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All You Wanted

Taichi x Yamato
von

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I Wanted To Be Like You (Yamato)

~ Yamatos POV ~
 

Meine hastigen Schritte hallten in dem leeren Flur und ich hatte das Gefühl, dass neben mir noch ein Dutzend andere Personen gingen. Doch es war nur ich selbst, der durch die Gänge huschte und bei jedem verdächtigen Geräusch zusammen zuckte.
 

Ich zog den Kopf ein, als ich laute Stimmen hörte, die näher kamen. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Ich wollte vermeiden, dass auch nur irgendjemand mich so sah; vollkommen durchnässt von dem strömenden Regen, der vor der Schule herrschte, wie als wollte der Himmel all seinen Frust über die Ozonverschmutzung auf die Welt hinab prasseln lassen. Meine Socken waren nass, wieder einmal wurde mir klar, dass ich diese Turnschuhe schon viel zu lange hatte. Aber ich konnte sie einfach nicht wegschmeißen, brachte es nicht über mich. Sie waren bequem und noch einiger maßen schön. Außerdem fehlte mir das nötige Geld, um mir jetzt neue zu kaufen.
 

Die Stimmen kamen näher. Und jetzt erkannte ich sie.
 

Es waren die, die ich schon so oft in meinen Alpträumen gehört hatte. Ihr Spotten, ihr hämisches Lachen. Die Stimmen, die mich jedes Mal bis aufs Blut demütigten, wenn sie auch nur einen Anlass dazu sahen, mich zu erniedrigen. Sei es, dass meine Bücher zu Boden fielen oder, dass ich die Antwort auf die Frage eines Lehrers nicht wusste. Sie nahmen alle Möglichkeiten, die sie kriegen konnten und es war ihnen egal, wie sehr es mich mitnahm.
 

Etwas krampfte sich schmerzhaft in mir zusammen und ich sah mich nach einem Versteck um, während eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte: Wen interessiert das denn schon? Was du denkst ist nicht nur ihnen egal.
 

„Nein“, hauchte ich leise und widersprach somit der Stimme, doch sie zeigte auch meine aufkommende Panik. Alle Klassenzimmer, an denen ich vorbei kam, waren besetzt. Es war fünfzehn Minuten nach Schulanfang, alle Schüler saßen auf ihren Stühlen und hörten aufmerksam ihren Lehrern zu. Nur ich nicht, weil ich verschlafen und Takeru seine Turnschuhe vergessen hatte. So mussten wir durch den strömenden Regen laufen.
 

Die Stimmen meiner Peiniger wurden noch lauter, bis ich die zwei Jungen schon um die Ecke biegen sah. Panisch blickte ich mich um. Doch alles was ich sah, waren die grünen Spinte der Schule und sie konnten mir nicht den nötigen Schutz bieten.
 

Ich straffte die Schultern, senkte den Blick und machte mich auf ihre Sprüche gefasst. Mein Herz klopfte ohrenbetäubend in meiner Brust. Das Blut rauschte in meinen Ohren und meine Arme, die krampfhaft den durchnässten Rucksack umklammerten, zitterten. Ein Zeichen der Schwäche und sie würden es sofort bemerken, ich wusste es.
 

„Na, was haben wir denn da?“, hörte ich den einen schon sagen und spürte, wie ihre Präsenz näher an mich heran rückte. Die Präsenz von etwas Undefinierbarem, etwas Bösem und doch gleichzeitig, auf verwirrende Weise, Gutartigem. „Prinzesschen!“
 

Ich wollte den Blick nicht heben, sie nicht anschauen, doch unwillkürlich huschten meine Augen nach oben, blieben an dem blauen Saum des Sport-T-Shirts hängen. Adidas. Das war seine Lieblingsmarke und fast sein ganzes Kleidersortiment war von diesem Verkäufer. Sein ständiger Begleiter bevorzugte eher Puma und seine raubtierartige Gestalt, wurde durch den Spitznamen, den er dieser Vorliebe zu verdanken hatte, nur noch verstärkt.
 

Fast schon sanft fixierte mein Gegenüber mein Kinn und zwang mich, zu ihm hoch zu sehen. Der harte Blick aus braunen Augen traf auf meinen. Wie aus Reflex zuckte mein Körper zurück, doch mit einer simplen Geste, verhinderte der Junge, dass ich davon lief.
 

„Du scheinst in den Regen geraten zu sein“, meinte Shusuke Sakaki schmunzelnd. Seine schwarzen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht, in mir stieg der Gedanke auf, dass es heute wahrscheinlich noch keine Bürste gesehen hatte. Sein Freund, Yuri Aron, mit dem wasserstoffblonden Haaren und den grünen Augen, musterte mich abschätzend, wie als wäre sein Interesse heute an mir nicht so groß, wie sonst. Ich konnte nur hoffen, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag. Ich war schon oft genug in diesem Jahr zu spät zum Unterricht erschienen, ich konnte es mir nicht erlauben, nun auch noch fast die gesamte erste Stunde zu verpassen.
 

„Sieht so aus“, antwortete Yuri nach einer Weile für mich und grinste. Meine Hoffnung verpuffte, wie eine große, schillernde Seifenblase, die kurz vor ihrem großen Traum, endlich in den Himmel zu steigen, von einem spitzen Ast durchstochen wurde und kläglich zerplatzte. „Und zu spät bist du auch noch.“ Diese Worte richteten sich wieder an mich, doch ich konnte nichts erwidern. Meine Kehle war plötzlich staubtrocken.
 

„Das ist aber nicht fein“, sagte Shusuke. „Herr Heiji hat uns gerade ins Sekretariat geschickt, um deine Eltern anzurufen. Er hat sich schon Sorgen um dich gemacht.“ Er spuckte diese Worte förmlich aus. Ich wusste wieso. Herr Heiji hatte einen Narren an mir gefressen, da ich der einzige Schüler in seiner Klasse war, der den Stoff verstand und dazu noch in der Lage war, im Unterricht mitzudenken. Natürlich legte ich nicht großen Wert darauf, des Lehrers Liebling zu sein, doch den Mut, um zu ihm zu gehen und ihm zu sagen, dass er aufhören sollte, mich zu bevorzugen, besaß ich nicht. Genauso wenig, wie die Courage, etwas gegen Shusukes nächsten Vorwurf zu erwidern.
 

„Wie oft lässt du ihn ran, hm? Wie oft hat er dich schon in deinen kleinen Arsch gefickt, damit du eine gute Note bekommen hast?“
 

Mein Körper zitterte unkontrolliert und der Griff um meinen Rucksack wurde stärker. Ich wünschte, ich könnte mich gegen ihn wehren, doch er war stärker und in der Überzahl. Gegen ihn hatte ich keine Chance, doch ihm und Yuri war ich haushoch unterlegen. Natürlich stimmte es nicht, was er sagte, aber ich schwieg weiterhin. Es stachelte Shusuke nur noch mehr an, wenn ich protestierte. Wenn ich versuchen würde, ihn zu treten und zu schlagen. Noch nie hatte ich etwas dergleichen gewagt, aber das eigenartige Glitzern in seinen Augen war Beweis genug. Er labte sich an meinen innern Qualen, genauso wie es sein Freund Yuri tat.
 

Mir wurde übel und nur mit Mühe konnte ich ein Würgen unterdrückten. Shusuke löste seine Finger von meinem Kinn und entfernte sich einen Schritt von mir, mit angeekeltem Gesicht, wie als hätte ich diese anzüglichen Worte ausgesprochen und nicht er.
 

„Schlampe“, murmelte er leise und fuhr sich durch die Haare. Einen Augenblick starrte er mich fasziniert an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht auf und er kam wieder auf mich zu. Hastig wich ich zurück. Spürte Yuris stählernen Körper in meinem Rücken und wusste, dass ich nicht fliehen konnte.

Wieder stiegen die Stimmen in meinem Kopf empor und ich hörte ihr Lachen, ihr Schreien und ihre Worte. Es waren die Stimmen von Yuri und Shusuke. Bei einer ihrer Taten. Wenn sie mich nach der Schule hinter die Schule zerrten und Shusuke seinen Frust an mir ausließ. Ob es ihm danach wirklich besser ging, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich jedes Mal damit zu kämpfen hatte, nach Hause zu gehen und die blauen Flecken vor meinem Bruder zu verstecken. „Wir sollten dich vielleicht mal daran erinnern, dass dir dein toller Liebhaber nicht immer helfen kann.“ Er lächelte.
 

Ich wusste, dass Herr Heiji mir nicht immer helfen konnte. Er half mir nie. Die Vermutung, dass ich mit ihm schlief, war falsch, doch ich sagte nichts. Sie würden mir nicht zuhören. Außerdem konnte ich es in ihren Augen sehen, dass ich sie sowieso nicht aufhalten könnte.
 

„Shusuke?“
 

Erschrocken zuckte ich zusammen und Shusuke ließ ruckartig von mir ab, stieß mich von sich und ich prallte hart mit dem Rücken gegen die Wand. Yuri war nicht mehr hinter mir.
 

Vor meinen Augen flimmerte es und einen Moment, konnte ich nur bunte Punkte sehen, wie ein Mann im Delirium und wusste nicht, wem die Stimme gehörte, die mich so eben gerettet hatte. Ich rutschte entkräftet an der Wand hinunter und zog die Knie an, öffnete flackernd die Lider. Meine Tasche lag direkt vor mir, ich musste sie bei dem unerwarteten Stoß losgelassen haben. Hastig nahm ich sie wieder an mich, drückte sie an meine Brust, wie mein wichtiges Besitzstück.

Vor mir hörte ich die Jungen reden.
 

„Was sollte das denn werden?“
 

„Wonach sah es denn aus? Wir wollten nur ein bisschen Spaß haben“, hörte ich Shusuke gelangweilt sagen und Yuri murrte zustimmend. Keiner der zwei schien zu bemerken, wie ich mich hoch rappelte und meinen Retter schockiert anstarrte.
 

Taichi Yagami stand keine fünf Schritte von mir entfernt. Seine brauen Augen weiteten sich kurz überrascht, als er sah, dass ich ihn anstarrte, dann schlich sich ein unergründliches Lächeln auf seine Züge. Es war anders, als die Lächeln, die ich bisher gesehen hatte. Es drückte keine Selbstzufriedenheit aus, keine Arroganz, keine Häme und auch keinen Spott. Ich konnte es nicht zu ordnen und wandte hastig den Blick ab. Feuchte Strähnen glitten über meine Wangen und erst in diesem Augenblick bemerkte ich, wie heiß mein Gesicht war. Meine Wangen mussten glühen.
 

„Ein bisschen Spaß, ja?“, wiederholte Taichi leise und als ich noch einmal aufsah, sah er mich schon nicht mehr an. Es war wie eine kleine Halluzination gewesen, in der ich angenommen hatte, er sähe mich wirklich an.

Er. Mich.
 

Taichi Yagami war beliebt an der Schule, war ein guter Schüler und der Kapitän der hiesigen Fußballmannschaft. Er wurde von den Mädchen angehimmelt und von den Jungen beschrieen. Meinen Namen kannten die meisten der Schüler gar nicht, wieso sollte er mich also freiwillig ansehen? Wenn ich die Wahl hätte, würde ich auch nicht in mein Spiegelbild sehen.
 

Möglichst unauffällig entfernte ich mich von ihnen. Ihre Stimmen wurden leiser, bis sie abrupt stoppten und mein Herz blieb augenblicklich stehen. Was, wenn Shusuke nicht vorhatte, seine Schikane einfach fallen zu lassen, nur weil der Yagami etwas dazu gesagt hatte?
 

Ich fing an zu rennen und hatte den Eindruck, weitere Schritte hinter mir zu hören. Lauten Atem. Das Rascheln von Jeans und teuren T-Shirts. Erst als ich zitternd vor meinem Klassenzimmer zu stehen kam, wusste ich, dass ich es mir nur eingebildet hatte. Ein Anflug von Paranoia, der mich in letzter Zeit immer öfter heim suchte. Wurde ich etwa verrückt? War meine angeschlagene Psyche nun so schwer gestört, dass mich schon solche Kleinigkeiten so durcheinander brachten?
 

Ich atmete tief ein und aus, lehnte meine erhitzte Stirn an den kühlenden Stein der Wand. Wenn ich nicht aufpasste, dann würde die Paranoia mich wirklich irgendwann beherrschen. Der Wahnsinn in jede Zelle meines Bewusstseins dringen, nur weil ich nicht fähig war, mich dagegen zu wehren. Er würde mich dazu bringen, Dinge zu tun, die ich nicht verantworten konnte.
 

Ich musste mich um Takeru kümmern und um Dad. Diese beiden Chaoten konnte ich nicht alleine lassen, sie wussten ja noch nicht einmal, wie die Waschmaschine funktionierte. Ich musste einen Weg finden, die Umwelt noch weiter auf Distanz zu halten, als ich es ohnehin schon tat. Ich war der Meister der Masken. Und es würde mir auch eine für dieses Problem einfallen.
 

Also reckte ich das Kinn und streckte die Schultern. Berührte die Türklinke, die sich kalt und unförmig in meiner Hand anfühlte. Dennoch öffnete ich die Türe, trat ein und musterte mit einem kühlen Blick Herrn Heiji, der vor der Tafel stand und mich überrascht anstarrte.
 

„Wo warst du, Ishida?“, fragte er irritiert und ließ die Hand sinken, in der noch immer das kleine Stückchen Kreide zu sehen war. Auf der Tafel waren Worte in seiner krakeligen Handschrift zu erkennen.
 

„Hab verschlafen“, sagte ich nur kühl und wusste noch im gleichen Augenblick, dass meine Maske zu mir zurück gekehrt war. Ohne die Reaktion des Mannes abzuwarten, ging ich zu meinem Platz und ließ mich auf den Stuhl sinken, zog meine Hefte hervor und fing schweigend an abzuschreiben. Ich konnte die wissbegierigen Blicke meiner Mitschüler spüren, doch keiner von ihnen würde fragen.
 

Keiner.
 

Herr Heiji wandte sich wortlos der Tafel zu und schrieb weiter.
 

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Es dämmerte, als ich nach Hause kam.
 

Der Rucksack lastete schwer auf meinem Rücken, da ich auf dem Rückweg noch einkaufen war. Mit der schrecklichen Erkenntnis, dass der Kühlschrank daheim leer war, hatte ich die Rechnungen im Kopf überschlagen und das Nötigste eingekauft. Müde kramte ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche, brauchte allerdings etwas, bis meine zitternde Hände ihn ins Schloss stecken konnten. Der kalte Wind blies mir in den Nacken, ließ mich durch meine durchnässten Kleider hindurch frösteln und peitschte mir den Regen ins Gesicht. Eilig schlug ich die Türe hinter mir ins Schloss und atmete tief durch, während ich die Stille des Hauses in mich aufsog. Die Stille und die Dunkelheit waren mir unheimlich, ich mochte sie nicht. Und dennoch gaben sie mir das Gefühl von Geborgenheit, dass ich so in meinem Leben vermisste.
 

Diese Gedanken verscheuchend ging ich die Treppen hoch, bis in den fünften Stock und schloss auf. Die Türe knarrte in den ihren Angeln und schon nach dem halben Weg, stieß sie gegen einen Stapel von Briefen. Mühsam drängte ich mich durch den engen Spalt, sammelte die Post vom Boden auf und stieß die Türe zu. Aus dem Wohnzimmer drang das gewöhnliche Lärmen des Fernsehers und ich konnte das Geschrei einiger verrückter Fußballfans hören. Seufzend zog ich die Schuhe aus und legte den Rucksack auf den Tisch.
 

„Yama!“
 

Ruckartig schlangen sich zwei kräftige Arme um meine Brust und stahlen mir für einen Augenblick den Atem. Die Panik und die Klaustrophobie, die immer bei Berührungen jeglicher Art in mir aufstiegen, verschwanden, als ich den vertrauen Geruch wahrnahm. Mit einem Gefühl, dass Glücklichkeit sehr nahe kam, ließ ich mich nach hinten in die schützende Umarmung sinken und spürte den warmen Atem meines Bruders, der über meinen Hals strich. Zwar war Takeru zwei Jahre jünger als ich, doch schon seit ein paar Jahren überragte er mich um einen Kopf. Inzwischen war er ein wahrer Riese geworden, was ihm im Fußball mehr half, als ich je gedacht hatte. Dieses Spiel hatte ich noch nie verstanden, aber wegen Takeru sah ich mir fast jedes Spiel an.
 

Hinter mir ertönte das leise Kichern meines Bruders.
 

„Was ist?“, fragte ich leise.
 

„Du schnurrst ja“, sagte er lachend. Hitze kroch meine Wangen hoch und ich wollte mich von ihm lösen, aber er wollte die Umarmung nicht beenden. Er drückte sich fest an mich und wieder wurde mir bewusst, dass er doch deutlich der Jüngere von uns beiden war. Man musste nur auf die Anzeichen achten; dieses große Bedürfnis nach Zuneigung war eines davon. Auch ich hatte es, aber diesen Gedanken hatte ich schon lange nach ganz hinten in meinem Kopf geschoben. Ich hatte bisher so gelebt und würde es auch weiterhin schaffen. Takeru hatte momentan Vorrang. „Und du bist nass“, fügte er nach einer Weile hinzu und lockerte seinen Griff etwas. Ich drehte mich zu ihm und strich mir das feuchte Haar aus dem Gesicht.
 

„Bin in den Regen geraten“, meinte ich nur leichthin. „Halb so tragisch.“
 

Er ließ mich los, sah mich mit einem misstrauischen Blick an und sagte: „Geh duschen. Sonst erkältest du dich.“
 

„Aber ich wollte doch zuerst…“
 

„Geh duschen“, wiederholte er, diesmal wieder mit diesem kindlichen Lächeln auf dem Gesicht. „Und danach muss ich dir was erzählen. Ich hab wirklich jemand unglaublichen kennen gelernt.“ Strahlend lief er aus dem Raum und ließ mich verwirrt zurück. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, dass ich mir selbst nicht erklären konnte, ging ich ins Bad und schälte mich aus den nassen Sachen. Warf sie in den Wäschekorb und stellte mich unter die Dusche.
 

Das heiße Wasser auf meiner Haut tat unglaublich gut. Es linderte die nicht sichtbaren Schmerzen und für einen Augenblick, fühlte ich mich merkwürdig entspannt. Der Stress, den die Schule und die Verantwortung, auf denen eigenen Vater und den Bruder aufpassen zu müssen, verschwand. Es war, wie als würde im Wohnzimmer kein gieriger Vielfraß sitzen, der nur darauf wartete, dass ich ihm etwas zu Essen machte. Wie als würde heute, mitten in der Nacht, nicht mein ausgelaugter und erledigter Vater nach Hause kommen und erwarten, dass ein gefüllter Teller auf dem Tisch stand und seinen Hunger tilgte. Als wäre die Seite in meinem Innern, die sich so sehr nach Aufmerksamkeit und Zuneigung sehnte und sich wünschte, auf eine der besten Universitäten Japans zu gehen, endlich verstummt und hätte sich in Dunst aufgelöst.
 

Die blasse Haut an meinen Handinnenflächen war gerötet, als ich aus der Dusche stieg und nach einem Handtuch griff. Just in diesem Moment ging die Türe auf, ein kalter Schwall Luft schlug mir entgegen und ich band mir das große Handtuch um. Takeru stand im Raum und hatte glücklicher Weise die Türe wieder hinter sich geschlossen, auf seinem Gesicht das Grinsen eines ungeduldigen, kleines Kindes. Ich fing an, mir die Haare abzutrocknen und sah ihn auffordernd an.
 

Er verstand.
 

„Ich hab jemand kennen gelernt.“
 

„Ich weiß“, sagte ich leise und fuhr fort, mir die Haare trocken zu rubbeln. „Das sagtest du schon.“
 

„Er ist einfach unglaublich!“
 

„Das ebenfalls.“
 

Er zog eine Schnute, als meine offensichtlich erwartete Freude ausblieb. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, einfach so zu tun, wie als würde mich seine neue Bekanntschaft brennend interessieren, doch ich ließ ihn fallen. Takeru würde es zwar nicht merken, aber ich wollte ihm nichts vorspielen. Es war eine Sache, die blinde Welt um mich herum im Unwissenden zu lassen, eine andere jedoch, dies bei meinem kleinen Bruder zu tun. Ich war nicht der beste große Bruder, den man sich wünschen konnte und ich wusste es. Noch mehr Fehler in seinen und in meinen Augen, brauchte ich nicht.
 

„Nun erzähl schon“, drängte ich und sein Lächeln war wieder da, die Freude entflammte in seinen Augen. Wieder überraschte es mich, wie schnell mein Bruder seine Emotionen wechselte. Und wie viele er zu zeigen fähig war.
 

„Er ist wirklich unglaublich!“, wiederholte er und seine Stimme überschlug sich. „Ich wurde heute von so´n paar Typen in der Pause doof angemacht, aber… keine Angst, es war nichts Schlimmes. Auf jeden Fall dachte ich schon, dass ich jetzt mächtig Ärger von diesen Kerlen kriegen würde, doch dann ist dieser Junge aufgetaucht und sie haben feige den Schwanz eingezogen und sind davon gerannt, wie kleine Babys. Und dann hab ich gesehen, wer mich da gerettet hat; Yagami Taichi! Der Yagami Taichi! Oh Yama, ist das nicht toll?“ Aufgeregt sah er mich an.
 

Ich spürte, wie mein Herz einen Augenblick aussetzte. Dann hatte ich mich wieder gefasst und drehte mich eilig von ihm weg, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte, in dem momentan mehr Unglauben und Schrecken zu sehen waren, als ich beabsichtigt hatte. Die Nachricht, dass dieser Yagami nicht nur mir, sondern auch meinem Bruder geholfen hatte, erschreckte mich. Ich würde ihm nicht danken, schließlich war er nur zufällig vorbei gekommen und wollte wahrscheinlich mit seinen Freunden reden. Dass er Takeru geholfen hatte, war etwas anderes; Takeru war beliebt und sportlich. Niemand legte sich so schnell mit ihm an. Yagami musste ihm geholfen haben, weil er es wollte. Und was mich mehr an dieser Tatsache störte, als alles andere, war, dass Takeru so begeistert von ihm sprach.
 

Wie von einem Helden. Einem Vorbild.
 

„Er hat einfach mit dem Finger geschnipst und sie waren weg! Einfach so!“, lachend warf er die Hände in die Luft und ahmte die Geste nach, aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie er sich ans Waschbecken lehnte und eifrig weiter erzählte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie toll das war. Und dann kam er auf mich zu und hat mich angesprochen. Mein ganzes Leben hab ich schon davon geträumt, mal mit Taichi zu reden. Schließlich ist er Schulsprecher und super in Sport und Kapitän der Fußballmannschaft und super reich! Er hat ernsthaft mit mir geredet Yama!“
 

„… toll.“
 

„Ja!“ Er schien die Unsicherheit in meiner Stimme nicht bemerkt zu haben. „Er hat sich mit mir unterhalten, wie mit ´nem guten Kumpel. Und jetzt kommt der Hammer: er hat mich zu seinem Training eingeladen! Hab natürlich zugesagt und konnte den ganzen restlichen Tag nicht ruhig sitzen, weil ich immer daran denken musste. Dann bin ich einfach runter gerannt und die anderen waren schon da – alle haben so getan, wie als wäre ich schon ewig in der Mannschaft und ich durfte sogar mitspielen!“ Der Unterton in seiner Stimme verriet mir, dass erst jetzt der wirkliche Hammer kommen würde. Dass, was ihn mehr als alles freute. Dass, was seine hyperaktiven Bewegungen rechtfertige und das aufgeregte Zupfen an seinem T-Shirt. Mein Magen krampfte sich zusammen, mein Atem wurde flach.
 

Wieso machten mich seine Worte so nervös?
 

Takeru atmete tief durch und sagte dann: „Er hat mich gefragt, ob ich nicht in seiner Mannschaft spielen will.“ Große, blaue Augen sahen zu mir und ich konnte sehen, dass er erwartete, dass ich etwas sagte. Etwas, dass ihn glücklich machte und ihm die Bestätigung gab für das, was er wahrscheinlich schon längst getan hatte.
 

„… das ist wunderbar“, sagte ich leise und wandte mich von ihm ab. „Wirklich, Takeru, ich freu mich für dich. Du wolltest schon immer in die Schulmannschaft.“
 

„Ja, nicht wahr?“ Seine Fröhlichkeit war deutlich zu hören, also hatte ich das Richtige gesagt. „Oh, du glaubst ja gar nicht, wie glücklich mich das macht. Taichi ist wirklich jemand besonderes. Ein… ein Held, wenn man es so nimmt! Und weißt du was?“ Ich drehte mich wieder zu ihm und sah, dass er eine Augenbraue nach oben gezogen hatte, mich fordernd ansah. Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab ihn zu meinem Vorbild auserkoren!“, grinste er mich an und fing an zu lachen. Angestrengt versuchte ich mir ein Lächeln abzuringen und wusste doch, dass es kläglich aussah. Takeru schien es nicht zu bemerken.
 

„Irgendwann bin ich einmal so gut wie Taichi und werde von allen angehimmelt“, sagte er lächelnd. Kam auf mich zu und drückte meinen nassen Körper an den Seinen.
 

Ich war nicht fähig, die liebevolle Umarmung zu erwidern oder auch nur ansatzweise die Freude zu empfinden, die ihn momentan durchströmte. In meinem Kopf war es merkwürdig taub und ich hatte das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen fortgerissen wurde. Auf meiner Zunge schmeckte ich den fernen, bitteren Geschmack von Magensäure.
 

Erst in diesem Augenblick schien er zu merken, dass ich nur ein Handtuch trug und gerade aus der Dusche kam. Er ließ mich los und sah mich an, musterte mich von oben bis unten. Das Lächeln um seine Mundwinkel zuckte und drohte zu verschwinden. Seine Hand fuhr hoch und strich über meinen Bauch.
 

„Woher kommt der blaue Fleck?“, fragte er und sah mich mahnend und gleichzeitig misstrauisch an. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich in solchen Dingen nicht lügen konnte, erst recht nicht, wenn er mich so ansah.
 

„Gestoßen“, versuchte ich es dennoch.
 

„Woher kommt der blaue Fleck?“, wiederholte er, diesmal mit mehr Schärfe in der Stimme. „Und der an deiner Hüfte?“
 

„Gestoßen“, sagte ich erneut und bis mir auf die Unterlippe. Takeru glaubte mir nicht und ich war mir nicht so sicher, ob es mich glücklich machen sollte oder nicht. Schließlich hatte ich immer gewollt, dass jemand bemerkte, was die Jungen mit mir in der Schule taten, doch nun, wo ich so kurz vor der Beseitigung all meiner Probleme stand, war ich mir nicht mehr so sicher.
 

„Yama.“
 

„Ich… es war nicht so schlimm, wirklich“, sagte ich leise, wusste ich doch, dass es jetzt kein Sinn mehr hatte zu lügen, da er es sowieso schon wusste. Takeru erlebte öfters Prügeleien, aber im Gegensatz zu mir, ging er als Sieger aus ihnen hervor. „Du wurdest doch heute auch blöd angemacht und…“
 

„Das ist etwas ganz anderes“, unterbrach er mich. „Ich kann mich wenigstens wehren und wenn es zu schlimm wird, stehen mir meine Kumpel oder Taichi beiseite. Der hat ´ne Menge Freunde, die sich ebenfalls alle sehr gut wehren können. Aber du, Yama…“ Er ließ den Satz offen im Raum stehen. Mir war klar, was er meinte. Dass ich keine Freunde hatte, musste inzwischen auch ihn erreicht haben, obwohl ich nicht mit ihm darüber sprach. Es war mir peinlich, schließlich war ich der große Bruder. Und dass ich mich nicht zu wehr setzten konnte, wusste er schon immer. Darum hasste er es, wenn ich ihm so etwas verschwieg.
 

Aber sobald ich ihm davon erzählen würde, rannte er sicherlich zu Shusuke und Yuri und geigte ihnen deutlich seine Meinung, was mich wieder rum nur noch mehr in Bredouille brachte. Also schwieg ich zu dieser Aussage, spürte seinen Blick auf meinem Haar. Der Gedanke, dass Taichi Yagami Freunde hatte und Takeru nie solche Schwierigkeiten machen würde, wie ich es tat, schmerzte. Doch wusste Takeru das auch? Bei seiner Begeisterung für den Yagami wahrscheinlich schon.
 

„Komm schon, wieso machst du so etwas?“
 

Wieder schwieg ich. Wenn ich sagte, dass ich nicht einmal wusste, weswegen diese Jungen auf mich losgingen, würde das seine Ansicht über mich nur noch verstärken.
 

„Okay“, seufzte er leise und nahm die Hand von meiner Schulter. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er mich berührt hatte. Er entfernte sich ein paar Schritte von mir und ich hörte, wie er in dem kleinen Schrank unter dem Waschbecken kramte.
 

„Hier“, sagte er und drückte mir eine kleine Tube in die Hand. „Ist gut gegen so was. Sie müssten bald wieder weg sein.“ Dann wandte er sich um und ging. Die Türe fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss und hallte laut in meinem Kopf wieder. Der Boden unter meinen Füßen drehte sich und ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu fallen, doch ich blieb stehen. Eine Hand an die Wand gepresst, die andere auf den Mund, um das aufkommende Schluchzen zu unterdrücken.
 

Der Schmerz, der unter der Dusche von mir abgefallen war, kehrte mir aller Wucht zurück. Mein Herz raste und mein Atem beschleunigte sich. Ich hatte das Gefühl meine Luft zu bekommen und keuchte auf, merkte, wie heiße Ströme über meine Wangen liefen. Ungern gab ich es zu, doch Takeru hatte recht. Ich war schwach und ich würde es immer bleiben. Dieser Yagami war stark und selbstbewusst, genau das, schien Takeru an ihm zu bewundern. Meine Illusion, dass er vielleicht mich als sein Vorbild sehen könnte, war nun endgültig verschwunden, und das auch noch mit einem Grund, der sich mir wie einen Pflock in mein Herz bohrte.
 

Wieso konnte ich nicht mehr so wie Yagami sein? Groß, gut aussehend und von allen bewundert und verehrt. Selbstbewusst und stark. Fähig, sich zu verteidigen und seiner Familie keine Last.
 

Wieso?!
 

Unfähig diese schmerzenden Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen, zog ich mir ein großes T-Shirt über, realisierte erst beim Blick in den Spiegel, dass es Takeru gehören musste. Kurz musterte ich mich, die geröteten Augen und Wangen, die verstrubbelten, noch leicht feuchten Haare und das schmale Gesicht. Manchen Leuten sah man ihre Schwäche nicht an, mir stand sie förmlich ins Gesicht geschrieben. Hastig sah ich in eine andere Richtung und ging aus dem Bad.
 

