich wusste, dass er in seinem Innern einen harten Kampf hatte mit sich selbst ausfechten müssen. Und er hatte diesen verloren.
 

„Geh!“, hatte er mich angeschrieen und ich war zu schwach gewesen, um zu reagieren. Zu erschrocken durch seine harte Geste, durch seine Finger, die sich brutal in mein Fleisch gruben und mich regelrecht aus seinem Haus schubsten. Ich konnte den lauten Türknall noch immer in meinem Kopf vernehmen. Sturmklingeln hatte nichts gebracht. Gabriel hatte mich komplett ignoriert. Er hatte mich verstoßen. Mich im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen lassen. Nicht das erste Mal, doch dass ich mich daran gewöhnt haben sollte, konnte ich nicht behaupten.
 

Ich war mir mittlerweile nur einer einzigen Sache bewusst: Ich hatte mich in ihn verliebt. Und deswegen wünschte ich mir, ich wäre niemals auf seine letzte Einladung eingegangen. Dass es diesen intensiven Kontakt nie gegeben hätte. Dass er diese Dinge niemals zu mir gesagt hätte. Dass ich diese dämliche E-Mail einfach niemals gelesen hätte!
 

„Wo warst du denn bitte?!“, herrschte mich mein Vater direkt als Begrüßung an, als ich es noch nicht einmal geschafft hatte, meine Jacke auszuziehen und triefend nass, wie ich war, im Flur stand und ihn ansah.
 

„Weg“, antwortete ich knapp und schlüpfte zunächst aus meinen Schuhen.
 

„Aha…“, murmelte und betrachtete mich noch eine ganze Weile beim Entkleiden.
 

„Ist was?“, zischte ich, ohne ihn anzusehen. Nur aus dem Augenwinkel erhaschte ich sein Kopfschütteln.
 

„Ich hab mir vorhin Spaghetti gemacht“, wechselte er eilig das Thema, so als hätte er erraten, dass es mir momentan wirklich nicht gut ging und eine Konversation sowieso nicht zustande kommen würde. „Ich hab dir was übergelassen, du kannst es dir in der Mikrowelle warm machen.“ Mit diesem Satz verschwand er wieder in Richtung Wohnzimmer und ich schleppte mich nach oben, ließ mich auf’s Bett sinken und lauschte dem hochfahrenden Laptop.
 

Was hatte ich eigentlich erwartet? Dass ich sofort eine weitere E-Mail vorfinden würde, in der Gabriel sich entschuldigte und mich bat, wieder zurück zu kommen? Mein Posteingang war komplett leer und ich musste mich damit abfinden, dass er mir auch nicht mehr schreiben würde, weil er sich scheinbar selbst dazu zwang, mich abzuschreiben.
 

Da war es wieder.
 

Dieser kleine Sprung meines Herzens.
 

Eigentlich begehrte er mich… Das sollte ich nicht vergessen…

„Was machst du mit mir…“, hatte er gewispert und selbst die reine Erinnerung an seine samtig weiche Stimme ließ mich wohlig erschaudern. Eine seichte Wärme überkam mich und ich schloss die Augen, zeichnete sein Gesicht in meinem Kopf, malte mir seine stechenden Augen aus, stellte mir vor, wie es wäre, mit meinen Fingern durch sein Haar zu streichen, mich an ihn zu schmiegen…
 

Er hatte sich fantastisch angefühlt. Sein Körper war so warm gewesen. Seine Nähe hatte mir so gut getan. Auch wenn sie nur für wenige Sekunden bestanden hatte. Er hatte mich in meinem Innersten berührt, mit seinen Händen und vor allem seinen Worten, seinen rauen Lippen…
 

Scheiße.

Ich hatte tatsächlich mit meinem Geschichtslehrer rumgeknutscht!

Diese plötzliche Erkenntnis ließ mich lauthals auflachen. Doch nur für eine kurze Zeit. Denn dieser sich ausbreitende Schmerz in meiner Brust übernahm meine gesamte Gefühlswelt und glich sie der eisigen Landschaft, die unsere Stadt umgab, vollkommen an. Ich wusste nicht mehr, wie ich damit umgehen sollte. Ich musste das alles irgendwie vergessen...
 

Der kommende Schultag war beruhigend.
 

Keine Geschichtsstunde stand auf dem Plan. Auf dem Klo wurde ich zwar von einem Abiturienten, der eher wie ein zum Leben erwachter Muskel aussah und sich vermutlich nur von Eiweißshakes ernährte, als „dumme Schwuchtel“ bezeichnet, als ich ihm aus Versehen den Weg abschnitt, aber damit konnte ich leben. Sowas tangierte mich momentan einfach nicht. Und das Beste war: ich lief Gabriel den gesamten Tag nicht über den Weg.
 

Ich war froh, dass Inga etwas äußerst Wichtiges zu berichten hatte - ein Date mit einem Studenten, den sie am vorigen Tag zufällig in dem Café kennengelernt hatte, in dem sie sich mit ihrer Cousine hatte treffen wollen – und die gesamte Pause von ihm erzählte. Natürlich freute ich mich für sie. Aber ihre Begeisterung, die sie so offen nach Außen trug und diese strahlenden Augen versetzten mir dennoch einen tiefen Stich.
 

Ich wäre auch gern glücklich…
 

Wieder musste ich an diesen intensiven Kuss denken… An Gabriels Augen, seine Hände, seine Lippen, seine Zunge, seine Stimme…
 

„Hallo, hörst du mir überhaupt zu?!“, schreckte Ingas Stimme mich auf und ich sah sie verdutzt an.
 

„Sorry, ich war gerade abgeschweift“, murmelte ich. „Du sagtest?“
 

Und sie legte erneut los. Als wir zum Matheraum schlenderten, fragte Josh mich plötzlich: „Was ist eigentlich mit dir los?“ Erneut schaute ich verdutzt drein.
 

„Wie, was soll denn mit mir los sein?“, gab ich zurück, mit den Schultern zuckend. Josh schüttelt kurz den Kopf und schmunzelte.
 

„Das frage ich dich ja gerade. Du bist so oft in Gedanken. Willst du nicht endlich ausspucken, was los ist? Oder zwingst du uns, nachzuforschen?“, entgegnete er fest.
 

„Bloß nicht!“, rutschte es mir sofort raus und als ich Josh einen kurzen Seitenblick zu warf, war dessen rechte Augenbraue in Skepsis hochgezogen.
 

„Bloß nicht was?“, hakte er umgehend nach.
 

„Ich werd’s euch schon noch erzählen…“, log ich. „Wenn ich selber weiß, was eigentlich los ist.“
 

„Okay“, sagte er, als wir den Raum betraten und uns zu unseren Standardplätzen schleppten. „Wenn du darüber reden willst, ich hör dir immer zu.“ Ich lächelte dankbar, auch wenn ich mich schäbig fühlte, dass ich ihn angelogen hatte. Aber es war nun mal nicht möglich, ihm diese Geschichte anzuvertrauen. Schon alleine, weil ich Gabriel gesagt hatte, ich würde niemandem davon erzählen. Gabriel…
 

Ich sagte mir, ich würde stark sein.

Ich befahl mir, mich in die nächste Geschichtsstunde zu setzen und alles wie gewohnt durch zu ziehen.

Ich war mir sicher, dass ich hart genug sein könnte, um diese mich bezwingenden Gefühle schlagen zu können.
 

Doch als mich dann einige Tage später mit Inga auf dem Weg zur Geschichtsstunde befand, bekam ich weiche Knie. Erneut hatte sie die ganze Zeit von dem Studenten – Stefan – gesprochen, mit dem sie sich wieder treffen wollte, mit dem sie bereits wundervolle Stunden verbracht hatte und sich sicher war, ihn als festen Freund gewinnen zu können. Ich war erfreut und entsetzt zugleich, weil meine Gedanken immerzu zu Gabriel schweiften. Zu Hinrichs.
 

„Alter!“, sagte Inga energisch, als ich ihr mitteilte, ich würde schwänzen. „Weißt du eigentlich wie viele Fehlstunden du schon hast?!?!?! Das kannst du nicht machen!“ Sie packte mich am Arm und zog mich in den Unterricht. Ich hatte verloren, denn Gabriel (oder Hinrichs, wieder einmal war ich mir nicht sicher, wie ich ihn nennen sollte), hatte uns bereits einen kleinen (kalten) Seitenblick zugeworfen. Jetzt konnte ich nicht mehr verschwinden, ohne dass er mich aufhalten und eine Szene machen würde. Widerwillig ließ ich mich auf meinem Stuhl nieder und starrte aus dem Fenster. Inga erzählte gerade ihrer Sitznachbarin von Stefan und ich war froh deswegen. Ich war wirklich nicht in Stimmung, mich zu unterhalten. Nicht jetzt.
 

Nervosität hatte mich gepackt.

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.

All mein eigenes Einreden, die Sache zu begraben und meine Gefühle zu unterdrücken, erschien nichtexistent. Mein Herz klopfte und vor meinem inneren Auge spielten sich wieder die Szenen aus dem Hausflur ab.

Nein, ich konnte ihm heute nicht in die Augen blicken.

Wahrscheinlich nie wieder.
 

„Wir fangen an“, ertönte seine strenge Stimme, als er die Tür schloss und sich zu seinem Pult bewegte. Unruhig rutschte ich auf dem Stuhl herum, während er irgendetwas über die Demilitarisierung erzählte. Ich starrte weiterhin aus dem Fenster und versucht nicht, seiner Stimme zu lauschen und mich an die Worte zu erinnern, die er mir gesagt hatte. Diese wundervollen, schönen Worte.
 

„Erzähl uns doch etwas über den Marshall-Plan, Jonas.“
 

Ich schreckte auf, als ich meinen Namen hörte und noch mehr, als ich aufsah und er mir direkt in die Augen schaute. Er lehnte mit verschränkten Armen gegen sein Pult, die Beine leicht übereinander geschlagen. Sein Blick war hart. Ich schluckte. Marshall-Plan? Kacke, da war doch etwas. Inga fing an, mir etwas von der Seite zuzuflüstern.
 

„Hör auf ihm etwas vorzusagen, oder du darfst gerne eine dreiseitige Ausarbeitung zum Thema Marshall-Plan schreiben“, fuhr Hinrichs sie an und sie zuckte zusammen. „Sorry“, meinte ich sie noch flüstern zu hören.
 

„Hast du Seite 34-35 nicht gelesen?“, fuhr Hinrichs unbeirrt in seinem typischen, mit Vorwürfen gespickten Ton fort und umkreiste nun sein Pult. „Das war Hausaufgabe.“
 

„Tut mir leid. Hab ich vergessen…“, murmelte ich und merkte, dass ich etwas heiser klang.
 

„Mit deinen Fehlstunden, sollte dir das auch leid tun“, sagte er streng und blätterte in seinem kleinen, hässlichen roten Lehrerbüchlein, in dem er die Anwesenheit und Noten penibel eintrug. Ich merkte, wie mir einige meiner Schüler hässliche, zum Teil aber auch bemitleidende Blicke zuwarfen. Marie, die eigentliche Streberin, verdrehte die Augen. Auch sie hasste Hinrichs Umgangsweise mit den Schülern.
 

„Können wir einfach im Stoff weitermachen?“, fragte sie ihn genervt und warf mir einen „mach dir nichts draus“-Blick zu.
 

„Würde ich ja gern, aber Jonas verhindert das“, antwortete er ruhig und Marie stockte für eine Sekunde.
 

„Ich weiß aber, was der Marshall-Plan ist“, sagte sie und setzte zu ihrer Antwort an, doch Hinrichs schnitt ihr einfach das Wort ab.
 

„Ich habe dich aber nicht dran genommen“, sagte er kalt und fuhr dann, ohne mich eines Blickes zu würdigen fort: „Jonas, zur nächsten Stunde möchte ich von dir die dreiseitige Ausarbeitung haben.“ Dann sah er sich in der Klasse um und nahm extra die Schüler dran, von denen er einfach wusste, dass sie die Hausaufgaben ebenso nicht gemacht hatten. Insgesamt verteilte er noch zwei Extraausarbeitungen. So ein…
 

Der Gong ertönte.

Als ich an seinem Pult vorbeiging, hielt er mich auf.
 

„Ich hab’s mir anders überlegt“, sagte er, ohne von seinen Notizen aufzuschauen. „Ich will, dass du ein Referat über den Marshall-Plan hältst. Nächste Woche Donnerstag, 10 Minuten, OK?“
 

Ich verließ schweigend den Raum.

Am liebsten hätte ich ihm eine reingehauen.

ER WUSSTE, DASS REFERATE MIR SCHWER FIELEN!
 

„So ein Wichser!“, fluchten wir alle vier, während wir oben im 6. Stock rauchten und aus dem Fenster starrten. Inga schüttelte genervt den Kopf.
 

„Er ist wahrscheinlich auch so ein homophobes Arschloch, das dich extra piesackt, weil er sich dann sicherer fühlt. Wichser!“, fluchte sie und mir wurde bei ihren Worten ganz kalt, aber ich nickte tapfer und nahm einen weiteren Zug meiner Zigarette.
 

„Das schaffst du schon“, sagte Martin. „Du musst echt so tun, als würde es dir leicht fallen. Dann hat er verloren!“
 

„Referate fallen mir aber nun mal richtig schwer!“, zischte ich wütend. „Ich hasse Referate!!!“
 

„Ich weiß…“, murmelte Martin und seufzte.
 

Der Tag war scheiße.

Einfach nur scheiße.

Ich fühlte mich wie ein zu oft getretener Hund, der dann auch noch vor die Haustür gesetzt wurde. Und dazu war ich auch noch wütend. So sauer, dass ich meinte, mein Kopf hätte die Farbe einer überreifen Tomate angenommen. Zudem entdeckte ich auch noch, dass ich meine dämliche, dicke Strickjacke, die ich unter der Winterjacke trug, im ebenso beschissenen Klassenzimmer hatte liegen lassen. Unserem Geschichtsraum.
 

Ich verabschiedete mich von meinen drei Freunden und stampfte den leeren Flur entlang. Entweder waren die anderen Schüler zur siebten Stunde bereits in ihren Klassenräumen eingesperrt worden, oder sie befanden sich längst auf dem Heimweg. Ich Idiot würde meinen Bus verpassen und diese Tatsache machte mich nur noch rasender.
 

Ich stampfte in den Raum und bekam noch gerade die letzten Sätze mit, die Hinrichs mit einem Schüler wechselte, den ich vom Biologiekurs kannte und der noch schüchterner vor der gesamten Klasse war, als ich.
 

„Kein Aber, wenn ich Referat sage, dann meine ich Referat“, schnauzte Hinrichs den Schüler an, der wütend seine Schultasche schnappte und „ist ja gut!“, schon fast zurückbellte. Er rauschte an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Er war wohl genauso angepisst wie ich und knallte die Tür laut zu. Ich grinste kalt und schüttelte den Kopf. Im selben Moment sah Hinrichs mich an. „Sieh an, auch hier, um mich wegen des Referates anzubetteln?“, sprach er mich kalt an.
 

Ich ignorierte ihn und lief zu meinem Platz, doch die Strickjacke war weg. Na toll.
 

„Suchst du deine Strickjacke?“, fragte er plötzlich und ich wirbelte herum.
 

„Ja“, antwortete ich knapp und hart. „Haben Sie sie gesehen?“, fragte ich ausdruckslos.
 

„Ja, ich habe sie dorthin gehangen“, entgegnete er und deutete auf den Hacken in der vorderen Ecke des Raumes, rechts von der Tafel.
 

„Danke“, sagte ich kurz und marschierte zum Haken.
 

„Deine Fehlzeiten überschreiten das Maximum bereits“, sprach er unberührt weiter, seine Nase in dieses eklige rote Heft vergraben. „Ich denke, das wird ein satter Unterkurs und ich werde eine Konferenz wegen dir einberufen müssen…“ Dies war der Satz, der mir einen kalten Schauer über den Rücken kriechen ließ, der meine Knie weich machte und gleichzeitig das letzte mentale Seil durchtrennte, welches meinen Ärger noch zu zügeln vermochte.
 

„Du weißt ganz genau, warum ich so oft nicht da war, du Arschloch!“, brüllte ich ihn regelrecht an und knallte meine Handfläche aufs Pult, was ihn erschreckte. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er mich an – und erhob sich, baute sich vor mir auf, sein Blick von Zorn gezeichnet und von Überraschung.
 

„Was erlaubst du dir eigentlich?!“, zischte er und ging einen Schritt auf mich zu.
 

„Wieso bist du eigentlich so unfassbar scheiße?“, fragte ich ihn weiter und eine Antwort blieb ihm im Hals stecken. „Wieso verhältst du dich wie das letzte Arschloch und bist so unglaublich unfair und sadistisch zu deinen Schülern?“ Nein, ich dachte nicht nach, alles floss einfach aus mir heraus, so als wäre ein Damm gebrochen und das Wasser würde einen freigelegten Weg entlang rauschen.
 

„Weil…“, sagte er hart, doch erneut führte er seinen Satz nicht zu Ende. Ich war kurz davor zu explodieren, ich zitterte und mein Kopf fühlte sich warm an.
 

„WEIL?!“, schrie ich und es war mir egal, ob uns jemand hören würde. Ich schluckte kurz, als er noch einen weiteren Schritt auf mich zuging, doch ich wollte nicht zurückweichen! Er würde mir keine Angst einjagen, er… ergriff mein Gesicht mit beiden Händen und presste seine Lippen hart auf die meinigen.
 

Im ersten Augenblick wurde mir schwarz vor Augen. Vor Überraschung, Wut, Freude, all diesen Gefühlen, die sich zu einem explosiven Gemisch vermengten, das mich dazu brachte, mich zu verkrampfen. Ich erschrak leicht, als seine Zunge langsam über meine Unterlippe strich. Diese sanfte Bewegung war es, die alles wie ein Orkan hinwegfegte, die mich meine Augen schließen ließ; meine Muskeln entspannten sich und ich öffnete ganz leicht meinen Mund.
 

Ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlte, als unsere Zungen ein weiteres Mal aufeinander trafen, sich umkreisten, wie bei einem Tanz; als er seine Arme vollends um mich schlang und seine Hände unter meinen Pullover wanderten, das erste Mal meine Haut berührten, sanft über meinen Rücken glitten; als ich gegen ihn lehnte, und unseren Körperkontakt intensivierte, seine Brust an meine gepresst spüren konnte.
 

Als wir den Kuss brachen, blickte er mir tief in die Augen, ohne von mir abzulassen.
 

„Damit so etwas nicht passiert…“, flüsterte er schließlich als Antwort auf meine im Zorn geäußerte Frage und er sah dabei so zerbrechlich aus, ein Anblick, den ich für unmöglich gehalten hatte. Ich musste schlucken und sah mich nicht in der Lage, etwas zu sagen. Minutenlang standen wir aneinandergepresst im leeren Klassenzimmer und gerade, als er etwas sagen wollte, hörten wir sich annähernde Schritte.
 

Wie zwei aufgeschreckte Katzen sprangen wir auf und brachten etwa zwei Meter Freiraum zwischen uns. Eilig schnappte ich mir meine Strickjacke und wir blieben still, unsere Blicke auf die Tür gerichtet. Die Schritte und einige aufgebrachte Jungenstimmen entfernten sich. Erst als es wieder komplett ruhig war, wagten wir es, uns zu bewegen, uns erneut anzusehen.
 

„Was… Was jetzt?“, brachte ich heraus, als ich erkannte, dass Gabriel nichts sagen würde.
 

Langsam ließ er sich auf sein Pult nieder und strich sich mit einer Hand übers Gesicht. Er seufzte schwer und starrte eine Weile den Boden an. Stille umgab uns. Dann richtete er seinen Blick wieder auf mich. „Du weißt, dass das nicht geht“, sagte er ruhig, ohne wirklich zu überzeugend zu klingen. Mein Herz fing an in einem rasanten Tempo zu schlagen. „Ich bin dein Lehrer…“
 

„Und was wäre, wenn ich nicht dein Schüler wäre?“, fragte ich erneut.
 

„Fangen wir wieder mit diesem Spielchen an?“, hakte er traurig lächelnd nach. Ich nickte. „Dann wärst du mir einfach zu jung…“, fügte er milde hinzu und schaute zu Boden.
 

„Es gibt Krasseres…“, sagte ich, wie schon einige Tage zuvor.
 

Wir schwiegen. Und dann schaute er mir erneut in die Augen.
 

„Ich will dich…“, wisperte er und mein Herz blieb beinahe stehen. „Aber es geht nicht…“
 

„Natürlich geht es! Ich will es, du willst es, was ist das Problem?!“, gab ich leise zurück.
 

Er lachte traurig. „Jonas, wie oft soll ich es noch sagen, du bist mein Schüler! Ich könnte meinen Job verlieren und es könnte sogar noch viel schlimmer kommen, wenn das rauskommen würde!“
 

„Wieso zum Teufel küsst du mich dann ein zweites Mal?!“, herrschte ich ihn an. „Wenn du mich verarschst und nur mit mir spielst ist das nicht so schlimm, wie mit mir zusammen zu sein, oder was?!“
 

„Ich hatte mich nicht unter Kontrolle!“, gab er lauter zurück und erhob sich wieder vom Pult. „Es ist meine Schuld, okay? Ich bin ein furchtbarer Lehrer, okay? Ich hab wieder einen Fehler gemacht, okay? Ich kann mich bei dir einfach nicht zurückhalten, okay?“, fluchte er, mit seinen Armen gestikulierend.
 

„Dann halt dich nicht zurück…“, wisperte ich und sah aus dem Fenster. Es tat weh. Es schmerzte fürchterlich als „Fehler“ bezeichnet zu werden. So kurz vor dem Ziel zu sein und sich doch in einer so aussichtslosen und fatalen Situation zu befinden, in der es keine Regeln gab. Oder besser gesagt: Die ein Verstoß gegen die Regeln war.
 

Gabriel seufzte ein weiteres Mal und strich sich fahrig durchs eigene Gesicht, als würde er all seine Frustration damit loswerden oder auf irgendeine Lösung kommen können.
 

„Und wie stellst du dir das vor?“, wandte er sich plötzlich wieder an mich. Ich konnte seine Laune anhand seiner Augen nicht ablesen. „Sagen wir mal, wir fangen diese Beziehung an. Wie stellst du dir das vor? Wir würden uns heimlich treffen müssen, du dürftest niemandem davon erzählen. Wir würden nicht hier in der Stadt spazieren gehen können. In der Schule müsstest du absolut so tun, als würdest du mich weiterhin hassen. Wenn all deine Freunde irgendwo hingehen werden mit ihren festen Freundinnen oder Freunden, wirst du allein sein müssen. Es würde keine Videoabende mit Freunden geben, du müsstest alle belügen, auch deine eigene Familie. Verstehst du das Jonas?“, redete er energisch auf mich ein. „Und glaub mir, es ist schon schwer genug, meine Sexualität an der Schule geheim zu halten und wann immer ich einen festen Freund hatte, war es schwer, sich bedeckt zu halten. Aber mit dir… Das wäre… noch schlimmer für mich.“
 

Ich hatte es nicht bemerkt, doch jetzt, da diese heißen Tränen über meine Wangen liefen, spürte ich dieses Brennen hinter meinen Augenliedern und ebenso in meiner Brust, meinem Hals. Ich biss auf meine Unterlippe, um mich vom Weinen abzuhalten. Ich wollte ihn so sehr! Doch alles, was er sagte, war wahr. Alles was er sagte schmerzte mich, es traf mich wie ein spitzer Pfeil. Und dennoch konnte dieser Angriff meine bereits blühenden Gefühle für ihn nicht unterdrücken. Vielleicht nannte man so etwas ja auch Naivität oder auch Beharrlichkeit.
 

„Aber du weißt doch gar nicht…“, setzte ich stotternd ein und musste erstmal meine Tränen wegwischen und mich räuspern, um überhaupt weiter zu sprechen. Gabriel schaute mich mit einer traurigen Miene an. „Du weißt doch gar nicht, wie es sich anfühlen wird mit mir… Wir… haben’s ja noch nicht mal versucht!“
 

„Aber du hasst mich doch!“, antwortete er umgehend, seine Stimme bebend. „Ach, der dumme Hinrichs, dieser Wichser!“, imitierte er mich. „Denkst du, so etwas bleibt einem als Lehrer verborgen?“
 

Ich schluckte.

Wir schauten uns an.

Brachen den Augenkontakt nicht ab.
 

Ich holte Luft.
 

„Ja, ich hasse Hinrichs“, sagte ich schließlich und sah ihm direkt in die Augen. „Weil er ein unfairer, schlecht gelaunter Lehrer ist und immer auf allen rumhackt und ungerecht ist.“ Meine Stimme zitterte, doch ich fuhr fort. „Aber Gabriel, oder Rob, je nachdem wie man das sehen will… ist anders. Er ist… toll…“
 

Stille umgab uns und Gabriels Mund stand halb offen, sein Blick verwundert, verletzt?
 

Er verdeckte sein Gesicht mit beiden Händen und seufzte laut. Dann schüttelte er den Kopf und sah mich wieder an. Erneut schien er einen inneren Kampf auszufechten. Und dieses Mal… gewann er.
 

„Sag mir einfach, dass du es ernst meinst und nicht einfach geil auf nen Lehrer-Schüler-Fick bist“, murmelte er, während er mir direkt in die Augen sah.
 

„Ich meine es ernst!“, gab ich fest kund und er seufzte erneut.
 

„Scheiße…“, murmelte er, wie zu sich selbst, und ließ seine Schultern leicht hängen, schloss die Augen. Ich war nicht imstande mich zu bewegen, geschweige denn meine Augen von ihm zu reißen. Ich wartete. Ich zitterte. Ich betete zu einem namenlosen Gott. Als er seine Augen erneut auf mich richtete, zuckte ich unmerklich zusammen. Abermals entwich ein Seufzen seinem Mund und ein angedeutetes, mattes Lächeln formte sich auf seinen Lippen.
 

„Wir sollten uns auf dem Schulgelände nicht küssen… Das ist einfach zu riskant. Okay?“, richtete er seine Worte an mich und ich brauchte zunächst einige Sekunden, um zu realisieren, was Gabriel da eben gesagt hatte und was sein Satz bedeutete.
 

„Heißt das…?“, sagte ich, da stand er schon bei mir.
 

„Setz dich in den Bus und komm zu mir. Ich kann dich nicht mit dem Auto mitnehmen, das ganze Lehrerzimmer ist noch voll, alles klar? Ich werde auf dich warten, okay?“, fragte er mich und ich nickte einfach nur. „Okay… Dann… Bis später“, waren seine letzten Worte, nach denen er sich schnell seine Tasche schnappte
 

War ich in Trance?
 

Mir war so, als würde mich den gesamten Weg eine Art Nebel umgeben. Vermutlich hatte ich sogar Angst, ich würde aus diesem Traum erwachen und der bitteren Realität ins Auge blicken. Aber die Realität war zur Zeit gar nicht bitter. Nein, sie war das Gegenteil. Sie war süß. Zuckersüß, so wie auch der Duft war, der mir entgegenwehte, als Gabriel die Tür öffnete und mich eilig hineinwinkte.
 

„Wir müssen auch wegen der Nachbarn aufpassen und uns etwas ausdenken“, sagte er, als er durch den Türspalt hinausspähte und die Tür dann schloss und seinen Blick auf mich richtete. Ich schluckte. Wir standen in dem Flur, in dem wir uns das letzte Mal geküsst hatten. Kurz bevor er mich rausgeworfen hatte. Und nun wusste ich abermals nicht, wie ich mich zu verhalten hatte, nun, da wir mehr oder weniger „offiziell“ zusammen waren…
 

Oh, mein Gott.

Erst hier in seinem Flur, mit seinem Blick auf mich gerichtet, erfasste mich diese Realisation.
 

Wie in Zeitlupe spielten sich die folgenden Szenen ab, in denen Gabriel an mich herantrat und mir zunächst einen kleinen Kuss auf die Wange hauchte; in denen wir einander anschauten und uns anlächelten und die Arme auf die Hüften des jeweils anderen legten; Szenen, in denen wir uns abermals innig küssten und umarmten. Und dieser süße Duft war immer noch präsent.
 

„Ich hab uns Pfannkuchen gemacht…“, erklärte Gabriel mir plötzlich, so als hätte er meine Gedanken gelesen.
 

„Die mag ich total…“, antwortete ich und immer noch ließen wir nicht voneinander ab. Er fühlte sich perfekt an, es war so wunderschön von jemandem festgehalten zu werden, von Gabriel festgehalten zu werden.
 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis wir uns endlich in die Küche bewegten, die leckeren Pfannkuchen aßen, die Gabriel zubereitet hatte und er mir endlich den Rest seines Hauses zeigte. Mir wurde bei der Betrachtung des im dunkelrot gehaltenen Schlafzimmers etwas kribbelig, vor allem als meine Augen an dem gemütlich aussehendem Doppelbett hängen blieben und sich in meinem Kopf automatisch zig Fantasien abspielten…
 

Und dann saßen wir den Rest des Tages auf dem Sofa, schauten uns „High Noon“ und noch einen weiteren Western an, auch wenn ich nicht wirklich viel von den Klassikern mitbekam, da ich Gabriel als weit interessanter befand und meine Augen ständig zu ihm wanderten, meine Sinne sich auf seine Finger konzentrierten, die unablässig über meine Hand strichen, die ich frech auf seinem Oberschenkel platziert hatte. Nach einer Weile hatte er sogar seinen Arm um mich gelegt und mir einige zarte Küsse auf die Stirn gehaucht.
 

Als der zweite Film zu Ende war, knipste er den Fernseher aus und dafür die Anlage wieder an. Irgendein Oldie-Radiosender lief. Gabriel lächelte und rutschte wieder zu mir aufs Sofa. Wir küssten uns erneut, leidenschaftlich, tief, atemberaubend.

Und dann klingelte mein Handy.

Es war mein Vater.

„Sag mal, wo bleibst du bitte?!?!“, ertönte seine gereizte und durch die Leitung ganz leicht verzerrte Stimme. Oh, Scheiße! Den hatte ich völlig vergessen. Ich versuchte ihn zu beruhigen und entschuldigte mich, tischte ihm die Lüge auf, ich sei noch mit Martin in die Stadt gegangen und wir hätten einfach die Zeit vergessen. Er beruhigte sich ein wenig und ich sagte ihm, ich würde in den kommenden Stunden zuhause eintrudeln.
 