In der Küche packte ich meinen Rucksack aus und fing an, meine Hausaufgaben zu machen, während ich Reis und Wasser in einen Topf schüttete und den Herd einschaltete. Danach holte ich eine Pfanne aus dem Schrank und rührte die Soße zusammen, die ich notdürftig zusammen kratzte und noch etwas Wasabi dazu schüttete. Zwar aß ich nicht gerne scharf, aber Takeru mochte es, solange es ihm nicht den Rachen verbrannte. Mit zitternder Hand rührte ich in der Soße herum, ging ab und zu, zu dem kleinen Tisch zurück und schrieb etwas in mein Heft, las die Texte im Buch. Im Hintergrund hörte ich Musik, die aus Takerus Zimmer kam und das Wasser in meinem Glas, das auf dem Tisch stand, leicht vibrieren ließ.
 

Nach einer Weile verstummte die Musik und Takeru kam in die Küche. Ich hatte mein Physikbuch in der Hand und versuchte mir ein paar Formeln einzuprägen. Der Versuch scheiterte als ich sein besorgtes Gesicht sah.
 

„Ist das Essen bald fertig?“, fragte er, doch seine versteckte Frage, ob es mir gut ging, konnte ich nur zu gut heraus hören. Ich lächelte ihn zögerlich an.
 

„Ja.“
 

Er hob den Deckel des Reistopfes an und spähte hinein. Das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück und er setzte sich an den Tisch. Räumte nach einer Weile meine Sachen in meinen Rucksack zurück und verlangte auch mein Buch. Widerwillig gab ich es ihm und wiederholte stumm die Formeln im Kopf, während ich ihm das Essen auf den Teller lud und mich vor ihn setzte. Er hatte schon begonnen, sich eifrig den Reis in den Mund zu stopfen.
 

„Weift du“, sagte er mit vollem Mund. „Heute hat Taichi mich und die anderen zum Essen eingeladen. Und da gab’s so was Ähnliches. Aber dein Essen schmeckt besser.“ Er grinste mich an und ich, die Stäbchen schon auf halbem Weg zu meinem Mund, hielt inne.
 

War das ein Kompliment? Ich spürte, wie die Hitze in meine Wangen stieg und starrte hastig auf meinen Teller hinunter, nuschelte ein leises: „Danke, Takeru.“ Er schien meine Worte nicht gehört zu haben, denn er redete eifrig weiter.
 

„Und er meinte, wenn ich Lust hätte, könnte ich ihn ruhig mal besuchen. Seiner Meinung nach, wäre ich ein netter Kerl. Und ziemlich intelligent.“ Er grinste glücklich.
 

„Das wusstest du aber auch schon vorher“, erwiderte ich und meine Stimme klang kälter als nötig. Takeru sah mich verwirrt an.
 

„Woher denn?“, fragte er.
 

„Dad und ich haben dir das dauernd gesagt.“
 

„Also Dad hat so was noch nie gesagt“, meinte Takeru zweifelnd und ließ die Stäbchen sinken. „Und du sagst viel, wenn der Tag lang ist, Yama. Außerdem bist du mein Bruder, du siehst mich in einem ganz anderen Licht, als die anderen.“
 

Mein Atem setzte auf diese Aussage einen Moment aus, die nötige Sauerstoffration blieb aus und ich hatte das Gefühl, dass sich mein Kopf mit Gas füllte. Ich sah ihn misstrauisch an und zog die Augenbrauen zusammen. Doch da bemerkte ich, dass ich nicht in Ohmacht fallen würde. Dieses Gefühl war Wut. Wut, weil Takeru ganz offensichtlich dachte, dass ich unzurechnungsfähig sei. Dass Yagami besser seinen Charakter beschreiben konnte, nach einem ganzen Tag, als ich, der ihn schon sein ganzes Leben kannte. Dass Yagami zu Takerus neuem Vorbild geworden war und er nur noch von ihm redete.
 

Meine Stäbchen vielen klackernd auf den Tisch und mit einem Ruck hatte ich mich erhoben. Takeru sah mich verwirrt an.
 

„Yama, was…?“
 

„Ich geh ins Bett“, unterbrach ich ihn scharf. „Mach den Abwasch und räum auf. Wenn Dad nach Hause kommt, sollte es sauber sein. Und lass ihm etwas übrig, er hat sicherlich auch Hunger.“
 

„Aber Yama…!“
 

„Gute Nacht“, zischte ich sauer und warf ihm einen wütenden Blick zu. Takerus blaue Augen hatten sich erschrocken geweitet und mit offenem Mund starrte er mir hinterher.
 

Und zum ersten Mal in meinem Leben, war es mir relativ egal, was Takeru dachte. Dass er aufräumen und putzen musste, obwohl er dass noch nie gemacht hatte, und sicherlich sauer auf mich war. Dass ihn mein Verhalten irritierte und er sicherlich darauf brannte zu erfahren, wieso ich so unfreundlich zu ihm gewesen war. Dass es ihm nicht passte, dass ich nicht das machte, was er wollte. Und, dass er mir vorwerfen würde, nicht so toll zu sein wie Yagami.

Zugegeben, ich wäre gerne so wie Yagami. Ich wünschte mir all die Dinge, die dieser reiche Schnösel hatte und ich nicht. Dass Takeru ihn anhimmelte und mich nicht. Aber es hatte noch nie jemanden interessiert, was ich wollte.
 

Wieso sollte es das jetzt auf einmal tun?
 


 

Part I

END

I Wanted Everything (Taichi)

~ Taichis POV ~
 

„Taichi Schatz, beeil dich, sonst kommst du zu spät zur Schule.“

„Ja ja“, erwiderte ich gelangweilt und stocherte in meinen Cornflakes herum. Träge schwammen sie in der Milch und sahen schon von weitem sehr wässrig aus. Angeekelt schob ich die Schale von mir und meine Mutter nahm sie, schüttete den Inhalt weg und stellte die Schale in die Spülmaschine.
 

Sie wischte sich ihre Finger an der hellrosa Schürze ab und lächelte mich an.
 

Meine Mutter war ein ehemaliges Model und arbeitete nun als Redakteurin in einer bekannten Modezeitschrift. Von ihrer Schönheit und ihrer perfekten Figur hatte sie trotz des langen Büroaufenthaltes immer noch nichts verloren und einige Journalisten hasteten ihr sogar jetzt noch hinterher. Ich wusste, dass sie das glücklich machte. Und mich machte es glücklich, weil ich damit immer noch der Sohn einer berühmten Frau war. Nicht, dass mein Vater nicht genügend zu bieten hatte. Mit seiner Anwaltskanzlei vertritt er sogar die großen Stars aus Hollywood und Tokio, doch ich bekam ihn nur selten zu sehen und Anwälte waren in meiner Schule nur halb so bekannt wie Models.
 

„Die werden es mir schon nicht krumm nehmen, wenn ich ein bisschen zu spät komme.“
 

„Ach, Schatz“, lächelte sie nur liebevoll und strich mir durchs Haar. Murrend schob ich ihre Hand fort. Ich mochte es nicht, von ihr wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Immerhin war ich achtzehn und könnte, wenn ich wollte, ausziehen. Sie hatte doch noch meine kleine Schwester, wieso betätschelte sie nicht Hikari? „Du solltest abends lieber weniger mit deinen Freunden feiern. Auf alle Fälle nicht bis so spät in die Nacht.“
 

„Ach ja? Was sollte ich denn dann machen?“, fragte ich und zog eine Augenbraue hoch.
 

„Such dir einen netten Freund und verbring mit ihm die Abende. Das wäre sicherlich sinnvoller“, erwiderte sie achselzuckend und setzte sich vor mich an die kleine Theke. Schon wieder.
 

Ich seufzte leise.
 

Sie versuchte nun schon seit Ewigkeiten mich dazu zu bringen, mir einen Freund zu suchen. Ich hatte meiner Mutter nicht verschwiegen, dass ich schwul sah, darin sah ich keinen Grund. Sie hatte es positiv aufgenommen und schien es sogar richtig toll zu finden, dass ihr einziger Sohn auf Männer stand und somit unfähig war, die edlen Gene ihres Blutes weiter zu geben. Dennoch war ich mir sicher, dass dies Hikari bereitwillig übernehmen würde.
 

„Wenn ich nicht schwul wäre, hättest du das nicht gesagt“, konterte ich grinsend. „Dann hättest du zu viel Angst, dass ich sie bei einem nächtlichen Abenteuer schwängern würde.“
 

„Aber ein Junge kann nun mal nicht schwanger werden“, meinte sie nur lächelnd und strich sich eine braune Haarsträhne elegant aus dem Gesicht. Ihre Finger waren lang und grazil, eigentlich nicht geschaffen für die Arbeit in der Küche, doch sie bestand darauf zu Kochen. Nur das Putzen musste unsere Hausfrau übernehmen.
 

„Stimmt.“
 

„Na also. Such dir doch einen Jungen in deiner Schule, es muss doch einen Guten unter all deinen Verehrern geben.“
 

„Mum, die meisten wissen gar nicht, dass ich schwul bin“, erinnerte ich sie und schälte eine Banane. Knabberte kurz an ihrem milchiggelben Inhalt und schob sie mir in den Mund. „Es sind eigentlich nur Mädchen, die mir hinterher laufen.“
 

„Aber es muss doch einen Jungen geben, der dir gefällt“, erwiderte sie zweifelnd.
 

„Natürlich“, sagte ich und es war noch nicht einmal gelogen. Es gab einen Jungen, der mir mehr als nur gut gefiel, aber ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt überhaupt seinen Namen zu erfahren. Außerdem bezweifelte ich, dass er sich mit mir abgeben würde und es würde meinem Ruf schaden, wenn ich es tat.
 

„Wen denn?“, fragte meine Mutter neugierig und lehnte sich ein Stück vor, um jedes einzelne Flüstern von mir zu erhaschen. Sie war furchtbar neugierig, egal worum es ging. Hikari mochte es nicht, da sie ihre meisten Affären lieber geheim halten wollte, doch mich störte es nicht. Sie war meine Mutter, sie würde es so oder so erfahren. Und bevor sie noch einen Privatdetektiv auf mich ansetzte, konnte ich es ihr gleich sagen.
 

„Keine Ahnung wie er heißt.“
 

„Ist er denn hübsch?“
 

„Klar, sonst würde ich nicht auf ihn stehen. Denkst du etwa, dass ich mit dem Zweitbesten zufrieden geben würde?“
 

Meine Mutter lachte ihr glockenhelles Lachen und warf den Kopf in den Nacken, sagte: „Natürlich nicht, Schatz. Allerdings musst doch seinen Namen wissen, sonst kannst du ihn gar nicht ansprechen.“
 

„Ansprechen?“, wiederholte ich perplex. „Wieso sollte ich ihn ansprechen wollen? So wie der schaut, wird er mich wahrscheinlich umbringen, wenn ich in seiner Nähe auch nur den Mund aufmache! Wirklich Mum, da behalte ich sein Bild doch lieber im Kopf und benutze es so, als dass ich das Risiko aufnehme von ihm ermordet zu werden.“
 

„So schlimm?“, fragte sie mitleidig.
 

Ich schnaubte.
 

„Weiß ich eigentlich gar nicht. Ich sehe ihn ab und zu auf dem Gang, weiß weder seinen Namen noch sonst etwas von ihm. Aber er sieht gut aus. Und ein paar meiner Freunde haben mir erzählt, dass er nicht der Freundlichste ist. Soll aber ganz gut in der Schule sein.“
 

„Na dann, worauf wartest du noch? Er wäre perfekt!“, lächelte sie mich glücklich an. „Er könnte dir ein bisschen in der Schule helfen und du bringst ihm bei, wie man nett und freundlich ist. Wäre das nicht ein Deal? Und falls er wirklich so schlimm sein sollte, wie du denkst, kannst du immer noch einen Rückzieher machen.“ Es war klar, dass sie Letzteres erst gar nicht dulden würde. Und ich ebenfalls nicht. Wenn ich es auf jemanden abgesehen hatte, dann wollte ich diesen jemand auch. Dennoch war ich mir nicht so sicher, ob ich es bei diesem Jungen versuchen wollte. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich bei ihm unsicherer als normalerweise.
 

„Ja ja“, sagte ich abwesend und winkte mit der Hand der Luft herum. „Ich… geh jetzt in die Schule.“
 

Meine Mutter sah einen Augenblick verwirrt aus, dann wuschelte sie mir durch die Haare und ich ging aus der Küche. Im Flur schnappte ich mir meine Autoschlüssel und rief kurz nach meiner Schwester, doch sie musste schon aus dem Haus sein, denn es kam keine Antwort. Also verließ ich ohne sie das Haus und fuhr zur Schule.
 

_
 

Missmutig schlug ich die Türe meines Wagens zu und sperrte ab.
 

Ich war doch noch zu spät gekommen. Eigentlich wäre das nicht passiert, aber ich hatte nicht mit dem großen Stau auf der Hauptstraße gerechnet. Dieser hatte sich quälend langsam dahin gezogen, wie ein zäher Kaugummi, der einem nicht von der Schuhsohle weichen wollte, und dafür gesorgt, dass die Uhr nun schon viertel nach Acht anzeigte. Dazu kam der strömende Regen während der Fahrt, der sich nun glücklicher Weise eingestellt hatte. Hastig eilte ich zum Schultor, öffnete es und rannte über den Hof. Schwüle Luft waberte um mich herum, ein deutliches Zeichen dafür, dass es bald wieder anfangen würde zu regnen.
 

Die Türe öffnete sich vor meiner Nase, als ich gerade die Hand danach ausstreckte, und mein Herz blieb stehen. In der Erwartung, einen Lehrer zu sehen, der mich nur zu gerne in die Liste derer Eintrug, die wegen Zuspätkommen nachsitzen mussten, kniff ich die Augen zusammen.
 

„Morgen Yagami“, sagte eine tiefe Stimme. Ich öffnete die Augen und sah erleichtert zu dem Hausmeister, der mit der Zigarette im Mund und dem üblichen Lächeln auf den Lippen vor mir stand.
 

„Morgen“, erwiderte ich und grinste.
 

„Stau?“
 

„Aber so was von!“
 

„Na dann mach mal lieber, dass du in deine Klasse kommst“, lachte er, wie als wäre es furchtbar amüsant, dass der Kapitän der Schulmannschaft nun schon zum dritten Mal in dieser Woche zu spät kam. Ich nickte ihm nur zu und rannte durch den Gang, hin zu meinem Spind. Eilig kramte ich mein Mathebuch heraus, wobei mir einfiel, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Egal, dachte ich nur und stopfte es in meine Tasche. Meine Mathelehrerin mochte mich nicht, aber dies beruhte auf Gegenseitigkeit.
 

Gerade als ich durch den Gang rannte, um ein mögliches Nachsitzen zu vermeiden, hörte ich Stimmen.
 

„… nicht immer helfen kann“, sagte die Eine und nur einen Augenblick später, konnte ich Shusuke sehen, mein Sandkastenfreund und der zweite Stürmer in unserer Fußballmannschaft.
 

Seine schwarzen Haare standen noch wirrer von seinem Kopf ab als sonst und anhand der Tatsache, dass Yuri, der Mittelfeldspieler mit den katzengrünen Augen und dem wasserstoffblondem Haar, leicht gerötete Wangen hatte, war mir sofort klar, dass die beiden gerade ein paar gemütliche Minuten in der Wäschekammer gehabt hatten. Zwar schienen Shusuke und Yuri nach außen hin etwas gegen Schwule zu haben, und ich zweifelte auch gar nicht daran, dass sie nicht wirklich etwas gegen sie hatten, doch das hinderte sie nicht daran miteinander zu schlafen. Ob sie eine wirkliche Beziehung hatten, wusste ich nicht, dafür verhielten sie sich zu unauffällig, aber es wäre vorstellbar.
 

Shusuke ging gerade einen Schritt nach vorne, auf eine Person zu, die ich nicht sehen konnte. Aber ich konnte mir denken, was die beiden da schon wieder taten. Ihre sadistische Ader war ausgesprochen groß und zehn Extrarunden bei jedem Training schienen ihren Elan für solche Aktivitäten auch nicht zu mindern. Yuri kicherte neben ihm, das hohe Kichern eines sechzehnjährigen Mädchens, dessen Stimme noch immer etwas heiser von den vorherigen Schreien war.
 

„Shusuke?“, sagte ich hastig und sah, wie Shusuke eine Gestalt von sich stieß, die mit einem unangenehmen Geräusch an die Wand prallte. Ich hörte ein Seufzen und zwischen den beiden Rüpeln erkannte ich ein blondes Mädchen, das entkräftet an der Wand hinunter rutschte und nach ihrem Rucksack tastete. „Was sollte das denn werden?“
 

„Wonach sah es denn aus?“, erwiderte Shusuke trocken, offensichtlich verärgert, weil ich ihn davon abgehalten hatte das Mädchen zu Brei zu schlagen. „Wir wollten nur ein bisschen Spaß haben.“ Yuri gab ein zustimmendes Murren von sich und verschränkte die Arme vor der Brust, seine Wangen waren noch immer leicht gerötet. Hinter ihm hatte sich das Mädchen aufgerappelt und mit leichtem Schrecken sah ich, dass es gar kein Mädchen war.
 

Es war ein Junge.
 

Der Junge, den ich so oft auf dem Gang gesehen und von dem ich meiner Mutter vor ein paar Minuten noch erzählt hatte. Seine goldblonden Haare hingen ihm in feuchten Strähnen ins Gesicht, welches sich sofort rosa färbte, als seine blauen Augen mich erblickten. Ich lächelte ihn an, doch er starrte nur verschreckt zurück.
 

Etwas entmutigt wandte ich mich von ihm ab und Shusuke zu.
 

„Ein bisschen Spaß, ja?“
 

Shusuke zuckte desinteressiert mit den Schultern und nickte. Kurz blickte ich noch einmal zu dem Jungen, musste allerdings feststellen, dass er schon verschwunden war.
 

„Denkt ihr nicht, dass euer Abenteuer in der Wäschekammer schon genug Spaß war?“, fragte ich gereizt. Dass der Junge einfach so verschwunden war, gefiel mir nicht. Viel zu gerne hätte ich seine Stimme gehört, wenn er sich bei mir bedankte. Doch so wie es aussah, würde es wohl nicht dazu kommen und momentan war ich noch zu unentschlossen, ob ich darüber nun wütend oder glücklich sein sollte.
 

„Was? Wie kommst du denn auf so einen Mist?“, fauchte Yuri und seine Wangen färbten sich dunkelrot. Noch immer war seine Stimme heiser.
 

„Schwer die Anzeichen zu übersehen“, sagte ich und deutete auf sein Gesicht und Shusukes verstrubbelte Haare. „Falls ihr das nächste Mal in der Schule übereinander herfallt, solltet ihr einen Kamm dabei haben. Und möglicherweise etwas warten, bis ihr wieder aus der Kammer raus kommt.“
 

Shusuke war selbst derjenige gewesen, der mir von seiner Affäre zu dem blonden Erben erzählt hatte, aber nun sagte er: „Wie kommst du darauf, dass ich Yuri vögeln würde? Diesen Idioten fass ich nicht mal an, wenn du mir eine Millionen Yen bereit stellst.“
 

Yuri zuckte zusammen und warf Shusuke einen verletzten Blick zu, den dieser nicht zu bemerken schien.
 

„Wirklich?“, fragte ich.
 

„Klar“, sagte Shusuke achselzuckend und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Was denkst du denn? Ich bin nicht schwul. Niemals.“
 

Ich schwieg mich dazu aus. Allein Yuris Gezeter, dass er nachher über sich ergehen lassen müsste, würde Strafe genug für ihn sein. Schon jetzt verschränkte Yuri die Arme vor der Brust und sah Shusuke böse an, überspielte geschickt seine Verletztheit.
 

Hastig drehte ich mich um und warf einen suchenden Blick durch den Gang, in der Hoffnung noch einmal den Jungen sehen zu können, während ich im Hintergrund schon Yuri keifen hören konnte.
 

_
 

Endlich konnte ich Frau Nakata und ihren endlosen Reden über japanische Dichter und Schriftsteller entfliehen. Es war die reinste Hölle gewesen geschlagene zwei Stunden ihrem Vortrag lauschen zu müssen, in dem Wissen, dass ich heute morgen die perfekte Gelegenheit verpasst hatte, den fremden Jungen anzusprechen.
 

Ich packte meine Sachen zusammen und verließ eilig das Klassenzimmer, bevor Frau Nakata noch auf die Idee kam, mir ein Referat über Dichter aufzudrücken und stieß prompt mit Shusuke zusammen. Seine linke Wange war rot und bei näherem Hinsehen, konnte ich den zarten Abdruck einer Handfläche erkennen. Also hatte es Ärger im Liebesparadies gegeben, wie geahnt. Doch Shusuke sagte nichts dazu, als ich ihn fragend anblickte und meinte nur: „Gehen wir runter in die Cafeteria, ich brauch was zu Essen.“
 

„Ist gut“, erwiderte ich grinsend. Essen gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen und selbst wenn das Essen dort unten nicht das Beste war, schlang ich es doch jedes Mal hinunter, wie das letzte Abendmahl vor meinem schrecklichen Tode. Ich hatte mir schon öfters vorgestellt, vor meinem wirklichen Tod ein Bankett zu veranstalten, damit ich nicht hungrig sterben musste.
 

„Yuri zickt rum“, rückte Shusuke schließlich mit der Sprache heraus, als wir uns gerade an einen Tisch setzten. Toshi und Fu kamen zu uns herüber und begrüßten uns mit dem für die Fußballmannschaft typischen Handschlag. „Und das nur, weil ich das vorhin gesagt habe.“
 

„Weil du was gesagt hast?“, fragte Fu neugierig.
 

„Nichts was dich angehen könnte“, fauchte Shusuke sauer.
 

„Uh, Yuri-chan hat dich doch nicht etwa auf Entzug gesetzt Shusuke, oder?“, grinste Toshi schadenfroh, der schon lange nach Gelegenheiten suchte sich darüber lustig zu machen, dass Shusuke zwar Schwule verabscheute, es aber anscheinend selbst war. Meiner Meinung nach, kam er vielleicht einfach nicht mit sich selbst aus, doch diesen Gedanken verwarf ich jedes Mal wieder, wenn ich sein selbstverliebtes Handeln sah.
 

Bevor Shusuke etwas auf Toshis Anspielung sagen konnte, kam Yuri zu uns ließ sich neben mich sinken, ignorierte beflissentlich die Blicke der anderen. Schweigend fing er an zu essen, hieb auf seinen Reis vielleicht etwas heftiger ein, als unbedingt nötig gewesen wäre und auch sein grimmiger Gesichtsausdruck verriet, dass er noch immer sauer war. Shusuke rutschte auf seinem Stuhl herum und schob sein Essen von sich, murmelte leise: „Kannst es haben, Tai.“
 

„Wirklich? Gut“, sagte ich und zog es hastig zu mir heran. Ohne Yuri anzusehen, zupfte Shusuke an seiner Serviette herum und sagte seufzend: „Sorry, Yu.“
 

„Fick dich“, fauchte Yuri leise und Shusuke gab ein erleichtertes Seufzen von sich.
 

Überrascht sah ich auf, bemerkte die Blicke meiner Kameraden, die genauso ratlos schienen wie ich. War es das? Hatten sie sich mit diesen wenigen und nicht gerade sehr freundlichen Worten einfach wieder vertragen?
 

Anhand der Tatsache, dass Yuri sich nun zwischen mich und Shusuke setzte und zuließ, dass dieser einen Arm um seine Schultern schlang, mussten wir es uns eingestehen.
 

„Ihr seid krank“, brummte Toshi, der offensichtlich etwas Spektakuläres erwartet hatte und von dieser schlichten Entschuldigung enttäuscht war. Ich grinste nur und schaufelte weiter mein Essen in mich hinein, schließlich hatten wir heute ein großes Training vor uns und dafür musste ich fit sein.
 

Ein lautes Geräusch aus den hinteren Ecken der Cafeteria lenkte mich nach einer Weile jedoch ab. Kurz sah ich zu meinen Freunden, doch auch sie beobachten das Geschehen hinter mir. Also drehte ich mich um und erblickte drei Jungen. Zwei kannte ich, den dritten nur vom Sehen.
 

Mike, ein bulliger Austauschschüler aus den USA, und Hiroyuki, der Torwart meines Teams, schubsten einen blonden Jungen herum. Zwar sah er nicht schwächlich aus und wehrte sich mit Händen und Füßen, doch Hiroyuki und Mike waren in der Überzahl. Grob entwanden sie ihm seine Schultasche und warfen sie über seinem Kopf hin und her. Hinter ihnen konnte ich Herrn Heiji erkennen, doch dessen Aufmerksamkeit schien auf etwas ganz anderes an der Ausgabe gerichtet.
 

„Hey, Mike!“, rief ich, als dieser gerade versuchte, den Blonden in den Schwitzkasten zu nehmen. Mikes Kopf ruckte hoch. „Was macht ihr da? Jüngere Schüler schikanieren?“
 

„Ach was“, sagte Mike nur und zuckte die Achseln. Von Hiroyuki kam der Kommentar, den ich nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag hörte: „Wir wollten nur ein bisschen Spaß.“
 

Wut stieg in mir auf. Darüber, dass anscheinend mehrere Leute es spaßig fanden, ihre Mitschüler herum zu schubsen und ihnen Schmerzen zuzufügen. Sie waren doch sonst nicht so, was war denn nur in letzter Zeit los?
 

„Lass ihn los oder ich werd gleich ein bisschen Spaß mit dir haben“, rief ich sauer und hörte, wie Shusuke und Fu hinter mir zu lachen anfingen. Toshi ließ ein lautes Pfeifen hören und johlte zustimmend. Es gab mir ein gutes Gefühl von meinen Freunden so unterstützt zu werden und meine Wut verrauchte. Ich wusste, wenn jemand versuchte, sich solche Späße mit mir zu erlauben, würden sie mir helfen und umgekehrt. Mit einem unglaublich gestärktem Selbstbewusstsein beobachtete ich, wie Hiroyuki und Mike den Jungen losließen und verschwanden. Der Junge strich sich die Klamotten glatt, griff nach seiner Tasche und sah zu mir hinüber. Offensichtlich unsicher, ob er nun zu mir kommen oder einfach wieder gehen sollte.
 

Ich nahm ihm diese Entscheidung ab, indem ich auf ihn zu kam, flankiert von Shusuke und Toshi.
 

„Alles wieder okay?“, fragte ich und musterte ihn. Er nickte.
 

„Danke“, sagte er lächelnd und sah bewundernd zu mir auf. Ich hatte dieses Verhalten schon öfters gesehen. „Das war wirklich nett von dir.“
 

„Kein Problem, er ist schließlich Schulsprecher, er muss das tun“, grinste Toshi und stützte lässig seinen Ellenbogen auf meiner Schulter ab. Ich lachte und sagte: „Stimmt. Außerdem soll man sich doch um die Zukunft kümmern, nicht wahr? Also, bock mit an unseren Tisch zu kommen und etwas über den Schock zu essen?“
 

„Klar!“, sagte der Junge und strahlte. „Und… oh, ich hab mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Ishida Takeru“, fügte er hastig hinzu und ich schüttelte seine ausgestreckte Hand, stellte ihm Toshi und Shusuke vor. Er folgte uns zu unserem Tisch und setzte sich neben mich. Ich nahm mir die Zeit ihn zu mustern, während er anfing, sich mit Yuri und Fu zu unterhalten.
 

Takeru war recht groß, ich schätzte sein Alter auf sechzehn. Seine blonden Haare waren wirr, erinnerten an Shusukes Mähne und seine blauen Augen strahlten eine unbändige Freude aus, die nicht ganz zu seinen ernsten Gesichtszügen passen wollte. Der augenscheinlich muskulöse Körper war in einen hellroten Pullover und zerschlissene Jeans gehüllt. Er erinnerte mich dunkel an jemanden, doch momentan fiel mir nicht ein, an wen.
 

Das Gespräch von Takeru und Yuri war inzwischen zu dem Thema Fußball über gegangen und es stellte sich heraus, dass Takeru Fußball nicht nur abgöttisch liebte, sondern es sogar selbst spielte. Zwar in keinem offiziellen Verein, doch die Begierde, mal an einem Mannschaftstraining teilnehmen zu dürfen, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
 

Als sich die Mittagspause dem Ende zu neigte, standen wir auf. Zusammen mit Toshi und Fu hatte ich jetzt Chemie, ein Fach mit einem netten Lehrer, das aber leider an sich schon schrecklich langweilig war. Ich beugte mich kurz noch einmal zu Takeru hinunter und sagte: „Komm nach der Schule zum Trainingsplatz. Wenn du Lust hast kannst du bei unserem Training mitmachen.“
 

Takeru starrte mich ungläubig an, stotterte dann vollkommen überwältigt: „Was? Oh… klar… natürlich, gerne!“ Ich grinste zu ihm hinunter und winkte ihm nur noch ein letztes Mal zu, dann machte ich mich zusammen mit Toshi und Fu auf den Weg zu Chemie.
 

_
 

„Echt?“
 

„Ja“, versicherte ich Takeru nun schon zum sechsten Mal. „Du warst wirklich gut, Takeru. Glaub mir. Ich hab selten jemanden so spielen gesehen wie dich…“

„Danke“, nuschelte Takeru leise und lief leicht rosa an, lehnte sich tiefer in seinem Sitz zurück. Nach dem Training war die Mannschaft wie üblich in eines der vielen Schnellrestaurants Japans gegangen und hatte sich unter lautem Gegröle und missbilligenden Blicken der anderen Gäste, den Bauch voll geschlagen. Ich hatte Takeru eingeladen, aus einem einfachen Impuls heraus.
 

Es hatte sich nicht als Fehler heraus gestellte.
 

Takeru war ein netter Junge, er war lustig und erinnerte mich stark an mich selbst. Viel hatte er nicht von sich erzählt, aber seine große Leidenschaft für die Sportart mit dem runden Lederball war während des Abends immer offensichtlicher geworden. Als ich dann vorhin Fu zu Hause absetzte, meinte auch dieser, dass wir Takeru unbedingt in der Mannschaft bräuchten.
 

„… und ich hätte dich gerne in der Mannschaft“, fügte ich beiläufig hinzu und hielt an einer roten Ampel.
 

„Was?“ Große Augen starrten mich an. „Wirklich?“
 

„Klar.“
 

„Natürlich… natürlich! Liebend gern“, lachte Takeru und krallte seine Hände aufgeregt in den Sitz unter ihm. „Das ist wirklich… einfach der Hammer. Danke Tai. Das bedeutet mir echt viel.“
 

„Kein Problem“, erwiderte ich achselzuckend. „Allerdings solltest du dich nicht zu früh freuen, du musst erst das Aufnahmespiel bestehen, sonst wäre es unfair den Anderen gegenüber.“ Und ich hatte deutlich bemerkt, dass Yuri ihn als eine Art Konkurrenten ansah. Ob es daran lag, dass sie beide im Mittelfeld spielten oder daran, dass Shusuke immer wieder interessiert zu Takeru geblickt hatte, wusste ich nicht, aber ich wollte Yuri keinen Grund zur Beschwerde geben. Er nörgelte jetzt schon genug.
 

„Oh, das macht nichts“, sagte Takeru, über beide Ohren grinsend. „Ist doch selbstverständlich. Ähm… hier links.“ Er deutete auf eine kleine Seitenstraße und ich bog gehorsam ab. Vor einem großen Gebäude brachte ich das Auto zum Stehen und sah mich um. Es war keine schöne Gegend, die Häuser waren grau und verdreckt, die Mülleimer quollen über. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Takeru hier lebte.
 

„Wohnst du wirklich hier?“, fragte ich zweifelnd, aber Takeru lachte nur.
 

„Es sieht schlimm aus, nicht? Keine Angst, unsere Wohnung ist sauberer und gemütlicher, als alles, was ich bisher gesehen habe.“
 

„Reinliche Mutter?“, grinste ich.
 

„Nein“, lachte er. „Nur Yama - Yama ist mein Bruder und sorgt für alles, was mir und Dad über den Kopf steigt“, fügte er auf meinen irritierten Blick hinzu. Die Tatsache, dass er seine Mutter ausgelassen hatte, überging ich elegant. Takeru öffnete die Türe und schnappte sich seine Sporttasche vom Rücksitz.
 

„Danke, dass du mich mitgenommen hast“, sagte er höflich und lehnte sich an den Türrahmen des Autos. „Und fürs Essen. Wann ist das Spiel?“
 

„Mal sehen“, antwortete ich und zuckte mit den Schultern. „Ich sag dir Bescheid, aber all zu lange kann es nicht dauern.“
 

„Gut.“
 

„Äh... Halt!“, sagte ich hastig, als mir gerade einfiel, an wen Takeru mich die ganze Zeit so erinnert hatte; der Junge von heute morgen. „Wie heißt dein Bruder doch gleich?“
 

„Yama. Eigentlich Yamato“, sagte Takeru perplex. „Wieso?“
 

„Sieht er so aus wie du?“, fragte ich und überhörte seinen Einwurf.
 

„Ja. So in etwa. Etwas kleiner und schmaler. ´n bisschen wie ein Mädchen.“ Er machte ein erschrockenes Gesicht, wie als hätte er etwas Falsches gesagt und biss sich auf die Lippe. „Sag ihm bloß nicht, dass ich das gesagt habe“, warnte er mich hitzig. „Er tötet mich, wenn er das erfährt.“
 

Ich lachte laut auf.
 

„Keine Angst. Er wird von mir nichts erfahren.“
 

„Wieso willst du das eigentlich wissen?“, fragte Takeru erneut und setzte sich halb auf den Beifahrersitz, die Tasche auf dem Schoß. „Kennst du ihn etwa?“ Er sagte das in einem Ton, wie als könnte er sich nie und nimmer vorstellen, dass sein Bruder so jemanden wie mich ansprechen würde.
 

„Noch nicht“, entgegnete ich wahrheitsgemäß. „Aber bald.“
 

„Wenn du willst, stell ich ihn dir vor“, sagte Takeru gleichgültig, offenbar vermutete er, dass ich nur deshalb damit angefangen hatte. „Er müsste bald nach Hause kommen. Es macht ihm sicher nichts aus, wenn du bis zum Essen bleibst.“
 

„Nein, danke“, winkte ich ab und startete erneut den Motor. „Vielleicht ein anderes Mal.“
 

„Okay.“ Er schulterte seine Tasche, verabschiedete sich vor mir und rannte beschwingt die Treppe zu dem Hausblock hinauf. Einen Moment sah ich ihm hinter her, dann fuhr ich nach Hause.
 

Während ich an einer roten Ampel wartete, setzte sich in meinem Kopf der Gedanke fest, dass ich Yamato kennen lernen wollte. Und nicht nur das. Ich wollte, dass Takeru in meine Mannschaft kam, selbst wenn er noch etwas zu jung war. Und ich wollte Yamato haben – ganz und gar.
 


 

Part II

END
 

Vielen lieben Dank für die Kommentare zu dem letzten Kapitel

*verbeug*

Wie ihr gemerkt hat, gibt es leider keinen Wochentakt zum Hochladen. Da ich dieses Jahr meinen Abschluss schreibe, wird es wohl eher monatlich passieren <3

Ich hoffe, das ist für euch nicht all zu tragisch.
 

Alles Liebe,

Nikolaus

So I Tried To Be Like You (Takeru/Yamato)

~ Takerus POV ~
 

„Schoko oder Normal?“
 

„Schoko.“
 

„Hier“, sagte Yamato und reichte mir die Schüssel. Die Cornflakes schwammen in der Milch und starrten mir wie braune Augen entgegen. Kurz beugte Yamato sich über den Tisch zu mir und ließ ein paar geschnittene Erdbeeren in die Milch sinken. Ich starrte sie an, beobachtete wie sie versanken und sah dann wieder zu meinem Bruder. Er hatte sich gerade seinem eigenen Frühstück zugewandt, das aus nicht mehr bestand als einem Apfel und einem Stück Toast. Er schien zu bemerken, dass ich ansah und erwiderte leicht irritiert meinen Blick. „Ist irgendetwas?“
 

„Nein. Nichts“, sagte ich und rührte mit dem Löffel in meiner Schüssel herum. „Ich hab dir doch erzählt, dass sie mich in der Mannschaft spielen lassen, nicht?“
 

„Ja“, sagte Yamato und zuckte die Achseln. „Wieso?“
 

„Taichi hat mich nach dir gefragt“, erwiderte ich und beobachtete seine Reaktion. Yamato erstarrte und blickte auf den Apfel in seiner Hand. Dann legte er den Apfel auf den Tisch und sah mich an.
 

„Was hat er gefragt?“, wollte er leise wissen. Er klang nicht so, wie als ob er es wirklich wissen wollte.
 

„Wie du heißt und wie du aussiehst“, sagte ich. Yamatos Blick wanderte zu der Wanduhr hinter mir und er gab ein leises Seufzen von sich.
 

„Daran ist doch nichts besonderes“, meinte er dann nach einer Weile und erhob sich.
 

Ich glaubte meinen Ohren nicht. Was war denn nicht besonders daran, wenn Taichi Yagami nach einem fragte? Ich selbst war gestern vollkommen überrascht gewesen, als Taichi das wissen wollte, schließlich war mir bekannt, dass Yamato nicht sonderlich beliebt auf der Schule war. So weit ich wusste, hatte er keine Freunde und außer ein paar Notgeilen, die unbedingt mit ihm ins Bett wollten, interessierte sich auch keiner an ihm. Also war es etwas Besonderes, wenn Taichi Yagami nach ihm fragte!
 

„Wir sollten bald gehen, Takeru.“
 

Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er war gerade dabei den Rest seines Apfels zu essen und gleichzeitig die Gläser abzuwaschen. Mit einer deutlichen Geste verlangte er nach meiner Schüssel. Hastig schlang ich die Cornflakes hinunter und reichte sie ihm, er spülte sie ab und stellte sie zum Trocknen auf. Wandte sich zu mir und ignorierte meinen bohrenden Blick.
 

„Vergiss dein Sportzeug nicht“, sagte er, während er in sein Zimmer ging und mit seiner Tasche wieder zurück kam. In der anderen Hand hielt ein dutzend Papiere, sorgfältig geordnet und zusammengeheftet. Fragend sah ich ihn an.
 

„Das ist deine Englischarbeit“, meinte er lächelnd und drückte sie mir in die Hand. „Mir war klar, dass du das wieder nicht auf die Reihe kriegst. Und Herr Minamoto hat doch sowieso schon etwas gegen dich, da musst nicht auch noch eine Sechs bekommen, weil du deine Hausaufgaben nicht erledigt hast.“
 

„Ich… danke“, erwiderte ich perplex und nahm sie entgegen. Ehrlich gesagt, hatte ich diese Arbeit schon längst wieder vergessen. Die ganze Aufregung um Taichi und die Fußballmannschaft… ich hatte seit gestern nichts Anderes mehr im Kopf. „Ich hab’s total verpennt.“ Ich sah zu meinem Bruder und in seinen blauen Augen flackerte die Erkenntnis, wieso ich es vergessen hatte. Für einen Augenblick meinte ich so etwas wie Trauer aufflammen zu sehen, doch dann hatte Yamato sich auch schon wieder abgewandt und zog sich seine Schuhe an.
 

Als er sich wieder zu mir umdrehte, lächelte er.
 

„Kein Problem. Schließlich hab ich das alles schon mal gemacht“, sagte er, wie als wäre es das Normalste der Welt an einem Abend eine zwölfseitige Englischarbeit über das Vereinigte Königreich und seine Eroberungen zu schreiben. Natürlich, Yamato war in mancher Hinsicht zu begabt für sein Alter, aber in letzter Zeit hatte ich doch eher den Eindruck, dass er sich so in seiner Arbeit verschanzte, dass er für nichts Anderes mehr Zeit hatte. Und das nicht, weil er viel zu tun hatte. Er tat es absichtlich. Er wollte nicht über andere Dinge nachdenken, wie zum Beispiel die große Frage, was er nach der Schule machen würde. Oder die Tatsache, dass Dad degradiert worden war und wir nun noch weniger Geld zur Verfügung hatten als bisher.
 

Wortlos schlüpfte ich in meine Schuhe und zog mir die Jacke über, reichte Yamato seine Tasche. Nach kurzem Zögern schlang ich die Arme um ihn und drückte ihn an mich. Yamato zuckte bei der Berührung kaum merklich zusammen.
 

„Trotzdem danke“, murmelte ich. „Du hättest mich auch hängen lassen können.“
 

„Ach was“, sagte er lachend und löste sich von mir. Etwas zu schnell, als dass es normal gewirkt hätte. „Wieso sollte ich das tun?“ Er wandte den Blick ab und rückte seine Jacke zu Recht. „Gehen wir. Sonst kommen wir noch zu spät.“
 

Ich nickte.
 

Gemeinsam verließen wir die Wohnung, Yamato schloss ab. Dad war schon seit geraumer Zeit wieder bei der Arbeit, ich hatte nicht einmal gehört, wie er kam und ging. Auf dem Weg nach unten, herrschte Schweigen zwischen uns und kurz bevor wir die Haustür öffneten, packte ich die Englischarbeit in die Tasche. Yamato beobachtete mich dabei und als ich den Blick hob, lächelte er mich an. Draußen regnete es in Strömen – schon wieder. Mein Bruder gab ein leises Seufzen von sich und zog sich die Kapuze über den Kopf. Nach einem strengen Blick seinerseits, zog auch ich mir die Kapuze über.
 

Gerade als wir die ersten paar Schritte durch den Regen gemacht hatten, hörte ich ein lautes Hupen und wie jemand meinen Namen rief. Ich drehte mich um, sah aus den Augenwinkeln, wie auch Yamato sich umsah, und erblickte ein schwarzes Auto.
 

Mein Herz schlug plötzlich schneller.
 

„Wer ist das?“, fragte Yamato.
 

„Das ist Taichi“, antwortete ich mit vor Freude zitternder Stimme. „Das ist sein Auto! O man, er ist hier! Yama, ist das nicht obercool?“
 

Yamato gab ein leises Brummen von sich, fügte jedoch schnell hinzu: „Wow, das ist echt toll, Takeru. Geh zu ihnen, sonst wird das Auto unnötig nass.“
 

Überrascht über diesen Zynismus, drehte ich mich zu ihm und sah ihn an. Sein Blick war abfällig auf das Auto gerichtet.
 

„Du bist doch nicht etwa sauer, oder?“, fragte ich vorsichtig. Schon gestern war er sehr giftig gewesen und ich wollte vermeiden, dass wir heute wieder im Streit auseinander gingen. Yamato war der beste Bruder der Welt, doch er war die Sorte von Menschen, die man nie zum Feind haben wollte. In diesem Augenblick schien Yamato meinen Blick zu bemerken und sah zu mir hoch, auf seinen Zügen war ein liebevolles Lächeln zu sehen. Eigentlich war es dasselbe Lächeln wie immer, doch aus irgendeinem Grund, kam es mir dieses Mal anders vor.
 

Gestellt. Erzwungen.
 

„Was? Nein, natürlich nicht“, tat er es hastig ab und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Geh schon zu ihnen, sie warten sicher auf dich.“

Ich hob nur fragend eine Augenbraue. Yamato wandte sich ab. Hinter mir konnte ich erneut hören, wie jemand meinen Namen rief.
 

„Jetzt geh endlich“, sagte Yamato.
 

„Aber ich…“, fing ich an, doch Yamato unterbrach mich.
 

„Geh, oder müssen sie dich erst holen?“ Er ließ ein Lachen hören, das genauso gut ein Knurren hätte sein können. „Du machst dir zu viele Gedanken, Takeru. Bestimmt hält dein Vorbild nicht viel davon, im Regen zu warten.“
 

„Ach was“, sagte ich. „Die sitzen doch im Trockenen. Hör zu, ich kann sie fragen, ob sie dich nicht auch mitnehmen wollen, Yama. Dann musst du nicht bei diesem Wetter in die Schule laufen.“
 

„Nein danke“, erwiderte Yamato und zog sich die Kapuze ein Stück tiefer ins Gesicht. „Wir sehen uns heute Abend, ich komm heute später.“
 

„Was? Wieso?“
 

„Dads Budget wurde gekürzt, schon vergessen?“, sagte er nur. „Bye.“
 

Und mit diesen Worten ging er los, ließ mich wie einen begossenen Pudel im Regen stehen.
 

„Yama!“, rief ich ihm hinterher, aber er hörte mich nicht. Oder ignorierte mich. Mit einem leisen Seufzen ging ich hinüber zum Auto und sofort wurde mir die Türe geöffnet. Hastig stieg ich ein, hatte einen Augenblick lang ein schlechtes Gewissen, da ich mit meinen nassen Sachen sicherlich die guten Bezüge ruinieren würde, doch dann erblickte ich die Decke auf dem Hintersitz und ließ mich ohne Bedenken fallen. Toshi und Shusuke waren ebenfalls nass bis auf die Socken, nur Taichi am Steuer schien einigermaßen trocken.
 

„Hi Takeru“, begrüßte Taichi mich und drehte sich zu mir um. Lässig lehnte er mit einem Arm auf dem Steuer, mit dem anderen stützte er sich am Sitz ab. Toshi saß neben ihm auf dem Beifahrersitz, Shusuke neben mir. Seine schwarzen Haare trieften vor Wasser und für einen Moment fragte ich mich, wo sein blonder Freund war.
 

„Hey.“
 

„Das war ´ne ganz schön krasse Abfuhr“, sagte Shusuke grinsend.
 

„Abfuhr?“, wiederholte ich verwirrt, „Welche Abfuhr?“
 

„Das war keine Abfuhr“, wies Taichi ihn zurecht. „Das war sein Bruder. Yamato. Stimmt’s Takeru?“
 

Überrascht darüber, dass er sich Yamatos Namen gemerkt hatte, stimmte ich zu.
 

„Sah trotzdem ganz schön heftig aus“, sagte Shusuke.
 

„Wieso hast du ihn nicht mitgebracht?“, fragte Taichi und klang dabei fast ein bisschen enttäuscht. „Bei dem Wetter läuft man doch nicht freiwillig zur Schule.“

„Er anscheinend schon“, seufzte ich und zuckte die Achseln. „Er war ein bisschen komisch, keine Ahnung was los ist. Scheint schon seit gestern nicht bei bester Laune zu sein.“
 

„Hört sich für mich ganz nach den Tagen an“, meinte Shusuke.
 

„Takerus Bruder ist doch kein Mädchen!“, sagte Toshi. „Das geht gar nicht.“
 

„Na und?“ Shusuke zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Yuri hat auch immer so´n paar Tage, wo er schlecht drauf ist. Wie so´n Mädchen. Vielleicht hat das… äh, wie heißt er doch gleich?“
 

„Yama.“
 

„Ja, genau. Vielleicht hat Yama das auch.“
 

„Spinner“, lachte Taichi. „Auf solche Theorien kommst wirklich nur du.“ Er startete den Motor und fuhr los. Toshi lehnte sich auf seinem Platz zurück und sah aus dem Fenster. Ich beobachtete ebenfalls die graue Landschaft außerhalb des Autos, in der leisen Hoffnung, vielleicht Yamato zu sehen, damit er bei diesem Wetter nicht laufen musste. Doch ich sah ihn nicht. Wahrscheinlich war er durch den Park gegangen, um diese Situation zu vermeiden.
 

Manchmal konnte ich mich über seine Sturheit wirklich nur aufregen.
 

Also gab ich dieses Vorhaben auf und sah zu Taichi, der gelangweilt auf die Straße starrte und auf einem Kaugummi herumkaute. Lässig strich er sich durch die Haare und erwiderte grinsend meinen Blick durch den Rückspiegel.

Sofort stieg mir die Hitze in die Wangen.
 

_
 

„Wer kann mir jetzt die Quadratwurzel von y sagen?“
 

Auffordernd sah Herr Heiji in die Klasse, in der einen Hand das Mathebuch, in der anderen die weiße Kreide, mit der er gerade die Gleichung an die Tafel geschrieben hatte. Ich hätte ihm die Lösung sagen können und wahrscheinlich auch der Großteil meiner Kameraden, doch die ganze Klasse hing gelangweilt in ihren Stühlen und starrte aus dem Fenster. Bei diesem Wetter verging einem wirklich die Lust auf Unterricht. Und ich hatte noch ganz andere Gründe, weshalb ich Herrn Heiji nicht Genugtuung gönnen würde, an seinem Unterricht teilzunehmen.
 

„Nun stellt euch nicht so an“, sagte Herr Heiji seufzend und sah sich um. Keiner meldete sich. Murrend wandte er sich zur Tafel um und schrieb selbst die Lösung an die Tafel. Mit einem hämischen Grinsen beobachtete ich ihn dabei. Bei den höheren Jahrgangsstufen war er recht beliebt, doch in meiner Klasse wurde er mehr gehasst, als Frau Nakata, die wohl den langweiligsten Japanischunterricht hielt, den ich je miterleben musste. Die meisten mochten ihn nicht, weil sie Mathe generell nicht mochten, ich hatte etwas gegen ihn, weil er Yamato anschmachtete. Es war offensichtlich, dass Herr Heiji Yamato bei jeder Gelegenheit mit seinen Blicken auszog und seine nächtlichen Abenteuerträume von meinem Bruder handelten. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehen musste, wurde mir übel. Wie konnte man als Erwachsener nur einen Jungen begehren, der vor einem Monat noch minderjährig war?
 

„Ishida, hörst du mir zu?“
 

Ich hob den Kopf und sah den Mann an, der Yamato beim letzten Sommerfest versehentlich an den Hintern gefasst hatte. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass ich wirklich nicht zugehört hatte und es auch nie tun würde, solange er sich beim Gedanken an meinen Bruder einen runterholte.
 

„Entschuldigung, Herr Heiji“, knurrte ich stattdessen widerwillig. „Ich war gerade etwas abwesend.“
 

„Das habe ich gemerkt“, erwiderte er schnippisch und sah mich überheblich an, wie als wäre ich es eigentlich gar nicht wert, dass er mit mir sprach. „Dennoch wäre ich sehr froh, wenn du nun an die Tafel kommen würdest und diese Rechnung machst.“
 

Er deutete auf die Gleichung. Mürrisch erhob ich mich und ging zur Tafel, ergriff die Kreide und fing an zu rechnen. Generell war ich sehr gut in Mathe, doch mit dem Blick dieses… Mistkerls im Rücken, konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Allein die Vorstellung, dass er Yamato mit den gleichen Augen betrachtete und sich wahrscheinlich genau einprägte, wie sein Hintern in der Hose aussah, ließ in mir den üblen Geschmack von Galle aufsteigen.

Hinter mir ertönte ein missbilligendes Schnalzen.
 

„Das ist aber nicht ganz korrekt.“
 

Ihr Gegaffe auch nicht.
 

„Oh, wirklich?“
 

„Sieh noch mal bei der letzten Zeile nach. Da hast du dich verrechnet, Ishida.“
 

Ich sah auf die Stelle und musste mir eingestehen, dass er tatsächlich recht hatte. Hastig besserte ich es aus und schrieb die Lösung darunter. Herr Heiji sagte nichts dazu, also war es anscheinend richtig.
 

Als ich wieder zurück zu meinem Platz ging, sah er mir nach und für einen kurzen Augenblick klebte sein Blick an meinen Haaren. Ich wusste sofort, was er dachte und mir wurde übel. Wie konnte der Direktor nur so einen Lustmolch auf die Schüler loslassen? Ich nahm mir vor, dafür zu sorgen, dass er gefeuert wurde. Wenn Taichi einen Lehrer nicht mochte, dann zeigte er es diesem auch und ich würde dies ebenfalls tun. Spätestens wenn er Yamato erneut an den Hintern fasste.
 

Es klingelte laut und das übliche Rascheln setzte ein, wenn die Schüler ihre Sachen einpackten. Herr Heiji sorgte noch einmal kurz für Ruhe, indem er das für ihn typische Räuspern hören ließ, das jedes Mal so überheblich und selbstverliebt klang, dass ich ihm am liebsten die Faust ins Gesicht geschlagen hätte.
 

„Seite 114, Nummer eins und zwei“, sagte er und klappte das Buch in seiner Hand zu. „Bis Morgen. Und ich will, dass diesmal mehr als vier Leute die Hausaufgabe vorzulegen haben. Auf Wiedersehen.“
 

Kaum einer erwiderte seinen Gruß.
 

Ich packte hastig meine Sachen zusammen und stürmte aus dem Klassenzimmer. Die Mittagspause hatte begonnen und Taichi und die anderen hatten mich erneut dazu eingeladen, an ihrem Tisch zu essen. Ich empfand es als große Ehre mittags zu ihnen kommen zu dürfen und seit mich ein paar Mädchen aus meiner Klasse bei ihnen gesehen hatten, schien mein Ansehen unter meinen Klassenkameraden noch mehr gestiegen zu sein. Dieses merkwürdige warme Gefühl in meinem Magen, verdrängte die Übelkeit und ließ mich mit einem großen Grinsen zur Cafeteria rennen. Ich reihte mich in die lange Schlange bei der Essensausgabe ein und konnte schon von weitem Taichi und Toshi sehen, die zu mir hinüber lächelten und winkten.
 

Ich winkte zurück.
 

Gerade als ich mein Essen entgegen nahm und mich umdrehte, rempelte ich jemanden an. Das Tablett rutschte mir aus den Händen und entlud sich auf den Boden. Hinter mir ließ die Dame der Cafeteria einen wilden Fluch los und warf mir einen Lappen zu. Ich wandte mich der Sauerei auf dem Boden zu und hörte plötzlich: „Tut mir leid, Takeru.“ Verwirrt hob ich den Kopf und sah Yamato, der vor mir kniete und fast schon bedauernd auf das Essen sah. „Das wollte ich nicht.“
 

Ich fing an zu lachen, nahm eine Serviette und wischte Yamato die Soßenflecken von der Wange. Er sah mich irritiert an, dann blickte er hinunter auf sein T-Shirt und zog eine missbilligende Schnute.
 

„So ein Mist“, fluchte er.
 

„Du kannst mein Sportshirt haben“, sagte ich und deutete auf die Tasche, die neben mir stand. „Ich kann auch in dem T-Shirt Sport machen, fällt niemandem auf.“
 

Er lächelte, in gewissem Maße überrascht.
 

„Danke.“
 

„Jetzt verschwindet schon endlich! Ihr braucht ja Jahre dafür!“, erklang auf einmal die herrische Stimme von Madam Lopéz, der rundlichen Frau, die eigentlich hinter der Essenausgabe stand. Sie kam ursprünglich aus Frankreich, doch sie arbeitete schon so lange unter all den Schülern, dass ihr vornehmer Akzent und ihre schönen Kurven seit langer Zeit verschwunden waren. „Hol dir ´was Neues zu Essen und nimm dein Schätzchen gleich mit!“
 

Sie deutete auf Yamato und scheuchte uns davon. Yamato gab ein drohendes Knurren von sich und ich zog ihn hastig weg. Ich brauchte jetzt keinen Aufstand von Yamato, weil Madam Lopéz ihn für ein Mädchen hielt – was zu Yamatos Missfallen, und meiner heimlichen Schadenfreude, schon öfters passiert war.
 

Ich ignorierte sein leises Geschimpfe, während ich mir bei Madam Lopéz’ Kollegin einen ‚Nachschlag’ holte. Sie beäugte mich, wie als wäre ich einer der lästigen Nager, die nachts in den Mülleimern herumwuselten und das Essen in alle Richtungen verstreuten. Ich packte Yamato am Ellenbogen und zog ihn mit mir. Als er bemerkte, in welche Richtung ich ihn zog, blieb er ruckartig stehen.

Im allerletzten Moment konnte ich verhindern, dass mir der Reis erneut zu Boden fiel.
 

„Wir sehen uns heute Abend“, sagte er steif und wollte sich schon abwenden, doch ich ließ ihn nicht los. „Takeru!“
 

Ich ließ ihn erst los, als er keine Anstalten mehr machte, jeden Augenblick die Flucht zu ergreifen und fragte: „Was hast du denn gegen sie? Sie sind wirklich nett.“
 

„Es sind deine Freunde“, wich er mir aus und sah feindselig zu Taichi und seinen Freunden hinüber. Überrascht bemerkte ich, dass Taichi uns beobachtete. „Ich will nichts mit ihnen zu tun haben.“
 

„Wieso nicht? Denkst du etwa, du könntest sie mir wegnehmen?“ Ich lachte laut auf. „Jetzt spinn´ nicht rum.“
 

Yamato starrte mich perplex an, dann huschte Entsetzen durch seine Augen, bevor sie der Wut Platz machte. Ich brauchte weniger als einen Lidschlag um zu merken, dass ich das Falsche gesagt hatte.
 

Yamatos kühle, abweisende, wortkarge Art war abschreckend für andere Menschen, vielleicht fanden sie ihn sogar unhöflich. Schon seit er ein kleines Kind war, hatte er Schwierigkeiten Freunde zu finden und manchmal hatte ich den Eindruck, dass er gar keine Freunde wollte – die Einsamkeit suchte und sie nicht loslassen wollte. Dennoch erzählte er nur ungern davon und es war ein unausgesprochenes Tabu, darüber zu reden.
 

Und ich hatte gerade die Regel gebrochen.
 

„Hör zu, Yama…“, fing ich hastig an und warf einen nervösen Blick zu Taichi hinüber, inzwischen beobachteten uns auch Toshi und Fu höchst interessiert. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Ich fasste Yamato am Arm, doch er schüttelte mich mit ungeahnter Kraft wieder ab. Aus seinen blauen Augen schossen tödliche Blitze.
 

„Nein, ich habe keine Angst, dir deine Freunde wegzunehmen!“, fauchte er mich wütend an. „Ich kann sie einfach nur nicht leiden, okay? Ich finde sie überheblich, egoistisch, idiotisch, hirnlos, hormongesteuert, pervers, rücksichtslos und engstirnig! Und einem runden Ball hinterher zu rennen, nur um ihn in ein viereckiges Tor aus Stofffäden zu donnern, ist die dümmste Freizeitbeschäftigung, die ich je gesehen habe!“
 

Einen Augenblick war ich sprachlos. Yamato war nicht auf den Kopf gefallen und konnte sich gut artikulieren. Wenn wir uns stritten, zog ich generell den Kürzeren und Yamato konnte unglaublich gemein sein, wenn er wollte, weshalb ich solche Diskussionen eigentlich vermied. Aber dass er mein größtes Hobby und Berufswunsch verhöhnte, ging doch zu weit. Jetzt war er nicht mehr der Einzige, der vor Wut kochte.
 

„Fußball ist nicht dumm!“, erwiderte ich, etwas lauter und zorniger als nötig gewesen wäre. Er schreckte leicht zurück, dann trat er trotzig einen Schritt vor.
 

„Natürlich ist es das!“
 

„Nur weil du unfähig bist, einen Ball zu treffen, musst du es nicht runter machen!“, zischte ich wütend.
 

„Fußball ist doch nur ein Mittel der Regierung, um das Volk zu unterhalten und mögliche Aufstände zu verhindern!“
 

Allein diese Worte bewiesen mir mehr als deutlich, dass er wirklich sauer auf mich war. Hinzu kamen die Blicke aus seinen blauen Augen, die mich förmlich aufzuspießen schienen. Aber bevor ich etwas erwidern konnte, ertönte hinter uns ein lauter Piff und jemand klatschte übertrieben. Yamato wirbelte herum und das Klatschen verklang auf der Stelle. Ich wandte mich ebenfalls um und sah Taichi, Toshi, Fu und Shusuke. Yuri fehlte. Toshi und Fu blickten verschreckt zu Yamato und ich konnte sie nur zu gut verstehen. Shusuke war sichtlich erbost, nur Taichi schien das Alles sehr gelassen zu nehmen.
 

„Das war ein Treffer unter die Gürtellinie“, grinste er und kam auf uns zu. „Aber ich muss mir eingestehen, dass du möglicherweise gar nicht so unrecht hast…“
 

„Spar dir deinen Kommentar“, fauchte Yamato und packte seine Tasche, die zu Boden gefallen war. „Ich brauche keine Unterstützung von jemandem wie dir.“
 

Taichis Dauergrinsen schwand einen Moment, seine Augenbraue zuckte wütend. Seine große, imposante Gestalt ließ Yamato noch gebrechlicher und kleiner wirken, als er es ohnehin war. In meinem Magen machte sich erneut dieses Gefühl breit und diesmal erkannte ich es; ich hatte Angst um Yamato. Falls es zu handfesten Übergriffen kommen würde, würde Yamato haushoch verlieren. Hastig umfasste ich sein Handgelenk und zog ihn zu mir, doch als ich seinen Blick sah, ließ ich ihn schnell los, wie als hätte ich mich an ihm verbrannt.
 

„Was soll das heißen >von jemandem wie mir<?“, fragte Taichi drohend und kam auf Yamato zu, hinter ihm lachte Shusuke hämisch. In seinen braunen Augen herrschte ein eigentümliches Funkeln.
 

Yamato erwiderte nichts auf Taichis Frage, sondern wandte sich ab und machte Anstalten die Cafeteria zu verlassen. Sofort rannte Taichi ihm nach, begleitet von dem lauten Gejohle von Shusuke, der sich anscheinend bestens amüsierte.

Ich sah unsicher zu den Dreien hinüber. Normalerweise war Taichi derjenige, der mich immer zu ihnen einlud. Fus freundliches Winken in meine Richtung, schwemmte meine letzten Zweifel fort und ich setzte mich zu ihnen, auch wenn ich mir Sorgen um Yamato machte. Aber momentan war die Wut darüber, dass er so offensichtlich Fußball verabscheute, noch zu groß, als dass ich ihm helfen würde.
 