Als ich mein Handy ausschaltete, hörte ich Gabriel weich seufzen.
 

„Darüber müssen wir wohl auch noch reden, was?“, wendete ich mich leicht grinsend an ihn.
 

„Wir müssen noch über vieles reden“, entgegnete er schließlich, als ich mich wieder zu ihm setzte und er seinen Arm nur langsam um meine Schultern legte. Ich schmiegte mich an ihn und nahm meinen Mut zusammen, bewegte meinen Kopf noch weiter in seine Richtung und ließ meine Lippen auf die seinigen sinken. Er kam mir mit seinen entgegen, erwiderte meinen zaghaften Kuss und ließ seine Finger sachte durch mein Haar streicheln. Er lächelte traurig, als wir den Kuss lösten.
 

Und dann sprachen wir noch lange miteinander.
 

„Ich hätte niemals gedacht, dass… dass es so weit kommen würde“, sagte er zum tausendsten Male lachend und sah mich dabei an. „Ich hatte mir wirklich vorgenommen, niemals etwas mit einem Schüler anzufangen. Ehrlich gesagt, hatte ich auch nie dran geglaubt, dass ich mich in einen meiner Schüler vergucken würde und dieser meine Gefühle erwidern würde…“
 

„Jetzt kannst du aber auch nichts daran ändern“, feixte ich.
 

„Ja, das geht wohl jetzt nicht mehr“, gab er in seinen Gedanken verloren zurück.
 

Wir sprachen darüber, dass wir seinen Nachbarn, sollten sie fragen, erzählen würden, ich sei sein Nachhilfeschüler, da sein Gehalt als Oberstufenlehrer einfach nicht ausreichte; meinen Freunden würde ich heftigere Lügen auftischen müssen, wenn es um Treffen ging, aber darüber wollte ich mir noch keine Gedanken machen. Nein, ich wollte es mir nicht versauen, diese Momente hier in seinen Armen, auch wenn Gabriel mir beharrlich und mit ernster Stimme einzutrichtern versuchte, dass ich mir ständig im Klaren über „unsere Situation“ sein müsste und mich kein einziges Mal vergessen dürfte. Aber nein... Ich wollte noch nicht darüber nachdenken.
 

Obwohl mir schon klar war, dass es hart werden würde.
 

War es auch.
 

Als ich zusammen mit Inga, die nun tatsächlich mit Stefan zusammen war und fast gar nichts mehr um sich herum mitbekam, den Flur entlang ging, pochte mein Herz bei jedem Schritt, mit dem ich mich näher zu Gabriel bewegte. Als wir den Raum betraten war es so, als würde ich zum aller ersten Mal eine für mich völlig fremde Welt betreten, obwohl alles so war wie immer. Der Lärm der sich annähernden Schüler, das Quietschen der Tische und Stühle, die eingenommen wurden, der Wirrwarr der Stimmen, die gequälten Gesichter, die jetzt alles andere lieber gemacht hätten als hier mit ihrem Lehrer die Geschichtsstunde zu bestreiten.

Mit Gabriel.

Mit Hinrichs.
 

Er saß bereits am Pult, las irgendein Magazin, ohne den Kopf auch nur einmal zu heben. Es blieben noch exakt drei Minuten bis zum Beginn der Stunde. Ich fühlte mich wie ein Sportler, vor einem wichtigen Wettkampf, der sich die gesamte Zeit seiner Vorbereitung durch den Kopf gehen ließ, auf das Getane zurückblickte, seine Sinne schärfte und seinen Körper auf die zu erbringende Leistung vorbereitete.
 

Ich schreckte auf, als ich ihn die Tür schließen hörte und seine Stimme wie aus dem Off zu mir drang: „Die Stunde geht los.“ Ich wollte es verhindern, aber ich musste ihn umgehend ansehen, ihn dabei betrachten, wie er sich wieder zum Pult bewegte, in seiner grauen, etwas weiteren Hose und dem dunkelgrünen, engeren Hemd, wie er seine Augen über die erste Reihe wandern ließ und jemanden zum Vorlesen benannte.

Speichel sammelte sich in meinem Mund und es passierte genau das, was ich hatte zu verhindern versucht: Bilder unseres Zusammenseins, der innigen Küsse, flossen in mein Gedächtnis; es war ein Film, den ich nicht abschalten konnte und der mein gesamtes Denken einnahm, keinen Platz mehr für die Realität bot. Ich wusste, dass es falsch war, aber ich versucht dennoch nicht einmal, diesen Fluss zu stoppen.
 

Er wurde von jemand anderem gestoppt.

Von Gabriel.

Von Herr Hinrichs.
 

„Jonas, dein Referat?“, wandte er sich an mich und ich stolperte, als ich mich viel zu eilig von meinem Platz erhob und meine wenigen Karteikarten aufsammelte, die dadurch natürlich auf den Boden gefallen waren. Es gelang mir nicht das Kichern, welches von einigen Ecken des Raumes zu mir zu dringen schien, zu ignorieren und dieses Gefühl der leichten Beschämtheit wegzustecken und mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Gabriels Blick, der auf mich gerichtet war, machte alles nur noch schlimmer.
 

Hinrichs Blick!
 

Ich musste bereits jetzt schon daran anfangen, Gabriel an der Schule als Herr Hinrichs zu sehen; den Lehrer, den ich hasste und nicht den Kerl, mit dem ich zusammen war...

Wow, es war immer noch unbeschreiblich diesen Fakt selbst in meinem Kopf zu äußern...

Und mit diesem Gedankengang verpasste ich mir selbst eine imaginäre Ohrfeige und zwang mich, nicht in seine Richtung zu sehen, sondern mich vor der Tafel hinzustellen, einen Punkt an der hinteren Wand des Raumes anzuvisieren und mein Kurzreferat einfach herunter zu rattern.
 

Er hatte mir geholfen.

Vor zwei Tagen.

Ganz offiziell hier an der Schule, im kleinen Raum 101, als mein Lehrer und selbst als ich unterm Tisch meine Hand auf sein Knie gelegt hatte, hatte er sie weggeschlagen und mich kurz daran erinnert, dass wir an der Schule „nur Lehrer und Schüler“ waren. „Und vergiss nicht“, hatte er gesagt. „du hegst immer noch großen Hass auf mich, auch wenn ich dir geholfen habe!“
 

Und den Hass auf ihn in diesem Moment zu spüren, in dem alle gelangweilten Augen auf mir ruhten und ich leicht ins Stottern abschweifte war gar nicht sooo schwer; Minuten kamen mir wie Stunden hier vorne vor. Und ich hätte auch direkt auf Hinrichs losgehen können, weil er mir am Ende meines erbärmlichen Vortrages auch noch detaillierter Fragen stellte – so wie er es immer tat. Natürlich wusste ich die Antworten teilweise, schließlich hatte ich mich wirklich konzentriert, als wir das Thema zusammen aufgearbeitet hatten, aber es war mir trotz dieser Tatsache unangenehm vor der Klasse zu verweilen.
 

Noch unangenehmer war es, Gabriel, nein, Hinrichs, dabei sporadisch in die Augen blicken zu müssen, mit ihm vor den anderen zu sprechen, mit all diesen neuen Emotionen und Geschehnissen, die wir erst so frisch geteilt hatten. Mir wurde in diesen Augenblicken klar, dass ich wirklich hart an mir arbeiten müsste... So wie er es mir eingebläut hatte.
 

„Gut, du darfst dich setzen“, waren seine letzten Worte, die er an diesem Tag an mich richtete und ich kann nicht beschreiben, was für ein Glücksgefühl mich beflügelte, als ich endlich wieder an meinem Platz saß und mehr oder weniger ungestört aus dem Fenster blicken konnte, auch wenn ich mich nicht davon abhalten konnte, seiner Stimme zu lauschen und mich immer wieder ermahnte, eher auf den von ihm durchgenommenen Stoff zu achten und mir nicht in meiner Fantasie auszumalen, wie er gewisse Dinge in mein Ohr säuselte.
 

Wir sprachen während der nächsten Tage nicht miteinander.
 

Ich lag auf meinem Bett und starrte mein Handy an, scrollte immer wieder zu seiner Nummer und las unentwegt seinen Namen, als wäre diese einzige Bezeichnung ein mich fesselndes Buch mit nie endenden Seiten und aufregenden Abenteuern, die einen aus der Wirklichkeit entführten und in fremde Welten lockten, zum Träumen verleiteten und die Lust der Wiederkehr vollkommen verbannten. So oft war ich an diesen zwei Tagen kurz davor ihn anzurufen, einfach nur, um seine Stimme zu hören oder ihm von den leckeren Nudeln zu erzählen, die ich mir selber gekocht hatte – auch wenn er darüber wahrscheinlich nur lachen würde. Aber ich tat es nicht, weil er mir bei unserem Lerntreffen gesagt hatte, wir würden keinen Kontakt haben bis Samstag.
 

Ja, Samstag...

Ich sollte Samstag zu ihm kommen.

An nichts anderes konnte ich mehr denken, bereits Freitag war ich schon so nervös, dass ich eine Stunde vor meinem Weckerklingeln erwachte und dennoch beinahe zu spät zur Schule kam, weil ich viel zu lang damit verbrachte Musik zu hören und durch das Haus zu wandern – an ihn zu denken.
 

Erst unvermittelt vor dem Klassenraum überkam mich die Realisation, dass ich meinen Freunden etwas vorheucheln müsste, dass ich so tun müsste, als sei alles beim Alten. Sie durften meine Aufregung auf keinen Fall zu spüren bekommen! Ich begann mir bereits Ausreden für den heutigen Abend bereit zu legen. Doch Josh und Martin waren einfach zu müde, weil sie die gesamte Nacht World of Warcraft gezockt hatten, eine Angewohnheit, die in den letzten Wochen wieder aufgekeimt war, und Inga war eh an diesem Tag mit Stefan verabredet und informierte uns strahlend über den geplanten Kinobesuch. Und sie schwänzte die letzte Stunde, um sich noch schnell ein neues Outfit zu kaufen. Ich ging mit einem zufriedenen Gefühl nach Hause. Ich hatte gar nicht lügen müssen!
 

Ich fragte mich, ob es so weitergehen würde...
 

Ich war so nervös, als ich Gabriels Haus am frühen Samstagnachmittag betrat. „Hi“, begrüßte er mich sanft lächelnd und er war mit Geschichts-Hinrichs alles andere als vergleichbar; Gabriel war wirklich ein vollkommen anderer Mensch. „Was hast du gestern schönes getrieben?“, fragte er mich, während ich mich meiner Jacke entledigte.
 

„Nichts“, gab ich zu, verschwieg ihm jedoch, dass ich die halbe Nacht nicht hatte schlafen können, weil ich so aufgewühlt war bezüglich unseres Treffens. „Und du?“
 

„Ich habe gestern meinen Unterricht fürs nächste Woche vorbereitet und mich dann noch auf ein Bier mit einigen Kollegen getroffen, im Irish Pub“, erklärte er, während wir schon im Wohnzimmer standen und er die Musik etwas leiser drehte.
 

„Oh, Lehrer haben also doch ein Privatleben!“, witzelte ich und er antwortete grinsend: „Wir sind cooler als du denkst.“
 

„Ja, aber scheinbar nur außerhalb der Unterrichtsstunden“, kommentierte ich etwas spöttisch und Gabriel betrachtete mich erwartungsvoll. „Die Extrafragen nach dem Referat hätten doch wohl nicht sein müssen. Dass ich vorbereitet war, wusstest du doch schon längst.“
 

„Ach, das meinst du“, sagt er glucksend. „Ich stelle nach jedem Referat Fragen, wenn einige Aspekte mir zu kurz gekommen sind.“
 

„Ach, Quatsch!“, schnitt ich ihm frech das Wort ab und warf mich ihn angrinsend auf sein Sofa, die Beine übereinander schlagend. „Du willst genau nachprüfen, ob man sich auch wirklich aufs Referat vorbereitet hat oder, wenn du genau weißt, dass dies nicht der Fall ist, um uns vor der Klasse vorzuführen und uns so richtig in Verlegenheit zu bringen!“, konterte ich selbstsicher. Gabriel verschränkte die Arme vor seiner Brust und schaute etwas blasiert wirkend auf mich herab. Und dann lachte er und seine Haltung entspannte sich wieder.
 

„Vielleicht hast du ja ein wenig recht“, gab er zu, zwar immer noch ein bisschen süffisant, aber in seinem Gesicht spiegelte sich Wärme wider. „Aber zum Meckern hast du doch eh keinen Grund, mein Lieber“, fuhr er fort und schubste meine Beine mit einem leichten Ruck von der Sitzfläche, auf der er sich dann niederließ und seinen Kopf wieder in meine Richtung neigte. „Ich habe gerade deinen Kopf aus der Schlinge gezogen“, erklärte er dann zufrieden und ich setzte mich vollends auf.
 

„Wovon redest du?“, hakte ich nach und das zufriedene Lächeln auf seinem Gesicht wurde noch größer.
 

„Von deinen Fehlstunden…“
 

„Oh…“
 

„Es wird keine Konferenz geben. Du musst einfach eine längere Arbeit bei mir abgeben und dann war’s das“, beendete er seinen Satz und ich verschluckte mich beinahe, als seine Worte ihren Weg in meinen Kopf fanden.
 

„Waaaas?“
 

„Wie wäre es mit einem ‚Danke’?“, witzelte er und ich beugte mich noch näher zu ihm, bis unsere Lippen aufeinander trafen.
 

„Danke“, schnurrte ich und verteilte auch noch kleine Küsse auf seiner rauen Wange. Verdammt, dieser Drei-Tage-Bart stand ihm echt! „Dein Outfit am Donnerstag hat mir gefallen“, bemerkte ich, während ich weiter voller Faszination seine Wangenknochen studierte.
 

„Oh, wirklich?“ Er klang etwas erstaunt.
 

„Mhhmm…“, machte ich. „Grün steht dir irgendwie.“
 

Er lachte leise. „Danke.“
 

Lassie sprang aufs Sofa, die Pfote mittlerweile geheilt und wir fingen beide an sie zu kraulen. Wir spielten mit ihr, wir kochten zusammen, wir spielten eine Runde Karten und kuschelten wieder. Bis Josh anrief. Und der wollte sich mit mir und Inga treffen.
 

„Wenn du anfängst, deinen Freunden öfter als sonst abzusagen, dann werden die schon merken, dass da etwas faul ist“, erklärte Gabriel beschwichtigend und ernst und ich sagte ihm an diesem frühen Samstagabend schweren Herzens „auf Wiedersehen“ – und dann knutschten wir noch einige Minuten in seinem Flur und ich erschauderte, als er seine Hände unter meinen Pullover wandern ließ und mir unverfroren über meine nackte Brust und meinen Bauch strich; ich lehnte mich noch mehr in den Kuss und seine Zunge erschien mir noch heißer als sonst. Doch nur für wenige Sekunden, denn dann löste er den Körperkontakt komplett.
 

„Du musst gehen, sie warten auf dich“, sagte er leise und ich nickte bedächtig.
 

Ich beeilte mich, um die nächste Straßenbahn zu bekommen, die mich ins Zentrum brachte. Den Rest des Weges rannte ich. Wir waren in einem dieser riesigen Einkaufszentren verabredet, in denen der Winter nur in Form von teuren Mänteln und Wintersportgeräten existierte und in dem das ganze Jahr über Eis serviert wurde. Welches wir auch nun aßen, Inga, Josh und ich.
 

Ich war froh, dass wir nur Smalltalk betrieben und Inga uns danach wieder mit Stefan zuquatschte. Sie wollte ihn uns schon bald vorstellen.
 

Zugegeben.

Momentan war es mir egal.

Denn meine Gedanken kreisten unentwegt um Gabriel. Um uns.
 

Was ich auch in den kommenden Tagen rein gar nicht veränderte.
 

Es war seltsam ihn in der Schule zu sehen und so tun zu müssen, als wäre er nichtexistent für mich. Als würde ich ihn verabscheuen. Während des Unterrichts warf er mir keinen einzigen Blick zu, der darauf schließen könnte, dass sich so etwas wie Wärme zwischen uns entwickelt hatte, dass wir uns nahe standen. Er war absolut kalt, absolut resistent, der typische, schlecht gelaunte Lehrer. Und wenn ich etwas nicht wusste, keifte er mich wie alle anderen Schüler an. Und wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, dann gab er mir Extraaufgaben – bei denen er mir dann, wenn wir uns denn sehen konnten, half; mir den Rücken massierte, während ich schrieb oder recherchierte. Und dann gab es immer einen innigen Belohnungskuss…
 

Es war Dienstag, als Josh und ich zusammen zur Cafeteria schlenderten.
 

„Und?“, setzte er nach einer Weile an. „Weißt du jetzt eigentlich, was mit dir los ist?“
 

Ich verzog meinen Mund. „Nein, nicht wirklich“, entgegnete ich dann etwas säuerlich und seufzte. Eigentlich wusste ich momentan genau, was los war. Gabriel und ich waren, was… vier oder fünf Wochen bereits zusammen und wir hatten noch keinen einzigen, wirklichen intimen Kontakt gehabt… Alles, was bisher in eine tiefere Richtung gedeutet hätte, waren seine Hände unter meinem Pullover. Die ihren Weg noch nicht mal zu meinem Hosenbund gefunden hatten.
 

Es war an diesem Tag, dass ich einen Entschluss fasste.
 

Die restlichen Tage der Woche waren ruhig. Und ich verhielt mich auch meinem Vater gegenüber fair und zahm wie ein Lamm. Ich machte pflichtbewusst meine Geschichtshausaufgaben und arbeitete in einem Schwung auch noch den Rest der Fächer durch. Vielleicht war Gabriel ja auch wirklich die lebende Motivation für mich. Schließlich war er Lehrer und der Gedanke daran, dass ich ein Schüler mit mittelmäßigen Noten wäre, ließ mich beschämt erröten. Ich musste etwas dagegen tun, damit er stolz auf mich wäre und ich ihm wenigstens ein bisschen als ebenbürtiger Partner gegenübertreten könnte.
 

Natürlich wollte ich meinen Vater diese Woche auch auf eine gewisse Weise beschwichtigen.
 

Es war Freitagabend, als ich diesen kleinen Gang entlang huschte, mein Rucksack über die linke Schulter geworfen. Gabriel öffnete mir die Tür, noch bevor ich klingeln konnte und schloss sie umgehend hinter mir ab. Erst dann ging er einen Schritt auf mich zu und küsste mich sachte.
 

„Hallo…“, begrüßte er mich dann und half mir sogar aus meiner Jacke. „Ich war wirklich positiv von deinem schulischen Eifer diese Woche überrascht“, sagte er dann und ich sah ihn fragend an. „Na, die Geschichtshausaufgaben und dann erzählte mir Frau Raschinki, dass du dich wohl das erste Mal freiwillig im Deutschunterricht gemeldet hast“, erklärte er grinsend.
 

„Du redest mit anderen Lehrern über mich?“, hakte ich belustigt nach und ich musste zugeben, dass mir das in diesem Fall sehr gefiel. Mein Plan war schon in seinen ersten Schritten ein wenig aufgegangen.
 

„Wir Lehrer reden immer über gemeinsame Schüler. Vor allem, wenn sie Problemfälle sind oder besonders begabt“, antwortete er und ich folgte ihm in die Küche, wo er sich ein bisschen Tee eingoss. „Willst du auch?“, fragte er mich und ich nickte.
 

„In meinem Fall bin ich wohl sehr begabt, oder?“, witzelte ich und er drehte sich grinsend zu mir um, um mir den Tee in die Hand zu drücken.
 

„Wenn ich dich im Küssen bewerten sollte – auf jeden Fall!“ Die Tasse in meiner Hand war warm und ich drückte mich mit meinem Körper gegen Gabriel, verschloss seine Lippen mit meinen und ließ ihm ein wenig von meiner „Begabung“ spüren.
 

„Und?“, fragte ich ihn danach frech. „Was für eine Note bekomme ich von dir?“
 

„Hmmm“, machte er und schaute mich gespielt streng an. „Eine 2+.“
 

„Nur eine 2+?! Pah!“, entgegnete ich empört und grinste dabei.
 

„Wie lange kannst du heute bleiben?“, fragte er mich dann und ich holte Luft.
 

„Ich bleibe heute über Nacht“, sagte ich dann fest und sah ihm dabei in die Augen. Er erstarrte kurz. Und dann schlich sich leichte Besorgnis in sein Gesicht.
 

„Was hast du deinem Vater erzählt?“, hakte er nach.
 

„Dass ich bei Inga penne.“
 

„Und was ist, wenn Inga bei dir zuhause anruft?“, warf er umgehend ein, seine Stimme unruhig.
 

„Wird sie nicht. Ich hab ihr erzählt, dass ich meine Mutter besuche und sie mich auf Handy erreichen kann.“
 

„Und deine anderen Freunde? Was ist, wenn die anrufen?“
 

„Werden sie auch nicht. Denen habe ich dasselbe erzählt“, versuchte ich ihn zu beruhigen und er blieb für einige Sekunden stumm.
 

„Und dein Vater? Was ist, wenn er einem deiner Freunde über den Weg läuft?“, fragte er dann und ich seufzte lauthals.
 

„Mein Gott, beruhig dich!“, sagte ich müde und setzte mich unzufrieden an den Küchentisch. Mit so einer Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Ich war sauer. „Der bleibt immer zuhause und er ist meinen Freunden noch nie irgendwo über den Weg gelaufen und ich glaube auch nicht, dass sich das jetzt irgendwie ändern wird.“
 

Gabriel setzte sich mir gegenüber und sah mich entschuldigend an. „Es tut mir leid“, murmelte er und er ergriff meine Hand, drückte ganz leicht zu und brachte mich somit dazu, ihm wieder in die Augen zu blicken. „Ich weiß, ich bin ein alter Panikmacher, aber… du weißt, wie gefährlich unsere Beziehung ist.“ Bedächtig nickte ich und erwiderte den Druck seiner Finger. Er lächelte.
 

„Freust du dich denn nun wenigstens ein bisschen, dass wir auch die… Nacht für uns haben?“, fragte ich ihn vorsichtig und er nickte.
 

„Natürlich freue ich mich…“, sagte er dann und in seinen Augen konnte ich lesen, dass er es ernst meinte. „Hast du heute Abend Lust auf Pizza?“
 

„Oh, ja!“
 

Wir spielten tatsächlich eine Runde Scrabble, schauten uns wieder einmal einen Film an und Gabriel erzählte mir ein bisschen von seinem Studium.
 

„Willst du eigentlich auch studieren?“, fragte er mich dann.
 

„Äh… Ich habe keine Ahnung“, gab ich schulterzuckend zu.
 

„Willst du lieber eine Ausbildung machen?“, hakte er weiter nach.
 

„Keine Ahnung“, gab ich wieder zu und er schwieg. Diese Konversation gefiel mir nicht. Ich hätte es vorgezogen weitere seiner Studiengeschichten zu hören, wie er immerzu in die falsche Vorlesung gelaufen ist, oder als Referendar am Anfang total versagt hatte, weil die Schüler ihn austesten wollten und ihm das Leben zur Hölle machten.
 

„Naja…“, sagte er langgezogen. „Du hast ja noch etwas Zeit. Vor den Sommerferien findet ja die kleine Berufsmesse an unserer Schule statt. Ich denke, das wird dir bei deiner Berufsentscheidung helfen.“
 

„Ja…“, murmelte ich.
 

„Was ist denn überhaupt dein Lieblingsfach? Also, was machst du am liebsten?“, hakte er weiter nach und trieb mich an den Rand meiner inneren Ruhe.
 

„Können wir bitte über etwas anderes reden?“, forderte ich genervt und drückte mich in das Polster des Sofas. Gabriel schwieg kurz.
 

„Ich wollte dir nur ein bisschen helfen“, sagte er schließlich ruhig.
 

„Ja, danke!“, gab ich patzig zurück, ohne ihm in die Augen zu blicken. „Aber du hörst dich an wie mein Vater!“
 

Er schnaubte und schmunzelte danach. „Ich bin wahrscheinlich auch fast so alt wie er“, sagte er dann sarkastisch und ich rollte mit den Augen.
 

„Mein Vater ist 48! Okay?!“
 

„Und ich bin gerade mal 9 Jahre jünger“, gab er ebenso genervt wie ich es war zurück. „Ich könnte auch dein Vater sein!“ Ich stand wütend auf und der kleine Wohnzimmertisch verrückte dadurch geräuschvoll.
 

„Wieso machst du meine erste Übernachtung bei dir eigentlich so kaputt?!“, schrie ich und wartete nicht, bis er mir antwortete, sondern stampfte in die Küche, um mir einen Keks aus der Dose zu holen, die ich ihm vor zwei Wochen geschenkt hatte. Es dauerte nicht lang, da schlangen sich von hinten plötzlich zwei Arme um meinen Bauch und er drückte mich mit meinem Rücken an seine Brust. Ich konnte seinen Atem an meinem Ohr spüren.
 

„Es tut mir Leid…“, wisperte er und küsste sanft mein Ohrläppchen. „Wie kann ich das wieder gutmachen?“
 

„In dem du uns ne Flasche Wein aufmachst und wir oben im Bett „Zurück in die Zukunft“ gucken“, sagte ich fest. Ja, Gabriel hatte auch in seinem Schlafzimmer einen kleinen Fernseher stehen und er hatte mir verraten, dass er gerne mal vorm Schlafengehen oder am Wochenende, einen Film aus dem Bett heraus betrachtete.
 

„Okay, machen wir“, sagte er sanft und drückte mir noch einen Kuss auf meinen Hals. Ich schloss die Augen und zählte ruhig bis fünf. Nein, ich würde meine schlechte Laune jetzt umgehend abschalten und diesen Abend und vor allem diese Nacht genießen! Ich drehte mich zu ihm um und lächelte, trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und küsste ihn. Seine Lippen fühlten sich dieses Mal so weich an, wie ein Federkissen, und dennoch waren sie natürlich warm.
 

Er öffnete den Wein und ermahnte mich, bloß nicht auf die Bettwäsche zu kleckern. Ich versprach es ihm hoch und heilig und er musste lachen. Während er den kleinen Fernseher und den dazugehörigen DVD-Player in Gang brachte, betrachtete ich das Bett. Und meine Gedanken rasten durch meinen Kopf, in dem es keine Geschwindigkeitsbegrenzungen gab. All dieser Mut, von dem ich dachte, ich hätte ihn mir endlich zu eigen gemacht, schien wie fortgeblasen. All diese Selbstsicherheit, die ich aufgebaut hatte, war weg.
 

Und ich hatte es mir so einfach vorgestellt…. meinen Lehrer zu verführen.
 

Doch momentan war ich einfach nur ein kleines Häufchen Elend, das nicht wusste, ob es seinen Pullover einfach abstreifen sollte oder ob es zu schnell ging, und ob ich zunächst warten sollte, bis er es vielleicht tat und ob ich auch ein bisschen warten sollte, bis der Film vielleicht vorüber war, um meinen „Angriff“ zu starten, oder ob ich es mittendrin tun sollte, oder…
 

„Jonas?“, schreckte mich Gabriels warme Stimme auf.
 

„Hm?“, wandte ich mich an ihn und er grinste, bereits auf dem Bett liegend. In einem schwarzen T-Shirt, welches er scheinbar unter seinem dunkelbraunen Pullover getragen hatte. Er sah wunderbar aus… In beiden seiner Hände hielt er ein gefülltes Weinglas und er bedeutet mir mit einem kurzen Nicken, zu ihm zu kommen. Und nun zögerte ich nicht, sondern zog auch meinen Pullover aus, unter dem sich ebenfalls ein dunkles T-Shirt befand und rutschte direkt an ihn heran. Wir lehnten gegen das Bettgestell, zwei fluffige Kissen an unseren Rücken. Er reichte mich das Glas und es klirrte ganz leicht, als wir anstießen.
 

„Auf diesen Abend, ja?“, sagte er und ich nickte.
 

Mein Gott, ich war so nervös!

Ich wollte unbedingt mit ihm schlafen, aber ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte! Zwar war ich keine Jungfrau mehr, aber nur ein paar Mal Sex mit ein und derselben Person gehabt zu haben, zählte ich nicht unbedingt zur „Erfahrung“…

Wir waren mitten im Film und ich trank bereits mein zweites Glas Wein – es schmeckte nicht wirklich gut, aber ich baute auf die Kraft und den Mut, den mir der Alkohol vielleicht spendieren könnte.
 

Immerzu blickte ich Gabriel von der Seite an, studierte seinen Körper mit meinen Augen, malte mir Wege aus, in denen ich ihn einfach an mich zerren könnte, meine Lippen auf seine pressen würde, und uns unserer Kleider entledigen würde. Und immerzu stoppte ich wieder, wenn ich in der Realität kurz davor war, diese Fantasien durchzusetzen.
 

Es war zum Verrücktwerden.

Und noch verrückter war, dass absolut nichts an diesem Abend, geschweige denn in der Nacht passierte!
 

Gabriel schaltete den Fernseher aus und wir gingen ins Bad, putzten uns die Zähne. Wir zogen uns nicht einmal gegenseitig aus! Nein, Gabriel schlüpfte, als ich alleine im Bad war, in einen tiefschwarzen Pyjama. Einen PYJAMA! Und selbst als ich vor ihm meine Jeans ablegte und nur in Boxershorts bekleidet zu ihm ins Bett stieg, war seine Hand an meiner Brust bereits der Höhepunkt der Gefühle und Taten. Als er das Licht ausschaltete und mich einen zarten Gute-Nacht-Kuss auf die Lippen hauchte, war ich vollkommen fassungslos.
 

Wir schliefen aneinander gekuschelt ein.

Und – das – war’s!

Und der Wein hatte nichts außer einem Schwindelgefühl bei mir verursacht!
 

Am kommenden Morgen wusste ich nicht, was zu denken war. Natürlich war es irgendwie schön, neben ihm aufzuwachen. Er zog mich direkt in einen Kuss und er strich mir durchs Haar, ließ seine Hand auf meiner Hüfte ruhen und ich ertappte ihn sogar dabei, wie er meinen halbnackten Körper begutachtete. Doch dann war er bereits auf dem Weg in die Küche und hatte mir vorgeschlagen, zu duschen. Einfach so.
 

Ich betrachtete mein eigens Abbild im Badezimmerspiegel.
 