~ Yamatos POV ~
 

Ich ignorierte den lauten Einwurf von Taichi Yagami, genauso wie das dämliche Gejohle von Shusuke. Es schien ihn zu amüsieren, dass ich leiden musste ohne dass er einen Finger rührte. Kurz sah ich zu Takeru hinüber und hoffte regelrecht, dass er mir helfen würde. Doch er stellte sich nicht vor mich und sagte auch nichts zu Yagami, der direkt vor mir stand. Takeru stand nur neben mir, sein Blick ging unsicher zwischen mir, Yagami und den anderen Jungen aus der Mannschaft hin und her.
 

Ich sah ihn sauer an, drehte mich auf den Absätzen um und rannte fast aus der Cafeteria.
 

Ich war nicht auf Takerus Hilfe angewiesen, egal wie schwach ich war. Ich kam sehr gut alleine klar.
 

Die Türe fiel hinter mir laut ins Schloss, schwankte in ihren Angeln. Nur einen Augenblick später öffnete sie sich wieder. Ich sah zurück und mein Herz fing laut an zu pochen. Yagami war mir gefolgt. Er sah wütend aus, meine Worte schienen ihn mehr getroffen zu haben, als gedacht. Doch in seinen Augen war noch etwas Anderes zu sehen, etwas, was ich momentan nicht deuten konnte. Hastig drehte ich mich wieder um, tat so, als ob ich ihn nicht bemerkt hätte und ging den Gang hinunter. Meine Schritte hallten laut in meinen Ohren wieder, nur unterbrochen von Yagamis Schritten.
 

Die aufsteigende Paranoia schnürte mir die Kehle zu.
 

Als ich um eine Ecke bog, fand ich mich auf dem Gang wieder, auf dem Shusuke und Yuri mich gestern angepöbelt hatten. Yagami war derjenige gewesen, der mich vor Schlimmerem gerettet hatte. Sollte ich allein deswegen nicht eigentlich freundlich zu ihm sein? Ihm für seine Tat danken? Mir fiel wieder ein, was Takeru gesagt hatte, dass Taichi Yagami nun sein Vorbild geworden war. Würde Yagami sich nicht so verhalten?
 

Ich blieb ruckartig stehen und drehte mich um. Fast schon erschrocken hielt Yagami ebenfalls an und sah zu mir hinunter.
 

„Was willst du?“, fragte ich und versuchte, meine Stimme möglichst mutig klingen zu lassen. Er sollte nicht wissen, dass mir sehr wohl bewusst war, dass ich ihm wehrlos ausgeliefert wäre, falls er versuchen sollte diese Angelegenheit mit Fäusten zu regeln. Einen Moment sagte Yagami nichts, dann schubste er mich gegen die Wand. Nicht so fest, dass es wehgetan hätte, aber der Schreck saß mir noch zu tief in den Knochen.
 

„Was soll das heißen >von jemandem wie mir<?“, wiederholte er seine Frage von vorhin und sah mich forschend an.
 

Ich schluckte.
 

„Das soll heißen, dass ich dich für überheblich und egoistisch halte und keinen Wert auf deine Unterstützung lege“, antwortete ich, selbst davon überrascht, dass ich das gerade wirklich gesagt hatte. Ich hatte weder feige den Schwanz eingezogen, noch war ich davon gerannt. Aber war das wirklich so ratsam gewesen? Yagami schien auf alle Fälle überrascht.
 

Dann stützte er seine Hände zu beiden Seiten meines Kopfes ab und lächelte.
 

„Ganz schön mutig für jemanden, der so klein ist“, sagte er. Sein warmer Atem strich über meine Wange und mir lief es eiskalt den Rücken runter.
 

„Na und?“
 

„Vielleicht solltest du dich dafür entschuldigen. Schließlich waren deine Worte vorhin nicht gerade nett.“
 

Er machte ein bedauerndes Gesicht und wieder lief es mir kalt den Rücken runter. Für mein Empfinden waren wir uns viel zu nah. Ich mochte keinen Körperkontakt und wenn Takeru mich ohne Vorwahrnung umarmte, hatte ich schon genug mit mir zu kämpfen. Ich konnte die Wärme spüren, die von Yagami ausging und sein Atem strich immer wieder über meine Wange, wie eine heiße Hand, die sich jeden Moment um meinen Hals legen und zudrücken konnte.
 

„Ich hab nur gesagt, was ich denke“, erwiderte ich zaghaft.
 

Yagami lächelte.
 

„Aber du kennst uns doch gar nicht.“
 

Ich schwieg.
 

Natürlich kannte ich sie nicht, aber das würde meine Meinung nicht ändern. Wenn ich ehrlich war, dann hatten sie eben nur all dies, was ich wollte. Und vor allem Taichi hatte alles, was ich mir wünschte – den Status als Takerus Vorbild, viel Geld und ein Leben, dass nicht jeden Moment den Bach runter zu gehen drohte. Nur wen interessierte das schon?
 

„Wie kann ich egoistisch sein, wenn ich dich gestern davor bewahrt habe, von Shusuke und Yuri zusammengeschlagen zu werden?“, fragte er.
 

Ich sah an ihm vorbei und zuckte mit den Schultern, murmelte: „Ich weiß nicht…“
 

„Also bin ich vielleicht doch nicht so dumm?“
 

Wieder zuckte ich als Antwort nur mit den Schultern.
 

Er sagte nichts, nur die Wärme seines Atems strich ununterbrochen an meiner Wange entlang. Einen Augenblick lang, hatte ich das Gefühl, dass er mir noch näher kam und sah schockiert zu ihm auf, musste allerdings feststellen, dass noch die gleiche Distanz zwischen uns herrschte wie zuvor auch. Nur sein Lächeln schien breiter geworden zu sein.
 

Ergötzte er sich jetzt etwa auch schon an meiner Angst? In mir stieg der Gedanke auf, dass ich wohl dafür geschaffen worden war, um von anderen schikaniert und getreten zu werden. Um alles über sich ergehen lassen zu müssen, damit Leute wie Shusuke sich besser fühlten.
 

„Yama!“
 

Der laute Schrei ließ mich erschrocken zusammen zucken und ich hörte Yagamis belustigtes Lachen. Krampfhaft versuchte ich es zu ignorieren und sah den Gang hinunter.
 

Takeru kam auf uns zu gerannt, mit einem äußerst besorgten Gesichtsausdruck. Auf einmal erschien mir Takeru nicht mehr dumm, sondern nur noch göttlich, weil er mich aus den Fängen Yagamis befreite. Dieser wich einen Schritt vor mir zurück und ließ zu, dass Takeru zu mir rannte und mich umarmte. Wie heute morgen zuckte ich bei dieser Berührung zusammen und war einen Moment lang versucht, ihn von mir zu schieben, aber dann tat ich es nicht. Er kam, um mir zu helfen und ich würde nicht so unhöflich sein und ihn von mir stoßen.
 

Takeru löste sich hastig von mir und sah mich abschätzend an, dann blickte er kurz zu Yagami. Dieser begann aus einem mir unerfindlichen Grund plötzlich zu lachen.
 

„Denkst du etwa, ich würde ihm etwas tun?“
 

„Ich… also… na ja“, sagte Takeru verlegen und lief rot an, „Shusuke meinte nur, dass ich besser nach Yama sehen sollte und… sorry.“ Er packte meinen Arm und hielt mit einem schraubstockähnlichen Griff fest umklammert. Ich fühlte mich furchtbar unwohl.
 

Einen Moment herrschte Schweigen, dann wandte Takeru sich wieder zu mir und drückte mir mit einem leisen „Hier“ ein großes, blaues T-Shirt in die Hand. Erst da fiel mir wieder ein, dass auf meinem ein großer Fleck prangte.
 

Ich nahm es stumm entgegen, wusste nicht, was ich sagen sollte. Ein einfaches Danke hätte wahrscheinlich gereicht, doch ich brachte es nicht über die Lippen. Nicht solange Yagami zwei Schritte entfernt war und mich mit diesem bohrenden Blick anstarrte. Meine Hände zitterten und ich presste sie fest gegen das Stoffbündel zwischen meinen Fingern, stieß scharf Luft aus.
 

„Wir sehen uns nachher“, sagte ich leise zu Takeru, der mich überrascht anstarrte.
 

„Was?“
 

Verstimmt sah ich zu ihm auf.
 

Was war denn so schwer daran zu verstehen? Ich würde mir dieses T-Shirt ganz bestimmt nicht in der Gegenwart Yagamis anziehen – ganz zu schweigen davon, dass ich es auch nicht in aller Öffentlichkeit hier auf dem Gang tun würde. Er schien etwas zu brauchen, bis er die Bedeutung meiner Worte verstand, dann sagte er zu Yagami: „Ich komm nachher noch mal zu euch, okay?“
 

„Äh… ja klar“, erwiderte Yagami verständnislos und sah von mir zu Takeru. Takeru lächelte ihn an, wandte sich von ihm ab und zog mich davon. Erst als wir in der weiträumigen Jungentoilette des ersten Stocks ankamen, ließ er mich wieder los. Seine blauen Augen starrten mich vorwurfsvoll an. Ich wusste, weshalb. Er war sauer auf mich, weil ich solche Sachen über seinen Lieblingssport gesagt hatte. Er war sauer, weil ich mich in eine solche Situation gebracht und die halbe Fußballmannschaft auf mich gehetzt hatte.
 

Und obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte, gab ich ein leises Räuspern von mir und sagte: „Tut mir Leid, Takeru.“
 

Er zupfte nur ungeduldig an dem Saum meines T-Shirts und zog es mir über den Kopf. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, dass von anderen Kindern in den Dreck geschubst worden war, weil es dumme Dinge gesagt hatte, und sich nun reumütig vor den Eltern wand.
 

„Es war nicht richtig von mir, solche Sachen zu sagen“, fuhr ich leise fort und ließ zu, dass er mir sein T-Shirt überstreifte. Meine Arme fühlten sich zu schwer an, als dass ich sie von alleine hätte heben können. In meinem Kopf herrschte ein leichter Nebel, der sich um meine Gedanken schlang und meine Überzeugung, dass ich nur meine Meinung vertreten hätte, schwand dem schlechten Gewissen. „Wenn Fußball dir so viel Spaß macht, dann kann es nicht schlecht sein…“ Ich unterdrückte ein Seufzen.
 

„Nicht so tragisch“, sagte Takeru nur und strich mir durch die Haare. „Ich weiß ja, dass du es nicht so gemeint hast.“
 

Hab ich das?
 

„Hm“, machte ich nur. Ich blickte in den Spiegel, um seinen Blick nicht begegnen zu müssen, doch auch dort sah ich ihn. Er beobachtete mich einen Augenblick, dann machte er etwas Eigenartiges: Er strich sich lässig durch die Haare und erwiderte grinsend meinen Blick.
 

Ich starrte sein Spiegelbild an, wandte mich halb zu ihm um.
 

„Was sollte das?“
 

Das Lächeln um seine Mundwinkel flackerte. Aus irgendeinem Grund erinnerten mich diese kleinen Gesten an Taichi Yagami.
 

„Nichts“, erwiderte Takeru grinsend. „Was sollte es schon für eine Bedeutung haben?“
 

Ich zuckte mit den Schultern und beäugte ihn misstrauisch. Mir gefiel nicht, was ich sah. Natürlich, er hatte gesagt, dass er sich wünschte, so wie Yagami zu sein. Aber nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass er es ernst meinte. Hätte es sich nicht eigentlich nur auf das Fußballspielen beziehen müssen?
 

Mir wurde kurz schwarz vor Augen und ich wandte mich ab. Ich wollte nicht wieder daran denken, dass Yagami sich als Bruder wahrscheinlich besser eignete als ich.

„Du solltest zurück zu deinen Freunden“, sagte ich tonlos. Takeru sah auf die Uhr an seinem Handgelenk und nickte murrend.
 

„Hast recht. Sehen wir uns heute Abend.“
 

Ich nickte.
 

„Ja.“
 

„Was gibt’s heute zu essen?“, fragte er dann unvermittelt. Etwas in mir zog sich schmerzhaft zusammen. Die Illusion, dass er mir einmal im Leben wirklich zugehört hatte, zerplatzte wie eine große Seifenblase. Ich machte mir nicht die Mühe ihn daran zu erinnern, dass ich heute Abend erst später kommen würde. Es würde eine Herausforderung für ihn sein, sich sein Essen selbst zu machen, doch im schlimmsten Fall konnte er immer noch zu Yagami gehen. Schließlich würde dem das Essen nie ausgehen.
 

„Ich weiß nicht“, antwortete ich leise und drehte mich um. Er ging neben mir, doch schon auf dem Gang trennten sich unsere Wege. Er ging nach links, ich nach rechts.
 

„Bis nachher“, sagte er grinsend. Ich starrte ihn an, in mir stieg die Frage auf, wieso er so glücklich war.
 

Wir hatten uns gerade gestritten.
 

„Bis nachher.“
 

Ich presste meine Tasche an die Brust und machte mich auf den Weg zu Mathe, um eine erneute Stunde die bohrenden Blicke von Herr Heiji zu ertragen. Im Hintergrund hörte ich wie Takeru in die Cafeteria zurück lief.
 


 

Part III

END
 

Vielen lieben Dank für die vielen Kommentare - es werden ja immer mehr <3

Ich hab dieses Kapitel noch rasch hoch geladen, weil ich in der nächsten Woche auf Abschlussfahrt bin und deshalb keinen Internetzugang habe.

Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen... mir ist es etwas zu stockend. Für Kritik oder Anregungen bin ich immer offen :)
 

Alles Liebe,

Nikolaus

And I Got Swept Away (Yamato/Taichi)

Kurz vor Anfang, damit die Fragen zum letzten Kapitel klar sind: Taichi war nur so wütend, weil die letzte Beleidigung wirklich gegen ihn ging, obwohl er Yamato am Tag zuvor geholfen hatte. Und natürlich will er, dass alle schlechten Dinge über ihn aus dem Weg sind, schließlich soll das mal mit ihnen beiden etwas werden :D

Und: JA, Yamatos Beruf ist LEGAL - das kommt nachher auch noch mal vor.

Und ich denke nicht, dass Herr Heiji Yamato jemals in irgendeiner Weise schlimm belästigen wird, es wird so schon dramatisch genug /D


 

~ Yamatos POV ~
 

Abwesend starrte ich nach vorne an die Tafel, an der Herr Heiji versuchte der Klasse irgendwelche komplizierten Formeln beizubringen. Die meisten arbeiteten nicht mit. Eine Reihe vor mir, schrieben zwei Mädchen Briefchen und kicherten um die Wette. Natsuko, mein braunhaariger Sitznachbar, mit den dunkelblauen Augen, den zerschlissenen Jeans und weiten Pullovern, ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach; mich anstarren.
 

Ich wusste nicht, wieso er das so gerne tat, aber er tat es. Immer. Andauernd. Anfangs dachte ich noch, dass er es tat, weil ich anders war, als alle anderen und er vielleicht beobachten wollte, wie der Freak der Klasse irgendeinen Fehler machte, doch dem war nicht so. Selbst nach einem halben Jahr hörte er nicht damit auf. Ich versuchte es zu ignorieren und tat so, als ob ich furchtbar an dem neuen Thema des Faches interessiert wäre.
 

„Ishida?“
 

Ich zuckte erschrocken zusammen und starrte nach vorne. Ich hatte seine Frage nicht mitgekriegt und aus Erfahrung wusste ich, dass Herr Heiji sehr empfindlich auf Unaufmerksamkeit reagierte. Da ich normalerweise sein Lieblingsschüler war, war mir nicht ganz klar, ob ich mir nun einen Fehltritt erlauben durfte oder nicht.
 

„Ja?“, fragte ich vorsichtig und Herr Heiji schenkte mir zu meiner Überraschung ein Lächeln. Neben mir gab Natsuko ein mürrisches Schnauben von sich und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, wie als hätten ihn meine Worte beleidigt.
 

„Komm doch bitte nach vorne und löse die Aufgabe“, bat Herr Heiji mich. Ich nickte, doch bevor ich mich erhoben hatte, sagte Natsuko schnell: „Ich würde das aber gerne tun.“
 

„Was?“ Verwirrt hob Herr Heiji eine Augenbraue.
 

Ich selbst war nicht minder verwundert. Natsuko war kein Musterschüler und seine Mitarbeit ließ zu wünschen übrig, vor allem in Japanisch und Mathe. Dennoch schien er seine Worte ernst zu meinen.
 

„Sie haben mich schon richtig verstanden“, sagte Natsuko nachdrücklich. „Ich würde diese Aufgabe gerne lösen.“
 

„Wieso denn?“
 

„Weil ich mit Aufgaben dieser Art die meisten Probleme habe und ich etwas üben will.“ Ohne auf die Antwort des Lehrers zu warten, erhob er sich und ging nach vorne an die Tafel. Als er die Kreide ergriff, sah ich, dass seine Finger zitterten. Aus irgendeinem Grund, hatte ich das Gefühl, dass er das wegen mir tat. Damit ich nicht nach vorne musste und mich möglicherweise blamierte.
 

Dabei war das Unsinn! Und zwar nicht nur aus dem einfachen Grund, das mir Mathe noch nie schwer gefallen war und ich diese Aufgabe mit Leichtigkeit hätte lösen können, sondern auch deshalb, weil sich niemand auf dieser Schule für mich interessierte – wenn man Takeru außen vor ließ. Mit einem leisen Seufzen sank ich in meinem Stuhl zurück und beobachtete Natsuko.
 

Er stand da und schien zu überlegen. Er kaute auf seiner Unterlippe, schrieb etwas und wartete ab. Herr Heiji ließ ein leises Räuspern hören, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass seine Lösung nicht stimmte. Natsuko ließ den Kopf hängen und versuchte es erneut.
 

Nach etlichen Anläufen und einer verzweifelten Geste von Herr Heiji später, kehrte Natsuko zurück. Er sah gequält aus, wie als wäre es die reine Folter für ihn gewesen, diese Aufgabe zu lösen, obwohl er sich doch freiwillig dafür gemeldet hatte. Wie ein nasser Sack Mehl plumpste er auf seinen Stuhl und fuhr sich durch das dunkle Haar. Sein Blick huschte zu mir hinüber und verhedderte sich mit meinem.
 

Ich zögerte einen Augenblick, dann beugte ich mich über mein Heft und flüsterte leise: „Danke.“
 

Deutlich konnte ich hören, wie Natsuko nach Luft schnappte. Sofort breitete sich ein äußerst ungutes Gefühl in meinem Magen aus und ich wünschte mir, ich hätte nie etwas gesagt. Wieso musste ich das auch tun? Er hatte es sicher nicht für mich getan, schließlich war er auch nicht anders als der Rest der Schule.
 

Unerwartet spürte ich etwas Warmes an meinem Arm und als ich mich erschrocken zu Natsuko umdrehte, lächelte er. Es war nicht gestellt, es war ehrlich.
 

„Immer wieder gerne“, erwiderte er und strich mit dem Daumen über meine Ellenbeuge. Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus. Ich wollte ihn sofort wieder von mir stoßen. Er schien zu bemerken, was er da tat und zog seine Hand hastig wieder zurück. Wandte mit hochroten Wangen den Blick ab.
 

Noch nie war ich einem meiner Klassenkameraden so nahe gekommen. Nicht, dass ich es je bereut hätte, schließlich hielt ich nicht viel von Körperkontakt, doch aus irgendeinem Grund freute es mich fast, dass Natsuko mich gerettet hatte – aus einer Situation, aus der er besser gerettet hätte werden müssen.
 

Ich konnte mit fester Überzeugung sagen, dass mir seine Berührung nicht gefallen hatte und ich wahrscheinlich anders reagieren würde, sollte er es jemals erneut versuchen, aber wenigstens redete er mit mir. Auch wenn es schwer zu glauben war, hatte ich wirklich noch nie mit ihm geredet. Schon seit ich sechzehn war, saßen wir nebeneinander, da Herr Minamoto, unser Klassenlehrer, wohl eingesehen hatte, dass es so am Besten war. Die Mädchen fürchteten sich regelrecht vor mir und die Jungen verabscheuten mich.
 

Es beruhte auf Gegenseitigkeit.
 

Herr Heiji hatte inzwischen wieder angefangen zu reden. Wie immer huschte sein Blick zu mir und ich wand mich innerlich. Ich mochte es nicht, dass er mich so bohrend betrachtete, aber ich konnte ihm schlecht sagen, dass er damit mein Missfallen weckte. Angestrengt versuchte ich mich auf etwas anderes zu konzentrieren und das Einzige, was mir einfiel, war der Streit mit Takeru.
 

Augenblicklich hatte ich das Gefühl, in ein großes, tiefes Loch zu fallen und keinen Halt zu haben. Nur ein Funken Wut in der Brust, mehr stand mir nicht zur Verfügung.
 

Wir stritten uns nicht oft, eigentlich nie. Ihm schien es nicht zu behagen und ich wollte Takeru nicht verletzten. Doch heute war bei mir irgendeine Leitung durchgebrannt und ich hatte die Kontrolle verloren. Natürlich mochte ich Fußball nicht, aber nicht deswegen, weil ich es für sinnlos hielt oder als Mittel der Regierung ansah, Aufstände zu vermeiden.
 

Ich verabscheute Fußball, weil Takeru abends auf dem Sofa saß und sich die Spiele ansah, anstatt… anstatt sich mit mir zu beschäftigen. Wir unternahmen nie sonderlich viel miteinander, er wusste wahrscheinlich nicht einmal meine Lieblingsfarbe, aber diese etlichen neunzig Minuten könnten wir auch sinnvoller verbringen. Aber Takeru sah sich lieber zweiundzwanzig grölende Männer an, die einem Lederball hinterher rannten – deshalb mochte ich Fußball nicht.
 

Es war nicht geplant gewesen, dass ich ihm all das sagte. Ich hatte ihn offensichtlich verletzt und das tat mir leid, auch wenn ich es nicht gesagt hatte. Ihm schien es nichts auszumachen, er hatte ja schon ein paar Sekunden nach unserem Konflikt wieder gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd. Auf gewisse Weise verletzte es mich wiederum, dass er sich überhaupt nicht darum scherte. War ich ihm so egal? Wahrscheinlich schon, denn er hatte es sehr, sehr eilig gehabt, wieder zu seinen Freunden zu kommen.
 

Zu Taichi Yagami. Und dem Rest dieser Fußballmannschaft, vollbesetzt von irgendwelchen Trotteln.
 

„Ishida?“
 

Herr Heijis Stimme holte mich mit einem Ruck aus meinen Gedanken. Irritiert sah ich zu ihm auf, bemerkte, dass alle meine Klassenkameraden den Raum schon längst verlassen hatten. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass die Schule schon zu Ende war. Kurz blickte ich zur Uhr und musste feststellen, dass ich wohl schon eine ganze Weile abwesend gewesen war.
 

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Herr Heiji.
 

„Ja, mir geht’s gut“, erwiderte ich leicht zerstreut und fing an, meine Sachen zusammen zu packen. „Ich… ich war nur nicht ganz bei der Sache.“ Ich hoffte, er würde mir diese Lüge abnehmen, und tatsächlich tat er es. Er setzte sich auf die Kante meines Tisches und sagte unvermittelt: „Deine Noten sind außerordentlich gut, Ishida.“
 

„Oh… danke“, antwortete ich verwirrt. Rückte unbewusst etwas von ihm weg.
 

„Hast du schon mal darüber nachgedacht, eine Klasse zu überspringen oder dergleichen?“
 

Er hob eine Augenbraue.
 

„Nein, eigentlich nicht.“
 

„Das solltest du aber. Du könntest Großes schaffen.“
 

„Danke.“
 

Herr Heiji stockte, dann stand er auf und ich erhob mich ebenfalls.
 

Es behagte mir nicht, dass nur er und ich in diesem Raum und er mir so nah war. Mit einer kurzen Verabschiedung drückte ich mich an ihm vorbei und hatte einen Moment das Gefühl, dass er mit seiner Hand über meine Hüfte strich. Hastig verließ ich den Raum und rannte schon fast den Gang entlang. Allein die Vorstellung so von einem Lehrer berührt zu werden, ließ Übelkeit in mir aufstiegen. Natürlich hatte ich bemerkt, dass er mir voriges Jahr an den Hintern gefasst hatte, doch das war ein Versehen gewesen. Er hatte sich persönlich dafür entschuldigt. Nur diese Berührung kam mir zu geplant vor, als dass sie ein Versehen hätte sein können.
 

Ich schluckte die Galle hinunter, die ich schon schmecken konnte und blickte erneut auf die Uhr. Takeru hatte wahrscheinlich gerade Training, zusammen mit seinen neuen Freunden. Und Taichi Yagami.
 

Krampfhaft dachte ich an etwas Anderes und achtete dabei nicht auf meine Umgebung. Eigentlich waren schon alle Schüler nach Hause gegangen oder bei den Nachmittagsaktivitäten, die ausschließlich in den Klassenzimmern und in der Sporthalle stattfanden. Umso überraschter war ich, als ich plötzlich mit jemandem zusammen stieß und schmerzhaft Begegnung mit dem Boden machte. Meine Tasche flog aus meinen Händen und verteilte ihren Inhalt über den Boden.
 

„`tschuldigung“, murmelte ich leise und sammelte meine Bücher ein. Als ich nach dem Japanischbuch griff, streifte meine Hand eine andere. Erschrocken sah ich auf.
 

„Kein Problem“, sagte Taichi Yagami lächelnd. Ich zog meine Hand ruckartig zurück wie als hätte ich mich verbrannt. Was suchte der denn hier? Hatten sie jetzt nicht Training? „Hier.“ Er drückte mir das Buch in die Arme und seine Finger streiften die nackte Haut meiner Handgelenke. Wieder lief mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Zu meiner Verwirrung musste ich feststellen, dass ich nicht das Bedürfnis verspürte, die Berührung sofort zu unterbrechen.
 

Dennoch tat ich es.
 

Taichi lächelte fast schon liebevoll, als er es bemerkte und richtete den Blick seiner braunen Augen fest auf mich. Ich fühlte mich unwohl. Es war, wie als würde er versuchen in mich hinein zu sehen und irgendetwas über mich heraus zu finden, was ich nie freiwillig preis geben würde. Was hatte Takeru ihm über mich erzählt? Das ich ein unleidiger Kotzbrocken war, dem man nicht zu nahe treten sollte? Oder doch eher, dass ich aussah wie ein Mädchen und wahrscheinlich genauso wehleidig war?
 

„Was machst du hier?“, fragte Taichi nach einer Weile, als wir uns beide wieder aufgerichtet hatten. Ich drückte meine Tasche fester an meine Brust, wie als könnte sie mir jeden Augenblick wieder aus den Fingern gleiten.
 

„Nichts“, antwortete ich steif. Er schien mir nicht zu glauben, aber er sagte nichts dazu. Löcherte mich nicht, wie Takeru es immer tat. „Was machst du hier?“ Ich versuchte möglichst viel Missfallen in meine Stimme zu legen, was mir nicht richtig gelang. Taichi reagierte nicht darauf, sagte nur fröhlich: „Das Training beginnt heute etwas später, weil unser Trainer noch was zu erledigen hat. Eigentlich wollte ich nur kurz etwas holen.“
 

Was genau er holen wollte, erwähnte er nicht.
 

„Und du?“, fragte er dann. „Gehst du jetzt nach Hause?“
 

Natürlich, was sollte ich sonst machen?
 

„Ja.“
 

„Soll ich dich nach Hause fahren? Das geht schneller“, erwiderte er. Perplex starrte ich zu ihm auf. Er lächelte nur, wie als wäre es ganz alltäglich jemanden nach Hause zu fahren, der einen noch vor ein paar Stunden beleidigt hatte. Ich sah weg, wollte die offensichtliche Freundlichkeit nicht sehen. Mein Herz pochte plötzlich unglaublich schnell und ich hatte das Gefühl, dass es jeden Moment aus meiner Brust springen könnte. Ich presste die Tasche noch fester an mich.
 

„Wieso?“, wollte ich leise wissen.
 

„Wieso was?“
 

„Wieso willst du mich nach Hause fahren?“
 

„Weil ich dich mag. Deshalb.“
 

Mein Herz setzte für einen winzigen Augenblick aus. Dann begannen meine Wangen feuerrot zu glühen.
 

Er konnte das doch nicht ernst meinen! Niemand sagte einem Fremden so etwas, wir kannten uns nicht einmal richtig! Wieder stieg in mir die Frage auf, was Takeru alles von mir erzählt hatte. Viel? Kannte Taichi mich zwar nicht persönlich, aber durch Takerus Erzählungen theoretisch ganz gut? Nein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Taichi so viel Interesse an mir zeigte. Niemals. Nicht er. Nicht an mir.
 

Trotzdem verflog die Hitze nicht. Noch nie hatte mir jemand so deutlich gesagt, dass er mich mochte.
 

„Also?“, fragte Taichi, als ich noch immer nicht geantwortet hatte.
 

Ich zögerte.
 

Er konnte seine Worte gar nicht ernst gemeint haben, schließlich hatte ich ihm zuvor gesagt, dass ich ihn für überheblich und egoistisch hielt. Nahm er mich nur auf den Arm? Warteten draußen schon seine Freunde, ums ich darüber lustig zu machen, dass ich auf ihn herein gefallen war? Das sähe ihnen ähnlich. Niemals würde ich mich darauf einlassen. Ich hatte solche Dinge schon öfters erlebt und hatte mir vorgenommen, aus meinen dummen Fehlern zu lernen. Jetzt war die Zeit zu beweisen, dass ich wirklich etwas gelernt hatte.
 

„Nein“, sagte ich entschieden und ging an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Er rannte mir sofort hinterher.
 

„Was >nein<?“, fragte er verwirrt und hielt locker mit mir Schritt. Den Gedanken, einfach wegzulaufen, verwarf ich.
 

„Ich komme sehr gut alleine nach Hause“, antwortete ich kühl.
 

„Das bezweifle ich auch gar nicht“, meinte er lächelnd. „Aber ich würde dich trotzdem gerne fahren.“
 

Ich blieb stehen und sah ihn an. Wieso wollte er denn nicht begreifen, dass ich nicht auf seine dummen Spielchen herein fiel? Ich war nicht so dumm, wie es den Anschein hatte.
 

„Lass mich einfach in Ruhe. Wenn du und deine tollen Freunde etwas zum Lachen suchen, dann sucht euch jemand anderen.“
 

Er sah mich verblüfft an. Dann begann er zu lachen. Ein unbeschwertes, freies Lachen.
 

„Du denkst, dass meine Freunde draußen darauf warten, sich über dich lustig zu machen? Das mein Angebot nur ein Mittel zum Zweck war?“
 

Es war mir peinlich, dass er mich so genau durchschaut hatte. Takeru schaffte dies ebenfalls zu Genüge und langsam drängte sich mir die unangenehme Frage auf, ob alle so aus meinem Gesicht lesen konnten. Das unangenehme Gefühl in meinem Magen wandelte sich in Übelkeit um und ich wünschte mir, dass er endlich verschwand. Alles in mir schrie danach, mich einfach umzudrehen und davon zu laufen.
 

„Nein“, sagte ich stattdessen trotzig.
 

„Na dann wäre es doch nicht so schlimm, wenn ich dich nach Hause fahre, oder?“, fragte er grinsend und ich bemerkte, dass er sehr nahe bei mir stand. Zu nahe. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn misstrauisch. Die braunen Augen und das Lächeln, die wirr vom Kopf abstehenden Haare und die lockere Haltung. All dies ließ auf eine blütenreine Weste und einen freundlichen Charakter schließen. Dennoch glaubte ich seiner Erscheinung nicht, schließlich war auch meine nur eine Maskerade.
 

Wer sagte mir, dass seine dies nicht auch war?
 

„Lässt du mich dann endlich in Ruhe?“, fragte ich. Eigentlich wollte ich etwas Anderes sagen. Dass ich nicht mit ihm fahren würde. Oder dass er mich in Ruhe lassen sollte. Wieso tat ich es nicht einfach?
 

„Natürlich“, sagte er und lachte. Die offene Widersprüchlichkeit meiner Worte schien auch er zu bemerken.
 

„… schön.“
 

„Mein Auto steht da vorne. Komm.“ Er deutete auf den Schulparkplatz, auf dem sich ein paar kichernde Mädchen tummelten und einige Jungs. Mit einigem Missfallen sah ich, dass es der Rest des Fußballteams war. Samt Takeru, Yuri und Shusuke. Meine beiden Peiniger standen auffällig dicht nebeneinander und Yuri wandte den Kopf immer wieder zu Shusuke um.
 

Dann sah er mich.
 

Mein Herz blieb stehen. Mein erster Reflex ließ mich zu Boden starren, vor dem zweiten konnte ich mich gerade noch retten – mich hinter Taichi zu verstecken, wäre mehr als nur peinlich gewesen. Ich linste zwischen meinen Haaren zu ihnen nach vorne, sah, wie Yuri Shusuke in die Seite stieß und er sich nun ebenfalls zu mir umwandte. Hastig blickte ich wieder zu Boden, verfolgte die Spur von Taichis Füßen.
 

Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um.
 

„Alles okay?“
 

Nein.
 

„… ja.“
 

Bevor er mehr sagen konnte, hörte ich auch schon laute Schritte auf dem Asphalt und hob unwillkürlich den Kopf. Es waren Shusuke und Yuri. Gemächlich kamen sie auf uns zu, Takeru im Schlepptau. Sofort krallten sich meine Hände in mein T-shirt. Die Vorstellung, dass sie jetzt über mich herfielen, war surreal, das wusste ich. Solange andere Leute dabei waren, fassten sie mich nicht an. Nur wenn wir alleine waren.
 

Dennoch schrumpfte meine Lunge schmerzhaft in sich zusammen und quetschte mein Herz ein. Durch die Nase schien ich nicht mehr genügend Luft zu bekommen und mein Mund klappte mit einem leisen Japsen auf, doch trotz allem ging mein Atem flach und stoßweise. Hinter meinen Augen begann es zu drücken.
 

Ich senkte eilig den Blick und starrte auf meine verkrampften Hände.
 

„Hey Tai!“
 

„Hi Shusuke“, grüßte Taichi zurück und ich konnte sein breites Grinsen förmlich hören. In diesem Moment konnte ich nicht anders, als es zu hassen. Ihn zu hassen, weil er mit Shusuke so gut befreundet war und auch Yuri an seiner Seite duldete.
 

In meinem Blickfeld tauchten zwei weiße, abgenutzte Turnschuhe auf und noch bevor ich seine Stimme hörte, wusste ich, dass es Takeru war. Niemand trat freiwillig so nah an mich heran.
 

„Yama“, sagte er gutgelaunt. Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er trug die Trainingsjacke der Schulmannschaft, eine blaugrüne Kappe prangte auf seinem blonden Haar. Sie stand ihm eigentlich sehr gut, aber ich mochte sie trotzdem nicht.
 

„Hey“, erwiderte ich tonlos.
 

„Was machst du hier mit Tai?“, er hob fragend eine Augenbraue.
 

„Ich hab ihn in der Schule aufgegabelt und fahr ihn schnell nach Hause“, antwortete Taichi für mich. „Wenn du willst, nehm ich dich mit, TK.“ Bei diesem Spitznamen horchte ich überrascht auf. So hatte ihn schon lange niemand mehr genannt. Seit Moms Tod hatte er jeden mit kalter Verachtung gestraft, wenn er ihn mit diesem Namen angeredet oder versehentlich ausgesprochen hatte. Jeden, mich auch. Wieso durfte Taichi das jetzt? „Du könntest dir ein neues T-Shirt holen.“
 

Mir fiel wieder ein, dass ich jetzt Takerus Sportt-shirt trug. Unwillkürlich blickte ich auf den dunkelblauen Stoff hinunter und zupfte daran herum. Aus irgendeinem Grund, wollte ich es so schnell wie möglich wieder loswerden.
 

„Bring die Bilder mit, TK“, sagte Shusuke grinsend und stupste ihn an. Takeru lachte und nickte. Ich fühlte mich ausgeschlossen, doch ich sagte nichts. Dieses Gefühl war nichts Neues für mich, ich kannte es gut genug um zu wissen, dass man es besser nie aussprach. Ich umklammerte meine Bücher und musterte mit ausdruckslosem Blick Shusuke, der mich beflissentlich ignorierte.
 

Er nannte Takeru ebenfalls TK.
 

Die Wut auf Takeru stieg wieder in mir auf. Er verbündete sich mit meinen Peinigern! Natürlich, ich hatte ihm nicht gesagt, wer sie waren und so konnte er auch nichts dafür, aber ich war trotzdem wütend. Auf die Situation, auf Takeru… auf Alles.
 

Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ging in Richtung Parkplatz davon. Sie bemerkten mich gar nicht, so wie immer. Auch der Rest der Mannschaft und die giggelnden Mädchen sahen über mich hinweg und mir war es nur Recht so. Ich hasste ihre aufgesetzte Art und ihr hysterisches Lachen, ihre Fußballsucht und der Drang zur Popularität. Ich lebte lieber alleine, als in einer Horde voll künstlicher Kinder.
 

Ich war gerade dabei das Schultor anzusteuern, mir fehlten nur noch ein paar Meter um aus dieser Hölle zu fliehen. Da packte mich jemand von hinten an der Hand und zog mich mit einem Ruck zurück. Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Starrte direkt in das braungebrannte Gesicht von Taichi Yagami. Er lächelte mich gütig an, wie einen dummen Zweijährigen, der nicht hören wollte.
 

„Ich fahre dich nach Hause, schon vergessen?“
 

„Ich… nein“, ich wich seinem Blick aus, mein Gesicht wurde verräterisch heiß.
 

„Gut. Aber mein Auto steht da drüben“, er deutete auf die andere Seite des Parkplatzes und ohne, dass ich etwas hätte erwidern können, zog er mich davon. Ich schwieg. Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet, dass er mich genauso übersehen würde, wie all die anderen auch. Wie Shusuke und Takeru. Wie Dad.
 

„Steig ein“, forderte er mich auf und hielt mir die Türe auf. Verwirrt von dieser freundlichen Geste stieg ich ein. Sofort bemerkte ich, dass Takeru auf dem Rücksitz saß und mich regungslos anstarrte. Seinen Blick konnte ich nicht deuten. Ärgerlich? Verwundert? Oder doch nur so gutmütig wie immer?
 

Ich wandte den Blick ab, starrte auf meine Finger und wartete bis Taichi eingestiegen war und den Wagen startete.
 

~ Taichis POV ~
 

Mein Herz pochte ohrenbetäubend und es fiel mir unglaublich schwer, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Und das lag nicht daran, dass Takeru auf dem Rücksitz hockte und wie am Fließband plapperte. Es lag an seinem Bruder. Yamato.
 

Er saß einfach nur da, den Kopf leicht gesenkt und den Blick aus dem Fenster gerichtet. Sein Gesicht war blass, seine blauen Auge trübe und das blonde Haar hing ihm in wirren Strähnen ins Gesicht. Er sah unglücklich aus, gestresst und vielleicht etwas missgelaunt. Dennoch konnte das Alles nicht über seine Schönheit hinweg täuschen.
 

Es war kein Zufall gewesen, dass ich ihn vorhin auf dem Gang angesprochen hatte. Ich war gerade auf der Toilette gewesen und hatte ihn gesehen. Sofort hatte ich fiebrig nach etwas gesucht, damit ich ihn ansprechen konnte. Nach einer Anmache, einer Frage. Irgendetwas. Mir war nichts Besseres eingefallen, als ihn anzurempeln und ihm zu helfen seine Bücher aufzusammeln. Die Frage, ob ich ihn nach Hause fahren könnte, war dann ganz von alleine gekommen.
 

Meine Finger brannten immer noch von dem Augenblick, als ich seine Hände berührt hatte und mir war schon der Gedanke gekommen, sie mir nie wieder zu waschen. Doch ich hatte ihn schnell wieder fort geschoben. Erstens war ich kein pubertierendes Mädchen und zweitens würde meine Mutter das nie dulden. Wieder huschte mein Blick zu ihm hinüber und ich konnte es mir, dank der roten Ampel vor uns, erlauben, ihn eingehend zu betrachten. Er schien zu merken, dass ich ihn beobachtete, denn er wandte sich zu mir um und sah mich an.
 

Ich lächelte.
 

Hastig sah Yamato wieder weg, aber ich konnte sehen, wie er rosarot anlief. Hinter uns redete Takeru unablässig weiter, wie ein monotoner Kassettenrekorder, den man nicht ausschalten konnte.
 

„Wo lang jetzt?“, fragte ich gespielt unwissend. Yamato beäugte mich argwöhnisch, doch er antwortete.
 

„Links. Dann da vorne Rechts.“
 

Ich grinste zu ihm hinüber und diesmal wurde er nicht rot. Böse starrte er zurück. Meine Falle schien aufgeflogen zu sein, aber es machte mir nichts aus; Ich hatte nur gefragt, weil ich seine Stimme hören wollte. Und er hatte mitgespielt.
 

„Was machst du heute noch?“, führte ich unsere Unterhaltung fort, die eigentlich noch gar keine war.
 

„… nichts“, antwortete er knapp und sah wieder aus dem Fenster.
 

„Nichts?“
 

„Das Gleiche wie immer.“
 

„Und was ist >das Gleiche wie immer<?“, hakte ich nach.
 

„Ich werde das Essen vorkochen, damit Takeru und Dad nicht verhungern, meine Hausaufgaben machen, lernen und dann arbeiten gehen“, zischte er gefährlich und vor Schreck wäre ich meinem Vordermann fast hinten drauf gefahren.
 

„Wieso vorkochen?“, kam es fragend vom Rücksitz.
 

„Weil ich heute Abend nicht da bin, TK“, fauchte Yamato und ich konnte ganz genau hören, wie er den Spitznamen seines kleinen Bruders betonte. Kurz sah ich in den Rückspiegel und tauschte einen vorsichtigen Blick mit Takeru. Er schien es also auch gehört zu haben.
 

„Wo… wo bist du denn?“, fragte er vorsichtig.
 

„Arbeiten“, wiederholte Yamato.
 

„Wo?“
 

Er sah mich abfällig an, wie als wäre ich es nicht wert, dass er mir antwortete. Dennoch tat er es.
 

Nyman Saloon“, sagte er widerstrebend und starrte wieder nach vorne auf die Straße.
 

„Das ist ein ganz schön edler Schuppen. Wie bist du an den Job gekommen?“
 

„Hab mich vor Ewigkeiten beworben.“
 

„Aber…“, fing Takeru an, doch Yamato unterbrach ihn mürrisch.
 

„Mir war klar, dass es so kommen würde. Irgendjemand muss doch dafür sorgen, dass ihr zwei Idioten nicht untergeht.“
 

„…“
 

Ich wusste nicht, ob der Tonfall freundlich oder säuerlich war. Oder ob seine Worte neckend oder drohend gemeint waren. Takeru jedenfalls schnappte nach Luft, schockiert und erbost zugleich und verschränkte die Arme vor der Brust. Den Rest der Fahrt über sagte er nichts mehr.
 

Und zu meiner Enttäuschung blieb auch mein blonder Engel neben mir still. Er kaute auf seiner Unterlippe herum und sah ausdruckslos nach vorne. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, erkannte jedoch in der gleichen Sekunde, dass diese Situation wohl etwas war, wovon ich keine Ahnung hatte und schloss den Mund wieder.
 

Beide Ishidas schienen mich vollkommen auszublenden.
 

„Wann kommt Dad heute nach Hause?“, fragte Takeru leise.
 

„Wieso?“
 

„Damit ich weiß, ob ich mit dem Essen auf ihn warten soll oder nicht“, antwortete Takeru. Ich beobachtete Yamato. Er biss sich fest auf die Unterlippe und starrte starr nach vorne, wie als hätte sein kleiner Bruder ihn gerade beleidigt.
 

„Solltest du lieber nicht“, sagte er dann leise.
 

„Oh… okay“, Takeru klang leicht niedergeschlagen.
 

„Wir sind da“, sagte ich in das peinliche Schweigen hinein und hielt den Wagen an. Takeru sah auf und ehe ich es mich versah, war er aus dem Wagen gesprungen und hinauf zur Tür gelaufen. Yamato saß einen Augenblick regungslos da, dann sah er zu mir hinüber.
 

„Danke für’s Mitnehmen“, sagte er tonlos.
 

„Kein Problem“, erwiderte ich lächelnd.
 

„… trotzdem.“
 

Er lächelte leicht, doch es sah nicht glücklich aus. Eher traurig und gezwungen. Mit einer merkwürdig steifen Bewegung schnallte er sich ab und öffnete die Tür. Kurz sah er noch einmal zu mir zurück, dann stieg er aus. Mein Blick folgte ihm, bis er neben Takeru stand und die Türe öffnete. Beide verschwanden im Haus und ich schaltete das Radio ein. Irgendeine Damenstimme säuselte mich zu, aber ich hörte nicht richtig zu.
 

In meinem Kopf schwirrte Yamatos Bild. Sein trauriger Blick. Die kalte Stimme.
 

Ich hatte nicht gedacht, dass Yamato so… so abweisend war. Natürlich, ich hatte ihn heute nicht gerade nett behandelt und ihn anschließend auch noch umgerannt, aber selbst jetzt war er wie eine tödliche Dosis Zyankali, die ich lieber nicht anfassen wollte. Oder doch?
 

Momentan war ich mir nicht so sicher. Es hatte vorhin so den Anschein gemacht, als lebe er in einer vollkommen anderen Welt, als ich. In einer Welt, in die ich nicht hinein gehörte und auch nicht wollte. Er hatte niedergeschlagenen gewirkt, als er Takerus Frage verneint hatte und auf gewisse Weise… verletzt. Wieso?
 

„Hey, ich bin wieder zurück!“
 

Takerus Stimme riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Er saß neben mir auf dem Beifahrersitz und strahlte mich an, wie als hätte er die Situation vorhin im Wagen nicht miterlebt. Wie als wäre Yamato auf jemanden ganz anderen sauer gewesen, aber nicht auf ihn. In der Hand hielt Takeru ein frisches T-Shirt und ein paar Bilder, die er Shusuke versprochen hatte.
 

Ich erinnerte mich an Yamatos bösen Blick, als Takeru mit Shusuke gesprochen hatte und daran, dass Shusuke und Yuri diejenigen gewesen waren, die Yamato gestern auf dem Gang angepöbelt hatten. Ob er es seinem Bruder krumm nahm, dass sie nun etwas miteinander unternahmen?
 

„Takeru“, sagte ich, während ich den Motor startete und zurück auf die Straße fuhr, „erzähl mir was über deinen Bruder.“
 

„Über Yama?“, sagte Takeru perplex und starrte mich an.
 

„Ja“, erwiderte ich zu meiner eigenen Überraschung. Ich hatte mich nie sonderlich für andere Leute interessiert, selbst nicht für meinen letzten Freund, aber Yamato interessierte mich – und sei es nur deswegen, weil er vorhin so traurig ausgesehen hatte.
 


 

Part IV

END
 

Das Kapitel hat mir jetzt schon mehr gefallen, als das letzte :D

Und auch an dieser Stelle wieder vielen Dank für eure Kommentare, das ist wirklich sehr motivierend <3
 

Alles Liebe,

Nikolaus

I Didn't Know ... (Takeru/Taichi)

~ Takerus POV ~
 

Und was?“, fragte ich irritiert.
 

„Keine Ahnung“, antwortete Taichi und zuckte mit den Schultern. „Einfach irgendetwas. Was er gerne macht, was er gerne isst, was seine Lieblingsfarbe ist… all diese alltäglichen Dinge.“
 

„Gut“, sagte ich zögernd und dachte nach. Yamato war selbst mir in manchen Dingen ein unbeschriebenes Blatt. Er redete nicht viel und tat auch sonst nichts, um auf sich aufmerksam zu machen, nicht einmal innerhalb der Familie. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass Dad ihn gar nicht wahrnahm. Wenn wir früher zusammen am Esstisch gesessen hatten, hatte Dad ihn angesehen, wie als würde er ihn nicht kennen und sich darüber wundern, dass noch ein blonder Junge an seinem Tisch saß.
 

„Was ist seine Lieblingsfarbe?“, fragte Taichi nach einer Weile.
 

„Ich… ich glaube blau“, sagte ich nachdenklich.
 

„Und welche Farbe mag er gar nicht?“
 

„Oh“, ich lachte, „Rosa. Definitiv Rosa.“
 

„Wieso nicht?“, wollte Taichi überrascht wissen.
 

„Als wir klein waren“, erzählte ich kichernd, „hat unsere Oma ihm ein rosa Kleidchen geschenkt. Er hat es nie getragen, aber als Oma dann ein Jahr später starb, hat Dad ihn dazu gezwungen, es wenigstens auf der Beerdigung zu tragen – ihr zuliebe. Außer uns war zwar keiner auf dem Friedhof, aber Yama hat trotzdem einen unglaublichen Aufstand gemacht und als der Pfarrer ihn dann wirklich als ‚kleine Lady’ ansprach, ist er ausgetickt und hat ganze zwei Wochen weder mit mir noch mit Dad geredet. Und Rosa wurde zu seiner Hassfarbe.“
 

Taichi lachte.
 

„Wirklich?“
 

„Ja.“
 

„Wie alt war er da?“
 

Wieder musste ich nachdenken. All diese Erinnerungen waren so verschwommen, dass ich sie kaum erahnen konnte. Immer und immer wieder wollte ich nach ihnen greifen, doch sie flossen wie milchiger Nebel durch meine Finger.
 

„Ich glaube, Yama war acht“, mutmaßte ich.
 

„Aha“, machte Taichi und schwieg einen Augenblick. Dann fragte er: „Und was macht er gerne?“
 

„Ich…“, ich stockte. Ich hatte immer angenommen, wenigstens diese Fragen über meinen Bruder beantworten zu können, doch nun viel mir auf, dass ich es nicht konnte. Ich hatte keine Ahnung, was Yama wirklich gerne tat. Wenn er nach Hause kam, kochte er, erledigte seine Hausaufgaben, lernte und duschte. Manchmal spielte er noch etwas Gitarre, aber das war es auch schon. Ich hatte ihn noch nie draußen spielen gesehen, selbst als wir klein waren. Ich war immer derjenige gewesen, der die Freunde gehabt und Fußball auf dem Rasen gespielt hatte. Yama hatte Bücher gelesen. „Er… er liest viel.“
 

„Wie viel ist viel?“, hakte Taichi grinsend nach.
 

„Ziemlich viel“, sagte ich und erinnerte mich an das große Bücherregal in seinem Zimmer. „Früher hat er diese dicken Teile an einem Tag durchgelesen, jetzt hat er nicht mehr so viel Zeit. Aber ich denke, er liest immer noch recht viel. Und… er spielt Gitarre.“
 

Taichi hielt an einer roten Ampel und sah mich verdutzt an.
 

„Er spielt Gitarre?“
 

„Ja, sogar echt gut. Ich… ich hab ihn schon länger nicht mehr spielen gehört, aber als er mir das letzte Mal was vorgespielt hat, klang es toll. Und er… er singt“, sagte ich und nun schien Taichi regelrecht verblüfft zu sein. Ich las ihm die unausgesprochene Frage vom Gesicht ab. „Er singt wirklich, Tai. Und er kann gut singen. Wenn er dazu Gitarre spielt, ist es wirklich schön. Allerdings… hm, ich weiß nicht, ob er es noch tut.“
 

„Oh. Und ansonsten?“
 

„Wie ansonsten?“
 

„Na, was isst er gerne?“
 

„Oh… keine Ahnung“, sagte ich und kratzte mich an der Stirn. „Ich glaube, er hat gar kein Lieblingsgericht.“
 

„Und Schule? Sein Lieblingsfach?“
 

„… hm“, ich zuckte die Achseln. Yamato war in den sprachlichen Fächern ziemlich begabt, aber er hatte sich nie dazu geäußert, ob sie auch besonders gern mochte. Eigentlich äußerte er sich nie sonderlich zu einem Thema.
 

„Hat er ein Hobby?“
 

„Das weiß ich gar nicht…“
 

„Wieso weist du das nicht?“, fragte Taichi.
 

Ich spürte, wie ich rot anlief.
 

Es war peinlich, das nicht zu wissen. Nicht deswegen, weil ich es nicht wusste, sondern deswegen, weil Taichi mich diese Dinge fragte und ich keine Antwort wusste. Es ließ mich dastehen, wie den letzten Trottel. Taichi beäugte mich von der Seite, dann blickte er wieder auf die Straße. Ich seufzte. Suchte in meinem Gehirn nach weiteren Informationen über meinen Bruder, die ich ihm erzählen konnte.
 

Doch da fiel mir auf, dass ich gar nicht mehr wusste.
 

Es war… es war einfach nicht da. Wie als hätte ich all die Jahre mit einem Fremden zusammen gelebt, der mir nur seinen Namen gesagt hatte.
 

Aber es musste doch etwas geben! Schließlich hatten wir zusammen in einem Zimmer geschlafen, bis wir uns eine größere Wohnung leiste konnten. Ich hatte Alpträume gehabt und Yamato auch. Meine schlimmen Träume hatten hauptsächlich davon gehandelt, dass mich irgendein Dinosaurier oder Alien zerfleischte und irgendwo verscharrte, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Und Yamatos Träume? Er hatte mir nie gesagt, wieso er nachts schreiend aus dem Schlaf gefahren war und geweint hatte. Er war wortlos zu mir ins Bett gekrochen und hatte sich an mich gedrückt, ich hatte nie etwas dagegen gesagt.
 

Und all die schönen Dinge? Unsere Geburtstage und die Geschenke? Gut, wir hatten eigentlich nie richtig gefeiert. Dad hatte nie genügend Geld gehabt, als dass er sich große Partys hätte leisten können. Er lebte bescheiden und so galten diese Grundsätze auch für uns. Wenn er sich auf Diät setzte und weniger aß, waren wir automatisch auch auf Diät gesetzt.
 

Dennoch war unsere Kindheit nicht sonderlich tragisch gewesen und bis auf den Tod von Mum, waren wir glücklich gewesen. Wir hatten herumgetollt, bis wir fast im Stehen einschliefen. Und wir hatten gelacht… mir fiel auf, dass Yamato nun nicht mehr lachte. Aber seit wann war das schon?
 

Ich konnte es nicht sagen.
 

So viel ich mir auch den Kopf darüber zermaterte, mir fiel es partout nicht ein.
 

Was hatten wir an seinem letzten Geburtstag gemacht? Ich wusste es nicht. Wann war Yamato das letzte Mal zu einem meiner Spiele gekommen? Ich wusste es nicht. Wann hatten wir das letzte Mal zu dritt etwas unternommen? Ich wusste es nicht. Wann hatte Yamato das letzte Mal gelacht und das ehrlich und frei?
 

Ich… ich wusste es nicht.
 

„Takeru?“
 

Ich hob den Kopf und sah zu Taichi hinüber. Er betrachtete mich besorgt.
 

„Alles in Ordnung? Du siehst so aus, wie als wäre gerade deine Oma gestorben“, sagte er und lächelte zaghaft. Ich wusste, dass es als Witz gemeint war, aber mehr als ein klägliches Zucken der Mundwinkel brachte ich nicht zustande.
 

Meine Oma war schon seit Jahren tot und Mum auch. Wirklich hatte ich mich mit ihrem Tod nie auseinander gesetzt. Ich war erst fünf gewesen als sie starb und hatte relativ wenige Erinnerungen an sie. Ich wusste gerade noch, wie sie aussah und dass sie ein wunderschönes Lächeln hatte. Und natürlich das gleiche blonde Haar und die blauen Augen wie ich und Yamato. Sie konnte gut kochen und… ja, das war auch schon alles. Yamato wusste viel mehr über sie und ich war mir sicher, würde ich ihn fragen, würde er es mir erzählen. Aber ich hatte es nie getan, an keinem einzigen Tag.
 

Machte mich das zu einem schlechten Sohn? Weil ich mich mehr für mein Leben interessierte, als für das meiner verstorbenen Mutter?
 

Vielleicht schon, vielleicht auch nicht. Ich tendierte zu letzterem und wenn es nur deshalb war, weil ich kein schlechtes Gewissen haben wollte. Doch schließlich hatte Yamato auch nie über sie reden wollen und Dad auch nicht. Keiner hatte je über ihren Tod geredet, also konnte ich gar nicht schlecht sein. Es war nicht meine Schuld, wenn ich so wenig über sie wusste.
 

Dad oder Yamato hätten mir ruhig etwas erzählen können.
 

„Erzähl mir noch was über ihn.“ Taichis tiefe Stimme holte mich aus meinen Gedanken.
 

Ich sah ihn irritiert an.
 

„Was?“, fragte ich.
 

„Na… irgendetwas.“ Er lachte und zuckte mit den Schultern. „Das kann doch nicht alles gewesen sein.“
 

Nicht?
 

„Stimmt“, erwiderte ich und lächelte, während sich in meinem Mund ein bitterer Geschmack ausbreitete.
 

Es war alles gewesen. Ich wusste einfach nicht mehr über ihn! All die Jahre über hatte ich angenommen, dass Yamato offen und frei mit mir redete, dass er mir all seine Probleme erzählte, aber spätestens jetzt wurde mir klar, dass dem nicht so war. Anhand der Tatsache, dass er mir nicht gesagt hatte, dass sie ihn der Schule schlugen, hätte ich es eigentlich schon merken müssen. Ich wusste ja nicht mal, ob er sich rasierte oder nicht! Wir standen morgens niemals zu zweit im Bad, denn immer war es Yamato der mich weckte, schon fertig angezogen und das Frühstück stand auf dem Tisch.
 

„Ist er… ist er verliebt?“, fragte Taichi plötzlich.
 

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich verwirrt. „Hattest du etwa den Eindruck?“
 

Er zögerte. „Nein.“
 

Ich zuckte mit den Schultern und sah auf meine Hände. „Ich glaube nicht, dass er verliebt ist“, sagte ich, obwohl ich nicht einmal wusste, ob er noch Jungfrau war. Ich war es nicht mehr, aber Yamato… was, wenn er sich von einem dieser Typen, die ihm in der Schule immer auf den Arsch starrten, hatte entjungfern lassen? Oder von Herrn Heiji?!
 

Nein!
 

Mit einiger Anstrengung schluckte ich den Würgreflex hinunter und schob den Gedanken in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses. Das war doch einfach nur abwegig! Yamato war unglaublich prüde, er würde sich nie darauf einlassen, sich schnell von einem Lehrer oder Mitschüler auf dem Pult flachlegen zu lassen. Es war ihm ja schon peinlich, wenn ich in der Wohnung herum lief und nichts an hatte – obwohl dazu kein Grund bestand. Wir waren Brüder, hatten früher zusammen gebadet und geduscht. Er hatte mir sogar manchmal die Zähne geputzt, wenn ich keine Lust dazu gehabt und angefangen hatte zu quengeln.
 

„Und selbst wenn, wüsste ich nicht in wen“, gestand ich nach einer Weile. „Er interessiert sich momentan mehr für seine Ausbildung, als für die Liebe oder sonst etwas Nebensächliches.“
 

„Nebensächliches?“, wiederholte er und zog eine Augenbraue in die Höhe. Ich lachte nur und schüttelte den Kopf. „Hetero oder Schwul?“
 

„Ich bin experimentierfreudig“, sagte ich mit einem verschmitzten Lächeln. Er sah mich überrascht an.
 

„Ehrlich?“
 

„Jap. War sogar schon mal mit einem Jungen zusammen, aber es hat nicht geklappt. Nicht, weil ich den Sex nicht geil gefunden hätte oder so, aber es störte ihn, dass ich anderen Jungen und Mädchen auf den Hintern starrte.“ Das war nicht einmal gelogen. Kouichi, der schwarzhaarige Junge aus der Unterstufe, mit dem wohl bissigsten Zwillingsbruder der Welt, war über drei Monate mein Freund gewesen. Bis ihm das Gestarre zu viel geworden war und er mich eiskalt abserviert hatte – das war mir bis heute peinlich.
 

Taichi lachte warm, verriet aber nicht, ob er auf Mädchen oder auf Jungen stand. Nach einer Weile warf er mir einen neckenden Blick zu und sagte: „Geschickt vom Thema abgelenkt.“
 

Ich erschrak.
 

Taichi hatte sich schon wieder von mir abgewandt, aber ich starrte wie paralysiert auf seine Arme.
 

Genau diesen Satz hatte Yamato zu mir gesagt. Nicht in diesem Tonfall, seine Worte hatten tonlos und hart geklungen. Wir hatten uns gestritten – was in letzter Zeit viel zu oft vorkam – und als wir am Essenstisch saßen, wollten wir uns ‚aussprechen’. Nach einiger Zeit hatte ich angefangen, von der Schule zu erzählen, weil ich nicht darüber reden wollte und, weil es beinahe schon wieder vergessen hatte. Yamato hatte mich schweigend angestarrt, das gleiche, geduldige Lächeln auf den Lippen wie immer. Als er aufstand und seinen und meinen Teller in die Spülmaschine stellte, hatte er zu mir hinüber geblickt und genau das Gleiche gesagt, ein leises „So wie immer“, angehängt, sodass es fast enttäuscht geklungen hatte.
 

Wieso hatte er das gesagt? Wieso hatte er mir nicht gesagt, dass sie ihn schlugen? Wieso… Herrgott, wie sollte ich denn überhaupt etwas über ihn wissen, wenn er mir nichts sagte?!
 

„TK, wir sind da.“
 

Mit einer unglaublichen Wut im Bauch, hob ich den Kopf und sah den Sportplatz, das Schulgelände und die lachenden Mädchen.
 