Sah ich plötzlich scheiße für ihn aus?

Fand er meinen Körper nicht trainiert genug?

Sorry, auch wenn ich jung war, sich nen Six-Pack anzutrainieren bedurfte mehr als nur der lächerlichen Sportübungen in der Schule und zu mehr konnte ich mich nicht aufraffen. Gabriel besaß doch selber keinen!

Dachte er, ich sei noch Jungfrau?

Und wenn ja, hätte ihn dieser Gedanke nicht dazu bringen müssen, es gerade als aufregend zu empfinden, mein „Erster“ zu sein? Wieso war es nicht wie in diesen Filmen, oder Literatur, Pornos? Standen da die Alten nicht auf die Jungen, verzehrten sie sich nicht nach ihnen? Welcher schwule Mann in seinem Alter hätte die Chance, nen 18-Jährigen zu vögeln, einfach so an sich vorbei ziehen lassen?!
 

„Sag mal… Ist irgendetwas?“, sprach Gabriel mich direkt an, als ich die Küche betrat und auf die Kaffeemaschine zuschlenderte. Schweigend schüttelte ich den Kopf, so als würde ich versuchen all diese bitteren Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich biss mir auf die Zunge. „Hm“, machte er und rührte ein bisschen in seiner Tasse rum. „Hast du denn gut geschlafen?“
 

„Ja, hab ich“, entgegnete ich ruhig und nahm nun auch am Frühstückstisch platz. Mein Magen knurrte schon regelrecht. „Und du?“
 

„Ja…“, murmelte er etwas versonnen und ich spürte seinen Blick lange auf mir ruhen, was mir sicherlich einen seichten Rotschimmer auf die Wangen zauberte und die Wogen meines Verärgertseins ein wenig glättete. „Ich fand’s sehr schön, dass du über Nacht geblieben bist.“ Ich biss in mein Marmeladenbrot, um mir einen weiteren, leicht bitteren Kommentar zu verkneifen. Ich wollte diese schöne Stimmung, die uns an diesem Morgen umgab, nicht zerstören.
 

Ich ließ meinen Blick über Gabriels Erscheinung wandern. Er trug ein graues Sweatshirt, das wunderbar zu seinen immer noch leicht zerzausten Haaren kontrastierte. Jetzt, am Küchentisch, am Sonntagmorgen, fern von der Schule und dem lärmenden Alltag, wirkte er gar nicht mehr, wie mein strenger Geschichtslehrer. Seine Gesichtszüge waren wieder einmal so weich, zart. Natürlich konnte man ihm seine Reife ansehen, seine bis dato gesammelte Lebenserfahrung war deutlich zu erkennen, auch wenn er mit seinen 39 Jahren für manchen noch als ziemlich jung galt.
 

Wow, wieder hallte es durch meinen Kopf: Ich war mit einem 21 Jahre älteren Mann zusammen.
 

„Woran denkst du?“, fragte Gabriel mich und ich blickte ihm unweigerlich in die Augen.
 

„Ich, äh, an gar nichts eigentlich“, gab ich zurück und versank in seinem Blick. „Was machen wir heute noch?“, lenkte ich schnell auf ein anderes Thema um.
 

„Hmmm“, er streckte sich am Tisch und erschrak ein wenig, als Lassie mit einem Satz auf dem leeren Stuhl neben ihm landete. Ich musste kichern und er grinste, während er mit seinen Fingern durch das helle Fell des Katers fuhr. „Ich weiß nicht…“, wandte er sich wieder mir zu und ich meinte, einen kleinen Splitter seines typischen Lehrerblickes in seinen Pupillen wieder zu erkennen. „Ich hatte gedacht, ich helfe dir ein bisschen bei deiner Arbeit für den Ausgleich deiner Fehlzeiten“, sagte er dann und ich rollte niedergeschlagen mit den Augen.
 

„Aber es ist Sonntag!“, protestierte ich und bereute meine kindische Aussage auf der Stelle. Gabriel grinste leicht.
 

„Gerade deswegen. Du hast heute genügend Zeit, dir Gedanken über ein Thema zu machen“, erklärte er und stand auf. „Hilfst du mir, den Tisch abzuräumen?“
 

„Klar.“
 

Ich musste mir innerlich einen Tritt verpassen. Lernen war wichtig. Gabriel hatte mir diese Chance gegeben, es war wie ein Geschenk und ich durfte nicht so ungehobelt damit umgehen. Mein Freund – und ja, es fühlte sich seltsam ihn so bezeichnen zu dürfen – war ein gebildeter Mann und wenn ich mich nicht ranhielt, würde er das Interesse an mir sicherlich schon bald verlieren. Ich hatte mir doch vorgenommen, ihm ein ebenbürtiger Partner zu werden! Kneifen war unangebracht, ich konnte mich nicht länger davor drücken.
 

Und an diese enttäuschende Nacht zu denken, sollte ich auch nicht mehr.
 

„Bekomme ich denn eine schöne Belohnung?“, fragte ich ihn, als wir sein Arbeitszimmer betraten.
 

„Einen innigen Kuss und eine selbstgemacht Lasagne?“, schlug er vor und ich grinste.
 

„Deal, aber bekomme ich schon vorher einen Motivationskuss?“, feixte ich und trat selbstsicher an ihn heran, schlang meine Arme um seine Taille und presste mich gegen ihn. Umgehend fanden seine Hände ihren Weg in meinen Nacken und seine Lippen zu meinem Mund, sachte umkreisten sich unsere Zungen, wenn auch nur für eine kurze Zeit…
 

Gabriels Arbeitszimmer war geräumig. Andere präsentierten ihren Bücherbestand meist im Wohnzimmer, um ihren Besuchern mit der Gewalt des bereits Gelesenen zu imponieren, selbst wenn die Mehrheit der Bücher nur Zierde der scheinbaren Intellektualität der Gastgeber war und nichts anderes. Gabriel jedoch bewahrte seine Bücher genau hier auf, in der Nähe seines riesigen, dunkelbraunen Holztisches, der von einer modernen, goldenen Lampe beleuchtet wurde und auf dessen Oberfläche sich hier und da einige dicke Wälzer stapelten, sowie Papiere und andere Dinge. Und dennoch hatte man immer noch genügend Platz an diesem riesigen Möbelstück, um sich in seine Arbeit zu vertiefen.
 

„Und?“, fragte Gabriel, als er sich lässig auf das Pult setzte und auf mich herabblickte. Ich saß auf seinem persönlichen Thron, dem gut gepolsterten Schreibtischstuhl, der wahrscheinlich schon Jahre in diesem Zimmer erlebt hatte. „Schon eine Idee für ein Thema?“
 

„Absolut keine Ahnung…“, brummte ich und sah ihm in die Augen. Er grinste leicht.
 

„Was hat dir denn bis jetzt am meisten im Geschichtsunterricht gefallen?“, hakte er nach.
 

„Du?“, witzelte ich frech und er schnaubte amüsiert.
 

„Ich darf dich daran erinnern, dass du mich in meiner Rolle als dein Lehrer nicht gerade magst und dich ständig über mich aufregst.“
 

„Achja, da war ja was“, murmelte ich lächelnd.
 

„Also?“, forderte er. „Was hat dir am meisten Spaß gemacht?“
 

„Hmm…“, überlegte ich und ging die letzten Jahre meiner Schullaufbahn durch. „Ich glaube moderne Geschichte ist nicht so mein Ding. Ich steh eher so auf Steinzeit.“
 

„Was ist denn mit der Antike?“
 

„Hmm.. Joa, ist auch interessant.“
 

„Soll heißen?“, versuchte er herauszukitzeln.
 

„Lieber Antike als Weltkriege und so“, sagte ich und er nickte und stand auf, ging zu einer der Bücherwände herüber, ließ seinen Blick herumwandern und knallte mir dann nach und nach irgendwelche Exemplare auf den Tisch.
 

„Okay“, sagte er nach einer ganzen Weile. „Blätter dich durch. Vielleicht findest du ja was, was dich interessieren würde.“
 

„Okay“, antwortete ich und er schenkte mir noch ein kurzes Lächeln, bevor er den Raum verließ. Einen kurzen Moment starrte ich den kleinen Bücherstapel an, der sich vor meinen Augen gebildet hatte und holte tief Luft. Ich würde das durchziehen und er würde stolz auf mich sein!
 

Ich war erstaunt, als ich mich durch diese geschichtlichen Sammelbände blätterte und gar nicht mehr aufhören konnte, weil ich so versessen war, ein Thema zu finden. Erst als Gabriel wieder das Zimmer betrat und meine Aufmerksamkeit auf sich zog, streifte mein Blick die Uhr. Ich erschrak. Bereits drei Stunden saß ich hier und ich hatte es noch nicht einmal wahr genommen.
 

„Und?“, fragte er mich. „Fündig geworden?“
 

Ein stolzes Lächelnd legte sich auf meine Lippen. „Ja, ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten. Aber ich hab ein echt geiles Thema gefunden, auch wenn’s eigentlich schon Richtung Religion geht.“
 

„Spuck’s aus“, forderte er zufrieden grinsend.
 

„Nordische Mythologie.“
 

„Ah!“, rief er begeistert aus und lachte kurz auf. „Ja, das ist wohl äußerst... geil“, sagte er immer noch grinsend und wandte sich umgehend einer anderen Bücherwand zu. „Da habe ich auch ein paar sehr tolle Nachschlagewerke für dich parat.“ Ich stand auf und sah ihm nun aus äußerster Nähe zu, wie er mit seinen Händen über die Bücher fuhr und nach den Titeln suchte, sein Blick von Konzentration geprägt. Wirklich, die Menge der hier gestauten Bücher war imposant. Und nur eine kleine Fraktion davon war Fiktion.
 

„Hat dich Geschichte eigentlich schon immer fasziniert?“, fragte ich ihn, während er eines der Bücher bereits beiseite gelegt hatte.
 

„Na klar“, antwortete er und sah mich kurz an.
 

„Wow“, sagte ich und ließ meinen Blick erneut über die vielen Exemplare wandern.
 

„Ich wusste ja auch schon immer, dass ich Geschichtslehrer werden will“, fügte er ruhig hinzu.
 

„Wirklich?“
 

„Naja, als Kind wollte ich wohl Polizist werden, aber als ich in deinem Alter war, da war es mir schon klar, dass ich…“, er brach mitten in seinem Satz ab und betrachtete mich still.
 

„Was?“, hakte ich nach und er lächelte kurz.
 

„Nichts“, entgegnete er. „Ah, da haben wir ja schon das Buch, was ich gesucht habe. Am besten blätterst du dich diese Woche schon mal ein bisschen durch, okay?“
 

„Ja, Herr Hinrichs“, witzelte ich und legte meine Arme auf seine Schultern. Er sah mich etwas verwundert an. Und dann schnaubte er kurz und schüttelte den Kopf. Und ich presste meine Lippen auf seine stoppelige Backe. „Wo bleibt mein Belohnungskuss?“, säuselte ich und er grinste, legte just in diesem Moment seine Hände vorsichtig auf meine Hüften und ließ seine Lippen endlich auf die meinigen sinken. Hauchzart. Aber ich wollte für mein Engagement nicht mit solch einem behutsamen Kuss belohnt werden. Nein.
 

Langsam spreizte ich meinen Mund und leckte ebenso bedächtig über die raue Struktur seiner Lippen, bis er sie ebenfalls öffnete und meiner Zunge Zugang gewährte. Neugierig begann ich, mit dieser seine warme Mundhöhle zu erkunden, bis ich auf seinen warmen Muskel dort traf und anfing, ihn zu umkreisen, über ihn zu streichen. Und waren unsere Bewegungen zu Anfang noch zärtlich, entwickelten sie sich zum Gegensätzlichen mit jedem weiteren Kuss, den wir austauschten, ab und an nach Luft schnappend.
 

Urplötzlich fanden Gabriels Hände den Weg zu meinem Hintern und ich hätte beinahe aufgeseufzt, als seine Finger leicht in meine vom Jeansstoff bedeckten Pobacken griffen. „Endlich!“, dachte ich und drückte mich noch ein wenig enger gegen ihn. Mit einem einzigen Ruck verfrachtete er mich plötzlich auf den Schreibtisch und ich spreizte ohne nachzudenken meinen Beine, zog ihn an seinen Oberarmen direkt gegen mich; ein Kribbeln erfasste mich und stürmte wie ein reißender Bach in meinen Unterleib, eroberte diesen und erfasste ebenso schnell meinen Lendenbereich.
 

Und dieses Mal keuchte ich auf, als Gabriel seinen Körper gegen meine nun nicht mehr zu ignorierende Erregung presste. Unsere Blicke trafen sich. Nein. So wie er mich in diesem Augenblick anblickte, hatte er mich noch nie angesehen, seine Augen von einem beinahe unsichtbaren Schleier bedeckt, sein Mund halboffen. Er küsste mich erneut und seine Finger kneteten sanft meine Oberschenkel. Ich versank in diesen Gefühlen, die mich überkamen und begann, mich an ihm zu reiben, nur um festzustellen, dass er scheinbar genauso hart war wie ich. Ich schluckte und dann wagte ich es zum ersten Mal, meine Hände unter sein Sweatshirt wandern zu lassen.
 

Seine Haut erschien mir heiß, er glühte förmlich und doch fühlte er sich so unsagbar weich an. Er brummte bei meinen Berührungen ganz leicht und unsere Zungen stupsten sich ein weiteres Mal in ihrem feurigen Tanz an.
 

Und dann ertönte plötzlich eine wirklich aufdringliche Melodie wie aus dem Off. Wir hielten beide inne und blickten uns an. Ich konnte die Zerrissenheit, sein Zögern deutlich in seinen Augen lesen. Und dann fluchte er kurz und ließ komplett von mir ab, eilte aus dem Zimmer. Ich hatte begriffen. Es war das dämliche Telefon, welches im Wohnzimmer stand. Ich schloss meine Augen und zählte langsam bis zehn.
 

Hätte das nicht warten können?!
 

Es dauerte einige Minuten, bis Gabriel zurückkehrte.

Meine Erregung war vollends abgeklungen. Aber das könnte man ja schnell wieder rückgängig machen… Ich grinste, als er auf mich zutrat, doch anstatt seine vorige Position einzunehmen und weiter mit mir rumzumachen, griff er nach den drei Büchern, die er vorher für mich ausgesucht hatte.
 

„Ich werde gleich mal die Lasagne machen“, verkündete er mit so einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, als wäre vorher absolut nichts gewesen. „Und danach muss ich dich leider nach Hause schicken“, fügte er etwas trauriger hinzu.
 

„Und wieso?“, entwich es mir umgehend.
 

„Frank hat mich gebeten, etwas früher mit ihm essen zu gehen“, entgegnete er.
 

„Wer ist Frank?“, fragte ich direkt nach und es fiel mir sofort selber ein. „Ach, ist das nicht dein Studienfreund?“ Gabriel nickte.
 

„Ja, ich hab dir ja erzählt, dass wir immer zusammen Essen gehen oder Trinken. Je nachdem.“
 

„Der ist doch auch schwul, oder…?“, dachte ich laut nach und Gabriel schmunzelte.
 

„Keine Sorge, zwischen uns läuft nichts.“ Bisher hatte ich noch gar keine Freunde oder Verwandten von Gabriel kennengelernt. Lediglich von manchen hatte er gesprochen, sie in wenigen Erzählungen erwähnt. Und ich wusste, dass sich das wahrscheinlich nicht ändern würde.
 

Die Lasagne gelang ihm wirklich gut und ich war echt froh, dass er auch Cola in seinem Kühlschrank stehen hatte. Wir hatten uns nicht mehr so innig geküsst. Ich hatte mich von den Fernseher geworfen, um mich beschallen zu lassen, und Gabriel hatte gekocht, sich ein wenig zu mir gesetzt, während das Essen im Ofen war, und nun saßen wir wieder am Esstisch und Lassie strich um unsere Beine.
 

„Schmeckt's?“, erkundigte er sich.
 

„Du bekommst auch eine 2+!“, scherzte ich und er grinste.
 

Es fiel mehr schwer, mich an diesem Sonntag zu verabschieden.
 

„Wann sehen wir uns denn wieder?“, fragte ich ihn, als wir wieder einmal in seinem Flur standen.
 

„Schau erstmal, was deine Freund mit dir vorhaben und dann passen wir uns an, ja?“, gab er ruhig zurück.
 

„Kann ich denn auch mal unter der Woche zu dir kommen?“
 

Gabriel sah mir in die Augen. „Ja... Für einige Stunden. Aber nur wenn es nicht auffällt. Bist du sonst auch immer nach der Schule unterwegs? Nicht, dass dein Vater oder deine Freunde misstrauisch werden!“
 

Ich rollte meine Augen leicht genervt. „Denkst du, ich sei so ein heftiger Stubenhocker, oder was?“, versuchte ich zu scherzen, aber meine Stimme war hart. Gabriel lächelte milde.
 

„Das wollte ich damit nicht sagen, Jonas...“
 

„Ist schon klar“, entgegnete ich weicher und grinste ein bisschen. „Also darf ich mich dies Mal öfter bei dir melden, ja?“ Er runzelte etwas die Stirn.
 

„Am liebsten hätte ich es, wenn wir unsere Kommunikation über SMS und dergleichen bei einem Minimum halten“, sagte er dann etwas langgezogen. „Damit halten wir das Risiko, dass uns etwas nachgewiesen kann, sehr gering. Verstehst du?“ Ich seufzte schwer. Nein, ich hatte schlagartig keine Lust mehr, darüber nachzudenken und ich musste mir eingestehen, dass ich in diesem Augenblick sogar froh war, nach Hause gehen zu müssen. (Ein bisschen jedenfalls.)
 

„Ja, ist schon klar“, murmelte ich deswegen und wollte mich umdrehen, aber Gabriels Arme waren einfach zu schnell für mich, wanden sich binnen einer Sekunde um meinen Körper und zogen mich an ihn heran. Zu protestieren gelang mir nicht. Vermutlich auch, weil ich jede seiner Berührungen genoss und sie nicht verhindern wollte.
 

„Sei mir nicht böse...“, flüsterte er und küsste mich ganz sachte. Ich musste unweigerlich lächeln.
 

„Bin ich nicht.“
 

„Okay.“
 

Es war 17 Uhr, als ich die Eingangstür schloss und mein Vater unmittelbar im Flur erschien. „Na?“, begrüßte er mich und leichte Nervosität ergriff mich.
 

„Na...“, gab ich zurück.
 

„Wie war's bei Inga?“, hakte er nach und ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was sich hinter dieser Nachfrage versteckte. Es war unmöglich, dass er es herausgefunden hatte!
 

„Gut. Wir haben nen Videoabend gemacht. Und sie hat mir einige Bücher für Geschichte ausgeliehen“, entgegnete ich.
 

„Gut. Schön. Das ist, äh, sehr gut“, plapperte er weiter und mein Herz pochte immer schneller. Ebenso schnell stieg meiner Verwirrung. Was hatte er denn plötzlich?
 

„Ist was?“, fragte ich ihn deshalb direkt.
 

„Äh. Nein“, sagte er. „Doch“, widersprach er sich sofort im anderen Moment und musste grinsen.
 

„Alter, jetzt sag schon, was!“
 

„Sag nicht immer „Alter“ zu mir“, wehrte er sich, aber sein Grinsen konnte ich dennoch nicht von seinem Mund wischen.
 

„Sag's doch einfach!“, presste ich hervor.
 

„Mama und Ulf haben sich getrennt.“
 

„WAS?!“, entfuhr es mir viel lauter, als ich eigentlich wollte und so etwas wie ein völlig panisches Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. „Wieso? Wie kommt’s?“
 

„Äh, das weiß ich nicht“, sagte er lachend und verschränkte die Arme vor der Brust. „Angelika hat mich angerufen und mir das schnell erzählt. Sie meinte auch, wenn sie mehr wüsste, würde sie sich umgehend bei mir melden.“
 

„Typisch Oma, wenn’s ums Tratschen geht, steckt sie plötzlich wieder voller Energie“, kommentierte ich und wir beide grinsten uns an. Mein Vater war sogar so happy, dass er mir einen Drink anbot, den ich dankend annahm. Und zum ersten Mal verbrachten wir beide einen ruhigen Abend zusammen. Ohne uns über meine berufliche Zukunft zu unterhalten, über mein schulisches Engagement zu streiten oder uns wegen anderer Kleinigkeiten an den Haaren zu ziehen. Aus einem Drink wurden mehrere. Und mein Vater ließ sich ungeniert über Ulf aus, den ich auch nicht abkonnte.
 

Es war gegen 22 Uhr, als wir beide völlig betüdelt ins Bett fielen. Und meinte ich noch beim Zähneputzen direkt einschlafen zu können, so lag ich nun wach und starrte die dunkle Decke an.
 

Ich denke, man nannte dieses Gefühl, welches mich überkommen hatte, schlechtes Gewissen. Ich hatte doch tatsächlich das Zerbrechen der Beziehung meiner Mutter mit meinem Vater gefeiert. Andererseits ging es uns wegen ihrem „Verrat“ ziemlich schlecht. Sie war es, die fortgegangen war, die mich allein mit meinem Vater gelassen hatte, die UNS den Rücken gekehrt hatte! Und dabei war ich kurz davor gewesen, ihr zu beichten, dass ich schwul war, endlich reinen Tisch zu schaffen… es mir von der Seele zu reden. Aber nein, sie hatte ja gehen müssen!
 

Ich schloss die Augen.

Gott, ich brauchte Schlaf.

So viel auf einmal an einem einzigen Wochenende.
 

Doch anstatt endlich in den Schlaf zu driften, wanderten meine Gedanken geradewegs zu Gabriel. Ob er wohl schon schlief? In seinem dunklen Pyjama, in dem weichen, warmen, großen Bett…? (In dem er mich NICHT angefasst hatte…)
 

Ich schnappte mir mein Handy und linste auf die Anzeige. 23.58 Uhr. Verdammt, es war schon fast Mitternacht und mir war unglaublich schwindelig. Dennoch gelang es mir in diesem Zustand eine SMS zu tippen. Ich musste ihm einfach schreiben und ich war mir der Tatsache bewusst, dass ich mich heute nicht zurückhalten konnte. „Ich vermisse dich und denke die ganze Zeit an dich. Hatte ein schönes Wochenende mit dir. Gute Nacht“, schrieb ich ihm.
 

Als ich das nächste Mal auf mein Display grinste, war es bereits 00.43 Uhr und mein Posteingang war leer. Ich zuckte leicht mit den Schultern. Wahrscheinlich schlief er schon. Hoffentlich hatte ich ihn nicht geweckt…
 

Doch auch am kommenden Schultag, den ich nur mit Not und Mühe überlebte, da mein Kopf sich schwer und zerbrechlich zugleich anfühlte, erhielt ich keine Antwort. Auch nicht am Abend. Und ich konnte erneut keine Nacht schlafen. Die kommende Geschichtsstunde glich einer Tortur, die bereits mit dem eigentlich nichtigen Eintritt begann. Er saß am Pult, wo hätte er sich auch sonst befinden sollen, sein Blick auf das aufgeschlagene Buch vor ihm gerichtet. Ich zuckte zusammen, als er einen kurzen Seitenblick zur Tür warf, mit dem er mich erhaschte. In seinem Gesicht jedoch zeigte sich keine Reaktion auf meine Erscheinung. Die Hände zu Fäusten geballt steuerte ich meinen Platz an, Inga war bereits dort und ihre Miene gleich meiner niedergeschmetterten Laune.
 

„Hey, alles klar?“, fragte ich sie und sie lächelte traurig.
 

„Ich bin sauer“, sagte sie dann schließlich, als ich mich gesetzt hatte.
 

„Wieso?“
 

„Weil Stefan mir gestern spontan abgesagt hat“, murmelte sie und fuhr sich genervt durch die Haare.
 

„Und wieso? Ich meine, hat er gesagt, wieso? Was wolltet ihr überhaupt machen?“
 

„Wir wollten uns eigentlich nen Film leihen, aber dann meinte er plötzlich, er müsste absagen, weil seine Freunde was mit ihm vorhätten und er schon so oft abgesagt habe.“
 

„Oh…“ Wie gern hätte ich ihr gesagt, dass ich genau wusste, wie es ihr ging!
 

„Und jetzt können wir uns erst am Samstag sehen“, maulte sie. Ich fuhr ihr spielerisch durchs Haar.
 

„Armes, Häschen“, witzelte ich und sie grinse säuerlich.
 

„Männer!“, fluchte sie dann und im selben Moment schloss Hinrichs die Tür.
 

„Stellt alle das Gerede ein, mein Unterricht geht jetzt los“, sagte er heute scharf und ich bekam weiche Knie, als ich ihn ansah und an seine Hände an meiner Haut denken musste. Und immerzu warf ich Inga Seitenblicke zu und bei jedem einzelnen wurde das Bedürfnis, alles mit ihr zu teilen größer und das Ziehen in meiner Brust unerträglicher. Beinahe unerträglich war auch die Tatsache, dass Hinrichs mich heute zwei Mal dran nahm und ich keines Mal die Antwort wusste; sein Blick dabei war eisig und ich fragte mich: war das wirklich der Mann, mit dem ich zusammen war?
 

Ich hätte ihm gern ein wissendes Lächeln, ein kleines Grinsen, das ihn an unsere gemeinsamen Stunden erinnern sollte, zugeworfen, ganz diskret, mit niemandem sonst im Raum, doch an diesem Tag verließ er den Raum, die Ledertasche unter seinen Arm geklemmt, fast schon fluchtartig und der Wunsch, mich so richtig bei Inga auszukotzen wurde stetig größer. Es war schwer, sich zusammen zu reißen.
 

In den folgenden Tagen blieb die SMS-Nachricht aus und als Josh und Martin mich fragten, ob ich nicht Bock auf eine Wochenend-LAN hätte, sagte ich umgehend zu, weil ich Gabriel mit meiner Nichtanwesenheit strafen wollte! Christian, den Josh über sein WoW-Forum kennengelernt hatte, und den man als typischen Nerd bezeichnen konnte, kam auch noch und Martins Mutter war begeistert, dass sein Sohn endlich mal den umgebauten Partyraum im Keller nutzte.
 

Wir bestellten uns Pizza, tranken viel zu viel Bier und beballerten uns gegenseitig, oder traten als Viererteam im Netz gegen andere völlig betrunkene Spieler aus Japan und China an auf den völlig überfüllten Servern der Spiele. Ich hatte Spaß. Es tat gut einfach mal stumpf zu sein, nicht nachzudenken, nicht auf das Handy zu blicken.
 

Nur gegen 3 Uhr morgens machte ich einen großen Fehler.
 

Ich war auf Toilette in den oberen Etagen des Hauses. Draußen war es dunkel. Es war vollkommen still und ich starrte aus dem Fenster auf die immer noch ziemlich weiße Straße. Und da kamen sie, die schweren Gedanken, die sich um mein Herz legten; die Enttäuschung, Verwirrung und die Wut. Das war der erste Moment, in dem ich auf mein Display an diesem Freitagabend sah – und den Rest konnte man einfach nur als eine dämliche Kurzschlussreaktion bezeichnen.
 

Ich weiß nicht, wie ich es in meinem Zustand seine Nummer wählte. Immer und immer wieder, bis ich endlich seine durch die Leitung leicht verzerrte Stimme hören konnte.
 

„Jonas, was ich denn?“, murmelte er.
 

„Wieso hast du mich eigentlich nicht flachgelegt?!“, zischte ich in den Hörer.
 

Stille.

Es herrschte absolute Stimme und als Gabriel zur Antwort ansetzte, erkannte ich, dass Josh mir gegenüber stand und mich skeptisch anblickte.

Allerlei

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Resümee

„Wo warst du heute Nacht?“, lautete die eisige Frage meines Vaters.
 

Ich antwortete nicht. Regungslos saß ich auf dem Sofa und konnte die Gefühle, die durch meine Brust jagten und versuchten sich irgendwie bemerkbar zu machen, keiner eindeutigen Kategorie zuordnen. Ich starrte ihn an und erst nach und nach realisierte ich seine verärgerten Gesichtszüge und das fast nicht zu erblickende, nervöse Zucken seines Knies; er knetete seine Finger und wartete stumm auf eine Erklärung meinerseits, auch wenn er, dessen war ich mir sicher, am liebsten direkt auf mich losgegangen wäre.
 

„Wieso hast du mich angelogen?“, forderte er scheinbar ausdruckslos, doch dieser unterdrückte, wütende Unterton schwang deutlich in seiner Stimme mit.
 

Wieder nichts sagend, begannen die kleinen Rädchen in meinem Kopf zu arbeiten, trieben sich gegenseitig an und animierten mich zu der Konstruktion einer Antwort, denn das ALARM-Signal hatte nun endlich, scheinbar zeitverzögert, mein gesamtes Nervensystem erreicht und diese fatale Mitteilung an mein Zentrum gesendet.
 

„Jonas!“, schrie er und der gesamte Sessel, auf dem er saß, rückte mit einem leichten Poltern nach vorne.
 

„Bin ich 10 oder was?!“, konterte ich mit den ersten Worten, die mir in meiner leichten Panik eingefallen waren.
 

Wieso würde ich ihn anlügen?

Was könnte der Grund sein, ihm zu sagen, dass ich bei Inga schlief?

Vielleicht hatte ich bei irgendeinem Verein angefangen?

Sport?

Nachhilfe? Das bedarf aber keiner Übernachtung!

Club? Vielleicht, weil ich endlich mal richtig lange wegbleiben wollte? Negativ!

Auch wenn er streng war, wenn ich mit meiner Clique unterwegs war, war es egal, wann ich nach Hause kam, was nie später als 4 oder 5 Uhr war.
 

DENK NACH, DENK NACH, DENK NACH!
 

„Nein, bist du nicht, aber du bist immer noch mein Kind, trotz deiner erleuchteten 18 Jahre!“, donnerte er sarkastisch und ließ mich nicht aus den Augen. „Und als dein Vater würde ich gerne wissen WO du dich herumtreibst, vor allem, wenn das mitten in der Nacht ist!“
 

„OK, ich war NICHT bei Inga. Jetzt weißt du's ja“, entgegnete ich fest, im Innern immer noch nach einer plausiblen Erklärung suchend. Mein Vater ballte seine Fäuste und seufzte laut und genervt.
 

„Und wo warst du dann?“
 

„Halt woanders!“, sagte ich patzig.
 