Es würde unglaublich gut tun jetzt Fußball zu spielen.
 

~ Taichis POV ~
 

Verwirrt sah ich zu Takeru. Er stopfte seine Sachen mit solch einer Wucht in seiner Tasche, dass die ganze Bank erzitterte und ich meine Flasche kaum davor retten konnte, zu Boden zu fallen. Im letzten Moment griff ich zu. Entschuldigend sah Takeru zu mir und packte seine Hose nun etwas sanfter ein.
 

„Ist alles okay?“, fragte ich und zog eine Augenbraue hoch. Takeru seufzte und zuckte unschlüssig mit den Schultern.
 

„Ja…“, er zog das Wort in die Länge, „… Nein, irgendwie nicht.“
 

„Also was jetzt?“
 

„Ach, ich weiß auch nicht.“
 

„Ist es wegen Yamato?“, riet ich ins Blaue hinein und war ehrlich überrascht, als er ertappt zusammen zuckte. Seine blauen Augen huschten zu mir hinüber, dann sah er sich kurz in der Umkleide um. Außer Shusuke war niemand mehr hier, die anderen Mitglieder waren schon alle verschwunden und saßen höchstwahrscheinlich vor der Schule und rauchten, tranken den ein oder anderen Alkopop und baggerten die kichernden Mädchen an, die nur deshalb jeden zweiten Tag drei Stunden vorm Schultor warteten. Doch Shusuke schien uns nicht zuzuhören, also rutschte Takeru näher an mich ran und nickte.
 

„Es ist… es ist wegen vorhin“, sagte er leise.
 

„Wie?“
 

„Wegen den Fragen“, antwortete er verlegen. „Weil ich keine Antworten wusste.“
 

„Das muss dir doch nicht peinlich sei…“
 

„Was ist das Lieblingsessen deiner Schwester?“, unterbrach er mich mürrisch.
 

„Pizza.“ Die Antwort war wie ein Reflex aus mir heraus gebrochen.
 

„Was ist ihr Hobby?“
 

„Telefonieren.“
 

„Was will sie mal werden?“
 

„Model.“
 

„Was mag sie nicht?“
 

„Dumme Jungs und Blumenkohl.“
 

„Was mag sie?“
 

„Ihre Freundinnen und Rosa“, antwortete ich, viel zu verwirrt, um der plötzlichen Fragerei einen Sinn abzugewinnen. Takeru hingegen seufzte niedergeschlagen und ließ den Kopf hängen.
 

„Genau das meine ich“, sagte er. „Ich hätte dir auf keine der Fragen eine Antwort geben können. Ich weiß gar nichts über ihn! Nichts!“
 

„Ach komm schon.“ Ich klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und lächelte. Takerus Mundwinkel zuckten unglücklich. „So schlimm ist das nicht. Wahrscheinlich weißt du es, aber es fällt dir nur nicht ein.“
 

„Du verstehst mich nicht“, meinte er trotzig und schob meine Hand fort. „Ich müsste das alles wissen! Wir leben praktisch zu zweit in dieser Wohnung und das schon seit wir neun sind! Yamato kennt sogar meinen Stundenplan auswendig und weiß, was mein Lieblingsshampoo ist!“ Theatralisch warf er die Arme in die Luft und verschränkte sie dann über seinen Augen, wie als wollte er das helle Licht der Neonröhre nicht sehen. Ich verkniff mir den Kommentar zu seiner Äußerung mit dem Lieblingsshampoo, schließlich wollte ich ihn nicht unnötig verärgern. Stattdessen fragte ich: „Zu zweit? Was ist mit eurer Mutter?“
 

Ein grauer, harter Schatten huschte über seine Züge. Nur eine Sekunde, doch ich sah es genau. Dann sah Takeru wieder zu mir, die blauen Augen wirkten stumpf.
 

„Sie ist tot“, sagte er nur.
 

„Das… tut mir leid“, sagte ich leise. Damit hatte ich nicht gerechnet. Takeru wirkte nicht wie jemand, der so etwas Wichtiges wie seine Mutter verloren hatte. „Wann…?“
 

„Ich war fünf“, erzählte er tonlos. „Ich kann mich nicht an sie erinnern.“
 

Ich wusste nicht, ob ich das positiv oder negativ sehen sollte und sagte lieber nichts dazu. Allein die Vorstellung, ohne eine Mutter aufzuwachsen, behagte mir nicht. Meine Mutter tat alles für mich und Hikari, ohne sie wären wir vollkommen aufgeschmissen. Hatte das Yamato mit seinen Worten vorhin im Auto gemeint? War er zu so etwas wie der Ersatzmutter geworden und nun waren Takeru und sein Vater auf ihn angewiesen? Yamato machte auf mich jedoch nicht den Eindruck, dass er sich um so etwas Banales wie den Haushalt kümmern würde.
 

„Tut mir leid.“
 

„Hm.“ Er murrte und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Shusuke die Umkleide verließ, die Ohrstöpsel in den Ohren. Takeru packte seine Schuhe und das Schweißband ein, zog sich das braune Halsband wieder um. Für einen Augenblick strichen seiner Finger darüber und sein Blick wirkte verträumt. Ich fragte nicht, von wem es war.
 

„Taichi?“, fragte er nach einer Weile zaghaft. Offenbar befürchtete er, dass ich sauer auf ihn war, weil er mich so angefahren hatte. Ich lächelte ihn aufmunternd an. „Tust du mir einen Gefallen?“
 

„Klar.“
 

„Aber sag die Wahrheit, okay?“
 

„Klar“, wiederholte ich und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Was sollte er mich denn schon so besonderes fragen?
 

„Ich hab die blauen Flecken von Yamato gesehen“, flüsterte Takeru leise und in meinem Magen zog sich etwas schmerzhaft zusammen. „Weißt du wer ihn schlägt?“
 

Scheiße…
 

Natürlich wusste ich es. Ich hatte Shusuke und Yuri selbst von ihm weggezerrt. Ich war ich in der Annahme gewesen, dass Yamato es seinem Bruder erzählt hatte. Also war er doch sauer auf Takeru gewesen, weil dieser sich unbewusst mit seinen Peinigern abgab. Aber ich konnte das Takeru doch nicht einfach so sagen, oder? Wenn Yamato es ihm nicht erzählt hatte, dann wollte er sicherlich auch nicht, dass ich es tat. Allerdings hatte ich Takeru gesagt, ich würde ihn nicht anlügen….
 

Ich zuckte ausweichend mit den Schultern, spürte seinen bohrenden Blick.
 

„Es ist mir wichtig“, sagte Takeru nachdrücklich. „Er ist viel zu stolz, um es mir zu sagen! Ich… ich will nicht, dass das öfters passiert, er…“ Er stockte und schluckte. „Bitte, Tai.“
 

Unwohl wand ich mich unter seinem Blick, versuchte so zu lügen, dass es wenigstens zur Hälfte der Wahrheit entsprach. Doch es wollte nicht funktionieren, alles was ich zustande brachte, war ein unsicheres Glucksen und ein erneutes Achselzucken.
 

Takeru seufzte.
 

„Du weißt es.“ Eine Feststellung, keine Frage.
 

Ich nickte wortlos.
 

„Dann tu mir wenigstens den Gefallen und pass ein bisschen auf ihn auf, ja?“, versuchte er es nun und sah mich fast schon flehend an. Ich nickte. „Danke. Aber sag ich ihm nicht, dass ich dir das aufgetragen hab. Wie gesagt, er ist viel zu stolz.“
 

„Das ist meine Schwester auch“, sagte ich und meine Stimme klang leicht heiser, wie als hätte ich seit Stunden nicht mehr gesprochen. „Aber sie kann sich wehren.“
 

„Oh, es wäre nicht so, dass er sich nicht wehren könnte“, verteidigte Takeru seinen Bruder prompt. „Er kann…“ Er lachte und ich konnte nicht anders als mitzulachen. „Okay, er ist nicht sonderlich stark. Aber Yama kann unglaublich böse sein – nur macht es mehr auf die Psychoschiene.“
 

„Wie das?“, fragte ich verwirrt.
 

„Wenn er einmal sauer auf dich ist, dann wirst du wissen, was ich meine“, grinste er mich an. Seine schlechte Laune war verflogen, wie als hätten wir das Gespräch von eben nie geführt. Wie als hätte er mich nicht darum gebeten, ihm zu sagen, wer seinen Bruder schlug. Mir aufgetragen, ich sollte auf Yamato aufpassen, wie auf ein kleines Kind. Aber ich sagte auch nichts mehr dazu. Seine Art erinnerte mich sehr an die Meine und ich kam damit gut zurecht.
 

Wenn ich etwas vergessen wollte, dann tat ich es auch.
 

„Komm, gehen wir.“ Ich schulterte meine Tasche und verließ mit ihm die Umkleide. Weiter hinten sah ich unseren Trainer, der sich mit der Sportlehrerin unterhielt und wir suchten beide schnell das Weite. Unser Trainer war nett und aufgeschlossen, allerdings hielt er nicht viel von Verspätung, Faulheit oder Undiszipliniertheit und es war in seinen Augen ein Zeichen von Verspätung und Faulheit, wenn man über zwanzig Minuten beim Umziehen brauchte – auf alle Fälle, wenn man(n) männlich war.
 

„Soll ich dich nach Hause fahren?“, fragte ich, als wir auf dem Parkplatz ankamen und vor meinem Wagen standen. Takeru betrachtete das Auto kritisch, wie als hätte er Angst, es könnte zusammen fallen, dann nickte er.
 

„Klar. Danke.“
 

Er stieg ein und schmiss seine Tasche auf den Rücksitz. Obwohl es draußen noch relativ warm war, war es im Wagen selbst kühl und ich schaltete die Sitzheizung an. Takeru beobachtete mich interessiert und als die Wärme in seinem Sitz aufstieg, ließ er ein lautes Lachen hören und drückte sich enger an den Stoff, schloss ermüdet die Augen.
 

„Das war ganz schön hart, heute“, sagte er mit matter Stimme.
 

„Das war nur der Anfang.“
 

„Ehrlich?“ Träge öffnete er ein Auge. „Du verarschst mich doch nur, oder?“
 

„Nein“, erwiderte ich grinsend. „Tue ich nicht. Aber glaub mir, du musst dir bestimmt keine Sorgen machen. Du bist besser in Form als manch einer aus der Mannschaft.“ Er wurde rot und starrte auf seine Hände. Mir fiel auf, dass Yamato das auch getan hatte. Nur aus sichtlich anderen Gründen; Frustration, Wut, Unsicherheit. Wie konnten zwei Leute, die auf so engem Raum lebten und sich so ähnlich sahen, doch so verschieden sein? Wieso war Yamato der Außenseiter und Takeru das neu entdeckte Fußballass?
 

„Du hast doch vorhin gesagt, Yamato könnte singen, nicht?“, fragte ich nach einer Weile.
 

„Ja. Wieso?“
 

„Glaubst du er würde mir mal etwas vorsingen?“
 

„Also…“ Takeru hielt inne, offensichtlich verblüfft. „Ich weiß nicht, Tai. Um ganz ehrlich zu sein, bin ich mir nicht so sicher, ob er dich überhaupt mag. Er reagiert sehr empfindlich, wenn ich deinen Namen erwähne und… er hat schon lange nicht mehr gesungen. Jedenfalls habe ich es nicht mitgekriegt.“
 

„Oh….“ Ich zuckte die Schultern, wie als wäre es mir egal. Doch das war es keineswegs. Ich wollte Yamato endlich kennen lernen! Ich wollte wissen, was er gerne aß, ich wollte sehen, wie er Gitarre spielte und sang.
 

Und ich wollte verdammt noch mal wissen, wie es aussah, wenn er lächelte.
 

_
 

Die Scheinwerfer meines Autos beleuchteten die Auffahrt und Takeru fischte seine Tasche vom Rücksitz. Mit einer ungelenken Bewegung setzte er sich wieder gerade hin und griff nach der Tür. Auf dem restlichen Weg hier her hatte er kein Wort mehr gesagt und ich hatte keine Versuche mehr gestartet, ein Gespräch zu beginnen. Takeru war nett, keine Frage, aber bei juckte es mich nicht in den Fingern mich mit ihm zu unterhalten, so wie bei seinem Bruder.
 

„Danke, dass du mich hergefahren hast“, sagte er lächelnd.
 

„Kein Problem.“
 

Er öffnete die Türe und setzte einen Fuß auf festen Boden, drehte sich rasch noch einmal zu mir um. „Wann haben wir das nächste Ma…?“
 

„Takeru.“
 

Erschrocken wirbelte Takeru herum, stieß sich fast den Kopf am Wagendach. Mit großen Augen starrte er zu seinem Bruder hinauf, der vor ihm stand, die Arme vor der Brust verschränkt, das schöne Gesicht vollkommen ausdruckslos. Er trug eine rote Jacke, die etwas zu groß für ihn war. Ich vermutete, dass sie eigentlich Takerus Besitz war.
 

„Yama!“, begrüßte Takeru seinen Bruder strahlend und rappelte sich hoch. Nun überragte er ihn wieder um einige Zentimeter und Yamato musste zu ihm hoch sehen. „Wo willst du…?“
 

„Du bist spät“, unterbrach Yamato ihn tonlos und musterte ihn.
 

„Sorry.“
 

„Das Essen steht auf dem Herd. Du kannst alles haben, Dad hat vorhin angerufen und gesagt, dass er für eine Woche nach New York geht.“
 

„Oh“, machte Takeru enttäuscht, rieb sich über den bloßen Unterarm. „Und... du? Wann kommst du wieder?“ Seine anfängliche Frage, wo Yamato denn hin ginge, schien er in den Wind geworfen zu haben.
 

Yamato warf einen misstrauischen Blick zu mir ins Auto und mir lief es kalt den Rücken runter. Yamato war wunderschön, aber er war zu kühl, um menschlich zu sein.
 

„Spät“, antwortete Yamato dann widerwillig. „Ich weiß noch nicht genau, wann ich heute Schluss hab.“
 

„Okay“, meinte Takeru und zuckte mit den Achseln. „Gibt’s Nachtisch?“
 

„Schau in den Kühlschrank.“
 

„Wäsche?“
 

„In deinem Zimmer.“
 

„Und…?“
 

„Ich muss jetzt gehen“, fauchte Yamato. „Wir sehen uns morgen früh.“
 

Und mit diesen Worten wandte er sich ab und lief die Einfahrt hinunter, verschwand in der Dunkelheit. Takeru sah ihm noch einige Augenblicke nach, wandte sich anschließend wieder an mich. Mein Blick klebte noch an dem Punkt, an dem Yamato gerade verschwunden war.
 

Für mich war diese Situation sehr bizarr gewesen. Wenn meine Schwester und ich uns sahen, lachten wir und redeten über allerlei unwichtige Dinge, bevor wir auf den Punkt kamen und zum Schluss umarmte sie mich. Immer. Wie es Geschwister nun einmal taten. Doch Yamato und Takeru… Yamato hätte genauso gut Takerus Nachbar sein können, der kurz die Wohnung geputzt und gekocht hatte. Ihr Wortwechsel war kurz und kalt gewesen. Takeru schien nicht wirklich traurig darüber zu sein, dass sein Bruder jetzt fort war, eher darüber, dass er heute Abend keine Beschäftigung mehr hatte.
 

„Willst du noch mit hoch kommen?“, fragte Takeru plötzlich.
 

„Was?“, irritiert sah ich ihn an.
 

„Wenn Dad nicht da ist, können wir machen, was wir wollen. Wenn du Lust hast, kannst du heute Abend hier bleiben.“
 

Er sagte das mit solch einer Begeisterung, dass ich einfach nicht nein sagen konnte. Eigentlich hatte ich für diesen Abend viel Essen und frühes Bettgehen geplant, aber sein Angebot war besser. Also nickte ich und stieg aus, schloss das Auto mit einem kurzen Drücken auf den Schlüssel ab. Die Scheinwerfer leuchteten auf, verschwanden eine Sekunde später wieder in der Schwärze.
 

Takeru hüpfte vor mir die Treppe hinauf, schloss auf und führte mich zu seiner Wohnung.
 

Im fünften Stock. Ohne Aufzug.
 

Als wir endlich vor der Türe standen hatte ich es nur meiner guten Fußballerausbildung zu verdanken, dass ich noch nicht tot zusammen geklappt war. Takeru hingegen schien überhaupt keine Bedenken zu haben, er suchte das Schlüsselloch, öffnete die Türe und trat ein. Ich folgte ihm, mit einem mulmigen Gefühl. Das Haus stand nicht in der schönsten Gegend und auch wenn Takeru mir versichert hatte, dass es in der Wohnung nicht danach aussah, konnte ich den Gedanken nicht abschütteln, dass mich etwas furchtbar Ungewohntes erwartete.
 

„Wow, Yama hat eine ganz schöne Unordnung hinterlassen“, er pfiff überrascht aus und sah sich um. Lächelte mich entschuldigend an. „Normalerweise sieht es hier nicht so aus. Ich glaube, Yama war ganz schön im Stress.“
 

Oder er war ganz schön sauer, fügte ich in Gedanken hinzu, als ich die losen Blätter auf dem Boden liegen sah und das herunter gefallene Bild. Laut sagte ich nur: „Macht nichts. In meinem Zimmer sieht’s schlimmer aus.“ Das war gelogen. Obwohl man es mir nicht ansah, legte ich gewissen Wert auf Ordnung. Nicht, dass ich mich selbst daran je halten konnte und ich würde es in Zukunft wahrscheinlich auch nicht schaffen, aber ich mochte es, wenn alles an seinem Platz war.
 

„Komm, ich zeig dir mein Zimmer“, sagte Takeru, zog sich die Schuhe aus und lief durch den kleinen Flur, auf eine Tür zu. In großen, abgenutzten Lettern stand auf der Türe TAKERU. Von dem Flur führten noch fünf weitere Türen ab, zwei standen offen. Ich erblickte eine kleine Küche, mit einem noch kleineren Tisch. Das Wohnzimmer war recht groß, ich vermutete, dass es das größte Zimmer in der Wohnung war. Ein großes, rotes Sofa stand in der einen Ecke, in der anderen stand ein Fernseher. Kein Vergleich zu unserem Haus, aber es schien gemütlich.
 

Takeru riss die Türe zu seinem Zimmer auf und das Erste, was mir auffiel, war die penible Ordnung. Nur auf dem Schreibtisch herrschte großes Chaos und das Bett sah zerwühlt aus. Ansonsten lagen nicht einmal Kleider auf dem Boden herum, von Müll ganz zu schweigen. Ich sah zu Takeru hinüber, der sich auf sein Bett fallen ließ und die Tasche achtlos in eine Ecke geworfen hatte.
 

Er räumte hier auf alle Fälle nicht auf.
 

Über seinem Bett hing ein großes Poster, auf dem die Spieler der Nationalmannschaft zu sehen waren, auf seinem Schreibtisch und dem Fensterbrett standen einige Bilder. Eines war von ihm und einem älteren Mann, in dem ich seinen Vater erkannte. Er sah gestresst aus, aber glücklich – außerdem hatte er Takerus Lächeln. Auf einem anderen war Takeru zu sehen, in der Hand einen großen Pokal. In dem anderen Rahmen waren eine blonde, große Frau und ein kleiner, ebenso blonder Junge zu sehen.
 

„Ist das deine Mutter?“, fragte ich. Takeru hob kurz den Kopf.
 

„Ja“, sagte er lächelnd. „Siehst du den Kinderwagen im Hintergrund? Das bin ich. Und ja, das lachende Kerlchen neben Mum ist Yama“, fügte er lachend hinzu, als er meinen Blick bemerkte. „Kaum zu glauben, ich weiß.“
 

Ich verbiss mir meinen Kommentar, da ich nicht unhöflich wirken wollte und sah mich weiter in seinem Zimmer um. Takeru stand auf, schien zu bemerken, dass ich mehr sehen wollte, als nur sein Bett. Mit einer beiläufigen Geste gab er mir zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte. Interessiert sah ich mich um, musterte das kleine Bad mit der Dusche, die Küche und das Wohnzimmer, die ich schon vorhin gesehen hatte und den kleinen Raum mit dem Bett, den Takeru als das Zimmer seines Vaters bezeichnete.
 

„Und Yamatos Zimmer?“, fragte ich neugierig.
 

„O Gott“, Takeru lächelte und fuhr sich durch die Haare. „Er bringt mich um, aber was soll’s. Da vorne.“ Er zeigte auf die Türe, auf der die Farbe an einer Stelle blätterte. Mir fiel auf, dass die Risse die Formen von Buchstaben hatten. Takeru bemerkte es ebenfalls. „Er hat die Buchstaben von seiner Tür abgerissen, nach einem Streit mit Dad. Ich weiß nicht wieso.“ Er machte die Türe auf und schaltete das Licht ein. Einen Augenblick war ich einfach nur überrascht. Dann in gewisser Weise besorgt.
 

Das Zimmer hatte weiße Wände, an denen kein einziges Poster hing. Weder von Frauen, noch von Sängern oder sonst irgendjemandem. Der Schreibtisch war groß, die Hefte, Ordner und Blöcke waren sauber geordnet und gestapelt. In dem großen Regal an der Wand waren die Bücher nach Größe sortiert, der Spiegel an dem Kleiderschrank reflektierte das klare Licht ohne Schlieren. Über dem Bett standen eine Stereoanlage und etliche CDs, die aussahen, als wären sie noch nie in die Hand genommen worden. In der Ecke lehnte eine Gitarre. Das Bett schien unberührt.
 

Ich mochte Ordnung, aber das war zuviel. Es sah so aus, als ob hier schon seit Jahren niemand mehr wohnte!
 

Hinter mir schloss Takeru die Türe und sah sich ebenfalls um, wie als wäre er schon lange nicht mehr hier gewesen. Seine nächsten Worte bestätigten meine Gedanken.
 

„Ich war lange nicht mehr in seinem Zimmer. Ich habe immer das Gefühl, dass er das nicht möchte. Eigentlich hab ich immer gedacht, dass er irgendwelche peinlichen Sachen hier hängen hat, aber jetzt… hier ist ja gar nichts!“ Er schnaubte. „Kein Wunder, dass er nichts anderes tut als zu Lernen.“
 

Ich lachte.
 

„Ehrlich“, sagte Takeru und hockte sich auf das weiße Bett. „Mich wundert’s nicht mehr, dass er so verdammt gut in der Schule ist. Wenn mein Zimmer aussähe, wie frisch eingezogen, wüsste ich auch nicht, was ich sonst machen sollte!“ Er lächelte und streckte sich.
 

„Hast du Hunger?“
 

„Immer doch“, erwiderte ich grinsend. Er führte mich in die Küche und mein Blick blieb noch einmal an der Gitarre hängen. Vielleicht würde er mir ja doch noch mal was vorspielen.
 

Part V

END
 

Momentan kommt mir das alles noch ziemlich holperig vor. Und ich musste auch ein bisschen kämpfen, um bei der Sache zu bleiben, weil mir so viele Dinge durch den Kopf geschossen sind. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, auch nur in irgendeiner Weise auszudrücken, dass es jetzt langsam aber sicher spannender wird. Und endlich ein bisschen Schwung in diese Geschichte kommt! :D
 

(I) Zu dem nicht rasieren: nicht bei allen jungen ist der Bartwuchs so stark, dass sie sich regelmäßig rasieren müssen. Außerdem kommt es immer auf den Zeitpunkt an, wann er einsetzt.

Allerdings war das einfach nur Takerus Naivität.. von daher :)

(II) Ich gebe zu, Takeru ist einfach schrecklich naiv – mehr, er stellt sich naiv, eigentlich ist er es gar nicht so sehr. Aber er mag die Welt um sich herum nicht genug, als dass er sie einfach so hinnehmen würde, wie sie ist. Aber keine Angst, er kommt auch noch zur Einsicht und wird seine Meinung laut und deutlich sagen – schließlich wird auch er eine große Rolle in den weiteren Geschehen spielen. Mal abgesehen von Yama und Taichi :)
 

Ich wünsche euch allen sehr schöne Weihnachten und einen äußerst guten Rutsch ins neue Jahr :D

Ich hoffe, dass euch dieses Kapitel gefällt und ihr könntet es als Geschenk von mir an euch ansehen <3
 

Alles Liebe,

Nikolaus
 

P.S.: Es tut mir schrecklich leid, dass ich die letzten Kommentare nicht beantworten konnte - ich hätte es soo gern getan! Aber ich hatte unglaublich viel mit der Schule zu tun und kam kaum an den Laptop, geschweige denn ins Internet. In den Ferien werde ich das aber nachholen - also noch mal ein großes, herzliches Dankeschön an meine lieben, treuen Kommischreiber.

Ihr wisst gar nicht, wie toll das ist, eure Kommentare zu lesen. Da wird mir ganz anders ... ;__; :)

Ich merke, dass ihr euch Mühe gebt und deshalb kommt auch ganz sicher eine Antwort :D

Love ya! ♥

... That It Was So Cold (Taichi/Yamato)

~ Taichis POV ~
 

„Schmeckt gut.“
 

„Nicht wahr? Yamato kann wirklich gut kochen“, grinste Takeru glücklich und schaufelte den Reis in rasender Geschwindigkeit in sich hinein. Ich wunderte mich wirklich, wann er denn schluckte, geschweige denn, wo er die Zeit zum Reden her nahm. Ich beobachtete ihn einen Augenblick, dann wandte ich mich wieder meinem Essen zu. Wirklich Hunger hatte ich nicht. Noch immer hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich einfach hier war, ohne gefragt zu haben und sicherlich ohne Yamatos Wohlwollen. Nach Takerus Aussage mochte er mich nicht.
 

Wieso nicht?
 

Unser Gespräch in der Schule war peinlich und eindeutig gewesen, aber so überheblich war ich doch gar nicht, oder? Ich hatte ihn vor Shusuke und Yuri gerettet, half seinem kleinen Bruder zum Fußballstar der Schule zu werden und ich war nett zu ihm. Was hatte er denn dann?
 

„TK?“
 

„… hm?“ Takeru schaute auf, die Backen voll mit Reis. Sein Anblick erinnerte mich auf skurrile Art an einen Hamster.
 

„Wieso mag Yamato mich nicht?“
 

Takeru verschluckte sich heftig und ich wartete, bis er sich hustend und mit tränenden Augen aufgerichtet hatte. Hastig schüttete er ein Glas Wasser hinunter und sah mich an. In seinem linken Auge war ein Äderchen geplatzt und eine glasige Röte kroch neben seiner Iris empor. Genauso wie in seinen Wangen.
 

„Wieso willst du das wissen?“, fragte er, sichtlich verlegen.
 

„Keine Ahnung“, ich zuckte mit den Schultern. „Es interessiert mich einfach. Schließlich kann er mich nicht einfach so hassen – denke ich jedenfalls.“
 

„Dann solltest du das Denken lieber lassen“, neckte mich Takeru. „Yama mag manche Leute nicht. Einfach so, aus heiterem Himmel, ohne jegliche Gründe. Und falls er doch einen Grund hat, dann spricht er ihn nicht aus.“
 

„Und hat er dir einen Grund genannt, weshalb er mich nicht mag?“
 

Diesmal zuckte Takeru mit den Achseln.
 

„Bin mir nicht so sicher“, sagte er lahm und stocherte in seinem Rest Reis herum. „Er findet dich überheblich, arrogant und egoistisch, hormongesteuert, rücksichtslos und äh… engstirnig.“ Er grinste mich an. „Schon vergessen?“
 

Er spielte damit eindeutig auf die peinliche Situation in der Cafeteria an. Ich lächelte und spürte gleichzeitig, wie ich leicht rosa anlief. Ein Glück war ich nicht so blass wie Takeru, sonst würde man es nur all zu deutlich bemerken.
 

„Nein, hab ich nicht.“
 

„Hm, na ja“, fuhr er fort und aß gemächlich weiter. „Ich glaube, das waren alle Gründe. Aber so wirklich hassen tut er dich nicht. Schließlich hat er sich von dir nach Hause fahren lassen.“
 

„Ist das denn etwas Gutes?“
 

„Klar.“
 

„Und was wäre dann etwas sehr Gutes?“, hakte ich interessiert nach. Den Reis vor mir hatte ich schon längst wieder vergessen.
 

„Äh… ich würde sagen, wenn er sich von dir anfassen lässt“, sagte er nach einer Weile mit vollem Mund.
 

„Anfassen?“
 

„Nicht so!“, erwiderte er und begann zu lachen. „Tai, nicht jeder denkt so krank wie du.“ Allein anhand dieser Aussage wusste ich, dass er es ebenfalls tat. Er brauchte einige Augenblicke, um sich von seinem Lachanfall zu erholen. Er holte tief Luft und grinste schief mich an. „So was Alltägliches meinte ich eigentlich damit. Umarmung und so… weißt schon.“
 

„Wieso hat er eigentlich so viel gegen Körperkontakt?“
 

Takeru starrte mich an. Dachte nach. Seine blauen Augen wurden für einen Moment glasig, dann hatte er sich wieder gefasst.
 

„Da bin ich mir nicht so sicher“, räumte er ein. „Wahrscheinlich ist es für ihn einfach nur ungewohnt. Ich war schon immer dafür ihm ´ne Katze zu kaufen, damit er sich nicht mehr so geniert.“ Er fing wieder an zu lachen und schaufelte den Reis in sich hinein, bis seine Stäbchen auf kalten Schüsselboden stießen. Entmutigt ließ er das Holz sinken und schielte zu meiner Portion hinüber. Grinsend begriff ich und schob ihm mein Essen zu. Mit einem leisen Dankeschön machte er sich darüber her. Für ihn schien das Thema sichtlich beendet, doch für mich nicht.
 

Ich hatte ja nicht wirklich eine richtige Antwort gekriegt. Dass er mich für überheblich, arrogant, egoistisch, hormongesteuert, rücksichtslos und engstirnig hielt wusste ich schließlich schon – und dass er etwas gegen Körperkontakt hatte ebenfalls. Das alles hatte ich allerdings aus seinem Verhalten geschlossen. Den hochgezogenen Schultern, der kühlen Stimme. Dem abweisenden Blick.
 

Langsam verblasste meine Hoffnung, dass ich ihn jemals würde anfassen dürfen.
 

„Du magst ihn, stimmt’s?“
 

Überrascht hob ich den Kopf und starrte Takeru an. Die Heiterkeit war aus seinem Gesicht verschwunden, die Lippen waren ein harter Strich. Die blauen Augen waren ungewöhnlich… wissend. Wie als bräuchte er meine Antwort eigentlich gar nicht.
 