„JONAS! Du wirst mir jetzt auf der Stelle verraten, wo du warst und vor allem mit wem du dich dort abgegeben hast!“, brüllte er und ein kleiner Schauer rann mir über den Rücken. Seine bassige Stimme hatte es wirklich in sich.
 

Was sollte ich ihm sagen?

Im Eiltempo spielte ich einige Szenarien in meinem Kopf durch.

Würde ich weiterhin standhaft bleiben und keinen einzigen Ton von mir geben, würde ich mich weiterhin stur stellen und wie ein gereizter Hund zurück bellen, ließe er mich nicht mehr aus den Augen; die Lügengeschichten mit „bei Inga pennen“ oder „mit Josh und Martin eine LAN machen“ würde er mir nicht abkaufen. Und dann wären Treffen mit Gabriel gar nicht mehr möglich.
 

„Jonas!“
 

Natürlich gingen diese Gedanken binnen von Sekunden durch meinen Kopf und mich über weitere Möglichkeiten mit mir selbst zu streiten war einfach nicht möglich. Ich gab meinem Vater eine vollkommen banale Antwort und sagte viel zu viel… Bullshit.
 

„Ich war bei meinem Freund!“ Er schloss den Mund und schluckte seine sich anbahnenden Worte herunter. „Sein Name ist André und ich hab ihn übers Netz kennen gelernt“, erklärte ich ihm. „Wir sind seit einigen Monaten zusammen.“
 

„Du bist seit einigen Monaten mit deinem Freund zusammen und erzählst es mir nicht?“
 

„Ja, ist halt... Es ist halt kompliziert, OK? Ich will ihn einfach noch nicht vorstellen. Ich... Es fühlt sich halt scheiße an.“ Ich spürte imaginäre Schweißperlen meinen Rücken hinunter schleichen.
 

„Wieso das denn?!“, fragte er mich verwundert.
 

„Weil es halt so ist... Keine Ahnung, findest du das denn nicht komisch, wenn ich ’nen Mann nach Hause bringen würde?“
 

Er verdrehte die Augen. „Diese Konversation hatten wir doch schon so oft. Bei Christian hatte ich doch auch nichts gesagt! Mein Gott, sag mir jetzt nicht, dass du auf diesem 'oh nein, alles ist so schlimm, weil ich schwul bin'-Trip bist. Ich dachte, du stehst zu deiner Sexualität?! Und dass ich das tue, das müsstest du mittlerweile wirklich wissen! Mir ist das egal, ob du irgendwelche Weiber oder Männer, oder von mir aus auch beides mit nach Hause schleppst! Die Hauptsache für mich ist, dass du nach Hause kommst, verstehst du das?“
 

Seine Worte waren energisch, voller Emotionen und sie trafen mich wie ein Pfeil mitten ins Herz. Doch ich musste stark bleiben, mein schlechtes Gewissen besiegen und weiterhin mit dieser Lüge fortfahren. Ungeachtet der Tatsache dessen, dass ich ihm in diesem Moment gerne einfach alles erzählt hätte...
 

„Ja, das weiß ich doch...“, sagte ich ihm milde und starrte das leere Weinglas auf dem Tisch an. „Aber... Ach, ich weiß auch nicht. Die Sache mit Christian eben... Die hat alles irgendwie verändert und ich bin mir der ganzen Sache noch nicht so sicher und will mich mit ihm eben noch nicht als Pärchen richtig 'outen', verstehst du?“
 

Er schnaubte. „Sag mal, spinnst du jetzt total?“, fuhr er mich wieder an. „Du sagst, du willst das alles langsam angehen, aber, was; du pennst schon bei ihm? Was ist das denn für ne Logik?“
 

Nun schnaubte ich und rückte ein wenig auf dem Sofapolster zurecht, welches sich heute trotz der normalen Weichheit alles andere als angenehm anfühlte und nicht zum Verweilen einlud. „Das ist heute eben so... Und, naja, Sex ist eben nicht so persönlich wie den Freund seinen Eltern bzw. seinem Vater vorzustellen und eben als festen Freund zu präsentieren und ihm unser Zuhause zu zeigen und so...“
 

Mein Vater seufzte und lehnte sich kurz zurück, schloss die Augen für einen kurzen Augenblick. „Ihr benutzt aber Kondome?“
 

„Oh, Gott, Papa, bitte! Nicht DAS Thema, deine kläglichen Aufklärungsversuche hatten wir schon!“, rief ich angewidert aus. Das musste jetzt nicht auch noch sein.
 

„DU hast mit dem Thema angefangen!“
 

„Ja, dann beende ich es auch wieder.“
 

„Aber ihr benutzt sie... Oder?“
 

„JAHA!“
 

„Gut.“
 

„Gut.“
 

Stille trat ein.
 

„War's das?“, fragte ich ihn und er schüttelte den Kopf. „Noch lange nicht, mein Freund.“ Ich atmete lang gezogen aus und redete mir innerlich zu, Ruhe zu bewahren und nicht auszuflippen.
 

„Was willst du denn noch wissen?“
 

„Wo André wohnt?“
 

„Am anderen Ende der Stadt, deswegen lohnt es sich auch nicht immer, nur für einige Stunden hinzufahren.“
 

„Eigentlich dachte ich eher an eine Adresse...“, bemerkte er.
 

„Ich bin nicht 10, das sagte ich dir bereits.“
 

„Wie oft hast du mich angelogen?“, fragte er mich plötzlich und rückte mir etwas näher, mir direkt in meine Augen schauend. Ich schluckte.
 

„Ein paar Mal...“
 

„Wann hast du das letzte Mal wirklich bei Inga geschlafen?“, hakte er weiter nach.
 

„Ähm“, überlegte ich und er sagte einfach nur resignierend und feststellend: „Aha.“ Ich schwieg und wich seinem Blick aus.
 

„Eigentlich müsstest du Hausarrest bekommen.“
 

„Ich bin keine-“
 

„...10 mehr. Ich weiß“, beendete er seinen Satz. Dann schwiegen wir uns erneut an. „Okay, sag mir ab jetzt, wenn du dahin fährst. Und sag mir wenigstens den Namen der Bushaltestelle, wenn du nicht schon mit der Adresse geben willst.“
 

„Okay“, willigte ich umgehend ein. Ich würde schon irgendeine finden. Weit weg von Gabriels Haus, seiner Straße.
 

„Werde ich ihn denn irgendwann dann kennen lernen, wenn du dir sicher mit ihm bist?“, fragte er mich mit milder Stimme. Wieder traf ein kleiner Stich mein Herz.
 

„Bestimmt“, log ich und war nicht in der Lage, ihn dabei anzusehen.
 

„Gut. Und jetzt hau ab, bevor ich dir noch eine knalle“, sagte er mit einem sanften Grinsen auf seinen Lippen liegend.
 

Als ich meine Zimmertür schloss, musste ich mich erstmal beruhigen. Ich schnappte mein Telefon und wählte Gabriels Nummer bereits, als mir bewusst wurde, dass ich nicht die Kraft hatte, ihm das alles zu beichten. Und erst in diesem Moment bemerkte ich ebenfalls, dass ich noch ein viel größeres Problem hatte: Inga.
 

Ich setzte mich wie versteinert aufs Bett.
 

Als ich auf mein Handydisplay blickte, erwartete mich dort schon der kleine gelbe Umschlag, der eine SMS symbolisierte. Dass die Nachricht von ihr stammte, wunderte mich kein bisschen. „Ruf mich an sobald dein Dad mit dir fertig ist, OK? HDL!“ las ich im Stillen und verharrte zunächst regungslos, tief Luft holend, die Zeile erneut überfliegend auf meinem Bett. Ich war schon kurz daran ihre Nummer zu wählen, da fiel mir der erste kleine Fehler meiner Notlüge ein.
 

Der quasi-fiktive Typ, dem ich meinem Vater als festen Freund verkauft hatte, basierte auf diesem Disco-Kerl – André. Das würde Inga doch auffallen! Sie wüsste doch ganz genau, dass ich diesen Blonden von der Tanzfläche meinte – den ich vor ihren Augen hatte abblitzen lassen. Verdammt! Ich verfluchte mich.
 

Wieso hatte ich „ihm“ nicht den Namen „Hans“ oder „Peter“ gegeben?

(Weil das wahrscheinlich ebenso peinlich wie auffallend gewesen wäre...)

Vielleicht würde mein Vater auch nie die Chance bekommen, mit Inga einige Worte über meinen „Freund“ zu wechseln, aber diese Gefahr konnte ich nicht eingehen!
 

Es kam mir vor, als würde eine unsichtbare Uhr in meinem Kopf ticken. Ideen und Verwirrungen rasten in einem imposanten Tempo durch meine Gedanken und letztendlich griff ich immer noch ziemlich planlos und nur mit einer vage zusammenhängenden „Geschichte“ meine beste Freundin an. Um sie ein weiteres Mal schamlos zu belügen.
 

„Hey!“ Sie nahm sofort ab. „Alles OK bei dir? Ich wusste nicht, dass du ihm gesagt hattest, du würdest bei mir schlafen! Das hättest du mir sagen sollen. Es tut mir so leid! Bitte sei mir nicht böse, OK?“, flossen die Worte aus ihr heraus. Ich seufzte.
 

„Ne, schon gut. Ich hab's dir ja halt nicht gesagt, du kannst keine Gedanken lesen.“
 

„Würde ich im Moment aber ganz gern...“, meinte sie etwas traurig. Ich schloss die Augen ganz kurz und dann war es so, als tauschten wir die Rollen; nun war es mein Mund, aus dem ein Wasserfall aus Worten prasselte. „Ich wollte es dir echt schon früher sagen, aber ich wusste einfach nicht wie und dann war ich auch noch so verwirrt, weil, du weißt ja, dass ich eigentlich nicht so jemand für nur eine Nacht bin, aber nach dieser Internet-Boy-Geschichte war ich so frustriert, dass ich dann einfach mit anderen da weiter gechattet habe. Vielleicht aus Rache oder so, wer weiß das schon, jedenfalls hab ich mich mit ein paar Männern da verabredet und, naja, so ist halt eins zum anderen gekommen und, äh, deswegen war ich nachts auch schon mal nicht hier. Aber du weißt, dass mein Vater mir den Kopf abreißen würde, fände er raus, dass ich, äh, so rumhure...“
 

Ich biss mir auf die Zunge und versuchte diese Bilder von Gabriels zärtlichem Blick und seinen Berührungen aus meinen Gedanken zu verbannen.
 

„Oah, Jonas!“, herrschte sie mich halb lachend an. „Wieso hast du das denn nicht gleich gesagt?! Das ist doch geil! Ich finde, du hast dir mal so ne wilde Zeit verdient und das ist wirklich kein rumhuren! Genieß das doch, dass du begehrt bist! Aber SAG mir sowas, ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse...?“
 

„Ja... Sorry, Süße. Tut mir echt leid, OK?“
 

Ich hörte ein lang gezogenes Seufzen am anderen Ende der Leitung. „Was hast du denn jetzt deinem Vater erzählt?“
 

„Naja... Ich hab ihn angelogen und gesagt, ich hätte einen Freund, bei dem ich ständig bin.“
 

„OK, dann wäre es JETZT vielleicht auch gut, dass du mir diese Version verklickerst, damit nicht wieder so ein Malheur passiert, ja?“
 

„Äh. ja. Ich hab gesagt, dass er André heißt und dass ich einfach noch nicht so weit bin, ihm meiner Familie als festen Freund vorzustellen. Und, naja, das war's. Ich muss mir noch ausdenken, wo er wohnt, mein Vater wollte tatsächlich die Adresse haben.“
 

„André? Warte! Hieß nicht dieser Kerl aus dem Klub so?“
 

„...jaaaa....“
 

Sie sagte nichts und ich zwang mich wieder zu einer Lüge.
 

„Ich war voll überrascht, dass er da auch plötzlich war, weil ihr halt alle da wart... Ich hatte auch voll Schiss, dass er euch erzählen würde, dass ich mit ihm auch schon... naja. Du weißt schon.“
 

„Oh, mein Gott!“, rief sie nun kichernd in den Hörer. „Hey, der sah ja richtig gut aus! Glückwunsch!“
 

„Danke...“, nuschelte ich und sie seufzte wieder.
 

„Mann, Jonas, ich kapier immer noch nicht, dass du uns nichts gesagt hast. Josh und Martin waren auch voll verwirrt. Wir haben uns alle voll die Sorgen gemacht, weil du schon die ganzen letzten Wochen halt so komisch warst und dann verhältst du dich auch noch so scheiße, wenn wir dich endlich mal zu ner Party nach deinem Geschmack schleppen!“
 

„Ja, sorry“, murmelte ich, ausdruckslos aus dem Fenster auf die Straße hinab blickend. „Ich wollte halt auch nicht, dass ihr denkt, naja, dass ich so krass dieses Schwulen-Klischee erfülle.“ Nun prustete sie los.
 

„Du bist echt niedlich“, sagte sie dann, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Ist doch scheiß egal. Josh hat doch letztens auch mit dieser einen Tussi nen One-Night-Stand gehabt, auf irgendeinem Gildetreff, oder was auch immer. Fanden wir das schlimm?“
 

„Nein...“
 

„Na, also.“
 

Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich wollte dieses heuchlerische, beschissene Telefonat endlich beenden.
 

„Ähm“, setzte sie wieder an, gerade als ich ihr sagen wollte, ich müsse nun auflegen. „Es wäre vielleicht auch ganz gut, wenn du Josh und Martin auch aufklären würdest...? Ich meine, du weißt, sie zeigen dir gegenüber vielleicht nicht so ganz ihre, nennen wir es mal Gefühle – weißt ja, Hetero-Männer und dieser ganze Scheiß – aber die kapieren auch, dass etwas nicht stimmt!“
 

„Ja, Josh hatte mich ja auch mal angesprochen.“
 

„Und das solltest du ihm hoch anrechnen!“
 

„Mach ich ja.“
 

„Gut.“
 

„Kannst du es trotzdem für mich machen?“
 

Sie lachte. „Männer!“, spaßte sie dann und ich grinste ein wenig, auch wenn mir irgendwie eher zum Heulen zu Mute war.
 

„Du, ich leg jetzt auf, irgendwie bin ich total müde.“
 

„Ist in Ordnung. Wir sehen uns dann morgen, ja?“
 

„Ja, bis morgen. Tschüß.“
 

Ich lag auf meinem Bett und starrte abermals die Decke an, als wäre dies in den letzten Wochen zu einer Art neuem Hobby von mir geworden. Mein Vater ließ mich an diesem Abend Gott sei Dank in Ruhe, aber scheinbar war das allein sein im Zimmer dennoch nicht die richtige Lösung meines Problems; eigentlich war es so, dass es mir mit jeder verstreichenden Minute schlechter erging. Vermutlich, weil die Last meiner Lügen sich erst nach und nach auf mich senkte und mich zu erdrücken drohte.
 

Der Blick auf mein Handy erschwerte die Gesamtsituation nur noch.
 

Wie konnte dieser Tag eigentlich nur so beschissen enden?

Noch vor einigen Stunden hatte ich Gabriels Armen gelegen! Und jetzt? Jetzt lungerte ich hier alleine rum, nach einem unangenehmen Gespräch mit meinem Vater und nach einem noch viel schlimmeren mit meiner besten Freundin.
 

Es tat mir noch viel mehr leid, Inga belügen zu müssen, als meinen Vater. Und Josh und Martin müsste ich nun auch richtig dick etwas vorspielen. Vielleicht sollte ich ja so langsam all meine Lügenversionen zu Papier bringen, um bloß nicht durcheinander zu kommen? Und was würde Gabriel eigentlich davon halten?
 

Gott, vielleicht hätte ich ihn doch als erstes anrufen sollen, um eine Lügenversion mit ihm abzusprechen? Ein kaltes Zittern erfasste meinen Körper und brachte einen unangenehmen Schauer als Resultat mit sich.

Gabriel...
 

Es war beinahe Mitternacht als der SMS-Ton mich aus meinen dunklen Gedanken riss und meinen Blick endlich von der Decke ablenkte. Mein Herz pochte. War es wieder Inga? Oder kam die Nachricht dieses Mal von Josh oder Martin? Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie unser morgiges Zusammentreffen wohl aussehen würde. Jonas der Betthopser! Als wenn ich zu so etwas in der Lage wäre... Hoffentlich kauften die mir das ab. Ich meine, wenn INGA es schon tat, wieso sollten Josh und Martin es nicht tun? Und vor allem: Ich bezweifelte, dass meine Bettgeschichten die beiden interessieren würden.
 

Inga hatte nie so das Problem, mit mir über Sex zu sprechen – schließlich standen wir beide auf Männer, wenn man es so kurz fassen wollte. Josh und Martin, naja, nicht; und auch wenn beide eigentlich gar kein Problem mit meiner sexuellen Ausrichtung hatten, so hatten sie dennoch nie wirkliches Interesse an der „intimen Auslebung“ dieser gezeigt, was ich durchaus verstehen konnte. Die beiden hatten sich, um sich über Weiber-Bett-Geschichten auszutauschen und das interessierte mich schließlich auch nicht so. Es sei denn, einer meiner Freunde war verliebt – das war eine andere Geschichte. Aber momentan war das weder Josh noch Martin.
 

Seufzend griff ich nach dem Gerät und erstarrte.
 

„Schlaf schön. Gabriel.“

Ich las diese drei Worte immer und immer wieder und konnte es nicht fassen, dass er mir tatsächlich einfach SO geschrieben hatte, obwohl unser Kontakt doch so „gefährlich“ war, wie er stetig betonte. „Schlaf schön“... Mein Magen knurrte und mir wurde leicht schlecht, als meine Lügengeschichten wieder hochkamen, als mir erneut bewusst wurde, in was ich mich hinein geritten hatte. Vor allem wurde mir schlecht, als mir ebenfalls bewusst wurde, dass ich Gabriel einweihen müsste. Schon sehr bald.
 


 

Wir trafen uns am Schultor. Inga, Josh, Martin und ich. Sie grinste und die beiden Jungs verhielten sich ziemlich... normal. Die üblichen „Was-geht“-Floskeln wurden ausgetauscht, Josh beschwerte sich bei mir, dass ich die Mathehausaufgaben nicht erledigt hätte, die er hatte abschreiben wollen. Warum auch immer, eigentlich war ich viel schlechter als er. Wobei wir beide lediglich im unteren Notenbereich lagen und sich daran vermutlich auch nichts ändern würde.
 

Die Stunden flossen vor sich hin. Langsam, wie in Teer getunkt; die Zeiger der alten Schuluhren schienen sich nicht von der Stelle bewegen zu wollen. Die Fenster waren am Wochenende beschädigt worden und konnten nicht geöffnet werden; es wurde stickig im Raum, in dem wir die letzte Stunde absitzen mussten.
 

Inga fing mich am Hauptausgang ab und wir schlenderten zusammen zum Tor.
 

„Ich hab's den beiden gesagt. Wollte ich dir nur erzählen“, sagte sie.
 

„Und? Wie haben sie reagiert?“
 

„So, wie ich's gedacht hatte. Die meinten, es ist gut, dass du dich austobst. Sie finden es nur scheiße, dass du's nicht einfach gesagt hast“, erklärte sie ruhig und ich nickte.
 

„Wird in Zukunft nicht mehr geschehen“, versicherte ich ihr.
 


 

Mein Vater wartete mit dem Essen auf mich. Es war gegen 15 Uhr, als ich heim kam, mich wundernd, dass er überhaupt schon zu Hause war. „Na, wie geht’s dir?“, begrüßte er mich abermals, als wir uns an den Küchentisch setzten. Die Nudeln dampften noch und die Tomatensauce sah würzig aus, er hatte mir sogar schon Apfelsaft ins Glas gegossen.
 

„Joa, Schule war halt langweilig“, antwortete ich, als ich meinen Teller füllte. „Aber ich streng’ mich an und hör zu!“, fügte ich eilig hinzu und mein Vater runzelte seine Stirn ausnahmsweise nicht. „Und bei dir?“
 

Nun runzelte er sie. „Deine Mutter hat angerufen“, entgegnete erst nach einer Weile.
 

„Jetzt doch wieder mit Ulf auseinander?“
 

Er seufzte. „Nein.“
 

„Oh. Schade.“
 

Mein Vater sah mich an, während ich mich die Zunge an der heißen Sauce verbrannte und mir eine Abkühlung mit Apfelsaft verschaffen wollte. „Und, gehste heute noch zu André?“, fragte er mich plötzlich.
 

„Nein“, sagte ich mit vollem Mund und starrte auf meinen Teller. „Heute nicht.“
 

„Hmmmh“, brummte er leicht nickend.
 

„Vielleicht am Wochenende.“
 

„Hmmmh“, brummte er wieder. Und somit hatte sich unsere Konversation auch ihrem Ende geneigt. „Mach den Abwasch“, befahl er mir noch und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Widerwillig machte ich mich an diese niedere Tätigkeit, der Regel folgend: lügst du deine Eltern an, tue alles, was sie von dir verlangen.
 

Nun gut. Bei meiner Mutter sah das auch etwas anderes aus, aber da war diese „Lüge“ auch noch viel größer. Wobei: Konnte man Schweigen eigentlich als Lüge bezeichnen? Meine Mutter dachte ich sei hetero, wir hatten nie darüber geredet und so sah es bis heute aus. War das also auch eine Lüge? Ich zuckte die Schultern und trocknete den großen Topf ab.

Scheiß drauf.
 

Ich hatte schwerer wiegende Probleme.
 

Als ich meinen PC einschaltete, spielte ich kurz mit dem Gedanken, Gabriel einfach eine lange Email zu schreiben, die ihm alles erklärte. Doch diese Idee verwarf ich ebenso schnell, wie sie mir gekommen war. Ich wollte ihm das direkt sagen. Ich musste ihn einfach am Wochenende sehen! Ich setzte mir in den Kopf meinen Freunden abzusagen, sollten sie etwas vorschlagen. Jetzt hatte ich ja auch die perfekte Ausrede: Irgendein Fick mit irgendeinem Spast aus dem Internet. Wie reizend. Ich rollte mit den Augen.
 

Besser als gar nichts.

Hoffentlich sah Gabriel das genauso.
 

Vor der kommenden Geschichtsstunde hatte ich jedenfalls riesigen Bammel. Ich verfluchte den Tag bereits, als ich Inga im Flur traf und sie mich grinsend begrüßte. „Stefan sagt, er will dich mit seinem Mitbewohner verkuppeln“, erklärte sie mir kichernd. „Er meinte, er hätte ihm Fotos von dir gezeigt und der wäre wohl schon ganz scharf auf dich.“
 

„Stefan hat Fotos von mir?!“
 

„Naja, nicht direkt, ich hatte halt welche von uns mitgebracht, weil Stefan ein schönes Bild von mir haben wollte und ich halt nicht wusste, welches ich ihm geben sollte“, erklärte sie entschuldigend.
 

„Warum hast du nicht einfach ein Neues gemacht?“, schlug ich ihr mit sarkastischer Stimme vor.
 

„Frauen!“, sagte sie schulternzuckend und entlockte mir ein kleines Grinsen. „Was ist denn nun?“
 

Ich blickte sie fragend an.
 

„Willst du ihn kennenlernen?“, hakte sie genervt nach, da betraten wir gerade den Raum. Und da saß er. Gabriel. Am Pult, die Nase wie immer in ein Buch vergraben. Nein, dieses Mal war es eine Zeitschrift. Ah, ja. Die „PM History“. Da hatte er doch ein Abo von. Hatte letztens sogar selbst mal durchgeblättert. An der Arbeit wegen der Fehlstunden schrieb ich ja immer noch – und er half mir dabei.
 

„Hallooooo?“ Inga zwickte mich in die Seite und ich schreckte auf.
 

„Achso. Ja. Nein.“
 

„Was denn nun?“
 

Ich stellte meine Tasche ab und mein Blick wanderte unwillkürlich zurück zum Pult. „Nein, will ich nicht.“ Sie seufzte und ließ sich in ihren Stuhl sinken.
 

„Wieso denn nicht? Ich hatte mich schon so auf einen lustigen Vierer-Abend gefreut! Und vielleicht würde das ja wirklich was mit euch beiden werden? Wär doch voll cool!“, plapperte sie weiter, aber ich konnte ihren Worten nicht folgen; sein Anblick nahm all meine Sinne in Anspruch. Ich beobachtete ihn, wie er die Seite umblätterte, und wie sich eine Augen minimal beim Lesen bewegten; wie er ganz leicht mit seinem rechten Fuß wippte; ich schreckte fast auf, als er sich räusperte.
 

„Samma, hörst du mir überhaupt zu?!“ Inga boxte mich leicht in die Schulter und ich warf ihr einen schuldbewussten Blick zu. „Nein, sorry“, gab ich dann zu und sie verdrehte leicht ihre Augen.
 

„War dein Vater eigentlich total sauer?“, fragte sie nach einer Weile ernst.
 

„Hm, ne, war ein Weltwunder. Ich meine, klar hätte er mir gern eine runtergehauen, und wenn er die Wahrheit wüsste, würde er es auch vermutlich tun, aber so ist es wohl oder minder OK für ihn. Also, er akzeptiert es, auch wenn er nicht sehr darüber erfreut ist.“
 

„Und was machst du, wenn er darauf pocht, ihn kennen zu lernen?“
 

„Dann mache ich halt quasi „Schluss“ mit André“, sagte ich grinsend. War eigentlich gar keine so schlechte Idee, als Notfallplan… Falls meinem Vater wirklich einmal der Kragen platzen würde.
 

„So, das Gerede bitte einstellen, ich würde jetzt gern anfangen“, erklang seine Stimme und raubte mir fast den Atem. Als ich ihn ansah, wäre ich am liebsten aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen. Seit Sonntag hatte ich ihn nicht mehr anfassen können und nun stand er nur einige Meter von mir entfernt. Ich wollte ihn doch einfach nur fragen, wie es Sonntagabend noch mit seinen Kollegen gewesen ist, und ob er Montag müde war und wie es ihm heute ging; triviale Dinge, völlig normale Gespräche zwischen zwei Menschen die sich… liebten.
 

Ich erschauderte, als ich das Wochenende – den schönen Teil, den ich mit ihm verbracht hatte - Revue passieren ließ. Als ich die erste Viertelstunde damit verbracht hatte, wurde mir in einem unbehaglichen Moment plötzlich klar, dass ich Gabriel die ganze Zeit über verträumt angestarrt hatte. Beinahe fiel ich vom Stuhl, als ich mir eine innere Ohrfeige verpasste und meinen Kopf nach links drehte, um aus dem Fenster zu starren. Ich schluckte.
 

Hatten es meine Mitschüler bemerkt?

Hatte INGA es gesehen?
 

Ich warf ihr einen kurzen, klitze-kleinen Seitenblick zu; sie sah so gelangweilt wie immer aus und starrte in die Leere. Ich atmete auf.
 

„Jonas? Kannst du bitte vorlesen?“, hörte ich plötzlich seine Stimme erklingen. Erschrocken sah ich ihn an. Sein Blick war streng, dieser typische genervte Blick eines Lehrers, der es satt hatte, dass seine Schüler ihm nicht zuhörten; völlig kalt. Er lehnte sich lässig gegen sein Pult und begutachtete mich skeptisch. So anders als sonst, so völlig gegensätzlich zu der Art, mit der er mich am Wochenende behandelt hatte. Eiskalt.
 

Ich räusperte mich und blickte auf das aufgeschlagene Buch.
 

„Welche Seite… denn?“, fragte ich ihn heiser.
 

„Dreiundsiebzig.“ Immer noch so kalt. Ich begann zu lesen. Ich hasste es meine Stimme im großen Raum zu hören, während alle anderen schwiegen. Ich betete, dass mir niemand zuhörte. Endlich nahm er jemanden anderen dran – als ich ihn ansah, war sein Blick nicht auf mich gerichtete. Ich war ziemlich… enttäuscht, biss mir auf die Zunge und zwang mich, weiterhin aus dem Fenster zu starren.
 

Ihn nicht mehr anzusehen.
 


 

Ich weiß nicht, wie ich es bis zum Freitag überhaupt aushielt, ohne komplett durchzudrehen. Auch bei der nächsten Geschichtsstunde war es viel zu schwer ihn nicht anzusehen. Er hatte mir keine weitere SMS geschrieben und auch ich hatte mich nicht bei ihm gemeldet. Irgendwie hatte ich Angst vor der Verkündung dieser Lügengeschichte; Gabriel hatte doch schon am Anfang prophezeit, es könne etwas schiefgehen. Nun, mein Vater war meinen Freunden zwar nicht zufällig über den Weg gelaufen – meine Freunde waren direkt zu ihm gegangen.
 

Gabriel würde durchdrehen.
 

Inga versuchte mich noch ein Mal zu diesem „Viererdate“ zu überreden und Josh und Martin verkündeten, sie würden sich am Wochenende einsperren und die ganze Zeit WoW spielen. Was mich sehr glücklich machte. Ich musste bis auf Ingas idiotische Idee nichts absagen.
 

Ich rief Gabriel an, als ich nach Hause kam. Er ging auch dieses Mal direkt ans Telefon.

„Hey“, begrüßte er mich mit freudiger Stimme und die Erinnerung an die letzte Geschichtsstunde schien wie erfunden.
 

„Hey“, sagte ich. „Kann ich heute zu dir kommen?“
 

„Deine Freunde hatten nichts vor?“
 

„Nein.“
 

„Dann gern. Bleibst du… bis Sonntag?“
 

„Wenn ich darf…“
 

Er lachte leise. „Na klar.“
 

„Ich bin gegen 18 Uhr da, ist das OK?“
 

„Soll ich was kochen?“
 

„Wenn du magst.“
 

„Okay.“
 

Ein mulmiges Gefühl überkam mich erst, als ich meine kleine Reisetasche packte, wissend, dass ich meinem Vater sagen müsste, ich fuhr zu André. Er kam gegen 17 Uhr nach Hause. Er war schlecht drauf und als er mich mit meiner Reisetasche im Flur stehen sah, seufzte er nur.
 

„Wie lange bleibst du weg?“, lautete seine erste Frage.
 

„Bis Sonntag“, entgegnete ich ruhig.
 

„Und die Haltestelle in der Nähe?“
 

Oh, Fuck! Das hatte ich total vergessen.
 

„Äh, Hammersberg“, entgegnete ich schnell, das sagend, was mir am ehesten einfiel. Mein Vater runzelte die Stirn.
 