Hilflos zuckte ich mit den Schultern und sagte: „Etwas.“
 

„Ich hab’s gemerkt“, meinte er nur dazu und ließ die Stäbchen sinken. „Es zeigt sonst Niemand so großes Interesse an ihm.“ Das klang fast schon wieder vorwurfsvoll. Waren meine Fragen zu persönlich gewesen? „Aber du solltest dir keine zu großen Hoffnungen machen, Tai.“
 

„Wieso nicht?“, fragte ich leise. „Ich hab schon ganz andere Leute rumgekriegt.“
 

„Ihn nicht.“
 

„Wieso nicht?“, wiederholte ich, beinahe trotzig und schob die Unterlippe vor. Die Arme vor der Brust zu verschränken, konnte ich gerade noch verhindern.
 

„Er…“, Takeru stoppte und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Mehrmals öffnete er den Mund, aber es kam nur heiße Luft heraus. Letztendlich sagte er etwas, was ich nicht erwartet hatte. Nicht von ihm.
 

„Yama ist anders, Tai. Er liebt die Einsamkeit, er will niemanden an sich ran lassen. Weder mich noch sonst irgendjemanden. Erst recht nicht dich. Versteh mich nicht falsch, aber seit Mum tot ist… “ Er seufzte leise. „Vergiss es einfach.“
 

„Nein“, entgegnete ich entschlossen.
 

Verwirrt sah Takeru zu mir auf. „Nein?“
 

„Ich werde es nicht einfach vergessen“, sagte ich und verschränkte nun doch die Arme vor der Brust. „Ich mag ihn, ja. Und deshalb werde ich es nicht vergessen.“
 

„Aber es wird keinen Zweck haben“, sagte Takeru verständnislos, in dem Ton, in dem er einem Dreijährigen erklärte, das Eins plus Eins Zwei ergaben. Sein Unverständnis rief eine leichte Wut in mir hervor. Er war doch auch schon mal verliebt gewesen, oder etwa nicht? Ich konnte jetzt einfach nicht so tun, wie als wäre Yama nie in meinem Leben aufgetaucht! Und wenn schon, dann war er eben anders, ich würde nicht aufgeben.
 

Niemals.
 

„Vielleicht hat es einfach nur noch niemand richtig versucht“, redete ich stur weiter. „Ich kann…“
 

„Er hat bei Mums Beerdigung nicht geweint“, unterbrach Takeru mich plötzlich.
 

„Was?“
 

Perplex starrte ich ihn an, begriff den Sinn seiner Aussage nicht. **
 

„Wir haben alle schrecklich geheult – Dad, meine Oma, ich und der Rest der Leute“, fuhr Takeru mit leiser Stimme fort. Seine Augen waren auf einen unsichtbaren Punkt im Nichts gerichtet und mir wurde klar, dass er sich gerade daran erinnerte. Aus irgendeinem Grund wollte ich ihn unterbrechen, ihm sagen, dass er mir das nicht erzählen musste, aber ich tat es nicht. Meine Zunge klebte an meinem trockenen Gaumen. „Yama stand nur daneben. Er hat nachts in seinem Zimmer geweint, ich hab es gehört. Aber nicht auf der Beerdigung. Auch nicht auf der von Oma.“
 

Sein Blick suchte den Meinen und ich konnte mich nicht abwenden. Irgendetwas hielt mich davon ab. Ich erkannte den Schmerz in seinen Augen.
 

Mein Magen krampfte sich zusammen.
 

„Er hat sie gefunden“, Takerus Stimme klang hohl, „Aber er hat nie mit mir darüber geredet. Wenn Dad ihn darauf angesprochen hat, dann hat er das Thema gewechselt oder eisern geschwiegen. Ich dachte, dass es ihm vielleicht helfen würde, wenn wir mehr Zeit bei unserer Oma verbringen würden, aber als wir dann in den Ferien bei ihr waren… Sie hat viel über Mum gewusst, weißt du? Sie hat uns viel erzählt, aber Yama…“, er stockte. „Ich hab bei jeder Geschichte geheult.“
 

„Es klingt dumm, ich weiß. Und es hat auch gar keinen Sinn“, fuhr er fort und senkte den Blick. „Das hätte ich dir nicht erzählen sollen. Das war wirklich idiotisch von mir. Es interessiert dich doch gar nicht…“ Er seufzte.
 

„Wieso hast du es mir dann erzählt?“, fragte ich mit heiserer Stimme und sehnte mich gleichzeitig nach einem Glas Wasser, um meine Kehle zu benetzen. Ich fühlte mich, als hätte ich seit Tagen nichts mehr getrunken.
 

„Damit du weißt, dass es sinnlos ist! Dass er viel zu verkrampft ist, um seine Gefühle an die Oberfläche kommen zu lassen!“, sagte er heftig und ballte die Hand zur Faust. „Vielleicht lässt er dich ein bisschen an sich ran, aber spätestens wenn er mit blauen Flecken nach Hause kommt und dir nicht erzählen will, woher sie kommen, wirst du einsehen, dass es bescheuert ist! Yamato kann keine Beziehung führen! Er… er ist einfach unfähig!“
 

Ich räusperte mich.
 

„Sag mal, TK…“, fing ich vorsichtig an, „kann er das nicht oder willst du das nur nicht?“
 

Zuerst reagierte er gar nicht.
 

Dann schnellte sein Kopf in die Höhe und aus den blauen Augen schossen Blitze. Er knallte mit der Faust auf den Tisch und erhob sich ruckartig. Der Stuhl knarrte auf dem Boden, die Schüsseln klirrten.
 

Ich zuckte überrascht zurück.
 

„Er hat mir nie etwas über Mum erzählt!“, fauchte er mich wütend an. „Und auch kein Wort über diese Schlägereien! Ich bin sein Bruder verdammt, aber ich habe nicht das Gefühl, dass er das auch weiß!“ Tränen stiegen ihm in die Augen. „Ich weiß gar nichts über ihn… verdammte Scheiße.“
 

Er drehte sich um und stürmte aus der Küche. Ich hörte, wie eine Türe laut knallte und zuckte zusammen.
 

Etwas fiel dumpf zu Boden.
 

Mit klopfendem Herzen starrte ich auf den verlassenen Platz vor mir. In meinen Ohren rauschte das Blut.
 

Wieso hatte ich nur etwas gesagt?
 

~ Yamatos POV ~
 

Der Nyman Saloon machte seinem Namen alle Ehre.
 

Das Foyer war mit Sesseln ausgestattet und einer großen Garderobe, die außerhalb der Blicke der Gäste lag. Ein vornehmer Franzose begrüßte die Leute am Eingang und wies sie ihren Plätzen zu, sein starker Akzent ließ alles nur noch edler wirken. Die Tische im Innenbereich waren mit schneeweißen Tischtüchern gedeckt, Silberbesteck und je eine blutrote Rose prangten im Schnee. Der Teppich, unter den Stühlen mit goldener Garnitur, war dunkelblau, durchsetzt mit goldenen und silbernen Ovalen und kunstvollen Mustern. Die Decke hing über all dem, als Kuppel getarnt und mit einem Bild eines berühmten Malers verziert; Eine Frau zog mit einem weißen Tuch an einer Sternschnuppe und zog das bildliche Glück zu sich hinunter.
 

Ich seufzte.
 

Das Gefühl nicht hier her zu gehören, welches sich schon kurz nach meiner Ankunft eingestellt hatte, wandelte sich nun in Unbehagen aus. Mein Magen krampfte sich zusammen, als mein Blick die Tische streifte und über die Rosen glitt. Meine Hände zitterten.
 

Der Saal war komplett verlassen. Die letzten Gäste waren vor einer halben Stunde gegangen.
 

Ich verstärkte den Griff um das Tablett und sammelte die schmutzigen Teller ein. Ein paar vereinzelte Gläser standen auf den Tischen. Ich stellte sie neben die Teller und drehte mich zum Ausgang um. Goldener Türrahmen. Rote Vorhänge. Kleine, glitzernde Steine an dem roten Stoff.
 

„Ishida, steh nicht in der Gegend rum. Wir wollen zu machen.“
 

Die herrische Stimme von Yuusuke ließ mich zusammen schrecken. Hastig nickte ich und eilte über den Flur. Unter meinen Füßen gab der weiche Teppich nach. Ich öffnete mit einem Stoß meiner Hüfte die Küchentüre und stellte das Tablett ab. Der Tellerwäscherjunge sah auf, als ich eintrat und lächelte mich an. Zaghaft erwiderte ich das Lächeln und gab ihm das schmutzige Geschirr. Er senkte verlegen den Blick und nuschelte ein leises „Dankeschön.“
 

Bevor ich etwas erwidern konnte, ertönte Yuusukes Stimme aus dem Foyer.
 

„Ishida!“
 

Ich zuckte erneut zusammen.
 

Yuusuke Kanami war einer der Gründe gewesen, weshalb ich mich hier nicht wohl fühlte. Schon den ganzen Abend jagte er mich unermüdlich durch das Lokal und halste mir mehr auf, als ich ertragen konnte. Aber ich sagte nichts. Es hatte mir noch nie etwas gebracht und ich setzte nicht darauf, dass mein Vorgesetzter auf mich hören würde. Er schien mich nicht zu mögen, doch es beruhte auf Gegenseitigkeit.
 

Yuusuke stand ungeduldig neben dem Franzosen, der gerade seine Jacke anzog. Jean-Michel Baptist. Er war eigentlich ganz nett, ich hatte nur kurz mit ihm gesprochen. Außer dem Tellerwäscher war er der Einzige, der mich nicht mit jedem Blick aufzuspießen schien. Zu meiner eigenen Überraschung hatte ich festgestellt, dass mir ihre Ablehnung nichts ausmachte. Und mit Schrecken war mit bewusst geworden, dass es mich mehr verwundert hätte, wenn sie mich angenommen hätten.
 

„Wiedersehen Yamato“, sagte Jean leise neben mir und klopfte mir auf den Rücken. Erschrocken sah ich zu ihm auf und erblickte das freundliche Lächeln. Ich spürte, wie sich meine Mundwinkel hoben, doch ich war mir sicher, dass es eine sehr klägliche Erwiderung war.
 

„Wiedersehen“, sagte ich leise. Er band sich seinen blauen Schal um den Hals und rückte ihn zurecht. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, fing er an zu lachen. Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht.
 

„Wenn ihr fertig damit seid“, sagte Yuusuke scharf, „dann kannst du mir sicherlich dabei helfen, sauber zu machen, nicht wahr, Ishida?“
 

Ich wandte mich ihm zu und sah das böse Funkeln in seinen Augen. Er wirkte nicht wirklich sauer auf mich, eher… eifersüchtig? Kurz huschte mein Blick hinüber zu Jean, der amüsiert den Kopf schüttelte. Yuusuke schnaubte verärgert und strich sich das braune Haar aus der Stirn. Die Geste hatte etwas Trotziges.
 

„Wir sehen uns morgen!“, sagte Jean lachend und verschwand aus dem Lokal. Die Türe fiel hinter ihm ins Schloss und die Glocke klingelte leise.
 

„Jetzt mach schon, Ishida“, fauchte Yuusuke mich an.
 

„Natürlich“, erwiderte ich zerstreut und wandte mich zum Speisesaal. Zwei Frauen, die heute Abend ebenfalls bedient hatten, saugten den Teppich. Yuusuke drückte mir einen Lappen und einen Eimer mit Wasser in die Hand.
 

„Ich werde die Tischdecken einsammeln und zum Waschen bringen, du übernimmst das Wischen der Tische, verstanden?“
 

„Ja.“
 

Er ging mit großen Schritten voraus und schnappte sich energisch die erste Tischdecke. Am Anfang des Abends waren alle Schneeweiß gewesen, nun waren auf den meisten Flecken und kleine Essenreste. Eigentlich hatte ich immer gedacht, dass reiche Leute niemals kleckern würden, doch nun war mir eindeutig das Gegenteil bewiesen worden.
 

Ich tauchte den Lappen in das lauwarme Wasser, wrang ihn aus und wischte damit die braune Kirschholzplatte sauber. Auf Tisch zweiundzwanzig war ein unansehnlicher Fleck zu sehen und ich verbrachte gefühlte Ewigkeiten damit, ihn zu beseitigen. Hinter mir unterhielten sich die zwei Frauen angeregt über den Koch und dessen schlechte Manieren. Nach einiger Zeit wechselte das Thema zu Schuhen und Kleidern. Dann redeten sie über Jean.
 

Yuusuke kam zu mir herüber geschlendert und griff nach der letzten Tischdecke. Er warf mir einen herablassenden Blick zu und ich konnte ihm förmlich vom Gesicht ablesen, worüber er gerade nachdachte; Soll ich ihm noch mehr Arbeit aufhalsen?
 

Er schien sich dagegen zu entscheiden, denn er sagte ruppig: „Wenn du damit fertig bist, kannst du gehen, Ishida. Wir sehen uns am Freitag.“
 

„Danke, Herr Kanami“, erwiderte ich höflich und in gewissem Maße überrascht.
 

Er schnaubte nur und drehte sich um.
 

_
 

Kalte Luft schlug mir entgegen, als ich den Nyman Saloon verließ. Ich schloss den Kragen von Takerus roter Jacke, die ich mir ausgeborgt hatte, und steckte die Hände in die Hosentaschen. Hinter mir ertönte die Rufe der beiden Frauen und ich hob zum Abschied die Hand. Es war mir egal, ob ich damit überheblich oder unhöflich erschien. Ich hatte einfach keine Lust, jetzt noch freundlich zu sein. Dazu war es zu kalt und zu spät. Und mit einem kurzen Blick auf meine Uhr, stellte ich fest, dass es schon kurz nach zwei Uhr Nachts war.
 

So spät fuhr kein Bus mehr und die letzte U-Bahn hatte ich gerade verpasst. Die nächste würde erst wieder in einer Stunde kommen.
 

„.. super.“
 

Mein Atem bildete weiße Wölkchen vor mir in der Luft und löste sich in der Dunkelheit auf. Ich sah mich missmutig um und konnte weit und breit keine Menschenseele erkennen. Die Straßenlaternen beleuchteten schwach den Gehsteig und die sauberen Straßen. Den Weg nach Hause kannte ich nur grob. Für einen Augenblick musste ich an Taichi denken. Und an seinen Wagen.
 

Wenn er jetzt hier wäre, könnte er mich einfach nach Hause fahren.
 

Stell dich nicht so an! … Weichei.
 

Ich vergrub die Hände tiefer in den Taschen und zog die Schultern hoch. Der Wind wehte schneidend um die nächste Hausecke und blies mir die Haare ins Gesicht. Es fühlte sich an wie in Schlag mit einem eisgekühlten Stock. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, mühsam hielt ich mich davon ab, einfach stehen zu bleiben. Es würde schon nichts passieren. Schließlich war niemand außer mir hier und das würde sich auch nicht so schnell ändern.
 

Ein Auto fuhr rasend schnell an mir vorbei, die Scheinwerfer erleuchteten für einen Moment den Weg vor mir. Ich sah eine Katze. In ihren großen Augen spiegelte sich das Licht. Mit einem lauten Fauchen und einem Geräusch, kratzender Krallen auf Stein, verschwand sie vom Bürgersteig, hinein in die Dunkelheit einer anliegenden Gasse. Als ich davor ankam, blieb ich stehen. Hielt den Atem an und lauschte.
 

Mir war bewusst, wie dämlich ich mich gerade anstellte, aber ich hatte… Angst. In all den Krimis, sowohl im Fernsehen, als auch in den Büchern, wurden die Leute nachts verschleppt. Wenn es dunkel war. Vor solch einsamen Gassen. Ich riskierte einen Blick über meine Schulter und versuchte dann etwas in der Gasse zu erkennen. Gähnende schwarze Leere blickte mir entgegen und für eine Sekunde war es so, wie als würde sie atmen. Kalter Wind fuhr über meine Haut.
 

Hastig ging ich weiter, beschleunigte meine Schritte. Bis ich rannte.
 

Den restlichen Weg zu meiner Straße lief ich. Als ich vor der Haustüre des Hochhauses ankam, hatte ich fürchterliches Seitenstechen und meine Lunge brannte. Jeder Atemzug tat weh und allein der Gedanke an die vielen Treppenstufen bis zum fünften Stock, ließ mir die Knie weich werden.
 

Dennoch klopfte mein Herz nun vor Anstrengung und nicht mehr vor Angst. Ich konnte wieder die Stille um mich herum hören und nicht das Rauschen meines Blutes. Erleichterung erfüllte mich und mit zitternden Händen kramte ich in meinen Taschen nach dem Schlüssel.
 

Da hörte ich ein Knacken.
 

Sofort gefror mir das Blut in den Adern. Mein Atem setzte aus. Wieder hörte ich das Knacken und etwas, das klang wie… lautes Ein- und Ausatmen. Das Rascheln von Stoff.
 

Hektisch steckte ich den Schlüssel ins Loch, öffnete die Türe und ließ sie hinter mir zufallen. Das Geräusch kam mir unglaublich laut vor, aber es war nicht so laut wie das Klopfen meines Herzens, das praktisch wieder in Panik verfallen war. Mein ganzer Körper zitterte wie verrückt und selbst als ich das Licht im Treppenhaus anschaltete, wurde es nicht besser. Die Wände kamen mir kalt und steril vor.
 

Im ganzen Haus herrschte Stille. Niemand war mehr auf.
 

Kurz sah ich hinter mich, aber durch das Milchglas der Türe war nichts zu erkennen. Ich war viel zu feige, um sie zu öffnen und nachzuschauen, ob dort wirklich jemand war, und machte mich an den Aufstieg. Schon auf halber Strecke hatte ich das Gefühl, eines grausamen Todes zu sterben, aber ich hörte nicht auf. Meine Paranoia war wirklich schrecklich. Ich musste etwas dagegen tun.
 

Denn wer um Himmels Willen sollte mich denn schon verfolgen?
 

Jedoch konnte ich nicht leugnen, dass ich unglaublich erleichtert war, als ich in der Wohnung und die Türe fest hinter mir geschlossen war. Es war albern. Ich war albern! Aber die Angst vor der Dunkelheit schien ich doch nicht so gut abgeschüttelt zu haben, wie ich angenommen hatte.
 

Mit noch immer zitternden Fingern streifte ich mir die Jacke von den Schultern und zog die Schuhe aus. Erst auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass das Licht in der Küche noch brannte und auch, dass Wohnzimmer und Flur hell erleuchtet waren. Ich sah in der Küche nach, erblickte niemanden und knipste das Licht aus.
 

Als ich im Wohnzimmer ankam, traf mich fast der Schlag.
 

Dort, auf dem Sofa, lag Taichi Yagami!
 

Einen Augenblick konnte ich mich nicht bewegen, dann ging ich vorsichtig zu ihm hinüber. Er schien zu schlafen. Seine Beine hingen über der Sofalehne; er war eindeutig zu groß. Wenn Takeru ihn eingeladen hatte – und es gab keine andere Möglichkeit als diese, denn ich hatte es sicherlich nicht getan – wieso hatte er ihm dann nicht einen besseren Ort zum Schlafen angeboten? Zum Beispiel Dads Bett, schließlich war der bis nächste Woche weg.
 

Zaghaft stupste ich ihn an der Schulter an. Er rührte sich kein Stück.
 

Erneut stieß ich an, diesmal etwas fester und flüsterte: „Taichi?“
 

Er murrte etwas Undeutliches und sein linkes Bein zuckte. Aufwachen wollte er jedoch nicht.
 

„Taichi!“
 

Eigentlich wollte ich fest zuschlagen, aber als meine Hand auf seine Wange traf, ähnelte es mehr einem Streicheln. Hastig und von mir selbst erschrocken, zog ich die Hand zurück und starrte Taichi an, der sich erneut regte. Flackernd öffneten sich seine Lider und braune Augen musterten mich irritiert.
 

Er rollte sich herum und wurde sich zu spät der Tatsache bewusst, dass das Sofa dafür nicht breit genug war.
 

„Au!“
 

Taichi war schwer. Sehr schwer.
 

Er war direkt auf mich gefallen und meine rechte Hand war in einem sehr ungünstigen Winkel, unter meinem Körper eingeklemmt. Mit einem Ruck zog ich sie hervor und stemmte dann beide Hände gegen Taichis Brust.
 

„Geh von mir runter“, forderte ich ihn unfreundlich auf. Taichi brummte und rappelte sich hoch. Er fuhr sich durch das wirre Haar und sah mich verschlafen an.
 

„Yamato?“
 

Wer denn sonst?!
 

„Wieso schläfst du auf dem Sofa?“, fragte ich und ärgerte mich über mich selbst, weil ich so besorgt klang.
 

„Keine Ahnung“, antwortete er benommen und unterstrich seine Aussage mit einem Achselzucken. „Takeru… ich wollte ihn noch wütender machen.“
 

>Wütender<?“, echote ich verwirrt. „Wieso das denn? Habt ihr euch gestritten?“
 

„Nein… das heißt, eigentlich bin ich mir nicht so sicher“, er zog die Beine an und lehnte sich an das Sofa. Kurz schloss er die Augen, dann sah er wieder zu mir. Sein Blick behagte mir nicht. „Ich glaube, er war einfach nur ein bisschen angespannt. Das Training war ziemlich anstrengend.“ Glauben tat ich ihm kein Wort, aber das sagte ich nicht.
 

Ich erhob mich und ging aus dem Wohnzimmer, schaltete das Licht aus. Taichi gab ein verstimmtes Brummen von sich.
 

„Jetzt komm schon“, sagte ich müde und winkte ihm zu. „Du denkst doch nicht etwa, dass ich dich auf dem Sofa schlafen lasse, oder?“
 

„Nicht?“, er klang ehrlich überrascht.
 

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte ich zerknirscht und ging voraus ins Badezimmer. Er folgte mir.
 

Ich suchte in dem kleinen Schrank unter dem Waschbecken nach einer unbenutzten Zahnbürste, räumte dabei fast das ganze Inventar aus, und stoppte unwillkürlich. Irgendetwas Warmes war an meiner Hüfte. Irritiert sah ich an mir hinunter und erblickte Taichis Hand. Die gebräunten Finger strichen an meiner Seite auf und ab, bis sie sich fast schon zaghaft unter das T-Shirt schoben.
 

Ich zuckte zusammen, als seine warmen Fingerspitzen auf meine kalte Haut trafen, aber ich schüttelte ihn nicht ab. Er wirkte leicht verträumt, abwesend. Wahrscheinlich war er noch halb im Schlafen und realisierte gar nicht, was er hier tat. Nur aus diesem Grund, ließ ich ihn gewähren.
 

Und weil es einem winzigem, unbedeutendem Teil von mir gefiel, aber das wollte ich mir nicht eingestehen.
 

„Hier“, sagte ich mit belegter Stimme und drückte ihm eine Zahnbürste in die Hand. Er nahm sie entgegen und lächelte mich an.
 

„Danke.“ Er setzte sich auf die Toilette. Vollkommen weggetreten starrte er zu Boden und mit einen leisen Seufzen, nahm ich ihm die Bürste aus der Hand, hielt sie unter den kalten Wasserstrahl und schmierte Zahnpasta darauf. Als ich sie ihm wieder gab, blickte er auf mein T-Shirt.
 

Schweigend putzte er sich die Zähen und ich tat es ihm gleich. Ich hatte nicht wirklich Lust mit ihm zu reden und so kam es mir ganz gelegen, dass er es nicht von selbst heraus forderte. Zudem steckte mir die Paranoia von vorhin noch immer ein bisschen in den Knochen und ich hätte mich selbst dafür ohrfeigen können, als ich aus dem dunklen Fenster blickte.
 

Ich spuckte die zähe Masse aus und spülte mit klarem Wasser nach.
 

Als ich mir mit dem Handtuch über den Mund wischte, es zurück hängte und mich aufrichtete, bemerkte ich, dass Taichi hinter mir stand. Direkt hinter mir. Mein Herz überschlug sich vor Schreck und ich schnappte nach Luft.
 

Taichi starrte auf mein Spiegelbild.
 

Ich konnte die Wärme spüren, die er ausstrahlte und musste mich automatisch an die Situation im Schulflur erinnern. Eigenartigerweise war mir diesmal seine Nähe nicht so unangenehm wie damals.
 

„Du siehst besorgt aus“, sagte er mit tiefer Stimme, die mir einen heißen Schauer über den Rücken jagte. Sein Atem roch nach Minze.
 

„Bin ich aber nicht“, erwiderte ich trotzig.
 

Er zuckte mit den Schultern. Ich wandte mich ab. Taichi schien schon im Stehen zu schlafen und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er wäre betrunken. Jedenfalls ließen seine unkoordinierten Bewegungen darauf schließen.
 

Gerade wollte ich mir das T-Shirt ausziehen, als plötzlich Taichis Haare meinen Nacken kitzelten.
 

Sofort erstarrte ich zur Eissäule.
 

Seine warmen Hände lagen bestimmend auf meinen Hüften, sein Atem pustete gegen meinen Nacken. Ich konnte seine Nase an meinen Haaransatz spüren. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, meine Hände zitterten.
 

Verdammt, was tut er da?
 

Eine hohe Stimme in meinen Kopf sagte mir, dass ich mich augenblicklich von ihm losreißen und ihm eine Ohrfeige verpassen sollte, weil er so dreist war und mir so nahe kam. Aber die andere Stimme, die mir riet, diese absolut selten surreale und abstruse Situation zu genießen, war stärker.
 

Obwohl ich zitterte und mein Atem viel zu flach war, lehnte ich mich zaghaft an ihn. Für einen Moment dachte ich, dass er mich wegstoßen könnte, aber er tat es nicht. Er schlang die Arme um meinen Bauch und legte das Kinn auf meine Schulter. Sein heißer Körper drückte sich von hinten an mich. Ich konnte meinen eigenen Atem kaum noch wahrnehmen, jegliche Kontaktstellen unserer Körper schienen ein brennend heißes Feuerwerk in mir auszulösen. Mir war schwindlig, ich hatte das Gefühl über einem bodenlosen Abgrund ohne Sicherung zu stehen und war trotzdem glücklich.
 

Für einen kurzen Moment, hörte mein Herz durch die Wucht der Emotionen auf zu Schlagen.
 

„Du hast Angst“, stellte Taichi dann vollkommen zusammenhanglos fest und sah meinem Spiegelbild fest in die Augen. Es wandte konfus den Blick ab.
 

„Hab ich nicht.“
 

„Wieso zitterst du dann?“
 

„… mir ist kalt.“ Es klang lächerlich, aber etwas Besseres fiel mir nicht ein. Ich konnte spüren, wie sein Daumen mein T-Shirt hochschob und über die nackte Haut darunter strich. Stück für Stück weiter hinunter wanderte.
 

Stopp!
 

„Ich zeig dir wo du schlafen kannst!“, sagte ich fast schon panisch und löste mich eilig von ihm. Er hob fragend eine Augenbraue, aber ich ignorierte es.
 

Ich nahm seine Hand und zog ihn hinter mir her, schob sein Verhalten auf die Übermüdung und die definitiv vorhandene Trunkenheit. Unsere Schritte hallten auf dem billigen Parkettboden der Wohnung ungewöhnlich laut wider und als wir Takerus Tür passierten, glaubte ich, dass er jeden Moment daraus hervor stürzen würde. Doch Takeru blieb in seinem Zimmer, nicht einmal ein kleiner Lichtschimmer lugte unter dem Holz hervor.
 

Ein Raum weiter, war Dads Zimmer. Klein, spartanisch, von der Größe eines Wandschrankes. Ich dirigierte Taichi zu dem kleinen Bett und er setzte sich unbeholfen darauf, die Augen mehr geschlossen als auf, mehr schlafend als wach.
 

„Es ist nicht frisch bezogen“, sagte ich leise und deutete mit einem Kopfnicken auf die Laken, „Aber das sollte nicht so schlimm…“, ich stockte und sah verblüfft zu ihm hinunter. Taichi hatte sich unerwartet nach hinten auf die Matratze fallen lassen, sein Brustkorb hob sich ruhig und gleichmäßig.
 

Er war eingeschlafen.
 

… Idiot.
 

Vorsichtig schlich ich nach draußen und löschte überall das Licht. Den Gedanken daran, das Frühstück vorzubereiten, noch einmal in die Bücher zu schauen und ein bisschen für den morgigen Schultag zu lernen, verwarf ich augenblicklich. Dazu war ich momentan nicht mehr in der Lage.
 

Mein Herz klopfte noch immer und die Haut meines Nackens glühte zu sehr, als dass ich als normal beschreiben könnte.
 

Nachdem ich mich rasch umgezogen hatte, sah ich noch einmal in Takerus Zimmer vorbei. Es war stockdunkel, kein Laut drang heraus, nur das Rauschen der Blätter durch das geöffnete Fenster. Ich konnte ihn nicht sehen, aber es beruhigte mich, seinen leisen Atem zu hören und einfach nur zu wissen, dass er da war.
 

Bei mir war.
 

An Dads Türe stoppte ich. Meine Hand lag schon auf der kühlen Klinke, hatte das Metall halb hinunter gedrückt, als ich alle meine Sinne zur Ordnung zwang. Ich musste nicht nach Taichi sehen. Ich wollte nicht Taichi sehen. Es gab überhaupt keinen Grund nach ihm zu sehen.
 

Dennoch brauchten meine Finger außerordentliche lange, um sich vom Fleck zu lösen, wie als wären sie angeklebt worden, und ich verharrte einige Augenblicke regungslos vor der Schwelle. Unbewusst fuhr ich mit der Hand hoch zu meinem Nacken, strich über den Haaransatz und weiter hinunter.
 

Fühlte die Stelle, an der Taichis Atem noch immer auf mir zu brennen schien.
 


 

Part VI

END
 


 

Anfangs sollte das hier schon viel~ dramatischer werden. Mit Krach und Streit und danach ein bisschen Licht im Dunkeln. Aber dann entschied ich mich anders.

Zugeben, es ist vieles eindeutig zu unlogisch und bis auf den Teil aus Yamatos Sicht, gefällt es mir eigentlich überhaupt nicht.

Es gibt einfach zu viele Unstimmigkeiten und Takeru lief mir diesmal aus den Zügeln, er machte was er wollte – und ich bin nicht ganz sicher, ob mir das gefällt >_>' (ab ** beginnt das, was ich irgendwie nicht richtig kontrollieren konnte ._.)

Allerdings viel mir auch nach etlichem Kopfzertrümmern keine schöne Alternative ein. Also hab ich den fünften Versuch gelassen uu'

Und mir ist aufgefallen, dass die Situation nur halb so Gänsehaut-feeling-mäßig rüber gekommen ist, wie es eigentlich wollte. In meiner Vorstellung was viel schöner... Fazit: ich bin noch etwas unbeholfen, was das Beschreiben von Körperkontakt angeht >_<
 

Es gibt wirklich so unendlich viel, was mir an diesem Kapitel nicht gefallen hat - und natürlich auch etwas, das mir gefallen hat :D Ich hoffe, ihr seid ehrlich und sagt mir, was euch auch nicht gefallen hat. Dann kann ich so etwas in Zukunft vermeiden :)
 

Alles Liebe,

Nikolaus
 

PS: I need a Beta-Leser. Hat irgendjemand Lust? óo

And You Needed Someone (Taichi)

Special now: gebatet byTweetl
 

~ Taichis POV ~
 


 

Bummbumm. Bummbumm.
 