„Das liegt aber so gar nicht am anderen Ende der Stadt“, sagte er dann, mich anblickend.
 

„Naja“, setzte ich schief grinsend an, während mir mein Herz meine Brust zu zerbersten drohte. „Vielleicht hab ich bei meiner Beschreibung letztens ein wenig übertrieben…“ Mein Vater sagte gar nichts mehr. Ich weiß auch nicht, ob er mir überhaupt noch einen Blick zuwarf, während er mich noch fragte: „Dein Handy hast du mit und an?“
 

„Na klar“, antwortete ich ihm schnell.
 

„OK. Dann viel Spaß mit André.“
 

Mir war speiübel, als ich die Haustür hinter mir schloss. Wer hätte gedacht, dass ich mich beim belügen meines Vaters mal so schlecht fühlen würde? Ich versuchte dieses Gefühl abzuschütteln, aber es verstärkte sich nur noch, je näher ich Gabriels Haus kam. Und dabei wollte ich mir doch nicht den schönen Abend versauen lassen! Wir hatten gerade mal drei Tage, an denen wir uns sehen konnten, natürlich wollte ich diese nicht mit dieser schlechten Laune beginnen.
 

Bevor ich klingelte, holte ich noch einmal tief Luft.

Nein, ich würde ihm nicht alles sofort beichten.

Ich würde mir Zeit lassen und zunächst diesen Abend genießen.
 

Er küsste mich zärtlich im Flur und seine Finger strichen durch mein Haar. Er hatte uns Salat gemacht und sogar schon eine Flasche Weißwein kaltgestellt. Er prickelte irgendwie auf meiner Zunge und war ein bisschen süß. Ich mochte ihn. Vor allem aber gefiel mir, dass Gabriel solch gute Laune hatte. Er erzählte von Frank, der letztens endlich jemanden gefunden hatte. Und plötzlich änderte er das Thema vollkommen. Er setzte sich direkt neben mich und gab mir einen kleinen Kuss auf die Wange.
 

„Wir machen morgen einen kleinen Ausflug“, verkündete er dann lächelnd.
 

„Einen Ausflug?“ Er nickte, immer noch lächelnd.
 

„Bei Cuxhaven gibt es eine nette Ecke. Ist zwar noch nicht so ganz warm, aber gegen einen Spaziergang am Strand ist nichts einzuwenden, vor allem, weil morgen den ganzen Tag die Sonne scheinen soll“, erklärte er vor sich hin träumend. Bei seiner Aussage zog sich meine Kehle enger zusammen. Nein, jetzt würde ich ihm diese ganze Lügengeschichte auf keinen Fall beichten! „Freust du dich denn gar nicht?“, fragte er und ich erwachte aus meinen Gedanken.
 

„Doch! Na klar! War nur ein bisschen überrumpelt, aber das ist echt cool!“; entgegnete ich hastig und beugte mich ein wenig zu ihm, ließ meine Lippen sachte über seine Wange streichen. Verdammt, wieso war ein schlechtes Gewissen nur so eine dumme, nervende Schlampe!
 

Ich sagte mir immerzu, diese Gedanken in den Hintergrund zu drängen, ich lächelte Gabriel an und erzählte ihm ein wenig vom Sportunterricht, in dem ich beim Bockspringen total versagte. Er lachte mich nur ein wenig aus und redete mir zu, dass mein Sportlehrer es nur gut meinte und im Privaten ein ganz netter war. Waren denn alle Lehrer nur „im Privaten“ nett? Ich trank noch ein Glas Wein und Gabriel lachte sachte und nahm mir irgendwann mein Getränk aus der Hand.
 

„Sonst hast du morgen einen Kopf und wir können unseren kleinen Ausflug gar nicht genießen...“, erklärte er.
 

Einen leichten Kater hatte ich wirklich, der Wein hatte, wenn man es so ausdrücken wollte, ganz schön reingehauen. Es roch schon nach Kaffee, als ich meine Augen öffnete, weil mich irgendwas kitzelte. Ich starrte in Lassies Augen und seufzte. Der Kater miaute kurz und machte es sich dann plötzlich auf meinem Bauch so richtig gemütlich. Schnarchte er? Oh, nein, das war ja ich! Ich hörte Gabriel lachen. Und öffnete meine Augen nun endlich vollends.
 

Er stand direkt am Bett und musterte mich lächelnd.

„Lassie mag dich auch. Ich denke, er hat schon vergessen, dass du ihn angefahren hast“, scherzte er und ich fing an die Katze zu streicheln. Das Fell war weich und Lassie fing auch schon bald an zu schnurren. Ich musste grinsen.
 

„Na los, steht schon auf, alle beide!“, forderte Gabriel plötzlich auf und zog mir die Decke einfach weg. Lassie miaute auf und rannte aus dem Zimmer.
 

„Tierquäler!“, beschimpfte ich ihn, da zog er mich bereits an meinem Arm spielerisch aus dem Bett und drückte mich ins Bad.
 

„Waschen, Anziehen, Kaffee trinken und los!“, befahl er und war schon verschwunden.
 

„Frühstücken wir denn gar nicht?“, fragte ich ihn verwundert, als ich immer noch müde in die Küche stapfte. „Oh, Gott, es ist 6 Uhr morgens?!“, entwich es meinem Mund, als mein Blick die Küchenuhr streifte. Deswegen war es noch nicht so hell!
 

„Wenn wir so früh losfahren, wird uns hier auch keiner entdecken. Außerdem dauert die Fahrt nun mal und wir haben viel mehr vom Tag“, erklärte er mir, während er mir Kaffee einschenkte. „Wir frühstücken unterwegs, OK?“
 

„OK.“
 

Wir hielten gegen halb acht. An einer kleinen Raststätte, die merkwürdiger Weise fast gar nicht überfüllt war. Mein Magen knurrte und ich konnte mich gar nicht entscheiden, welches Brötchen ich nehmen sollte. Letztendlich war es doch ein Schokocroissant und ein weiterer Kaffee. Ich sah Gabriel an, als wir an dem kleinen Tisch in der hintersten Ecke Platz genommen hatten; ich ertappte ihn dabei, wie er die Umgebung musterte und wie seine Augen immer wieder die Menschen streiften die hier und dort saßen und die neuen Kunden, die die Raststätte betraten. Ich musste seufzen. Ich war genervt. Er war immer noch auf der Hut, dabei waren wir fast ne Stunde gefahren! Wieso sollten denn ausgerechnet irgendwelche Leute aus der Schule so FRÜH an einem Samstag in dieselbe Richtung wie wir unterwegs sein?! Die hatten sicherlich Besseres zu tun!
 

„Ist was?“, fragte er mich plötzlich und ich sah aus dem Fenster.
 

„Nö, alles OK.“
 

„Das stimmt doch nicht, oder?“, hakte er nach einer kurzen Weile milder nach und ich verdrehte die Augen.
 

„Hab nicht immer so viel Schiss, dass wir entdeckt werden, OK?!“, zischte ich und streifte ihn nur kurz mit meinem Blick. „Bist du fertig, können wir los?“ Er nickte einfach nur und unsere Reise ging weiter.
 

„Jonas“, setzte er dann nach einigen Minuten der Fahrt an. „Tut mir Leid wegen vorhin.“
 

„Schon OK“, murmelte ich, noch immer aus dem Fenster starrend, da legte er plötzlich seine Hand auf meinen Oberschenkel und eine Welle der angenehmen Wärme raste im Eiltempo durch meinen Körper. Ich sah in an und er lächelte mir kurz zu, wonach er seinen Blick wieder auf die Autobahn richtete.
 

„Deswegen will ich ja mit dir weiter weg fahren. Damit ich mir deswegen keine großen Sorgen machen kann und wir einfach mal ein wenig Zeit draußen verbringen können, verstehst du?“, sagte er.
 

„Mhmmm“, machte ich und schloss die Augen, um mich noch mehr auf seine Berührung konzentrieren zu können.
 

Der Tag war wunderschön. Ich weiß, es klingt so abgedroschen, aber dieses simple Wort beschreibt es dennoch genau richtig. Wir aßen Krabbenbrötchen, wir gingen am Strand spazieren – zwischen all den Rentnern, und der Wetterbericht hatte wirklich nicht gelogen. Trotz des Windes, der von der See kam, war es warm genug. Ich fragte mich, ob ich nicht sogar ein bisschen braun werden könnte.
 

Gabriel fragte mich über meine Familie aus und ich erzählte ihm davon, wie meine Mutter meinen Vater und mich einfach hatte sitzen lassen und dass die Dinge zwischen meinen Eltern wohl für immer kompliziert bleiben würden; mein Vater wollte sich einfach keine andere Frau suchen. Ich glaube, er liebte meine Mama noch immer. Aber ich hatte keine Lust mehr zu erzählen. Vielmehr interessierte mich Gabriels Familie.
 

„Erzähl mir was“, forderte ich ihn auf und endlich öffnete er sich mir gegenüber etwas. Seine Mutter war ständig krank, während sein Vater sich mit Radfahren und anderem Sport fit hielt und ihn im Rahmen seines Sportprogramms auch öfters besuchte – und sich dann beschwerte, dass sein Sohn keine große Begeisterung für körperliche Fitness aufbringen konnte.
 

„Er sagt mir ständig ich sei zu fett“, sinnierte er und ich lachte laut.
 

„Du bist nicht fett! Du bist genau richtig“, sagte ich ihm grinsend.
 

„Nun, mein Vater meint ich sei zu fett und würde deswegen keine Frau finden“, fuhr er fort und richtete seinen Blick dann wieder direkt auf mich.
 

„Hä, deine Familie wusste doch eh Bescheid…?“
 

„Was nichts bedeutet, dass sie es gutheißen“, entgegnete er milde und lächelte. „Du hast da wohl scheinbar sehr viel Glück mit deinem Vater“, fügte er im selben Ton hinzu. „Ich denke, mein Vater wird diesen Schock wegen Michael einfach nicht mehr los und verurteilt mein Schwulsein deswegen. Aber das macht nichts.“
 

Ich drückte seine Hand und wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Wir wechselten eh das Thema und redeten über Nichtigkeiten. Und diese Schlampe von schlechtem Gewissen wollte mich einfach nicht in Ruhe lassen.
 

„Wollen wir uns mal hinsetzen? Die Sonne hat den Sand so schön aufgewärmt“, schlug Gabriel nach einer ganzen Weile vor. Ich nickte lediglich. Er hatte Recht gehabt. Der Sand war warm und es war angenehm, endlich mal zur Ruhe zu kommen. Spazierengehen konnte einen doch auch ganz schön fertig machen.
 

„OK. Sagst du mir jetzt, was dir schon den ganzen Tag auf dem Herzen liegt?“, schreckte mich Gabriels Stimme aus meinen Gedanken. Erschrocken musterte ich ihn und er schien nicht daran zu denken, seine Augen von mir zu nehmen. „Komm, sag es mir einfach, dann kannst du auch den restlichen Tag so richtig genießen, ja?“
 

Der Damm brach.
 

Ich erzählte ihm einfach alles, von meinem Schock, als Inga plötzlich auf meinem Sofa saß und meiner Ratlosigkeit, als mein Vater mich konfrontierte; von meiner dummen Idee mit André und der Problematik dieser Lüge wegen meiner Freunde; und von meiner weiteren grandiosen Geschichte mit den Internetflirts, die aus dieser Problematik entstand.
 

Gabriels Miene war wie versteinert. Als ich fertig war und ihn atemlos anblickte, schloss er kurzzeitig seine Augen und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, so als ob er müde wäre und versuchte, den Schlaf von seiner Haut zu streichen. Er seufzte ziemlich laut und sein Blick ruhte dann endlich wieder auf mir und nicht auf dem grau erscheinenden Wasser vor uns.
 

„Ich wusste, dass so etwas passieren würde“, sagte er. „Früher oder später...“
 

„Es tut mir leid!“, rief ich schon beinahe aus. „Wirklich, ich hatte nicht gedacht, dass Inga einfach herkommt! Das macht sie sonst nie!“
 

„Vielleicht verhältst du dich ja auch komplett anders, sodass sie gezwungen ist, sich dir gegenüber auch anders zu verhalten...“, sinnierte er, den Blick wieder aufs Meer richtend. „Denk nur mal an die Party im Klub letztens...“
 

„Ja...“, gab ich kleinlaut bei. „Aber ich geb' mir echt Mühe, mir nichts anmerken zu lassen und sie glaubt ja auch diese Internetflirt-Geschichte und Josh und Martin auch, und die drei wissen ja jetzt auch, dass ich meinem Vater das mit André gesagt habe. Die halten dicht! Das ist jetzt ganz sicher!“
 

„Ja, auch wenn mir diese Lügenversion absolut nicht gefällt...“, bemerkte Gabriel abfällig. Ich starrte den Sand an.
 

„Aber vielleicht ist es so ja besser, weil uns jetzt meine Freunde wie auch mein Vater erstmal in Ruhe lassen...“, sagte ich.
 

„Erst mal. Meinst du nicht, dass dein Vater irgendwann diesen André kennenlernen will?“, richtete er seine Worte direkt an mich und sein durchdringender Blick erfüllte mich mit Nervosität.
 

„Ja, dann erzähl ich ihm halt, ich hätte mit ihm Schluss gemacht!“
 

„Und dann?“
 

„Ja, dann... Dann sag ich halt, dass ich wieder wen kennengelernt hätte.“
 

„Und das machst du dann wie oft...?“, seine Stimme klang kalt und ich wusste einfach nicht mehr weiter, ließ meine Schultern hängen und starrte wieder die feinen Sandkörner an.
 

„Mann, ich wollte doch auch nicht, dass das passiert!“, sagte ich verzweifelt und resignierend.
 

Wir schwiegen und lauschten dem Geräuschen des Wassers und des Windes, der sachte über unsere Körper strich. Gabriel seufzte erneut und dann legte er plötzlich seinen Arm um mich und zog mich eng an sich. Unsere Blicke trafen sich und unsere Gesichter waren sich dabei so nah, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten.
 

„Weißt du was schön wäre?“, sagte er dann.
 

„Was denn?“
 

„Wenn wir einfach jeden Tag so wie hier verbringen könnten“, meinte er mild und gab mir einen leichten Kuss auf die Lippen. „Auch wenn uns manche Rentner-Pärchen komisch angucken.“ Mit seinem Kopf nickte er ganz leicht in Richtung Wasser und meine Augen folgten dieser Bewegung; ich sah gerade noch die letzten abschätzenden Blicke der zwei Senioren, die sich nun von uns entfernten. Ich grinste Gabriel ein wenig an.
 

„Bist du mir sehr böse wegen der Lügengeschichte?“, fragte ich ihn dann vorsichtig und er zog mich auf seinen Schoß.
 

„Es war wahrscheinlich das Beste, was du in dieser Situation tun konntest“, sagte er dann.
 

„Hmm…“, machte ich. „Und jetzt?“
 

„Jetzt müssen wir eben noch vorsichtiger sein… Ich weiß nicht…“, sagte er. Und dann küssten wir uns.
 

Wir waren müde, als wir das Haus am Abend erreichten. Lassie miaute solange, bis Gabriel ihm endlich etwas zu Fressen gab und als wir ins Bett stürzten, hatte keiner von uns die Kraft, die Katze fort zu scheuchen. Und so schliefen wir zu dritt genüsslich ein.
 

Wir arbeiteten am Sonntag, in der Küche, direkt nach dem Frühstück begannen wir damit. Ich schrieb an meiner Arbeit über Nordische Mythologie weiter – ich war FAST fertig – und Gabriel korrigierte irgendwelche Aufgaben, bereitete den Unterricht vor. Es war ein völlig entspannter, angenehmer Vormittag. Bis mein Handy klingelte und mein Vater sich beschwerte, dass er Hilfe im Garten bräuchte; das Wetter sei ja so schön und das müsse man ausnutzen. Widerwillig machte ich mich auf den Weg – nicht ohne mich vorher mit reichlichen Küssen und Umarmungen von Gabriel zu verabschieden.
 

Die Gartenarbeit war grässlich.

Nicht aufgrund der eigentlich Tätigkeiten, die anfielen, sondern wegen dieser aufdringlichen Neugier meines Vaters, der auch scheinbar indirekte Wege versuchte Informationen über „André“ und was wir beiden denn gemacht hätten zu ergattern. Er stellte Fragen, die ich patzig beantwortete oder gar komplett ignorierte. Meine Wut wuchs mit jeder einzelnen von ihnen; ich war kurz davor einfach alles hinzuschmeißen und ins Haus zu gehen, doch mein Vater kam mir irgendwie zuvor – als ich ihm genervt sagte, er solle „seine Fresse“ endlich halten, schrie er mich an, mich gefälligst in mein Zimmer zu scheren und ja nicht mehr runter zu kommen.
 

„Sehr gern!“, brüllte ich zurück.
 

Ich muss schon gestehen. Mein Ärger verflüchtigte sich schneller, als er sich überhaupt hatte aufbauen können. Viel eher trat nun wieder die Schlampe von schlechtem Gewissen an dessen Stelle. Mein Vater konnte gar nicht wissen, wie sehr ich mir wünschte, ihm Gabriel einfach vorstellen zu können... Ich wollte ihn nicht so anlügen, nicht in diesem Bezug, nicht so heftig, wie ich es leider tun musste.
 


 

Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass ich mich über den Beginn eines Montages freute. Mein Vater und ich taten am Frühstückstisch so, als wäre nichts gewesen und ich machte mich auch schon sehr schnell auf zur Schule. Inga wartete am Tor und überfiel mich mit ihrer Wochenendplanung; sie fragte mich, ob ich denn nicht wenigstens am Freitag mit Stefan, ihr und diesem Mitbewohner da Cocktails trinken würde. Als sie ihren Hundeblick ausspielte, sagte ich zu.
 

Ich sagte mir, dass es nun vor allem an der Zeit war, stark zu bleiben und sich zusammen zu reißen. Gabriel war nicht sauer auf mich und ich dürfte ihm nun in naher Zukunft nicht verärgern, uns in Gefahr bringen!
 

Und so biss ich mir auch während der nächsten Geschichtsstunden auf die Zunge, ich starrte Inga an, oder das Geschichtsbuch und wenn ich so tat, als würde ich Herrn Hinrichs ansehen, so schaute ich einfach an ihm vorbei und dachte an etwas völlig anderes. An das bevorstehende Mittagessen, an irgendwelche PC-Spiele, die ich mir mal holen wollte, an das was Josh und Martin so über ihre Gilde erzählten und und und. Kurz: Es gelang mir, Gabriel nicht die ganze Zeit über anzustarren! Es kostete mich zwar enorm viel Kraft und vom Unterricht bekam ich auch so gut wie gar nichts mit, aber ich war dennoch stolz auf diesen kleinen Schritt, den ich gemeistert hatte!
 

Am Mittwoch fragten Josh und Martin mich, ob ich nicht Bock hätte, mir irgendwelche Horror-Filme am Samstag mit ihnen reinzuziehen. Ich rief Gabriel auf dem Nachhauseweg an.
 

„Die wollen am Samstag mit mir nen Videoabend machen, aber ich bin doch schon Freitag mit Inga und so unterwegs, los, red mir das aus und sag, dass ich gefälligst zu dir kommen soll!“, rief ich schon fast in den Hörer und erntete damit ein mildes Lachen Gabriels.
 

„Mach doch lieber wieder etwas mit deinen Freunden, Jonas...“, sagte er sanft. Und als ich nichts sagte, fuhr er ebenso fort. „Schau, wir haben dann ja doch noch etwas vom Sonntag, oder? Und außerdem habe ich etwas ganz tolles für das kommende Wochenende geplant.“ Seine Stimme klang verheißungsvoll.
 

„Was denn?“, hakte ich aufgeregt nach.
 

„Ein Ausflug nach Hamburg, inklusive Übernachtung im Hotel. Was sagst du?“
 

„Meinst du das ernst???“
 

„Japp.“
 

„Geil!“
 

Ich kann nicht beschreiben, WIE glücklich ich tatsächlich war. Gabriel dachte an mich, er plante Sachen für uns und wir würden uns kommenden Wochenende sehen, wir würden quasi verreisen und – oh, Mann! Auf die Nacht im Hotel freute ich mich besonders...! In meinen Gedanken schweifte ich bereits ab und zensierte mich nach eine Weile bereits selbst...
 

Also sagte ich Josh und Martin zu und ich meinte sogar, dass die beiden sich deswegen sogar sehr freuten. Ich beendete sogar meine Extra-Arbeit und legte sie stolz in Gabriels Fach. Ich hinderte mich daran, ihm noch ein kleines Extra hinzuzufügen. Worauf ich dann auch stolz war.
 

Ich überlebte den Freitag.

Stefans Mitbewohner war schon irgendwie attraktiv und hätte ich Gabriel nicht gehabt, hätte ich mich sicherlich in ihn verguckt. Aber es war auch beruhigend zu wissen, dass dieser junge Kerl am Vorabend einen anderen jungen Kerl kennengelernt hatte, der seine gesamten Gedanken ausfüllte und er somit nicht das Fünkchen Interesse an mir zeigte, von dem Inga vorher erzählt und auf dem sie beharrt hatte. Im Grunde genommen war der leichte Smalltalk, den wir an diesen vier Stunden betrieben, völlig angenehm. Ich ging zufrieden nach Hause und fand meinen Schlaf auch sehr schnell.
 

Der Samstag mit Josh und Martin verlief auch gut, wenn auch etwas anders. Wir leerten eine Kiste Bier zusammen und machten uns dann auch noch an den „geheimen“ Schnapsvorräten von Martins Eltern zu schaffen, die bereits schliefen. Und irgendwann schaltete irgendwer von meinen beiden Freunden plötzlich diese dämliche Pornoseite an. Ich glaube YouPorn. Und die beiden grinsten debil, während irgendwelche Frauen irgendetwas mir ihren Geschlechtsteilen vor der Linse trieben und unfassbar dämlich dabei stöhnten.
 

„Ich kapier echt nicht, wie du NICHT auf Titten stehen kannst!“, lallte Josh dann irgendwann, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen.
 

„Ihr seid echt so erbärmlich“, murmelte ich kopfschüttelnd und lachte, die beiden am Schirm Klebenden anguckend.
 

„Ach, erzähl uns jetzt b-bloß nicht, dass du keine Pornos guckst… ich meine, Schwulenppppornos gibt es ja wohl auch genug!“, feixte Martin dann und ich musste schief grinsen und kichern. Ein paar davon hatte ich ja tatsächlich auf meiner Festplatte. „D-Das nehme ich als Antwort. Danke!“, kam es von Martin. Und danach schauten wir uns dann wieder einen Horror an. Bei dem wir einschliefen.
 

Am Sonntag setzte ich mich, trotz meines Megaschädels, an Hausaufgaben, eine Tatsache, die meinen Vater sehr zufrieden stimmte; er betrat mein Zimmer und brachte mir sogar Eistee und einige Kekse hoch. Ich kippte fast vom Stuhl! Und er nervte mich auch nicht mehr wegen „André“. Auch nicht an den folgenden Tagen, die für meinen Geschmack einfach viel zu langsam vergingen, so als hätte sie jemand in Teer getaucht.
 

Ich war nervös, wann immer ich in den Geschichtsstunden zu Gabriel sah, der mich diese Woche Gott sei Dank nicht zum Lesen aufforderte. Als ich in der Fünf-Minuten-Pause am Pult vorbeiging, sagte er mit seiner Lehrerstimme, halb gelangweilt, halb streng: „Ich habe deine Arbeite erhalten, sieht ganz gut aus. Ich lese sie mir kommende Woche durch.“ Er schaute mich dabei nur ganz kurz an und ich war glücklich, dass ich mich nur einige Sekunden später auf dem Schulflur befand, denn ich musste dümmlich grinsen und konnte das absolut nicht verhindern.
 

Endlich.

Endlich kam der Freitag. Und meine Freunde hatten noch nicht mal etwas vor mit mir, weil sie entweder durch Familie oder andere Bekanntschaften eingespannt waren. Yes! Ich erzählte sogar meinem Vater eine Teilwahrheit, die mein gesamtes schlechtes Gewissen in eine Art Balance brachte; mit der Reisetasche um meine Schultern gehangen ging ich nach unten, wo er fernsah, und berichtete ihm, damit er sich keine Sorgen um mich mache, dass ich mit André nach Hamburg fuhr. Er runzelte die Stirn und sah mich eine Weile lang an.
 

„Was wollt ihr denn da?“, fragte er schließlich und ich seufzte.
 

„Uns die Stadt ansehen, Shoppen, Weggehen…“, entgegnete ich also und er schwieg erneut eine kurze Zeit lang.
 

„Hm“, brummte er dann. „Seid vorsichtig, ja? Und hab dein Handy an, damit ich dich erreichen kann. Und ruf mich mal an, wenn ihr angekommen seid.“
 

„Okay“, willigte ich ein und machte mich auf den Weg zu Gabriel. Er trug dieses superenge, dunkelgrüne T-Shirt, als er mir die Tür aufmachte. Wie immer huschte ich hinein. Niemand hatte mich gesehen. Ich wunderte mich langsam, ob Gabriel überhaupt Nachbarn hatte, oder ob die anliegenden Häuser einfach nur als Zierde dort standen. Vielleicht hatte er sie ja alle aufgekauft, so damit mich niemand sehen würde und wir sicher hier waren? Vielleicht war er ja heimlicher Millionär und war nur zur Tarnung als Lehrer unterwegs?
 

„Was ist denn so witzig?“, fragte er mich, als ich leise kichernd in die Küche schlenderte, er mir folgend.
 

„Ich frage mich nur gerade, ob du ein Millionär bist“, antwortete ich ihm und nahm am gedeckten Tisch Platz, schließlich wollten wir heute ein kleines Abendessen gemeinsam zu uns nehmen.
 

„Aha“, sagte er und sah mich an. „Suggerieren dir Jogginghosen ein erhöhtes Einkommen, oder wie darf ich das verstehen?“, neckte er mich und ich warf einen Blick auf seine Beine. Nunja, eine alte, graue Jogginghose sollte mir eigentlich eher das Gegenteil sagen. Ich grinste schief. Er sah trotzdem verdammt gut aus.
 

„Ich hab deine Arbeit gelesen“, sagte er plötzlich, als ich mein erstes Stück Brot gerade schmierte. Gabriel grinste leicht und betrachtete mich.
 

„Und?“, hakte ich mich leicht klopfenden Herzen erwartungsvoll nach. Das Essen war in dieser Sekunde einfach mal egal, auch wenn ich eigentlich Hunger hatte. Gabriels Grinsen wurde noch breiter.
 

„Sie gefällt mir äußerst gut. Ich muss schon sagen, damit hatte ich nicht gerechnet“, sagte er dann, mehr oder weniger anerkennenden nickend.
 

„Ist also richtig gut, oder was?“
 

„Hm. Ja. Sagen wir mal, als Note würde ich dir glatt ne 3+ geben“, entgegnete er ruhig und griff nach dem Käse.
 

„Nur ne 3+?“, hakte ich abermals nach, das Essen noch immer nicht wieder beachtend.
 

„Das ist doch für dich eine gute Note“, entgegnete er hart und ich biss mit vor Unmut auf die Zunge.
 

„Ja, aber ich hab mir dieses Mal richtig Mühe gegeben!“, wand ich ein.
 

„Ich finde, du hast einige sehr gute Fakten in die Arbeit fließen lassen, gute Recherche, aber dir fehlt halt irgendwie der rote Faden, was ziemlich oft bei dir der Fall ist“, fing er an bedächtig zu erklären. Und rutschte dabei immer mehr in seinen Lehrer-Tonfall, mit dieser ernsthaften, zum Teil starren und unfreundlichen Miene. „Du bleibst einfach zu sehr an kleineren Tatsachen hängen. Die wirklich wichtigen Argumente und Fakten reißt du immer nur ganz kurz an, dir fehlt der richtige Fokus, dabei hatte ich dir in Gesprächen suggeriert, welche Thematiken du eher hervorheben solltest.“
 

„Ja, ist ja gut...“, murmelte ich desinteressiert.
 

„Zudem hast du die vorgeschriebene Länge um 12 Prozent überschritten. Das darfst du in wichtigen Arbeiten einfach nicht. Und deine Orthografie lässt manchmal zu wünschen übrig, du solltest längere Texte von irgendwem durchlesen lassen bevor du sie abgibst“, fuhr er unbeirrt fort.
 

„Ja, ist ja jetzt gut...“, wiederholte ich etwas eindringlicher und schmierte mein Brot zu Ende, ohne ihn dabei anzusehen.
 

„Aber auf jeden Fall hast du deine Fehlstunden und die damit verbundenen Probleme aus der Welt geschaffen und das ist doch, was zählt. Wenn du in Zukunft andere Texte verfassen musst, zum Beispiel für Deutsch, dann gehen wir die zusammen durch, damit du solche groben Fehler nicht noch mal reinhaust. Wäre ja ein bisschen peinlich für einen angehenden Abiturienten“, sagte... Hinrichs.
 

Ich pfefferte das noch nicht gekostete Brot zurück auf den kleinen Teller und mein Lehrer sah mich erschrocken an. „Ich hab keinen Hunger“, erklärte ich genervt und erhob mich. „Ich bin im Wohnzimmer“, erklärte ich noch knapp, noch bevor er etwas sagen konnte. Ich schaltete den Fernseher ein, mir war egal was lief, Hauptsache ich konnte etwas sinnfreies anstarren und nicht an die vergangenen Minuten denken. Das war absolut Hinrichs gewesen. Ein besserwisserischer, abgehobener Idiot.
 

„Jonas...“, drang seine sanfte Stimme zu mir. Er stand am Fernseher. „Entschuldige, ich wusste nicht, dass du nicht darüber reden willst“, sagte er und ging vorsichtig auf mich zu, setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich funkelte ihn an.
 

„Es geht nicht darum, dass ich nicht darüber reden will, sondern wie du mich behandelst“, entgegnete ich fest und Gabriel wusste scheinbar nicht, was er sagen sollte.
 

„Wie habe ich dich denn eben behandelt?“, fragte er nach einer Weile und ich seufzte laut.
 

„Halt scheiße.“
 

„Und was genau meinst du mit 'halt scheiße'?“, hakt er nach und ich hätte ihm in diesem Moment furchtbar gern irgendetwas gegen den Kopf geschleudert.
 

„Mann, so herablassend und belehrend halt!“, zischte ich frustriert.
 

„Hat vielleicht damit zu tun, dass ich dein Lehrer bin...“, bemerkte er plötzlich giftig und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Gabriel sagt nichts mehr, sondern verschwand wieder aus dem Zimmer. Ich dagegen rührte mich nicht vom Fleck, saß wie versteinert da und wusste nicht, was zu tun war. Ich lauschte und konnte aufgrund der dämlichen Soap-Melodie, die aus der Flimmerkiste drang, nicht genau hören, was Gabriel machte und wo er sich überhaupt befand. Ich zuckte mit den Schultern.
 

In einigen Minuten würde er sowieso wieder hier auftauchen, ich war mir sicher.

Doch das tat er nicht.
 

Als die Episode zu Ende war, stand ich auf und ging vorsichtig in die Küche. Der Tisch war komplett aufgeräumt. Lassies Miauen erschreckte mich; der Kater, wegen dem alles begonnen hatte, saß neben seinem Napf und schaute mich fast schon auffordernd an. „Nicht jetzt...“, murmelte ich und suchte nun auch den Rest des Untergeschosses nach Gabriel ab. Letztendlich stieg ich die Treppe hoch und lag mit meiner ersten Einschätzung im oberen Geschoss goldrichtig: er saß in seinem Arbeitszimmer und arbeitete an etwas. Ich nahm meinen Mut zusammen, klopfte und trat trotz ausbleibender Antwort ein. Gabriel musterte mich, einen Papierbogen noch immer in der Hand haltend. Sein Blick war weder freundlich noch böse, schwer einzuordnen.
 

„Was machst du?“, fragte ich ihn leise.
 

„Ich korrigiere noch ein paar Übungszettel. Das machen Lehrer manchmal“, entgegnete er ruhig und seine Augen wanderten zurück zu den genannten Zetteln. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum.
 

„Ich find's einfach scheiße, dass du dich wie mein Lehrer benimmst, wenn ich bei dir bin. Ich dachte, hier bin ich dein Freund und nichts anderes!“, brach es plötzlich aus mir heraus und Gabriel legte den Papierbogen seufzend beiseite, die Augen auf mich richtend.
 

„Wer hat denn das gesagt?“, bemerkte er dann sanft. „Jonas, natürlich bist du mein Freund und ich bin hier aus bereits so oft besprochenen Gründen anders zu dir, als in der Schule, in der Öffentlichkeit. Aber ich bin immer noch, trotz all dem, was zwischen uns ist, dein Lehrer. Und als dein Lehrer ist mir deine Zukunft wichtig. Auch als dein Freund! Das ist doch wohl klar, oder nicht?“, fuhr er energischer fort. „Also stell dich nicht immer so an, wenn ich mal in meinen Lehrerslang oder wie auch immer du das sehen willst, abrutsche. Ich meine es nur gut mit dir. Und du bist eben mein Lover UND mein Schüler.“
 

Ich musste grinsen.
 

„Was?“, hakte er nach.
 

„Du hast noch nie das Wort 'Lover' benutzt“, erklärte ich sofort und wir blickten uns an. Gabriel schüttelte den Kopf und lachte kurz ganz leise.
 

„Tut mir leid, OK? Ist halt alles nicht so einfach“, murmelte ich dann und erhielt ein Lächeln als Antwort.
 

„Komm her…“, hauchte er dann und ich kam seiner Aufforderung umgehend nach. Seine Finger legten sich um mein Handgelenk und er zog mich direkt auf seinen Schoß, sodass ich rittlings auf ihm saß; seine zweite Hand wanderte direkt in meinen Nacken und er zog mich vorsichtig in einen leidenschaftlichen Kuss. Seine Zunge war feucht. Sie war heiß und wand sich spielerisch um die meine, während eine seiner Hände bereits wieder meinen Körper erkundete und unter mein Shirt drang, meine nackte Haut betastete. Die Hitze unseres Kusses breitete sich auf meinen gesamten Körper aus und ich presste mich noch weiter gegen Gabriel, der leicht in meinen Mund seufzte. Er war erregt und ich konnte es deutlich spüren.
 

Als wir uns in die Augen blickten und unsere Lungen mit Luft befüllten, grinste er plötzlich und etwas Verruchtes trat in seinen Blick, was mir deutlich machte, dass wir momentan alles andere als Lehrer und Schüler waren. Einen Augenblick später befand ich mich bereits mit meinem Rücken auf Gabriels enormen Schreibtisch, meine Jeans bereits auf dem Boden liegend. Und meine Boxershorts folgten sogleich…
 

Gabriel war wild und die ganze Zeit klammerte ich mich an ihn, so als hätte ich Angst ihn zu verlieren. Den Höhepunkt erlebten wir zusammen…
 

„Du hast Hunger, oder?“, fragte er nach einer Weile und nachdem wir uns wieder angezogen hatten. Ich nickte. Er grinste. „Komm, ich hol einfach noch mal alles raus, ich hab auch nichts gegessen“, sagte er und wir hielten endlich das kleine Abendessen ab, das wir besprochen hatten. In Ruhe. Ohne irgendwelche Zickereien und Missverständnisse. Und dann fuhren wir los. Viel, viel später als geplant, aber wir fuhren.
 

Und es lohnte sich.
 

Der Ausblick war atemberaubend. Gabriel hatte uns ein Zimmer in einem riesigen Hotel reserviert, „20 up“, oder wie auch immer es hieß – 20 Stockwerke beinahe im Herzen Hamburgs und wir waren im Stockwerk 18! Ich klebte regelrecht an der Fensterscheibe und betrachtete die ins Schwarz leuchtende Hansestadt, in die wahrscheinlich niemals Ruhe einkehrte. Ich musste an diese Satellitenbilder denken, die die globalen Metropolen nachts zeigten. Es war wunderschön.
 

„Komm, ich geb uns noch nen Gute-Nacht-Cocktail an der Bar aus, was hältst du davon?“, schlug Gabriel vor und ich nickte eifrig.
 

Es war edel. Nicht zu edel, aber auch überhaupt nicht schmuddelig. Die meisten Leute trugen Abendkleidung, aber es fanden sich auch Exemplare wie wir, in dunklen Jeans und Hemden. Wir hatten sogar noch einen kleinen Tisch am Fenster ergattert, aus dem ich nun auch die ganze Zeit starrte.
 

„Schmeckt's?“, fragte Gabriel mich und ich nickte erneut.
 

„Und dir?“, hakte ich nach und er nickte ebenfalls.
 

„Haut nur ziemlich schnell rein. Die Fahrt war anstrengend“, entgegnete er und ich musste grinsen.
 

„Ich hab dich noch nie betrunken gesehen...“, sagte ich dann frech. Gabriel lachte.
 

„Ich trinke ja auch nicht so oft“, sagte er entschlossen. Aber ein kleines Grinsen konnte er dennoch nicht verbergen. Und ein bisschen angetrunken war er dann doch, weil ich ihn angefleht hatte und noch einen dieser Cocktails für zwei Personen zu bestellen.
 

Die Nacht war aufgrund dieser Tatsache… ziemlich spannend…
 

Wir frühstückten auswärts, irgendwo in der City, sogar mit ’nem Glas Sekt. Wir gingen an der Alster spazieren, wir machten eine Hafenrundfahrt, wir tranken Latte Macchiato in einem der zahlreichen Schwulencafés. Wir gingen sogar Hand in Hand umher, wir küssten und hier und da und Gabriel drehte sich kein einziges Mal in Angst um, kein einziges Mal erhaschte ich diesen nervösen Blick, mit dem er normalerweise die Umgebung abtasten würde. Es war herrlich. Er kaufte mir sogar eine neue Hose. Und dann gingen wir in ein tolles italienisches Restaurant zum Abendessen. Und landeten letztendlich auf der Reeperbahn. Wo sonst.
 

Ich weiß nicht, was es war, das über mich kam, aber als wir an einem der wirklich großen speziellen Läden auf der Reeperbahn vorbeigingen, zog ich Gabriel einfach hinein.
 

„W-was?“, lachte dieser, ließ sich aber mit hineinziehen.
 

„Nur gucken“, entgegnete ich und er grinste mich an.
 

Beim Gucken blieb es allerdings nicht.
 

War es zu Anfang noch ein seltsames Gefühl zwischen all den Regalen mit dieser zuweilen seltsamen Utensilien zu wandern, normalisierte sich das ganze in wenigen Minuten. Spannend war es aber immer noch, schließlich kaufte ich hier mit meinem Geschichtslehrer ein… Und in diesem Moment erregt mich dieser Gedanke sogar ein bisschen. Solch ein Tabubruch…
 

Wir kauften einiges an Gleitmittel und sogar Handschellen… Ich musste dämlich grinsen. Ein komisches Kartenspiel extra für Schwule ergatterten wir auch noch.
 

Die Summe war viel zu hoch, als dass ich sie im Kopf behalten wollte, aber Gabriel zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er bezahlte. Er hielt mir die größere, komplett schwarze Einkaufstüte hin, die alles verbarg, was sich in ihr befand und unauffällig sein sollte, obschon sie das genaue Gegenteil war. Wie ein kleiner Schuljunge musste ich kichern, als ich sie entgegen nahm und wir auf den Ausgang zu schlenderten.
 

„Hm, ist es dir jetzt plötzlich peinlich?“, neckte Gabriel mich, als wir schon auf den vollen Bürgersteig getreten waren.
 

„Ganz und gar nicht“, entgegnete ich und stellte mich ihm in den Weg, legte meine Hände um seinen Nacken und gab ihm hier, zwischen all den Menschen, einen leidenschaftlichen Kuss. Und er protestierte nicht. Und das war mehr als wunderschön. Es war so unglaublich befreiend, es beflügelte mich regelrecht. Und als ich mich umdrehte und Gabriel in die dahin schlendernde Menge ziehen wollte, war das Paar aufgerissener Augen direkt auf mich gerichtet. Dort stand er, wie angewurzelt, und sah mich an – Ronald. Ulfs Sohn. Hier in Hamburg. Genau hier vor diesem Laden. Sollte ich meine Kinnlade wieder nach oben schieben, oder sie einfach ignorieren?
 

Das Schicksal entschied für mich. Meine Kinnlade blieb so tief hängen, wie es nur ging, als der besagte Vater aus Versehen gegen seinen Sohn lief und ihn lachend anschnauzte, warum er denn mitten im Weg hielt. Als er Ronalds Blick folgte, wurde mir bewusst, dass Ronald nicht der einzige war, der mich seit einigen Sekunden anstarrte. Ich wandte meinen Kopf leicht nach rechts und sah in das Paar Augen, die mich schon lange nicht mehr so intensiv gemustert hatten.
 

Ich war so schockiert und aufgebracht, dass mir erst Sekunden nach dieser makaberen Feststellung einfiel Gabriels Hand endlich loszulassen. Ich riss mich regelrecht los und erkannte, dass das die wohl stupideste Aktion des gesamten Zusammentreffens war. Zu spät war es eh und untermauerte wohl all die in Windeseile getroffenen Gedanken der drei, die uns an diesem furchtbaren Ort über den Weg gelaufen waren.
 

Ich schluckte.
 

„Was machst DU denn hier? Ich dachte, du kannst nicht mit nach Hamburg?!“, keifte meine Mutter schon, auf uns zutretend, sich aus der Menge schaufelnd. Ihre Augen musterten Gabriel kalt. „Und wer ist DAS? Und was sollte das eben überhaupt?!”, spie sie aus, die Arme nun vor ihrer Brust verschränkend, auf unsere Hände kurz starrend. Ihre Unterlippe zitterte leicht.
 

„André, das ist meine Mutter, Mama, das ist André“, sagte ich ausdruckslos und Gabriel schaltete auch schon in der nächsten Sekunde.
 

„Hallo, ich bin André“, sagte er völlig überflüssig und hielt meiner Mutter die Hand hin, die sie nicht ergriff. Ulf und Ronald waren bereits angetreten. Sie waren beide kreidebleich im Gesicht und versuchten mit lächelnd zuzunicken, was ihnen absolut nicht gelang. Sie bekamen auch kein einziges Wort heraus, sondern sahen meine Mutter stattdessen an.
 

„Jonas…“, brachte sie dann heiser heraus. „Was… Klär mich auf! Dein Vater hat mir gesagt, du könntest nicht mit nach Hamburg, weil du ein Projekt für die Schule machst und jetzt laufen wir uns ausgerechnet in DIESER Gegend über den Weg und… Wieso hast du diesen Mann gerade geküsst?!“ Sie schien leicht hysterisch und verwirrt, völlig verdattert, wütend.
 

Tja, und das war dann scheinbar der Moment in dem die Rädchen in meinem Kopf einen Aussetzer hatten; oder besser gesagt, meine Gedanken ans Ende geführt hatten, auf das sie eh zugesteuert hatten: Was hatte es jetzt noch einen Sinn großartig wegen meiner Neigungen zu lügen?
 

„Das ist mein fester Freund“, entgegnete ich eisern.
 

„Jesus…!“ Meine Mutter hielt sich die Hand vor den Mund und wich einen Schritt zurück, Ulfs Hand legte sich auf ihre Schulter. „Isabel…“, murmelte er, doch sie ignorierte ihn. „Jesus!“, seufzte sie erneut und ihre Augen flitzten zwischen Gabriel und mir hin und her.
 

„Papa weiß es“, fuhr ich eisern fort. „Ehrlich gesagt, wollte ich dir auch erzählen, dass ich schwul bin, aber dann musstest du ja zu dem Typen abhauen! Naja, jetzt weißt du’s ja auch.“
 

„Jonas…“, kam es von Gabriel, er nun die Hand auf meine Schulter gelegt hatte. In meiner Kehle brannte es, mein Herz klopfte wie wild und ein leichtes Schwindelgefühl machte sich breit. Wieso? Wieso?! In Hamburg, vor einem Sexshop, mit dieser Schwarz-glitzernden Tüte in der Hand, mit GABRIEL an meiner Seite?! Wieso?! Wie konnte das möglich sein? Ein TOLLES Outing vor meiner Mutter. Grandios! Das Schicksal war scheinbar auch eine Schlampe!
 

„Aber…“, setzte sie an, doch ihr blieben die Worte in der Kehle stecken.
 

Und erneut versetzte mein Gehirn mir einen Tritt, brachte mich dazu, einfach zu handeln, ohne großartig Alternativen durchzugehen.
 

„Wir reden ein anderes Mal darüber!“, sagte ich also prompt und schon zog ich Gabriel an der Hand in die Menge, schleunigst davoneilend. Sie kam mir nicht nach und ich drehte mich auch gar nicht um. Gabriel ließ sich widerstandslos von mir davonziehen. Wir nahmen das erstbeste Taxi und ließen uns ins Hotel zurückkutschieren. Erst, als wir uns auf dem Bett niederließen, blickten wir uns in die Augen. Und dieser Schock und all die damit verbundenen Gefühle überkamen mich, rissen alte Wunden auf.
 

Gabriel hielt mich eng an seine Brust gepresst und streichelte mein Haar, als ein paar einzelne Tränen über meine Wangen rollten. Das war einfach zu viel für mich. Alles. Erst nach einer Viertelstunde beruhigte ich mich wieder und trocknete meine Augen mit den Taschentüchern, die er mir gegeben hatte.
 

„Ich fasse es nicht, dass mein Vater mir nicht gesagt hat, dass die mich nach Hamburg mitnehmen wollte. So eine Scheiße!“, fluchte ich und Gabriel schwieg weiterhin. Ich sah ihn flehend an, wenn er doch wenigstens nur ein Wort sagen würde. Doch es kam nichts. Er saß auf dem Sessel und starrte aus dem Fenster. „Und dann ausgerechnet vor ’nem Sexshop!“, fluchte ich weiter, nur um nicht in dieser Totenstille untergehen zu müssen. „Ich fasse es nicht…“
 

Er sagte immer noch nichts.

Weiterhin starrte er nach draußen und schwieg.
 

„Mann!“, schrie ich und er zuckte zusammen, richtete seinen Blick endlich wieder auf mich. „Jetzt sag doch auch was, weißt du, wie scheiße ich mir grad vorkomme?!“, schrie ich, den Tränen erneut nahe. Mein Herz pochte laut in meiner Brust. Was dachte Gabriel bloß? Er seufzte und starrte wieder aus dem Fenster. Dann fuhr er sich, wie er es so oft tat, mit den Händen durchs Gesicht. Er sah nachdenklich aus. Wie immer.
 

„Wir haben wohl jetzt ein schwerwiegenderes Problem als diese Notlüge mit deinem Vater“, sagte er dann ausdruckslos, was mich nur noch mehr auf die Palme brachte.
 

„Ach, ne!“, meinte ich patzig. „Das weiß ich ja wohl auch!“
 

Wir schwiegen erneut.
 

„Wieso läuft eigentlich alles so schief?“, murmelte ich, da erhob sich Gabriel und setzte sich wieder zu mir aufs Bett. Sein Blick war ernst.
 

„Weil wir eigentlich nicht zusammen sein sollten. Deswegen“, sagte er dann hart, aber lächelte ganz leicht dabei.
 

„Machst du jetzt Schluss…?“, murmelte ich wie ein debiler Volltrottel und Gabriel schüttelte bedächtig den Kopf.
 

„Würdest du doch wahrscheinlich eh nicht zulassen…“, flüsterte sanft. „Aber…“
 

„Aber was?“
 

Gabriel seufzte. „Wir fahren jetzt direkt nach Hause. Deine Mutter wird deinem Vater bestimmt bereits alles erzählt haben und es wäre gut, wenn du jetzt nach Hause fährst, um das mit deinem Vater zu klären.“
 

„Was soll ich ihm denn sagen?!“, fuhr ich ihn an und er stand auf.
 

„Denk dir was aus, verdammt!“, blaffte er und ich zuckte zusammen. Dann hielt er inne, seufzte und drehte sich wieder zu mir um. „Sorry“, sagte er. „Aber… Ich stehe wohl noch unter Schock. Damit hatte ich nicht gerechnet. Und… das macht alles einfach noch komplizierter, als es ist…“, gestand er und ich nickte, unfähig etwas zu sagen.
 

Wir sprachen auch nicht, als wir eilig unsere Sachen zusammenpackten, auscheckten und nach Hause fuhren. Es war stockfinster, als wir ankamen. Gabriel setzte mich einige Straßen von meinem Haus entfernt ab. Es war eine bedrückende Verabschiedung, die folgte. Wir gaben uns keinen Kuss, wir umarmten uns nicht mal. Wir nickten uns zu und Gabriel sagte mir, ich solle ihm morgen eine kurze Email schreiben, um ihm den neusten Stand der Dinge mitzuteilen.
 

Mein Vater erwartete mich im Flur. An seinem müden und durchaus genervten Blick konnte ich die Nachricht, die er mir non-verbal vermittelte, deutlich verstehen. „Wir müssen reden.“ Ich ließ meine Reisetasche mit einem lauten Knall auf den Boden fallen und er seufzte genervt. Aber bevor er auch nur irgendetwas äußern konnte, attackierte ich ihn.
 

„Wieso hast du mir nix über diesen scheiß Hamburgausflug von Mama gesagt?!“, schnauzte ich und er verdrehte die Augen.
 

„Ich war mir sicher, du würdest eh nicht fahren wollen“, gab er scharf zurück. Na, das würde ja eine reizende Unterhaltung werden…
 

„Ach, und das entscheidest DU dann einfach mal so für MICH, oder was?“
 

„Jonas, OK, das war vielleicht nicht der klügste Zug von mir, aber sonst hätte es dich doch auch nicht gestört, oder willst du mir etwa verklickern, dass du plötzlich unheimlich Lust hast Zeit mit deiner Mutter und ihrem Gefolge zu verbringen?“
 

Verdammt, wunder Punkt!

„Nein, aber es geht hier um das Prinzip! Ums Prinzip, verstehst du?! Und jetzt… Mann, weißt du wie SCHEISSE es war, sich SO zu outen?! Weißt du, wie PEINLICH das ist?!“, schrie ich und mein Vater lehnte sich gegen die Wand und starrte kurz den Boden an. Dann richtete er seine Augen wieder auf mich.
 

„Ja, ich kann dich ja verstehen… Und das tut mir wirklich unheimlich leid…“, gab er kleinlaut bei und versuchte zu lächeln. „Wollen wir uns vielleicht im Wohnzimmer weiter anschreien?“, schlug er scherzend vor und ich schaffte es sogar minimal zu grinsen. Verbittert, aber ich grinste.
 

Das Sitzen auf dem Sofa besserte meine Laune trotzdem nicht. Und es wurde noch schlimmer, als mein Vater plötzlich erwähnte, was meine Mutter ihm scheinbar im Schock verklickert hatte. Mir wurde komisch.
 

„Deine Mutter sagte, André sei um die 40?“
 

„Ist er nicht! Er sieht halt nur so aus. Er ist schon ein wenig älter, aber nicht SO alt.“
 

„Wie alt ist er denn?“
 

„Er wird in drei Wochen 33…“, entgegnete ich.
 

„DREIUNDDREISSIG?! Großer Gott, Jonas!“, rief er aus.
 

„Das ist kein Weltuntergang, OK?!“
 

„Das sind knapp 15 Jahre!! Der könnte doch glatt dein Vater sein!“
 

„Da ich bald 19 werde, sind es nur knapp 14 Jahre und nein, er könnte nicht mein Vater sein, er ist schließlich auch schwul“, antwortete ich patzig und mein Vater lachte kalt und schüttelte den Kopf, knetete seine Hände.
 

„Ich fasse das nicht…“, murmelte er vor sich hin. „Ist das der eigentliche Grund, warum du ihn mir nicht vorstellen wolltest?“ Sein scharfer und sarkastischer Blick ließ mich zusammen zucken.
 

„Nein, ist er nicht…
 

„Hm.“ Er lehnte sich noch immer kopfschüttelnd zurück und schloss für einen kleinen Moment die Augen. „Du machst mich wirklich fertig, Junge…“, murmelte er. „Dir ist klar, dass deine Mutter hier kommenden Freitag vor der Tür stehen wird? Sie will eine Familienbesprechung machen.“
 

„…was?!“
 

„Ach, komm, das liegt ja wohl sehr nah, oder nicht?“, bemerkte er bitter. „Und jetzt mal ganz ehrlich, wenn deine Mutter André bereits kennen gelernt hat, nennen wir es mal so, dann ist es jetzt ja wohl auch egal, wenn ich ihn auch kennenlerne, oder? Am besten wäre es, wenn er Freitag auch kommen würde, dann hätten wir das ein für allemal geklärt….“
 

„Nein!“, schrie ich, noch bevor ich irgendeinen logischen Gedanken formen konnte.
 

„Jonas…“, brachte mein Vater noch leicht erschrocken aus, aber da rannte ich bereits die Treppe hoch, meine Zimmertür hinter mir zuknallend. Ich hörte ihn die Stufen ebenfalls herauf stürmend. Eine ganze Zeit lang ballerte er noch gegen meine Tür und wollte mich dazu bewegen, aus meinem Raum zu kriechen, aber das konnte er mal vergessen.
 

Ich wollte jetzt einfach nur allein sein.

Auch wenn das absolut nicht half.
 

Ich war vollkommen paranoid, rannte auf und ab in meinem Raum, rauchte eine nach der anderen und hatte immer wieder das Handy in der Hand, der Frage nachgehend, wen ich denn überhaupt anrufen sollte. Inga?! Josh?! Oder noch besser, direkt Gabriel, um ihm diese freudige Botschaft unter die Nase zu reiben? Ich müsste ihm eh noch morgen schreiben. Und dieser Gedanken verursachte mir Bauchschmerzen…
 

Deswegen tat ich es nicht.

Mein Vater verhielt sich so, als wäre nichts gewesen und bemerkte nach dem Sonntagsfrühstück, dass ich mich erstmal beruhigen sollte und wir dann noch mal miteinander sprechen würden. Zudem sagte er mir noch, dass er meiner Mutter klar gemacht hatte, mich mit keinen Telefonaten zu quälen, sondern mit dem, was sie mir zu sagen hatte, bis zum Freitag zu warten.
 

Ich wünschte, dieser Tag würde nie kommen.

Ich war vollkommen verzweifelt und unsicher.

Was sollte ich meiner Mutter erzählen? Wie würde ich dieses Lügenkonstrukt erhalten können? Wie würde es mit mir und Gabriel nur weiter gehen???
 

Schlaf fand ich kaum.

Am Montag ging es mir furchtbar dreckig.

Gabriel hatte sich auch nicht mehr gemeldet und irgendwie war ich froh deswegen. Ich wollte das alles so lange aufschieben, wie es nur ging.

Inga motzte mich an, weil ich ihr nicht zuhörte. Josh war sauer, weil ich vergessen hatte, ihm eine DVD mitzubringen und Martin war angekotzt, weil ich mich nicht euphorisch an der Wochenendplanung beteiligte und nicht über irgendwelche Lehrer mit ablästerte, die ihn momentan schon wieder ankotzten. Inklusive Hinrichs.
 

Als die erste Geschichtsstunde der Woche bevorstand, bekam ich weiche Knie. Ich hatte ihn weder angerufen, noch hatte ich ihm geschrieben und er hatte mir auch kein Lebenszeichen gegeben, was mich wiederum nicht nur traurig, sondern äußerst wütend stimmte.

Als ich ihm direkt am Morgen im Flur über den Weg lief, als er gerade zu einem anderen Kurs unterwegs war, passierte es. Unsere Blicke streiften sich kurz und bevor wir aneinander vorbeigegangen waren, schenkte er mir zum ersten Mal ein kleines Lächeln, hier, in der Schule, einfach so.

Ich schwänzte die Geschichtsstunde.

Ich wollte ihn nicht sehen, konnte es einfach nicht.

Ich war vor Inga weggelaufen, wollte ihr nicht noch eine Lüge auftischen, ihr irgendeinen dämlichen Grund nennen, um mein Fernbleiben zu legitimieren.

Ich hasste es.
 

Und so saß ich dort, im 6. Stock, völlig allein, aus dem Fenster starrend und rauchend. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein apathischer Volltrottel. Wobei mir mein Aussehen momentan mehr als egal war. Ich wünschte regelrecht, das wäre mein einziges Problem. Aber leider war dem nicht so. Leider hatte ich momentan viel zu viele Probleme, die aufeinander aufbauten und sich zu einer riesigen schwarzen Wolke geformt hatten. Und der Regen war nicht mehr fern…
 

Ich erschrak, erwachte aus meinem schlafartigen Zustand, als sich plötzlich jemand direkt auf den Boden zu mir setzte. Es war Gabriel.

GABRIEL!
 

Ich starrte ihn verwundert, vollkommen perplex an. Ich suchte nach Worten, um meine Gefühle auszudrücken, doch ich fand keine. Und schon einige Sekunden später war mir klar, dass ich keine brauchte. Gabriels Hand lag in meinem Nacken, seine Lippen presste er auf die meinigen; ich umschlang ihn und presste mich so weit ich konnte gegen mich. Er ließ mich nicht los, küsste mich immer wieder, ganz vorsichtig und zart und dennoch passte der Ausdruck „stürmisch“ vollkommen, um sein Handeln zu beschreiben.
 

Mir fehlte es an Luft. Ein Schwindelgefühl erfasste mich. So etwas wie Euphorie machte sich in meinem Innern breit. Ich wollte lachen, schreien und weinen. Alles zur selben Zeit. Wild durcheinander, ohne wirklich zu wissen, welche der durch mich rasenden Emotionen gewann.
 

Und dann war das plötzlich dieses Keuchen.

Und es dauerte einige Millisekunden, bis ich begriff, dass es weder aus Gabriels Mund noch aus dem meinigen stammte.

Abrupt ließen wir voneinander ab und sprangen auf, wirbelten umher und blickten in zwei große, von Schock und verwunderte gezeichnete Augen. Augen, die ich sehr gut kannte. Augen, die mich fast tagtäglich ansahen.
 

„Die… die wollte ich dir eigentlich bringen, weil ich mir schon dachte, d-dass… du hier bist…“, stammelte Inga, mir eine Colaflasche hinhaltend. Ich bemerkte erst jetzt, als ich das Objekt in ihrer Hand betrachtete, dass ich die Luft anhielt und meine Lungen bald schmerzen würden. Laut ließ ich sie aus und erwiderte Ingas immer noch perplexes Starren.
 

Wie soll ich beschreiben, wie ich mich in diesem Moment fühlte?

Es gibt da diese Anreihung von Wörtern. „Ich starb tausend Tode“ kommt dabei heraus. Ja, das war durchaus zutreffend. Und viel grausamer, wenn man es tatsächlich erlebte.
 

„Oh, Gott…“, murmelte Gabriel und hielt sich beide Hände vors Gesicht, den Blick von seiner Schülerin abwendend. Seiner Schülerin, die meine beste Freundin war und nun alles wusste. „Oh, Gott“, entwich es erneut aus seinem Mund er lehnte bedächtig gegen die Fensterbank, so als würde es ihm an Kraft fehlen, noch weiter aufrecht zu stehen. „Oh, Scheiße…“
 

„Inga…“, setzte ich mit gebrochener Stimme an und sie lächelte ganz leicht.
 

„Ich wusste… dass du mir nicht die ganze Wahrheit sagst…“, sagte sie dann und ging wie in Zeitlupe zur gegenüberliegenden Wand, ließ sich plötzlich langsam auf den Boden gleiten. Ich tat es ihr gleich und so saßen wir nun gegenüber und ich bemerkte, wie Gabriel den Blick zwischen uns beiden hin- und herschweifen ließ.
 

Inga sah ihn an und es war wahrscheinlich das erste Mal für sie, dass sie ihn nun so „anders“ sah. Ein bisschen so, wie ich ihn mittlerweile kannte.
 

Eine Weile des bedrängenden Schweigens verging.
 

„Ich… Ich bitte dich, Inga“, setzte Gabriel dann mit milder Stimme an. „Bitte sag’ das niemandem…“ Es war beinahe ein Flüstern. „Ich liebe Jonas und ich kann absolut nichts dagegen tun…“, seine Stimme brach ab und er setzte sich nun auch seufzend zu uns auf dem Boden.
 

Ich liebe Jonas…, hatte er das eben wirklich gesagt? Mein Herz klopfte wie wild und ein Kribbeln durchfuhr meinen gesamten Körper. Erneut konnte ich meine Empfindungen nicht begreifen, diese Hitze, die sich auf diese abnormale Art mit einer harten Kälte paarte und meinen Kopf zum Pochen brachte.
 

Inga schloss ganz kurz die Augen und ließ danach ihren Blick zwischen uns wandern. Scheinbar in Unglauben schüttelte sie den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. „Ich… Wow“, sagte sie dann. „Das ist krass!“ Ich versuchte in Gabriels Gesicht zu lesen, seine Gedanken zu erhaschen, vielleicht einen aufmunternden Blick zu bekommen. Doch alles, was ich erkannte, war Nervosität, die auch mich beherrschte.
 

„Ich glaube…“, sprach Inga weiter und Gabriel und ich sahen sie angespannt an. „Ich glaube, ich muss erstmal damit irgendwie klar kommen“, beendete sie dann nervös ihren Satz und starrte unsicher auf den Boden.
 

„Ja. Ja, natürlich“, kam es von Gabriel, der eifrig nickte. Ich war unfähig, etwas zu äußern. Nur langsam machte sich die Erkenntnis in mir breit, dass wir aufgeflogen waren, dass all das, wovor Gabriel Angst hatte, sich bereits im Gange befand. Die ersten Notlügen bezüglich meines Fortbleibens, die aufgetischte Lüge über André, die schicksalhafte Begegnung mit meiner Mutter in Hamburg, die Konfrontation mit meinem Vater bezüglich ihres Besuches und nun dieser unmögliche Moment mit Inga. Wieso hatte Gabriel mich geküsst?! Hatte er nicht selbst das Verbot der Berührungen in der Schule auferlegt?! Wieso hatte er seine eigenen Regeln gebrochen?! Was dachte er sich dabei?!
 

„Kann ich heute mit zu dir kommen?“, fragte Inga mich vorsichtig und ich nickte lediglich. „Gut…“, sagte sie und lächelte leicht, wonach sie sich erhob, mir die Colaflasche vor die Füße stellte und noch bevor sie die Treppe hinabstieg sagte: „Die Fünfminutenpause ist vorbei. Ich gehe jetzt wieder zurück, Herr Hinrichs.“
 

Und wir beide, Gabriel und ich, wir blieben noch einige Minuten. Erst als ich im Stillen bis 100 gezählt hatte wagte ich es, ihn wieder anzublicken. Seine Augen waren bereits auf mich gerichtet. „Was machen wir jetzt…?“, flüsterte ich.
 

„Ich weiß es nicht…“, wisperte er. Wir standen auf. Ich ging auf ihn zu und er wich nicht zurück. Ganz vorsichtig legte ich meine Arme um ihn und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Er roch so gut… Gabriel erwiderte meine Umarmung. Und plötzlich drückten wir uns so fest gegeneinander, dass wir kaum Luft bekamen. Unsere Verzweiflung, die Sorgen, die uns verbanden, fanden in diesen harten Berührungen ihren Weg an die Oberfläche. Es vergingen weitere Minuten und die Zeit zwang uns, voneinander abzulassen.
 

Ich liebe ihn…

Meinte er das wirklich ernst?
 

„Ich muss gehen“, sagte er leise, sein Blick bereits auf die Treppe gerichtet.
 

„Ich weiß…“, entgegnete ich schwach.
 

„Ruf mich heute Abend an, nachdem du mit ihr gesprochen hast.“
 

„Mache ich.“
 

Er war fort.

Mit meiner Panik blieb ich alleine zurück.

Als die letzte Stunde vorbei war und ich Inga am Haupttor auf mich zukommen sah, wallte sie erneut in meiner Brust auf. Hätte ich hyperventiliert, wäre ich nicht verwundert gewesen.
 

Es herrschte eine angespannte Stimmung zwischen uns, als wir gemeinsam zu mir fuhren. Mein Vater wirkte etwas überrascht, als ich Inga unangekündigt mit nach Hause brachte und während des gemeinsamen Essens sprachen wir nur über Nichtigkeiten wie Nachbarn und Mitschüler und das Wetter. Als ich die Tür meines Zimmers schloss und mich zu meiner Freundin drehte, die auf meinem Bett Platz genommen hatte, wurde es ernst.
 

„Erzähl mir einfach alles…“, war was sie sagte. Und wie konnte ich das nicht tun, nach all dem, was vorgefallen war? Wie konnte ich nicht diese mir gebotene Möglichkeit ergreifen, alles von meiner Seele zu lösen und sie endlich in mein wohl größtes Geheimnis einzuweihen?
 

Sie runzelte die Stirn, sie keuchte auf, sie kicherte, sie schüttelte den Kopf, sie staunte, als ich ihr alles erzählte.
 

„Wow…“, sagte sie abschließend. „Das ist… krass. Und.. Wow, ich kann das gar nicht glauben. Ich meine…“, sie sah mich erneut an. „Das ist Hinrichs!“
 

„Nein, das ist er nur in der Schule. Für mich ist er Gabriel und das ist ein vollkommen anderer Mensch.“
 

Sie schwieg und zündete sich eine Kippe an. Die bereits vierte. Sie schüttelte immer noch nichts sagend den Kopf und ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Wie hätte ich denn reagiert, hätte sie mir so etwas erzählt, hätte ich solch eine Bindung entdeckt? Sie und… Sport-Schmidt? Innerlich schüttelte ich mich. Und realisierte, dass es Inga wahrscheinlich momentan genauso ging… Dieses Unbehagen, welches mich seit längerer Zeit verfolgte, überkam mich erneut. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
 

„Das ist krass, Jonas…“, murmelte sie, einen nicht zu definierenden Punkt anstarrend, wonach sie ihren Blick langsam wieder auf mich richtete.
 

„Ich weiß…“, entgegnete ich schwach.
 

„Ich wusste doch, irgendetwas stimmt nicht mit dir, aber das… Wow, sorry, ich glaube, ich komm damit noch nicht klar“, fuhr sie fort. „Sag mal, ist das nicht irgendwie sogar strafbar, von wegen Missbrauch von Schutzbefohlenen oder so?“
 

„Naja… Ich bin ja schon volljährig…“
 

„Ja, aber du bist ja quasi immer noch unter, äh, wie sagt man, der Aufsicht oder so von ihm, weil… Mein, Gott! Das ist dein LEHRER!“
 

„Hey, nicht so laut!“, zischte ich alarmiert und sie zuckte kurz zusammen.
 

„Oh, fuck!“, fluchte sie dann. „Sorry! Ich hab deinen Vater völlig vergessen!“
 

„Er darf das auf keinen Fall erfahren…!“, redete ich auf sie ein. „Der bringt mich um und ich sag dir, der geht zur Schule und macht Ärger und wenn das rauskommt, dann ist das erstmal vorbei mit Gabriels Lehrauftrag und das darf einfach nicht passieren, klar?“
 

„Mein Gott, Jonas, Alter…“, sagte Inga. „Ich komm zwar noch nicht richtig darauf klar und ich glaube, ich werde Hinrichs nie wieder normal ansehen können, aber denkst du wirklich, ich renn gleich zu jedem hin und erzähle denen das?“
 

„Sorry…“
 

„Schon gut…“
 

Wir schwiegen erneut, bis ich seufzte. „Auch wenn das total krass ist, bin ich irgendwie froh, dass du jetzt alles weißt.“
 

„Ja, das glaube ich…“, sagte sie ausdruckslos. Nach einer Weile sahen wir uns in die Augen. Und Inga fing an lauthals zu lachen. Laut und ungebändigt, sie ließ sich auf den Rücken fallen und schüttelte sich fast dabei.
 

„Was ist denn los?“, hakte ich grinsend und ziemlich verwirrt nach. Sie setzte sich wieder auf und versuchte sich zu beruhigen.
 

„Keine Ahnung“, setzte sie dann an. „Ich meine, wenn ich mir das alles so durch den Kopf gehen lasse, ist das wie so’n Film und ich meine, du sagst am Anfang der Schule noch ‚Alter, ist der heiß, mit dem würd ich gern was-weiß-ich machen’ und jetzt bist du tatsächlich mit unserem Geschichtslehrer am… Ähm… Naja. Oh, Mann!“
 

Sie fing erneut an zu kichern und ich schüttelte grinsend den Kopf.

Ich fühlte mich tatsächlich etwas besser, das alles losgeworden zu sein, mit Inga im Reinen zu sein, auch wenn es seltsam war, dass sie nun eingeweiht war. Natürlich konnte ich nicht von ihr verlangen, sofort alles so hinzunehmen, wie es war oder es irgendwie zu akzeptieren. Toleranz schenkte sie mir scheinbar schon und als ich sie bat, Josh und Martin nichts zu verraten, stimmte sie mir zu, dass dies wirklich eine gute Idee sei.
 

Wir schalteten die Glotze an, rauchten, sprachen über andere Dinge, doch kamen wir immer wieder auf Gabriel zu sprechen.
 

„Ist das nicht voll komisch deinen Freund im Unterricht zu sehen?“, fragte sie mich zum Beispiel plötzlich und ich beschrieb ihr die alltäglichen Torturen. „Und… Äh… Der Altersunterschied, merkt man den nicht? Ich meine, der könnte ja wirklich schon theoretisch dein Vater sein…“, lautete eine ihrer Bemerkungen. Ich zuckte mit den Schultern, es war mir egal und Gabriel ja scheinbar auch. Und dann fragte sie schließlich: „Was wirst du deine Mutter und deinem Vater jetzt erzählen?“
 

Ich wusste es nicht.
 

Es war schon dunkel, als sie sich von mir verabschiedete, mit einer langen Umarmung.
 

„Bitte lass mir noch Zeit, das alles zu verarbeiten, OK?“, bat sie mich noch und huschte dann den kleinen Gang hinunter, der sie zur Straße führte.
 

Bedrückt griff ich zum Telefon.

Es war Zeit, Gabriel anzurufen und ihm nicht nur von dem langen Gespräch mit Inga zu erzählen, sondern auch von dem bevorstehenden Besuch meiner Mutter…
 

Der am häufigsten genannte Satz? „Ich wusste, dass so etwas passieren würde…“ Wer hätte das gedacht? Gabriel war vielleicht nicht gerade das, was man als sauer bezeichnen konnte, viel eher war er besorgt, verärgert mit dem Pfad, welchen das Schicksal für uns ausgesucht hatte und mit der Tatsache, dass ich sein Schüler war.
 

„Ich frage mich die ganze Zeit, ob dein Vater sich noch an mich erinnern kann…“, murmelte er.
 

„Wann sollte er dich denn gesehen haben?“, wunderte ich mich.
 

„Bei der Einführungsveranstaltung, als du an unsere Schule gekommen bist, vielleicht? Erinnerst du dich?“
 

„Oh, ja… Ach, mein Vater merkt sich keine Gesichter, der weiß noch nicht mal, wie all meine Lehrer überhaupt heißen“, beruhigte ich ihn. Er seufzte.
 

„Ich weiß nicht…“
 

„Ich bin mir sicher, dass er das nicht weiß. Und selbst wenn, er wird dich nicht kennenlernen. Punkt!“
 

„…mal sehen wie lange das gut geht.“
 

„Ich kann ja mal auf meinen Notfallplan zurückgreifen! Also, sagen, dass ich mich von André getrennt habe, so eine Woche nach dem Gespräch mit meiner Mutter.“
 

„Dann könnten wir uns erstmal eine Zeit lang nicht sehen...“
 

„Doch, ich sage ihnen, ich sei bei Inga, diesmal spielt sie ja mit, sie weiß ja alles.“
 

„Immer diese Lügengeschichten, Jonas… Es ist so bitter, dass ich dir das immer antun muss….“, sagte er und seine Stimme klang matt.
 

„Du willst jetzt aber nicht mit mir Schluss machen, oder?!“, hakte ich panisch nach und spürte, wie meine Handflächen etwas nass wurden. Er lachte nur. Traurig.
 

„Natürlich nicht. Ich meine das, was ich heute in der Schule gesagt habe…“, seine Stimme wurde noch sanfter. „Ich liebe dich. Ich kann dich nicht gehen lassen.“
 

Ich schluckte. „D-das ist gut“, sagte ich dann und wurde ebenfalls leiser. „Ich… Äh, ich liebe dich nämlich auch.“
 

Seltsam, das plötzlich so zu sagen. In solch einer extremen Situation. Gefahren bringen den wahren Charakter eines Menschen heraus, oder wie sagt man? Das traf auch völlig auf meine Mutter zu, die Freitag überpünktlich bei uns auftauchte. Das Essen, das mein Vater zubereitet hatte, fand seinen Weg noch nicht einmal auf den Tisch. Wie eine Furie stürzte sie ins Wohnzimmer. Ich schaffte es noch nicht einmal aufzustehen. Wortlos knallte sie mir einen Zettel vor die Nase. Und dort erblickte ich es, ein Bild Gabriels, daneben das Logo meiner Schule, einige Notizen zu den Fächern, die er unterrichtete…
 

„Erklär mir das!“, schrie sie und als mein Vater vollkommen perplex ins Zimmer kam, drehte sie sich zu ihm. „Wusstest du davon, Klaus?!“
 

Ich konnte nicht atmen. Ich konnte nicht blinzeln. Mich zu bewegen war völlig unmöglich. So etwas passierte doch nur in schlechten Filmen, in Telenovelas, in der jeder Handlungsstrang an den Haaren herbeigezogen war. Wie um alles in der Welt hatte sie es herausgefunden? Wie konnte sie es nur wissen?
 

„Was wusste ich?“, fragte mein Vater sie wütend.
 

Es war wie in alten Zeiten. Nur viel, viel schlimmer. Ich hatte meine Eltern schon so oft gehört, wie sie sich anzankten. Aber an diesem Tag brüllten sie einander an. Sie waren wie Tiere, die kurz davor waren aufeinander loszugehen. Es ging um den Ursprung meiner Homosexualität, und das „scheinbare Ausleben von Perversitäten“; es ging um Lügen und mein Benehmen und um die Frage, wer schuld daran war.
 

„Mein Gott, Klaus! Dein Sohn hat eine Affäre mit seinem männlichen Lehrer!“, schrie die hysterische Frau, als mein Vater es geschafft hatte, länger und lauter zu reden als sie und diese Offenbarung brachte ihn abrupt zum Schweigen.
 

Ich sprang auf und die beiden blickten mich gleichzeitig an. „Woher weißt du das?!“, zischte ich kraftlos und deutete auf den widerlichen Wisch, den sie auf den Tisch geknallt hatte. Meine Mutter nahm ihre Kampfposition ein, stemmte beide Hände gegen ihre Hüften. „Nun, mein Lieber“, begann sie scharf. „Es gibt noch andere Leute an deiner Schule und natürlich haben Ulf, Ronald und ich diese Woche ununterbrochen davon gesprochen, und rate mal wessen neue Freundin gerade ihr Abitur macht und einen sehr strengen Geschichtslehrer hat, dessen Beschreibung ganz genau auf den Mann zutrifft, mit dem du…“ Sie konnte es nicht aussprechen. Ihr Gesicht war eine widerwärtige Fratze und wäre sie nicht meine Mutter, hätte ich wahrscheinlich ohne mit der Wimper zu zucken zugeschlagen.
 

Ich kann diese Wut, diese Enttäuschung gepaart mit diesem Schock einfach nicht beschreiben. Ich fühlte mich, als würde mir hier jemand das Herz rausreißen. Meine eigene Mutter betrachtete mich mit so viel Hass in ihren Augen, mit solch deutlicher Abneigung. Ich hielt es fast nicht aus.
 

Die aufgebrachten Worte meiner Eltern waren wie ein Wasserfall. Meine Mutter brüllte meinen Vater an, mein Vater schrie mich an. Erst als das Wort „Schulbehörde“ fiel, erwachte ich aus meiner Starre und erst als ich meine Eltern anschrie, sie sollten beide die Klappe halten, bemerkte ich, dass ich wie ein Schlosshund heulte. Es wurde ganz still und ich wurde mir meines eigenen Schluchzens bewusst.
 

„Ich verhaltet euch gerade wie Kinder“, schrie ich, meine eigenen Tränen ignorierend. „Ja, es ist es scheiße, dass ich mit meinem Lehrer zusammen bin, aber ich bin verdammte 18 Jahre alt! Was interessiert dich plötzlich mein Leben?“, wendete ich mich direkt an meine Mutter. „Du hast Ulf und diesen beschissenen Ronald. Bleib bei denen und komm nicht plötzlich hier an, um alles NOCH schlimmer zu machen, okay?! Dich hat mein Leben doch vorher auch nicht interessiert! Wieso sollte es das jetzt?!“
 

„Das stimm doch gar nicht…“, wand sie ein, aber ich unterbrach sie umgehend.
 

„Ach, halt doch deine Schnauze, ich glaub dir kein Wort. So wie du mich hier behandelst heute…! Und wehe, WEHE ihr geht zur Schulbehörde, wehe ihr macht mir das ganze kaputt! Ich bin keine 14 mehr oder so, ich weiß was ich tue.“
 

„Jonas, du hast keine Ahnung, was du tust!“, mischte sich mein Vater erneut ein. Mein Kopf schmerzte, meine Augenlider schienen zu pochen, ich zitterte. Wir brüllten uns einfach nur noch an.
 

„Okay, halt, Ruhe, STOPP!“, schrie meine Mutter plötzlich so laut, sodass ich meinte Glas klirren zu hören. Meinem Vater und mir blieben die Worte im Hals stecken und sie betrachtete uns beide mit einem eisernen Blick. „Ruf ihn an, diesen Gabriel. Sag ihm, er soll herkommen, so kommen wir nicht weiter. Er hat diese Misere angerichtet, ich will ihn zur Rede stellen.“
 

„Tickst du noch richtig?“, fuhr ich sie auf Anhieb an. „Misere angerichtet, Gott, hör dich doch mal selbst reden, Frau!“
 

„Jonas, halt die Schnauze!“, schalt mein Vater mich darauf. „Lass den Mann herkommen. Wenn ihm wirklich etwas an dir liegt und du nicht nur eine seiner kleinen Zeitbeschäftigungen an der Schule bist, wird er ja herkommen oder nicht?“
 

„Ihr seid doch beide total bekloppt! Das mache ich niemals!“, entgegnete ich fassungslos. Was dachten die sich denn?!
 

„Gut, dann rufe ich jetzt sofort die Schulbehörde an. Du bist zwar volljährig, aber er ist immer noch dein Lehrer und wer weiß, was der mit anderen Schülern macht, die vielleicht nicht 18 sind…“, sagte meine Mutter hart und griff nach ihrem Handy. Scheiße, die meinte das ernst.
 

„Das machst du nicht!“, zischte ich und erntete erneut einen kalten Blick.
 

„So, denkst du?“, sagte sie mit einer frostigen Stimme. „Klaus, gib mir die Schulpapiere, wir rufen da sofort an, jetzt müsste da sogar noch jemand sein. Und wenn nicht, dann machen wir das gleich Montagfrüh.“ Scheiße.
 

„Okay, okay, ich ruf ihn an! Meine Fresse, was soll das denn bringen?“
 

Ich denke, die beiden wussten selbst nicht, was das bringen sollte. Gabriel klang aufgewühlt, als ich ihm die Situation erklärte. Er versprach sofort herzukommen. Und mit seinem Eintreffen wurde es noch viel schlimmer. Zwar mochten meine Eltern sich eigentlich nicht mehr so sehr, aber jetzt fungierten sie wieder wie eine eingespielte Einheit; hackten auf dem blassen Gabriel regelrecht herum wie Spechte und die ganze Zeit über, konnte ich nichts sagen.
 

Ich fühlte mich, als sei ich 12 Jahre alt…
 

„Hören Sie, ich verstehe ihre Sorge und ihre Aufgebrachtheit. Ich versichere Ihnen, dass ich Jonas zu nichts gezwungen habe“, sagte Gabriel ruhig, als der erste Ansturm der Vorwürfe und Beleidigungen vorbei war.
 

„Ich war ja sogar der, der auf ihn zugegangen ist!“, warf ich endlich ein und war erstaunt meine eigene schwache Stimme zu hören.
 

„Du hältst die Klappe!“, kam es barsch von meinem Vater.
 

„W-was?!“, entwich es mir, doch da redete er schon weiter mit Gabriel.
 

„Sie sind sein Lehrer und scheiß egal, ob er 18 ist oder nicht, er ist ihr Schüler und sie sollten nichts anderes tun, als ihn zu unterrichten! Das ist immer noch ein Bruch des Gesetzes!“
 

„Ja, denken Sie, das ist mir nicht bewusst???“, kam es plötzlich energischer von Gabriel. „Denken Sie nicht, dass ich mir jeden Tag darüber den Kopf zerbreche?“, schrie er jetzt. „Ich bin gerade dabei, meine Versetzung an eine völlig andere Schule durchzukriegen, damit dieses Verhältnis aufgelöst werden kann, damit Jonas nicht mehr so darunter leidet. Denken Sie, ich bin egoistisch?! Denken Sie wirklich, ich nutze ihren Sohn nur aus?!“
 

„Ach, ist das nicht so?“, kam es schnippisch von meiner Mutter. Gabriel war fast völlig rot im Gesicht, so hatte ich ihn noch nie gesehen.
 

„Nein, das ist nicht so“, brachte er zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor. „Ich liebe Jonas.“
 

„Ach, wie rührend!“, brüllte meine Mutter daraufhin und lachte künstlich, ihre Stimme von Sarkasmus getränkt. „Und das soll ich Ihnen glauben?!“ Als ich meinen Vater ansah, bemerkte ich erst, dass sein Blick die ganze Zeit auf mir ruhte. Und dann wurde meine Sicht wieder so schwammig. Verfickt, ich heulte schon wieder! Ich wischte die Tränen fort und sah Gabriel direkt in die Augen. Er sah mich ganz warm an und eine Sekunde später ruhte seine Hand schon auf meinem Knie, die ich ergriff und ganz fest drückte.
 

„Oh, bitte! Das kann doch nicht wahr sein!“, rief meine Mutter aus. Mein Vater schwieg. Dann seufzte er lange und laut, den Kopf schüttelnd, und ließ sich wieder aufs Sofa plumpsen.
 

„Das kann doch nicht wahr sein…“, murmelte er nun ebenfalls vor sich hin.
 

„Sie werden sich von meinem Sohn trennen“, mischte sich meine Mutter plötzlich wieder ein.
 

„Das wird er nicht!“, brüllte ich nun wieder.
 

„Ich rede nicht mir dir, sondern mit Herrn Hinrichs!“, konterte sie direkt.
 

„Das werde ich trotzdem nicht…“, kam es hart von Gabriel und es wurde ganz still. „Ich werde mich versetzen lassen und dann sind wir ein ganz normales, schwules Paar. Oder ist das das eigentlich Problem…?“, wandte er sich spitz an meine Mutter.
 

„Das ist es gewiss NICHT!“, sagte mein Vater. „Sie sind knapp 15 Jahre älter, Jonas ist doch noch ein Kind für Sie! Sie können das doch wohl nicht wirklich ernst meinen!“
 

„Dass Jonas noch ein Teenager ist, weiß ich sehr wohl“, setzte Gabriel an und meine Mutter schnitt ihm das Wort ab.
 

„Und wieso vergreifen Sie sich dann an ihm? Ach, Klaus, das hat keinen Sinn, wir sollten ihn einfach anzeigen und die Schulbehörde informieren.“
 

„Verdammte Scheiße, das werdet ihr NICHT tun!“, schrie ich, dabei aufspringend. Meine Mutter sah mich glatt ein wenig erschrocken an. Ich selbst hatte mich noch nie so tief und laut schreien hören. „Mann, verpiss dich zu deiner dämlichen Ersatzfamilie und lass mich das mit Papa und Gabriel alleine klären, dein Wort zählt hier schon lange nicht mehr. Du gehörst hier nicht hin, ich weiß gar nicht, was das soll, dass du hier plötzlich auftauchst und einen auf Familie tust. Wir sind schon lange keine Familie mehr! Verzieh dich einfach!“ Sie wollte etwas sagen, doch ich schrie ihr noch einen letzten Satz entgegen: „Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich eigentlich hasse!“
 

Ich ignorierte den erneuten Wasserfall aus meinen Augen. Ich ignorierte mein pochendes Herz, das drohte mir meinen Brustkorb zu zerbersten, dieses ziehende Gefühl in meinem Hals. Alles war mir egal. Mir war schwindelig. Ich wollte, dass sie einfach ihre dämliche Klappe hielt. Sie konnte mir das nicht kaputt machen. Nein, nein, nein!
 

Das durfte nicht geschehen!
 

„Jonas…“, hörte ich Gabriels flehende Stimme und schon ruhte seine Hand auf meiner Schulter.
 

Meine Mutter betrachtete uns beide mit einem wilden Blick voller Wut, Verachtung und Verwirrung. Sie öffnete schon ihren Mund, um etwas Giftiges loszuwerden, aber da erhob sich mein Vater.
 

„Isabel, darf ich kurz mal mit dir in der Küche sprechen?“, richtete er seine Worte an sie.
 

„Was? Nein! Klaus, dein Sohn steht hier mit diesem ekelhaften Lehrer, der sich an ihm vergeht und du willst mit mir plaudern?!“
 

„IN DIE KÜCHE!“, schrie mein Vater nun so laut, dass sogar Gabriel und ich zusammen zuckten. Meine Mutter schwieg. Und dann verließ sie das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Mein Vater hingegen sah uns beide ernsthaft an und sagte: „Hier bleiben und denken Sie ja nicht, jetzt mit ihm abzuhauen, das bringt nichts.“
 

„Das weiß ich…“, murmelte Gabriel, doch da hatte mein Vater die Küchentür bereits zugeschlagen. Vorsichtig zog Gabriel mich aufs Sofa. Er war mir so nah, ich konnte seinen Atem auf meiner Kopfhaut spüren. Ich ergriff seine Hand und unsere Finger verschränkten sich. Er legte seinen freien Arm um mich und zog mich noch dichter an sich heran, hielt mich fest, die ganze Zeit über, in der sich meine Eltern in der Küche anbrüllten. Wie viel Zeit verging, das weiß ich nicht mehr. Gedämpft drangen die zwei mir bekannten aufgebrachten Stimmen zu mir. Und dann flog plötzlich die Tür auf, mit einem lauten Poltern und meine Mutter stürmte aufgebracht heraus, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
 

„Du wirst ihn verlieren!!!“, hörte ich meinen Vater brüllen. Ein weiteres Poltern erklang. Ich erkannte es als Zuschlagen der Haustür. Sie war fort und mein Vater stand nun wieder bei uns. Ich schaute ihn flehend an und er ließ sich wieder schweren Herzens Gabriel und mir gegenüber nieder.
 

„Sie wird die Schulbehörde am Montag informieren“, erklärte er dann schwach. „Ich kann nichts tun. Du weißt, wie dickköpfig sie ist“, fügte er hinzu und ich verstand im ersten Moment nicht.
 

„Danke, dass Sie versucht haben, sich für uns einzusetzen“, sagte Gabriel schwach und mein Herz fing an ganz laut zu klopfen. Hatte Papa wirklich versucht, ihr das auszureden…?
 

Er lachte kalt. „Ich bin auch nicht wirklich begeistert, dass Jonas in dieser Situation ist und ich hätte mir eigentlich eher einen gleichaltrigen Freund für ihn gewünscht…“, sagte er bitter.
 

„Das kann ich verstehen…“, sagte Gabriel. Ich war unfähig zu sprechen.
 

Es wurde still.
 

„Wird das auch Konsequenzen für Jonas haben?“, fragte er dann plötzlich.
 

„Ich werde mich bemühen, diese Sache so bedeckt wie möglich zu halten und den Namen ihres Sohnes nicht erwähnen.“
 

„Wer weiß es noch an der Schule?“
 

„Nur Jonas beste Freundin.
 

„Inga.“
 

„Ja, genau.“
 

„Inga hält den Mund?“, richtete mein Vater sich wieder an mich und ich nickte schwach. „Gut“, sagte er dann und ich schaute Gabriel ganz vorsichtig an.
 

„Könnten Sie mir noch einen Gefallen tun?“, fragte mein Vater dann wieder. „Bleiben Sie erstmal fern von Jonas, bis… die ganze Sache sich erledigt hat.
 

„W-was?“, erwachte ich wieder und Gabriel strich mir behutsam durchs Haar.
 

„Das muss sein, Jonas“, sagte er dann mit ruhiger und ernster Stimme. „Das wäre zu auffällig, ich will nicht, dass dir was passiert… OK?“
 

„…OK“, hauchte ich.
 

Mein Vater bat ihn zu gehen. Und dennoch erlaubte er mir, mich noch im Flur zu verabschieden, er gab uns etwas Zeit.
 

Wir küssten uns.

Verzweifelt.

Und ich weinte.

Und Gabriel hielt mich so lange fest und streichelte mich, fuhr mir immer wieder durchs Haar und flüsterte „ich liebe dich“ in mein Ohr.
 

Und dann musste er gehen.

Und ich wusste nicht, wann ich ihn wiedersehen würde.

Mein Vater wartete im Wohnzimmer und er bedeutete mir, mich hinzusetzen. Er war viel ruhiger als vorher, jedenfalls meinte ich das verspüren zu können.
 

„So“, setzte er ruhig an und sah mich an. „Du bist mir jetzt sehr viele Erklärungen schuldig, findest du nicht?“ Ich nickte und musste mir erstmal die Nase putzen von dem ganzen Rumgeheule. „Dann erzähl mir einfach alles, Jonas. Hm?“, forderte er mich auf und die gesamte Erzählung, von Anfang an strömte aus mir heraus. Er schwieg, als ich fertig war. Und ich heulte schon wieder. Und plötzlich saß mein Papa neben mir und hielt mich im Arm und ich heulte einfach weiter, so, als wäre ich wieder 7 Jahre alt und wäre hingefallen, oder würde den Verlust der tollen Mama durchleben. Damals…
 

Es fühlte sich gut an. Mir war es egal, dass ich mich wie ein Kleinkind verhielt. Mein Vater war da und tröstete mich. Er brachte mir sogar noch etwas zu Trinken, als ich schon im Bett lag und er blieb sogar noch, als ich ihn darum bat. Bis ich eingeschlafen war.
 


 

Als ich aufwachte, wartete er bereits mit dem Frühstück auf mich. Er war ruhig. „Hast du gut geschlafen?“, fragte er mich und ich schüttelte den Kopf.
 

„Eigentlich gar nicht“, sagte ich dann.
 

„Habe ich mir gedacht…“, sagte er dann milde. Wir aßen in Stille.
 

„Du meinst es wirklich ernst mit… Gabriel, oder?“, bemerkte er dann plötzlich. Ich stockte, mit dem Butterbrot in meiner Hand und sah ihn an.
 

„Ja“, sagte ich dann heiser und er nickte einfach nur.
 

„Willst du ihn anrufen?“, fragte er dann und ich nickte. „Dann iss auf und häng dich ans Telefon.“
 

„D-Danke…“
 

Ich war komplett verwirrt, als ich mit dem Telefon in der Hand auf mein Zimmer ging und Gabriels Nummer wählte.
 

„Hinrichs“, erklang seine müde Stimme.
 

„Ich bin’s…“
 

„Jonas! Wie geht es dir?“, fragte er umgehend. Wir redeten über drei Stunden. Über uns, unsere Geschichte und wie es weitergehen könnte. Gabriel war sich nicht sicher, ob er wohl jemals wieder unterrichten könnte. Ich wusste nicht, ob es an unserer Schule laut werden würde und wie wir uns weiter sehen könnten. Aber eines war sicher: Wir wollten nicht auf den anderen verzichten. Und das machte mich glücklich.
 

Auch am Sonntag telefonierten wir noch.

Und wünschten uns eine Gute Nacht.

Obwohl wir beide wussten, dass diese nicht eintreffen würde.

Wir hatten Angst. Angst vor dem bevorstehenden Tag. Vor Montag.
 

Natürlich musste ich Inga erzählen, was vorgefallen war und als ich sie an diesem Montag auf dem Schulgelände erblickte, war sie ebenso angespannt wie ich. Immerzu starrten wir in die Massen an Schülern oder warteten auf eine Durchsage. Doch alles blieb aus. Es war ein völlig normaler Schultag.
 

„Vielleicht haben die das ja zivilisiert geklärt?“, meinte Inga plötzlich.
 

„Vielleicht wird’s auch erst Mitte der Woche richtig laut…“, murmelte ich und meine Freundin schwieg.
 

Ich rannte nach Hause, ergriff umgehend das Telefon und wählte seine Nummer. Er ging nicht ran. Sein Handy war aus. „Scheiße!“, fluchte ich und marschierte wieder nach unten. „Papa?“, rief ich laut aus, als ich ihn auch nicht in der Küche vorfand. „Papaaaa?“
 

Erst dann bemerkte ich, dass die Terrassentür offen stand. Die Sonne hatte ihn wohl nach draußen gelockt.
 

Ich blieb wie versteinert stehen. Dort saßen sie. Gabriel und mein Vater, mit ernsten Mienen und unterhielten sich. Und dann fiel der Blick meines Vaters auf mich. „Jonas, da bist du ja!“, rief er aus. Im selben Moment drehte Gabriel sich um. Als er mich erblickte, lächelte er, stand auf und umarmte mich fest. „Jonas…“, murmelte er.
 

„Was machst du hier?“, brachte ich heraus.
 

„Komm, setz dich“, sagte mein Vater und ich trat verdattert an den Tisch, ließ mich auf einen der Gartenstühle nieder. „Deine Mutter hat vorhin angerufen“, erklärte er mit milder Stimme. „Sie hat nicht bei der Behörde angerufen.“
 

„W-Was?“, war alles, was ich dazu sagen konnte. Meine Gefühle spielten verrückt. Mein Vater nickte lediglich. „Und, und was, was jetzt? Ich meine, wird sie da morgen anrufen, oder was?“
 

„Nein, Jonas. Wird sie nicht“, fuhr mein Vater ruhig fort. „Sie wird gar nichts machen. Außer, mit dieser ganze Sache irgendwie klar kommen. Ich denke, sie hatte viel Zeit, darüber nachzudenken“, sagte er.
 

„W-was…?“
 

Ich sah Gabriel an und er lächelte sanft, legte seine Hand wieder auf mein Knie.
 

„Ich arbeite an einer Versetzung nach Hamburg. Es sieht sehr gut aus“, erklärte er mir dann.
 

„Wie, Hamburg?“
 

„Damit ich raus aus dieser Stadt bin, damit ich nicht mehr dein Lehrer bin und wir so was wie eine normale Beziehung führen können. Deswegen.“
 

„Aber… Wow, das ist, ich meine. Wir sind ausm Schneider? Wir sind safe????“, fragte ich verwundert und sah abwechselnd meinen Vater und Gabriel an. Sie nickten beide.
 

„Ich habe heute noch lange mit deiner Mutter gesprochen“, erläuterte mein Vater. „Bevor du denkst, dass sie das gutheißt, so ist es nicht. Aber sie hat auf meinen Rat gehört…“
 

„Deinen Rat?“
 

„Ist nicht so wichtig“, sagte er ernsthaft und seufzte. „Jedenfalls will ich jetzt erstmal, dass ihr euch nicht seht. Ich hab euch so viel Freiraum verschaffen und eure Ärsche gerettet, das haltet ihr ja wohl durch oder, Jonas?“
 

Ich schaute Gabriel flehend an, doch auch er blieb hart.
 

„In den Sommerferien, wenn sich alles entschieden hat, OK?“, sagte er milde.
 


 

Nein, ich konnte es nicht glauben, dass mein Problem gelöst war, dass das Schlimmste nicht eingetroffen war, dass mein Vater einfach so versuchte, damit klar zu kommen, dass Gabriel an einer Zukunft mit mir arbeitete. Er hatte mich tatsächlich einfach so in den anderen Geschichtskurs gesteckt. Es schmerzte, ihn nicht mehr zu sehen. Ihn so lange nicht zu sehen… An seinem Geburtstag rief ich ihn an. Und er war glücklich. Wir redeten eine ganze Stunde lang und er sagte mir, dass er gar nicht feiern würde – sondern diesen Tag mit mir allein nachfeiern würde.
 

Ich versuchte, mich auf die Schule zu konzentrieren. An den Wochenenden ging ich mit Josh, Martin und Inga weg. Kino, Klub, Eisessen, Cocktails trinken. Egal was. Hauptsache Ablenkung. Ich war froh, dass ich mit meiner besten Freundin nun wirklich über alles reden konnte und so durfte ich ihr immerzu mein Herz ausschütten.
 

Sie hatte es noch immer nicht gänzlich verdaut, dass ich tatsächlich etwas mit Hinrichs hatte… Aber sie meinte, sie verstünde das Gefühl, jemanden zu lieben… Mit ihr und Stefan war es auch immer ernster und ich freute mich sehr für sie.
 

Eines abends bekam ich endlich eine SMS von Gabriel.
 

„Ziehe nächste Woche nach HH, es hat geklappt! Melde mich sobald alles fertig und organisiert ist. Ich liebe dich. Gabriel“
 

Ich führte erstaunlich lange Gespräche mit meinem Vater. Über meine Zukunft, über Gabriel und über meine Mutter. Die hatte sich noch immer nicht gemeldet, aber dieses Mal sagte sogar mein Vater, dass ich es verstehen müsste und dass sie noch sehr viel Zeit bräuchte, um mit all dem Erlebten irgendwie klar zu kommen. Und so wartete ich einfach. Nicht, dass ich irgendwie scharf darauf gewesen wäre, Kontakt mit meiner Mutter aufzunehmen. Aber…
 

Die Zeit verging schneller, als ich es erwartet hatte.

Josh und Martin feierten an einem Wochenende so richtig, als bekannt wurde, dass Hinrichs die Schule verließ. Und ich tat so, als wäre ich ebenso erfreut. Was mir gelang, denn eigentlich war ich es ja auch…Er war nicht mehr mein Lehrer…
 


 

Eine Fernbeziehung zu führen war scheiße. Ich konnte nicht jedes Wochenende nach Hamburg fahren. Erstens, weil das Geld nicht immer reichte, auch wenn Gabriel mir die meisten Reisen spendierte, zweitens, und vor allem, weil ich natürlich Josh und Martin immer noch nicht die Wahrheit sagen konnte… Und so log ich, stets meine Mutter zu besuchen, mit der sich der Kontakt angeblich gebessert hätte. Was die beiden mir abkauften. Nur Inga und mein Vater wussten, wo ich war. Meine Mutter natürlich auch. Sie hatte angerufen, irgendwann mitten in den Sommerferien, als ich bei Gabriel war, in Hamburg. Sie hatte eine Nachricht aufs Band gesprochen, dass sie mich nicht verlieren wollte und sich nur Sorgen gemacht hätte, und dass ich sie doch besuchen sollten.
 

Das tat ich dann auch.

Mit Gabriel an meiner Seite, der von dieser Idee nicht ganz so überzeugt war wie ich, aber mir diesen Gefallen tun wollte.

Es war ein bisschen grässlich, weil meine Mutter scheinbar noch immer nicht die Tatsache verarbeitet hatte, dass ich schwul war und dazu auch noch mit meinem ehemaligen Lehrer… vögelte.
 

Eigentlich erinnere ich mich an diesen Besuch immer wieder gern.
 

Gabriel war stolz auf mich, dass ich mein Abi bestanden hatte. Wir feierten in einer Cocktailbar mit einigen seiner Kollegen und deren Bekannten – die auch alle schwul waren. Und die unsere Geschichte kannten. Und uns als Pärchen vollkommen akzeptierten. Manche mehr, manche weniger, aber das war egal. Wir hatten unseren Spaß. Ich leistete auch meinen Zivildienst in Hamburg ab, wohnte bei Gabriel und es war überwältigend, unsere Gefühle offen zeigen zu können und uns nicht mehr verstecken zu müssen…
 

Und wer hätte gedacht, dass ich Geschichte und Religion auf Lehramt studiert habe. Ich schätze, ich war irgendwie prädestiniert dafür.
 

Nur Gabriel und ich… wohl irgendwie nicht.

Ich weiß nicht, wann es anfing.

Wahrscheinlich, als ich im 3. oder 4. Semester war. Da war ich 22. Und das Studentenleben hatte mich vollkommen aufgefressen. Und ich war angepisst, dass Gabriel nie mitkam zu irgendwelchen Parties, für die er sich „viel zu alt fühlte“. Ich wollte nicht jedes Wochenende in eine Schwulenbar gehen, wenn überhaupt, oder einfach nur ins Kino. Ich hatte es auch satt, so viele DVDs zu gucken. Klar hatte mir das am Anfang mit ihm gereicht, aber als „normales Pärchen“, wollte ich mehr. Und er konnte es mir nicht geben. Unsere Interessen schienen plötzlich komplett gegensätzlich…
 

„Es ist der Altersunterschied, der jetzt deutlich wird…“, sagte er an unserem letzten gemeinsamen Abend. Ich hatte an diesem Abend gar nichts mehr gesagt und war mit meinem Freund Kai saufen gegangen. Als ich nach Hause kam, fand ich Gabriel weinend auf dem Sofa. Wahrscheinlich war ihm schon längst klar geworden, dass es vorbei war.
 

Ich zog mit Kai zusammen. Ich dachte auch, dass ich ihn lieben würde. Aber dem war scheinbar nicht so. Gabriel hatte die Schule wieder gewechselt, weil er ein besseres Angebot bekommen hatte und mich hatte es nicht interessiert, wo er unterrichtete. Wir hatten gar keinen Kontakt mehr.
 

Ich beendete mein Studium, hielt mein Referendariat ab und trat dann mit 31 meine erste, feste Stelle an, an dieser riesigen Gesamtschule. Es war komisch, sich wieder so sehr in die eigene Schulzeit versetzt zu fühlen. Ich sah sogar öfters Schüler, die mich an Josh, Martin und Inga erinnerten. Eigentlich hatte ich nur noch mit meiner süßen Inga Kontakt, die letztes Jahr geheiratet hatte. Martin und Josh, die die gesamte Sache mit Gabriel irgendwann zwangsweise erfahren hatten, hatten es nie akzeptieren können. Sie konnten ihn nicht riechen. Und irgendwann… Brach da auch der Kontakt ab.
 

Als ich das erste Mal in meinem Klassenzimmer stand, kamen all diese von mir in den Hintergrund gedrückten Gefühle wieder hoch. Diese heimliche Schwärmerei, die Versuche, Gabriel zu erobern, das Versteckspiel und das Glück, mit dem er mich erfüllte… All die Jahre lang.
 

In dieser Nacht schlief ich schluchzend ein und quälte mich am kommenden Tag aus dem Bett, trat mich zum Unterricht. Und in der großen Pause, in der ich noch weitere Kollegen kennen lernen sollte, stand er plötzlich vor mir.
 

Hatte er mit 30 fast wie 40 ausgesehen, so schien die Zeit nun stehengeblieben zu sein. Er sah noch immer so aus wie an dem Tag, an dem wir einander „Auf Wiedersehen“ gesagt hatten. Sein Haar immer noch schimmernd Blond, der Dreitagebart gepflegt, die Haut leicht bräunlich… Gabriel Hinrichs stand vor mir und wurde mir als „Kollege vom Fach“ vorgestellt. Als wir unsere Hände zur Begrüßung ergriffen, übermannte mich ein unbeschreiblicher Schauer. Eine Gänsehaut formte sich und als ich seine Stimme hörte, zitterte ich.
 

„Ich… Ich hatte nicht gedacht, dass wir uns wiedersehen“, sagte er, als niemand mehr um uns stand.
 

„Äh… Überraschung?“, versuchte ich zu scherzen, doch meine Stimme klang viel zu heiser.
 

„Geht es dir gut?“, fragte er mich milde und meine Knie wurden ganze weich, als ich ihm in die Augen sah. Meine Gefühle für ihn hatten mich wie eine Flutwelle überrannt. Und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.
 

„Ja, ich bin endlich am Ziel“, entgegnete ich schwach. „Und dir?“
 

„Mir geht es auch ganz gut, ich hab endlich die Traumwohnung gefunden, nach der ich immer gesucht habe. Beziehungsweise ein Haus, in nem Vorort von Hamburg…“
 

„…mit großem Garten und dahinter einem kleinen Wäldchen?“, beendete ich seinen Satz und er nickte lächelnd.
 

„Das freut mich…“, sagte ich und der Stich in meiner Brust wurde immer größer. Wieso hatte ich diesen Mann verlassen? Die aller größte Liebe meines Lebens? Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein?
 

„Und, immer noch mit Kai glücklich?“, fragte er und ich lachte laut.
 

„Schon lange nicht mehr. Und du? Glücklich verliebt?“
 

„Schon lange nicht mehr“, imitierte er mich grinsend.
 

Von Schüler und Lehrer zu Kollegen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. In jeder Pause suchte ich nach ihm und wir aßen zusammen, oder gingen spazieren. Nach drei Wochen fragte ich ihn endlich, ob er Lust hätte, mich zu besuchen.
 

„Ich kann jetzt echt besser kochen“, versicherte ich ihm und er lachte.
 

Diese Vertrautheit zwischen uns… Sie war einfach da… Als wären wir nie auseinander gewesen. Mein Herz blutete, wann immer ich ihn sah, wann immer wir miteinander sprachen, wann immer er mich auch nur ansah. Der Abend, an dem er zu mir kam, war anfangs der schlimmste Tag meines Lebens. Als wir zusammen aßen und er meine Kochkünste tatsächlich lobte, erwartete ich eine Hand in meinen Haaren, die durch sie streichen würde; als wir einen Film für den Abend aussuchten, übermannten mich tausende Erinnerungen, vor allem von unseren ersten Tagen in der gemeinsamen Wohnung oder auch vom Anfang unserer Beziehung…. als ich noch sein Schüler war… Als wir auf dem Sofa Platz nahmen, musste ich mich zurückhalten, mich nicht an ihn zu lehnen. Diese körperliche Nähe zu ihm fehlte mir plötzlich so sehr, wie Luft zum atmen fehlen könnte. Ich biss mir auf die Zunge.
 

Ich war 31 Jahre alt und ich fühlte mich wieder wie 18.

Ich war nervös. Ich zitterte. Und ich hätte am liebsten geflennt.
 

„Jonas…?“, drang seine zarte Stimme zu mir und als ich den Kopf drehte, war Gabriel mir schon so nahe, dass ich seinen Atem an meiner Nasenspitze spüren konnte. Ich schloss die Augen, als er seine Lippen auf meine legte und als seine Zungenspitze ganz vorsichtig über meinen Mund glitt, nur um dann nach Einlass zu verlangen. Den ich umgehend gewährte. Ich schlang meine Arme um ihn und zog ihn ganz dicht an mich heran. Ich wollte, dass dieser Moment niemals enden würde.
 

Wir liebten uns auf dem Sofa, während der Film einfach vor sich hin lief.

Es war so intensiv, dass ich Stunden brauchte, um mich davon zu erholen.

Und ich schlief in Gabriels Armen ein.
 

Als ich erwachte, war er nicht mehr da und ich saß im Bett und weinte. Wie ein kleiner Junge.
 

„Was ist denn?“, riss mich seine Stimme aus meinem Zustand und ich starrte ihn verdattert an. Dort stand er, an den Türrahmen gelehnt und hielt ein Frühstückstablett in der Hand. „Du hast nicht wirklich gedacht, dass ich jetzt einfach abhaue? Nach all der Zeit, in der ich nur an dich gedacht habe?“
 

Wir ignorierten das Frühstück. Wir küssten uns, streichelten einander.
 

„Ich liebe dich so sehr…“, sagt ich ihm endlich und er küsste meine Hand.
 

„Und ich habe nie aufgehört dich zu lieben, Jonas…“, waren seine Worte.
 

Nun wohnen wir schon seit 5 Jahren wieder zusammen. In dem kleinen Häuschen, Gabriels Traumhäuschen. Ich denke der Altersunterschied spielt nun auch keine Rolle mehr. Ich hab mich schon tausendfach bei Gabriel entschuldigt für meinen spät-pubertären Ausraster. So nenne ich es gern. Er lacht dann immer nur. Und küsst mich. Wir sind vielleicht nicht das beste Pärchen, aber ich weiß, dass ich ihn nie wieder verlassen werde. Weil wir beide so hart um einander gekämpft haben.
 

Wir sind schließlich doch füreinander prädestiniert.

Wir zwei Lehrer.
 

Wer hätte das gedacht?
 


 

- - -

Vielen Dank für alle Reviews, fürs Lesen und fürs Spaß haben ;)



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Kommentare zu dieser Fanfic (23)
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Von:  L_Zorro-Chan
2018-05-24T18:56:58+00:00 24.05.2018 20:56
Habe die Geschichte nun zum zweiten oder dritten Mal gelesen und bin noch immer so begeistert wie vor 8 Jahren in meinem ersten Kommentar.
Auch wenn mir jetzt so im Nachhinein aufgefallen ist, dass Lassie in dieser Geschichte gar nicht soooo viel vorkommt und man leider nicht erfährt, ob Gabriel ihn noch hat ;-)

Freue mich auch schon wieder auf neue Geschichten/Kapitel von dir, hätte aber auch nichts gegen einen kleinen Oneshot zu den beiden hier zu lesen.

Ich hoffe, dass du bald wieder Zeit zum schreiben findest, auch wenn ich weiß wie schwer das manchmal im realen Leben ist.
Denn deine Geschichten/Charaktere sind einfach wunderschön und ebenso dein Schreibstil.

Von:  jyorie
2014-04-01T04:40:40+00:00 01.04.2014 06:40
Hey ٩(^ᴗ^)۶

wow, das war ein langes Kapitel... im letzten drittel hätte ich fast geweint.
Ich mag diese Angst auch nicht die aufs Ungewisse hin geht, wenn man
sich vor den Folgen fürchtet und nicht weiß was dirtte über einen entscheiden
werden, wenn etwas aufgeflogen ist, was nicht sein sollte. Und die Angst schon
weh tut. Echt eine Hammer Geschichte und ich muss mich jetzt erst mal sammeln.



Hab das Kapitel gestern begonnen und heute morgen fertig gelesen. Mit dem Versticken
ist wirklich nicht einfach, und man kann jedem etwas besseres Wünschen, als so etwas
durch zu machen und dieses nagende Gewissen zu haben, was Jonas seinem Vater
aufgetischt hat und was er seinen Freunden erzählt hat. Das ist wirklich keine einfach
Situtation und er ist damit ja noch weiter in den Sumpf geraten, so wie Inga ihn dann
später mit jemandem einfach verkuppeln wollte und es dann unverständlich war, das
Jonas das nicht wollte.

Und dann wieder diese viel zu kurzen glücklichen Momente wo Jonas und Gabirel zusammen
sein konnten in Cuxhaven und dann in Hamburg, wo sie endlich dachten sie könnten die
Vorsicht vergessen, ein kleiner Fehler und schon sitzen sie tiefer in der Tinte als je zuvor.
Als sich Jonas so missglückt outen muss und seine Mutter dann auch noch darauf kommt, wer
denn der Mann ist, mit dem Jonas in Hamburg war.

Und dann ging es ja schlag auf schlag. Ein Gespräch mit dem Vater von Inga entdeckt und
es wird ein richtiger Alptraum. Wobei Jonas und Gabriel ja noch wirklich Glück hatten das
es relativ Folgenlos für sie ausgegangen ist und sie dann sogar richtig zusammen kommen
konnten.

Das mit dem Altersunterschied und wie sie sich auseinander gelebt hatten, war dann wieder
eine Schlimme sache. Das Gabirel es schon wußte und zuhause geweint hat und Jonas
scheinbar kalt gegangen ist. Da war das wiedersehen auf der Schule und der zaghafte neu-
beginn am Ende dann wirklich sehr schön und auch das sie dann wusten wie fest sie zusammen
halten können, bei der Hölle durch die sie gegangen sind.



Hat mir gut gefallen die Geschichte.
*schmunzelt* hab sie auch schon weiter empfohlen.


Sehr ergreifend. Und auch gut dargestellt, das es wirklich nicht einfach ist. Du hast die
Probleme und Ängste gut herausgestellt, aber ich hab mich dann auch sehr über das
HappyEnd gefreut.

CuCu, Jyorie

Von:  jyorie
2014-03-28T13:33:52+00:00 28.03.2014 14:33
Hey
ก็็็็็็็็็็็็็ʕ•͡ᴥ•ʔ ก้้้้้้้้้้้

hu ... das war ja sehr knapp – das am nächsten Morgen wirklich
alle Erinnerungen mit dem Alkohol gelöscht waren, das sich keiner
an das Telefonat erinnert hat.

Du beschreibst es sehr gut und echt, wie alles so nervig ist, wenn
man keine Bestätigung in der Beziehung hat und wie es an den
Nerven zerrt, wenn man nicht zeigen darf, das man glücklich ist und
wie blöd das Gefühl ist anderen etwas vor zu machen. Aber auch das
man eigentlich nie wirklich genug Zeit mit einander hat um es zu genießen
und man eigentlich immer „wild übereinander herfallen“ muss, da man auch
nicht weiß wann man sich nächstes mal sehen kann.

Es wirkt alles sehr echt, welches Lügengeflecht sich Jonas da aufbauen muss.

Das was Gabriel mit seinem Lehrer miterlebt hat, hat mich überrascht und ich
hätte nie so einen Hintergrund bei ihm vermutet. Aber jetzt ist das alles so viel
logischer, warum er sich so verhält. Wenn ihm sein Schwarm später so weh getan
hat und alles was sie hatte ihm im Mund herumgedreht. – Das tut weh!

Und dann, dann kommt Jonas von seinem Höhenflug nach Hause und erlebt so
einen Derben Absturz – ob er jetzt alles beichtet? Bin gespannt, ob er noch mal
was tun kann, damit er nicht auffliegt.

CuCu, Jyorie

Von:  jyorie
2014-03-24T05:46:09+00:00 24.03.2014 06:46
Hey ( ˘▽˘)っ♨

Ich finde es gut, wie du das schreibst und das man auch in dem Kapitel
wieder sieht, wie sich der Lehrer dagegen wehrt und es eigentlich erst zu
etwas kommt, wenn er übermannt wird und auch das du darstellst, wie schwer
es doch ist, alles geheim zu halten und wie verletzend es wirkt, wenn man mal
so sein muss und mal anders. Das man die Rollen einfach nicht ganz im Kopf
trennen kann und es einen Verletzt.

Heinrichs hat es wirklich nicht leicht, das er Jonas weiter stritzt und ärgert und
ihm auf der anderen Seite doch hilft. Für einen Lehrer, der als A-Loch bekannt
ist, ist das sicher schwer zu „begründen“ warum er jetzt einem Schüler helfen
möchte.

Und dadurch das die beiden jetzt ein Paar sind, wird es sicher auch nicht leichter.
Allein wenn man schaut, was die beiden alles zu beachten haben, damit es auch
weiter geheim bleibt und sich wirklich nie, nie, nie eine Schwäche zu erlauben, wenn
die Sehnsucht zu groß wird. Das ist hart, und ich denke auch irgendwann frustrierend.

Und Jonas war ja auch schon sauer, weil Gabriel das mit dem Liebes-SMS-Geflüster
nicht mit gemacht hat. Er hat schon recht, das da nichts nachweißbar sein darf. Theoretisch
könnte er ja nichts dazu wenn es eine einseitige Schwärmerei eines Schülers wäre.

Ich bin mal gespannt, wie Jonas seinen Kurzschluss erklärt, als er ihn angebrüllt hat,
warum er ihn nicht flachgelegt hat, einmal was sein Freund dazu sagt und was sein
Lehrer antwortet.

CuCu, Jyorie

Von:  jyorie
2014-03-21T17:00:13+00:00 21.03.2014 18:00
Hey ৫(”ړ৫)˒˒˒˒

Ich war ja bei dem Namen der Geschichte etwas skeptisch
und wenn ich mir nicht vorgenommen hätte noch ein paar andere
Geschichte die nicht im Fandom sind zu lesen, hätte ich sie wahr-
scheinlich nicht angetippt^^

Aber nach dem ersten Kapitel bin ich froh, das ich reingeklickt habe.
Hat mir sehr gut gefallen. Auch wenn mich dann als nächstes die Kapitel-
länge noch mal etwas geschreckt hat.

Als Rap zum ersten mal sein Profil gelöscht hat, dachte ich es wäre
ein Nachbar, ein Verwandter, irgendjemand der ihn persönlich kennt.
Ich hätte alle vermutet, aber nie und nimmer den Geschichtslehrer.

Allein wie krass diese Fügung war, wie sie sich dann in Real Live ge-
troffen haben und das die Katze dann doch nicht tod war. Das viele hin
und her des Lehrers kann man gut verstehen und das er sich eigentlich
fern halten will, auch das sein schüler immer wieder in der Phantasie zu
ihm gleitet und merkt das der Lehrer doch nicht so ein Ekelpaket ist, wie
er zu anfangs dachte.

Und dann die Aussprache und der Kuss. Ich fand es gut und du hast
auch bei dem Lehrer sehr deutlich gemacht, das er es nicht will, und
wie oft er abgelent hat und das nicht leichtfertig getan hat, sondern wie
er zu dem „Fehler“ übermant wurde.

CuCu, Jyorie

Von:  Miez
2011-06-23T16:31:25+00:00 23.06.2011 18:31
Ich glaube wenn die Storie ein anderes Ende genommen hätte, wäre ich sehr böse geworden, aber so ist es schön. So ist es gut ♥
Von:  Nokio
2011-05-08T17:10:28+00:00 08.05.2011 19:10
Hammer Story *---*
das war wirklich eine der wenigen die ich bis zum ende gelesen habe.


Von:  Nokio
2011-05-01T20:32:21+00:00 01.05.2011 22:32
Deine FF ist einfach nur toll. Du bringst di Gefühle und das Problem sehr gut rüber so das der Leser sich gut hinein versetzen kann.
Zudem sind die Charakter nicht verweichlicht wie es oft in diesem Genre üblich ist. Daumen hoch dafür ;)
Von:  Maldoran
2011-04-19T23:50:10+00:00 20.04.2011 01:50
Hey!

Also... ich muss schon sagen... ich bin sprachlos. Das war einfach umwerfend genial! Weit entfernt von einer herkömmlichen, klischeebehafteten "Lehrer/Schüler"-Beziehung, und trotzdem so realitätsnah und unkitschig und glaubwürdig geschrieben, dass ich am Ende wirklich geheult habe, als ich dachte, ihre so schwer erkämpfte Liebe ist vorbei.

Du hast es wirklich geschafft, die ganze Story so gut aufzubauen, so Stein um Stein, dass alles so greifbar und vor allem nachvollziehbar rüberkam! Auch wie Du immer wieder diese Diskrepanz beschrieben hast, zwischen "Gabriel" und "Hinrichs, dem Lehrer", hat massiv dazu beigetragen, das alles wirkte wie im "echten Leben" es hätte durchaus sein können.

Dein Schreibstil ist tootal fluffig zu lesen, geht runter wie Honig und Du verfügst über einen ausreichend abwechslungsreichen Wortschatz. Nichts ist langweilig oder kitschig. Im Gegenteil!

Was mir auch noch ins Auge gesprungen ist; wie dann alles so nach und nach aufgeflogen ist. Deine Ideen hierzu waren wiederum total real und keinesfalls an den Haaren herbeigezogen.

Nun, eine aussergewöhnliche Story, auch wenn das Thema womöglich schon uralt und ausgelutscht sein mag; Du hast ihm einen ganz neuen Anstrich verpasst und durch Deine Charactere zu neuem Leben verholfen! Wow!

Ich bin hin und weg... Hm, sehr gut fand ich dann auch noch das Ende; Du hast einen kleinen Zeitsprung gemacht, der Dir hervorragend gelungen ist, und auch zugelassen, dass der doch immense Altersunterschied sehr wohl ein Problem sein kann. Trotzdem... ich hab ich so über das Happy-End gefreut, denn ohne gehts bei mir einfach nicht... *hust*.

Es hat wirklich Spaß gemacht, das zu lesen, und ich habe mich (was ich allerdings bei guten Story immer tun zu pflege!) vollkommen reingesteigert, habe mitgelitten und bei Deinen überaus erotischen Sexszenen wurde mir ganz heiß!

GLG
Vala
Von:  Luca191
2011-03-29T18:53:07+00:00 29.03.2011 20:53
Auch hier wieder eine sehr schöne Geschichte, die fesselt und zum weiter lesen quasi zwingt. Ich habe sie in einem Ritt gelesen und muss sagen das ich die Charas sehr mag und deinen Schreibstil noch mehr. Es ist schön, dass sie es geschafft haben und es trotz der Probleme eon Happy End gab.
Danke fürs hochladen.
LG Luca


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