Mein Herz klopfte. Laut. Heftig. Ohrenbetäubend.
 

Es wunderte mich schon fast, dass weder Yamato noch Takeru es bemerkt hatten. Doch mich hinderte es auf alle Fälle daran, endlich ein zu schlafen. Alles um mich herum drehte sich, in meinem Magen kribbelte es so heftig, dass es fast schon wieder weh tat.
 

Glücklich. Verdammt glücklich.
 

Das war wahrscheinlich das, was meine momentane Stimmung am besten beschrieb. Selbst mit dem Herzklopfen und den wortwörtlichen Schmetterlingen im Bauch. Nie hätte ich gedacht, Yamato jemals so nahe zu kommen und dann… die Situation im Bad kam mir immer noch leicht surreal vor. Ich konnte seine kühle Haut unter meinen Fingern fühlen, sein pochendes Herz hören. Seinen bebenden Körper in meinen Armen. Den zarten Duft seines Shampoos, seinen Geruch und das alles so intensiv, wie als würde er direkt vor mir stehen.
 

Ich seufzte und drehte mich auf die andere Seite.
 

Das Bett roch nach frittiertem und nach etwas stechend salzigem, dessen genaue Definierung ich lieber gar nicht wissen wollte. Der Drang aufzustehen und zu Yamato zu gehen, überkam mich. Ich könnte ihm einfach sagen, dass ich es in diesem Gestank nicht mehr ausgehalten hatte und ich nicht auf dem Sofa schlafen wollte.
 

Ob ich dann bei ihm schlafen dürfte?
 

… wahrscheinlich nicht. Als meine Finger tiefer geglitten waren, hatte Yamato sich sofort von mir gelöst und war praktisch davon gerannt. Ihm ging das wohl etwas zu schnell, doch meine Geduld war schon zu lange auf eine harte Probe gestellt. Normalerweise nahm ich mir einfach das, was ich haben wollte. Egal wo und wann. Dass er mich so zappeln ließ, machte mich… nervös, hippelig, angespannt. Dazu noch Takerus Ausraster heute Abend…
 

Wieder drehte ich mich herum.
 

Von draußen tönten Schreie herein und das laute Bellen eines Hundes. Ich riskierte einen Blick aus dem Fenster und sah, dass die Dunkelheit schon nicht mehr so dunkel war, wie bei meiner Ankunft. Die Uhr musste schon die frühen Morgenstunden anzeigen. Es wäre besser für mich, wenn ich jetzt schliefe, aber ich war so unruhig, dass ich nicht einmal die Augen schließen konnte. Immer wieder sah ich das Bild eines schüchternen Yamatos in meinen Armen vor mir. Spürte, wie er sich leicht an mich lehnte.
 

Mir wurde unglaublich warm, die Hitze kroch langsam südwärts.
 

Hastig drehte ich mich um und schmiss die übel-riechende Decke von mir. Zwar wurde es nicht besser, aber der Geschmack von Pommes in meinem Mund, ließ mich abschweifen. Jetzt konnte ich wieder den bohrenden Hunger in meinem Magen spüren und bereute es sofort, Takeru mein Essen zugeschoben zu haben. Seit wann war ich denn auch noch so großzügig?
 

Mist aber auch…
 


 

Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein. Denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war das Zimmer hell beleuchtet und von irgendwo her drang leise Musik. Benommen drehte ich mich auf den Rücken und starrte an die weiße Decke. Ich hörte, wie jemand etwas sagte. Das Geklapper von Geschirr und das Fließen von Wasser.
 

Mühsam richtete ich mich auf und rieb mir über die Augen. Die Müdigkeit verschwand nicht und als ich an meinem T-Shirt roch, musste ich zu meinem Verdruss feststellen, dass ich mittlerweile ebenfalls wie frittiert roch.
 

„Morgen, Tai!“
 

Erschrocken zuckte ich zusammen. Diese laute Stimme am frühen Morgen tat mir nicht gut. Begleitet von einem leisen Krachen meiner steifen Knochen wandte ich mich an Takeru, der grinsend vorm Bett stand und mir eine Tasse entgegen streckte. Dankend nahm ich sie entgegen und roch an dem starken Gebräu. Kaffee, genau das, was ich jetzt brauchte.
 

„Tut mir leid, dass ich gestern so unfreundlich war“, redete Takeru weiter und setzte sich neben mich. „Ich war einfach etwas überanstrengt. Da ist es mit mir durchgegangen.“
 

Ich grinste.
 

Genau das hatte ich Yamato in der Nacht auch erzählt und genauso wie Yamato mir kein Wort geglaubt hatte, glaubte ich nun Takeru nicht. Dennoch äußerte ich mich nicht dazu, schließlich wusste ich, wieso er so ausgeflippt war.
 

„Kein Problem.“ Ich strich mir durch das Haar, welches sich unangenehm fettig anfühlte. Also hatte das Bett nicht nur nach Pommes gerochen. „Kann ich kurz duschen?“
 

„Klar“, antwortete er, erhob sich und ging aus dem Zimmer. Ich folgte ihm. „Du kannst von mir was Anderes zum Anziehen bekommen, einverstanden?“
 

„Ja.“
 

„Gut. Ich leg’s dir hin.“
 

Und mit diesen Worten war er in seinem Zimmer verschwunden.
 

Ich öffnete die Türe zum Bad und erblickte Yamato, der vor dem Waschbecken stand und sich die Zähne putzte. Sein kurzes, blondes Haar hatte er zu einem süßen Pferdeschwanz zusammen gebunden und einzelne Strähnen fielen ihm keck ins Gesicht. Als er mich sah, fiel ihm fast die Zahnbürste aus dem Mund.
 

„Guten Morgen Yamato“, sagte ich grinsend und begutachtete ihn von oben bis unten. Er trug ein weites, hellblaues Shirt mit dem schwarz-weißen Bildnis eines Sonnenuntergans auf der Vorderseite. Seine sehr langen und schlanken Beine wurden nur von einer kurzen, schwarzen Boxershorts verhüllt.
 

Sexy.
 

Yamato errötete stark unter meinem Blick und senkte den Kopf, erwiderte allerdings nichts.
 

Takeru kam dazu und drückte mir ein paar Sachen in die Hand. Mir fiel auf, wie klein das Badezimmer war, was ich gestern überhaupt nicht bemerkt hatte. Doch Takeru verschwand auch schon wieder und ließ mich mit Yamato alleine zurück. Yamato stand unschlüssig da, die blauen Augen auf mein Spiegelbild gerichtet.
 

Ich lächelte.
 

Das schien ausschlaggebend zu sein, leider in die falsche Richtung. Er drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Bad. Bedrückt sah ich ihm hinterher. Falls er sich noch an heute Nacht erinnern konnte, stieß es bei ihm nicht auf Wohlwollen.
 

Ich zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Das heiße Wasser tat gut, es entspannte meine angespannten Muskeln und nach einer Weile konnte ich meine Finger wieder bewegen, ohne, dass sie knackten. Das Gefühl, von oben bis unten mit klebrigem Zucker eingehüllt zu sein, verschwand auch und nachdem ich mir das Shampoo aus den Haaren gewaschen hatte, konnte ich mir sicher sein, nicht wie eine Tüte Pommes zu riechen. Als ich mir die Haare abtrocknete, stieg mir ein vertrauter Geruch in die Nase. In meinem Magen begann es wieder zu kribbeln, fahrig griff ich nach einer Haarsträhne und zwirbelte sie zwischen den Fingern.

Meine Haare dufteten nun genauso wie Yamatos.
 

Grinsend zog ich mich an und schlenderte gelassen in die Küche. Yamato stand vor der Spüle, hatte das tolle Outfit leider gegen eine Jeans und einen weiten Pullover gewechselt. Takeru saß am Tisch und aß ein Toast, welches sicherlich nicht sein erstes war. Bei meinem Anblick lächelte er und deutete auf den Platz vor sich. Kurz sah ich zu Yamato, aber der schien mich gänzlich zu ignorieren.
 

Leise seufzend ließ ich mich auf den Stuhl fallen. Takeru hob fragend eine Augenbraue, aber ich verspürte keine große Lust, mit ihm darüber zu reden.
 

„Hier.“
 

Verwirrt und überrascht zugleich, sah ich auf. Eine Scheibe Toast hing direkt vor mir in der Luft und erst als ich darüber spähte, konnte ich Yamato dahinter erblicken. Er starrte an mir vorbei.
 

„Danke.“
 

Kurz betrachtete ich noch seine schlanken Finger, dann nahm ich es entgegen. Takeru räusperte sich vor mir vernehmlich und hob erneut die Augenbraue. Seine Neugier war ihm an der Stirn abzulesen. Als ich ihm nicht antworten wollte, wandte er sich an seinen Bruder.
 

„Ist alles okay, Yama?“
 

„Was sollte nicht stimmen?“, fragte Yamato tonlos und stellte seinen Teller neben das Spülbecken.
 

„Ihr benehmt euch so eigenartig.“
 

Er sagte das ganz so, als ob erwarten würde, dass sein Bruder ihm gleich ein schreckliches Geständnis machen würde. Dachte er etwa, ich hätte Yamato flachgelegt, während er geschlafen hatte?
 

Ich konnte nicht anders, als zu lachen.
 

„Es ist nichts passiert“, versicherte ich ihm grinsend und biss von meinem Toast ab.
 

„Was sollte schon passiert sein?“, half Yamato mir weiter, sein trockener Tonfall verlieh der Situation etwas ungemein Groteskes. Takeru errötete bis unter die Haarspitzen und nuschelte etwas, was sich anhörte wie: „Alles mögliche.“
 

Verstimmt beobachtete er, wie ich mich vor Lachen schüttelte, und aß, wahrscheinlich als kleiner Racheakt für diese Bloßstellung, mein Frühstück. Es störte mich nicht sonderlich, mein Blick haftete schon wieder an Yamatos Rückansicht. Er war damit beschäftigt, dass restliche Geschirr abzuwaschen und wartete geduldig, bis Takeru fertig gegessen hatte und er sich seinen Teller holen konnte. Ich war mir sicher, dass er sich meiner Blicke bewusst war, dennoch sagte er nichts.
 

Als Takeru sich erhob und betont langsam aus dem Zimmer schlenderte, waren wir alleine.
 

Sofort breitete sich ein unangenehmes Schweigen zwischen uns aus. Yamato trocknete die Gläser mit solch einer Hingabe ab, dass sie sich bald in seinen Händen auflösen mussten. Und ich knibbelte an der rot karierten Tischdecke herum, bis die einzelnen Fasern zwischen meinen Fingern hindurch glitten.
 

Sollte ich ihn auf gestern ansprechen?
 

Nein, lieber nicht.
 

„Wenn du willst, nehme ich dich heute mit“, bot ich ihm stattdessen an und bemerkte erleichtert, dass er sich anscheinend nicht dazu entschlossen hatte, mich gänzlich zu ignorieren. Er drehte sich zu mir um und sah mich fragend an. „In die Schule. Dann… dann musst du nicht laufen.“
 

„Eigentlich hab ich nichts dagegen zu laufen“, erwiderte er monoton. Mir wurde sofort klar, dass ich ihn erst gar nicht hätte fragen müssen. Natürlich wollte er nicht, dass ich ihm wieder nahe kam, nach der Aktion von heute Nacht. Schließlich hatte ich ihn buchstäblich überfallen, wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass ich mehr wollte, als ein bisschen Sex.
 

Oder hat es ihm gerade diese Aktion deutlich gemacht? Hatte ich mich selbst verraten?
 

„… aber wenn es dir nichts ausmacht. Gern.“
 

Was?!
 

„Oh… oh ja… ja klar! Cool“, erwiderte ich zerstreut und starrte auf die roten Fasern zwischen meinen Fingern, in dem Bewusstsein, dass mein Kopf gerade rot anlief und leuchtete wie eine Ampel. „Echt cool...“ In meinem Innern tobte es, mein Herz pochte unglaublich laut. Wahrscheinlich bemerkte ich deshalb nicht, dass er sich vor mich setzte. Doch als ich auf sah, saß er vor mir. Die blauen Augen direkt auf mich gerichtet.
 

Hastig wandte Yamato den Blick ab und sah auf seine Finger.
 

„Wegen gestern…“, fing er leise an. „Ich…“
 

„Nicht so wichtig“, unterbrach ich ihn hastig, hatte Angst vor seiner Reaktion. Was, wenn er mich gleich dafür zur Rechenschaft zog und mir klar machte, dass ich ihn nie wieder anfassen dürfte? Takeru meinte, dass dies wohl eine hohe Steigerung wäre, aber nun war ich dabei, wieder ganz nach unten zu rutschen. „Du… ich war so müde. Das kommt nicht mehr vor.“
 

Er nickte stumm.
 

Kurz verspürte ich den Drang, seine schmale Hand in die Meine zu nehmen und ihm das Gegenteil von dem zu beweisen, was ich gerade gesagt hatte. Aber ich konnte nicht so mit der Tür ins Haus fallen. Ich durfte es nicht. Yamato würde es sicherlich missverstehen und mich als… notgeilen Irren abstempeln. Bei Takeru hätte ich es getan, aber nicht bei ihm. Natürlich, das ewige Hinhalten machte mich nervös, aber er war es Wert.
 

Oder?
 


 

Auf der Hinfahrt hatte es unablässig geschüttet. Das Wetter um diese Jahreszeit war schrecklich und es half nicht zur Besserung meiner Laune bei. Auch nicht das all morgendliche Zusammentreffen mit dem netten Hausmeister oder die Gegenwart meiner Freunde. Möglicherweise lag es daran, dass Yamato schon kurz nach unserer Ankunft verschwunden war. Mit einem leisen „Dankschön“ war er davon gegangen, hatte mich und Takeru im Regen stehen gelassen.
 

Nur zu gerne hätte ich ihn meinen Freunden vorgeführt, egal ob es nun meinem Ruf schadete oder nicht. Schließlich war unser erstes Gespräch, ganz hingegen meiner Erwartungen, sehr glimpflich verlaufen und gestern war ich ihm so nahe gewesen! Ich hatte noch immer seinen unverwechselbaren Duft in der Nase, konnte seine weiche Haut unter meinen Fingern fühlen. Ob es abnormal war, dass ich mich jetzt noch so genau daran erinnern konnte? Oder hing das damit zusammen, dass ich mich wirklich verliebt hatte?
 

„Hey, Tai, alles klar?“
 

„Äh... was?“
 

Irritiert sah ich Shusuke an, der mit einer Hand vor meinem Gesicht herum wedelte und mich anstarrte. Neben ihm standen Fu, Toshi, Yuri und Takeru. Takeru schien sich sichtlich nicht daran zu stören, dass Yamato nicht mehr bei uns war. Zu seinem Verschwinden hatte er sich nicht geäußert und als ich ihn darauf ansprach, meinte er nur, dass das eben Yamatos Art sei. Kühl, verschlossen, jeden aus seinem Leben fernhaltend.
 

„Mann, ey“, meinte Shusuke kopfschüttelnd. „Hast du dich verknallt oder warum bist du in letzter Zeit so abwesend?“
 

Er hatte keine Ahnung, wie nah er der Wahrheit doch war. Aber Shusuke gehörte nicht zu den Leuten, mit denen ich über so etwas reden würde. Er konnte sich seine eigene Sexualität nicht eingestehen und war ein richtiger Schläger, wenn etwas nicht nach seinem Willen verlief. Er schikanierte jüngere Schüler und Yuri half ihm auch noch dabei.
 

Und sie beide schlugen Yamato.
 

Anhand von Takerus Frage, wusste ich, dass der von mir verhinderte Versuch nicht der Einzige war. Und die anderen Male waren sicherlich keine Versuche gewesen, wenn Yamato blaue Flecken davon trug. Zwar scherte es mich sonst nicht, schließlich war es ihre Sache, was sie machten, aber dieses Mal ließ blindes Unverständnis in mir hoch steigen. Geziert mit einem Hauch von Wut.
 

„Red' keinen Mist!“, fauchte ich ihn an und schlug seine Hand weg. Verwirrt sah Shusuke mich an, auch die anderen schienen meine Reaktion nicht zu verstehen. Aber das konnte ich ja auch nicht von ihnen erwarten, sie konnten ja keine Gedanken lesen. Dennoch wollte ich mich jetzt nicht mit ihnen abgeben, es würde sicherlich eskalieren. Ich war ein impulsiver Mensch und geriet leicht außer Kontrolle.
 

Ich wollte keinen Streit heraufbeschwören.
 

„Ich… muss weg“, sagte ich deshalb und ignorierte ihre Blicke. Takeru und Shusuke, wie nicht anders zu erwarten, gaben sich damit allerdings nicht zufrieden. Als ich mich umdrehte und den Gang hinunter ging, folgten sie mir. Lästig, wie ein zweiter Schatten.
 

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie unablässig auf mich einredeten und wissen wollten, was mit mir los war, spielte Shusuke die ganze Zeit mit seinem Ball und Takerus Grinsen konnte ich nicht mehr ertragen. Ich mochte beide, wirklich. Shusuke kannte ich schon seit Ewigkeiten und Takeru gehörte zu den nettesten Menschen, die mir begegnet waren. Aber jede Nettigkeit wurde irgendwann einmal nervig!
 

„Es ist wirklich nichts!“, zischte ich sauer und blieb stehen. Die beiden hielten ebenfalls an, sahen mich fragend an. Ich konnte ihre Neugierde spüren, ihren Drang, mir den Grund für mein Verhalten aus der Nase zu ziehen. Am liebsten würde ich ihnen gar nichts sagen, aber dann würden sie nie Ruhe geben. Normalerweise war ich nett, geduldig, höflich und äußerst harmlos.
 

Doch der Gedanke, dass Shusuke und Yuri regelmäßig Yamato… schlugen, war einfach unglaublich. Wieso konnten sie sich nicht ein anderes Opfer suchen? Und wieso sagte Yamato nichts?
 

„So sieht es aber nicht aus“, sagte Shusuke neunmalklug.
 

„Hm“, machte Takeru kleinlaut.
 

„Hört zu, ich hab einfach… zu wenig geschlafen, okay?“ Ich war nicht gut im Lügen, doch ich hoffte, dass sie mir glauben würden. „Ich geh jetzt zu Nakata, schlafe ein bisschen und dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Bis nachher.“
 

Ohne ihre Antwort abzuwarten drehte ich mich um und ging davon. Ich war ehrlich überrascht, dass sie mir nicht folgten. Doch der Unterricht würde bald beginnen und Shusuke ging in eine andere Klasse, Takeru war eine Jahrgangsstufe unter mir. Das laute Klingeln der Glocke erfüllte die Gänge und die Schüler rannten in ihre Klassen. Auf halbem Weg zu meinem, traf ich auf Toshi und Fu. Sie wollten glücklicherweise nicht erfahren, weshalb ich so unfreundlich gewesen war.
 

Der falsche Vorsatz, im Japanischunterricht zu schlafen, wurde in die Tat umgesetzt. Frau Nakata beherrschte es wirklich nicht, eine interessante Stunde zu gestalten. Nachdem Fu und Toshi neben mir schon ins Reich der Träume abgedriftet waren, konnte auch ich mich nicht mehr dagegen wehren. Die Müdigkeit überkam mich und obwohl ich wusste, dass nun der übliche Dämmerzustand einsetzen und die Illusion der Schlaflosigkeit danach nur noch verschlimmern würde, stütze ich den Kopf auf die Arme und schloss die Augen.
 

Frau Nakatas Stimme summte angenehm im Hintergrund und der Regen prasselte gleichmäßig gegen die Fenster. Fus warmer Atem blies gegen meinen Ellenbogen und eine Gänsehaut fuhr über meinen Körper. Es war einfach schrecklich, dass es um diese Jahreszeit selbst in den Klassenzimmern so kühl war. Da stand man ja lieber draußen im Regen und ließ sich von den Wassermassen erwärmen, als in diesem Eisschrank, in dem noch nicht einmal Unterhaltung geboten wurde.
 

Seufzend rieb ich mit der Nase an meinem Unterarm und pustete provokant dagegen. Ob Yamato es gestern gemerkt hatte, dass ich gegen seinen Hals gepustet hatte, um seine Reaktion zu sehen? Wahrscheinlich nicht. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er angenommen hätte, ich wäre wirklich so schlaftrunken und damit unzurechnungsfähig gewesen. Mit meiner Aussage am Morgen hatte ich diesen Eindruck leider auch nicht widerlegt.
 

Vielleicht sollte ich das noch tun? In der Pause zu ihm gehen und ihm sagen, dass ich ihn noch viel, viel, viel öfter anfassen möchte? Dass ich ihn will?
 

Natürlich.
 

Vermutlich würde er mich als verrückt abstempeln und danach jedes Mal vor mir flüchten. Ich hatte mir doch schon vorgenommen, ihn nicht zu überrumpeln, wieso konnte ich mich nicht daran halten? Wieso erschien mir der Gedanke so abwegig, noch so lange abzuwarten, bis Yamato es von selbst bemerkte und selbst wollte?
 

Vielleicht wird er es nie bemerken.
 

Konnte das wirklich passieren…?
 

„… Tai.“
 

Ein leichtes Stupsen am Ellenbogen holte mich aus meinen flüchtigen Gedanken zurück. Träge öffnete ich ein Auge und sah zu Fu, der sich aufgerichtet hatte und zu mir hinunter sah. Ich verspürte nicht die geringste Lust, mich jetzt mit ihm zu unterhalten, aber anscheinend bestand er darauf. Also gut. Was man nicht alles für seine Freunde tat.
 

„Hm?“, murrte ich.
 

„Sag mal… zwischen dir und dem Ishida. Läuft da was?“, fragte Fu leise, damit Frau Nakata es nicht bemerkte. Falls sie überhaupt irgendetwas bemerkte, außer der bloßen Präsenz der Schüler und dem Klang ihrer eigenen Stimme. Denn im Gegensatz zu den anderen Lehrern, störte es sie nicht, wenn man schlief. Sie sah es nicht. Sie las stur aus ihrem Buch vor und blickte kein Einziges Mal auf. Selbst dann nicht, wenn sie eine Arbeit schrieben. Natürlich war das nützlich, aber mit der Zeit, wurde es einfach nur noch lästig.
 

Fus Frage hingegen überraschte mich doch etwas. Meiner Meinung nach, hatte ich nie irgendwelche Andeutungen gemacht, dass ich Takeru mehr als einen Freund mochte. Klar, Fu wusste bescheid, dass meine Vorlieben nicht beim weiblichen Geschlecht lagen, aber dass er mich mit Takeru in Verbindung brachte, war mir dann doch ein Rätsel.
 

„Nein“, antwortete ich. „Wie kommst du darauf? Solche wie Takeru sind eigentlich nicht mein Typ.“
 

Fu grinste gutmütig.
 

„Nein, du Idiot. Ich meine nicht, TK. Ich meine den Anderen. Seinen Bruder.“
 

„Yamato?“, fragte ich überrascht und setzte ich mich auf. Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. „Was… wie kommst du denn darauf?“
 

Wieder dieses Grinsen.
 

„Tai, ich bin nicht blind“, sagte er lächelnd und stützte den Kopf auf der Handfläche ab. „Du läufst ihm hinterher – und hey, du bist noch nie jemanden hinterher gelaufen! Also wenn das nicht eindeutig ist.“
 

Ich sagte nichts dazu, schließlich hatte er ja recht. Irgendwie. Normalerweise liefen sie mir hinterher und nicht umgekehrt. Obwohl ich es noch nie von diesem Standpunkt aus gesehen hatte, war es nur allzu offensichtlich, jedenfalls für Leute, die mich schon etwas länger kannten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich es selbst noch nicht einmal fertig gebracht hatte, es Yamato zu gestehen, konnte ich nur hoffen, dass nicht noch mehr Leute auf den gleichen Schluss wie Fu kamen. Ich hatte keine Lust darauf, dass Yamato von jemand anderem über meine Gefühle erfuhr.
 

Missmutig verzog ich den Mund.
 

Als das Schweigen anhielt und Fu nichts weiter sagte, hob ich den Blick und sah zu ihm hinüber. Fu starrte mich fassungslos an und klappte den Mund auf und zu, auf und zu. Wie ein Karpfen, der im Trockenen lag und verzweifelt nach Luft rang.
 

„Alles okay, Fu?“
 

„… ja“, erwiderte er heiser und schluckte. „Aber ich dachte nicht… hey, krass. Du hast dich verknallt.“ Er stockte und rieb die Hände aneinander.
 

„Was ist daran so besonders?“, fragte ich argwöhnisch.
 

„Na ja, ich hätte nur nicht gedacht, dass du dich verlieben kannst, weißt du. Normalerweise hast du hier eine Freundin, dann wieder da ´nen Freund und innerhalb der nächsten Woche sind schon wieder fünf mehr auf deiner Verflossenenliste. Ich dachte schon, du bist irgendwie krank oder so, weil die Liste so lange leer blieb, aber jetzt… wieso Ishida? Ich meine… sieh ihn dir an.“
 

„Genau.“
 

„Hä?“ Verwirrt hob Fu die Augenbrauen.
 

„Sieh ihn dir an und dann weißt du, weshalb ich auf ihn stehe“, sagte ich, etwas schärfer, als beabsichtigt. Doch wie er über Yamato gesprochen hatte, war mir unangenehm gewesen. Wie als ob Yamato eine große Spinne wäre, an die sich niemand näher als ein paar Meter heran traut. Dabei war Yamato genau das Gegenteil! Ich wusste nicht, wieso er nicht zu Top Five unserer Schule gehört; mit den Augen, den Haaren, dieser Stimme.
 

Was war an ihm so anders, als an mir?
 

„Ja, schon klar“, räumte Fu nach einigen Augenblicken ein. „Er ist schon… hübsch.“
 

„Sehr hübsch.“
 

„Ja, sehr hübsch. Aber er ist nun mal… anders. Ein Außenseiter. Ein Freak.“
 

„Yamato ist kein Freak!“
 

Fu schüttelte den Kopf.
 

Ich kam mir so furchtbar unterbelichtet vor. Wie ein kleiner, dreijähriger Junge, der nicht begreifen wollte, dass Eins und Eins Zwei ergab. Was wollte er mir denn erklären? Sonst war er doch immer so gesprächig und rückte sofort mit seinem Anliegen heraus, wieso musste er es denn jetzt so umständlich machen? Seufzend fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar und sah ihn fordernd an.
 

Fu holte tief Luft.
 

„Tai, Takeru ist toll und Ishida ist vielleicht ganz hübsch, aber es gibt einfach Dinge die passen nicht zusammen. Er lebt in einer ganz anderen Welt und im Gegensatz zu Takeru redet er nicht gerne, ist nicht freundlich, kann nicht Fußball spielen und scheint dich auch nicht sonderlich zu mögen. Ich will dir ja nicht die Hoffnung zerstören, aber… Ishida ist nicht so wie wir.“ Er zuckte bedauernd mit den Achseln. „Was tust du, wenn er dich nicht will?“
 

„Das wird er nicht tun!“ erwiderte ich heftig. „Ich weiß, dass er mich mag, Fu. Außerdem kannst du das doch gar nicht beurteilen! Du weißt gar nicht, wie Yamato ist.“
 

„Tai, ich…“
 

Der Rest seines Einwandes wurde von dem lauten Klingeln der Glocke übertönt. Stühle rückten, Papiere raschelten, das Stimmengewirr erhob sich in der Klasse. Frau Nakata ordnete ihre Papiere auf dem Schreibtisch und die Schüler strömten hinaus. Ich stopfte meine Sachen in meine Tasche und rannte auf den Gang hinaus. Ich wollte jetzt weder Fu noch Toshi sehen, geschweige denn mit ihnen reden.
 

Mit eiligen Schritten rannte ich den Gang entlang und flüchtete praktisch in den Chemiesaal. Fast hoffte ich schon, Yamato über den Weg zu laufen, um sein schüchternes Lächeln zu sehen und mich danach wenigstens etwas besser zu fühlen. Aber ich verwarf den Gedanken und mein blonder Engel blieb auch fern. Meilenweit entfernt, wie es mir vor kam.
 

Ausnahmsweise setzte ich mich nicht neben Toshi, sondern nach vorne zu Fugaku, dem schwarzhaarigen Egomanen, der so gerne den Besserwisser spielte. Es ging schleppend voran und meine Laune sank dank Fugaku auf den Gefrierpunkt. Nie hätte ich gedacht, dass meine Laune vor Dads jährlichem Familienstreit je so schlecht werden würde. Aber heute… ich wünschte mir nichts mehr, als einfach wieder auf Yamato zu treffen. Allerdings traf ich ihn bis zu Pause nicht an.

Auf dem Weg zur Cafeteria hörte ich dann seine Stimme.
 

Leise, tonlos. Kalt.
 

Die nächsten beiden Stimmen ließen mir das Blut in den Adern gefrieren.
 

„.. lass den Mist, Prinzessin.“
 

„Oder willst du, dass wir noch deutlicher werden müssen?“
 

„Antworte!“
 

„… nein.“
 

Ich bog um die nächste Ecke und fand mich in einem leeren Gang wieder. Hinter einer Reihe von Spinten, direkt neben der Besenkammer des Hausmeisters, standen sie. Yuri, die wasserstoffblonden Haare heute grün gefärbt. Shusuke, die dunklen Augen kalt und herablassend. Beide lächelten hämisch. Und Yamato. Die Tasche an die Brust gepresst, die blauen Augen ausdruckslos nach vorne gerichtet. Ihm war klar, was ihn erwartete und es schien ihn nicht zu ängstigen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er momentan überhaupt irgendetwas empfand. Sein Gesicht war eine Maske und seine Augen wirkten stumpf. Wie als ob es nichts gäbe, was ihn noch überraschen könnte. Kein Schmerz, der ihm zusetzen könnte. Kein Shusuke, kein Yuri.
 

Niemand außer ihm.
 

Mit Schrecken bemerkte ich, dass Yamatos Haltung leicht gekrümmt war. Die Kratzer in seinem Gesicht. Das dünne Blutrinnsal an seinem Mundwinkel. Übelkeit stieg in mir hoch. Sie hatten schon eindeutige Schläge ausgeteilt. Ich sah das aufgeschlagene Buch auf dem Boden liegen. Den zerknüllten Zettel.
 

Plötzlich kam mir das Grinsen der beiden viel schrecklicher vor. Die Situation war abnormal grotesk. Yamato gab ein scheußliches Bild ab, das dunkelrote Blut auf seiner schneeweißen Haut…
 

Shusuke machte einen Schritt nach vorne. Das schwarze Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht, die Knöchel seiner Faust knackten. Yamato zuckte kaum sichtbar zusammen, aber ich konnte es dennoch sehen. Ich wollte zu ihm rennen, ihm vor diesen beiden Idioten beschützen, aber meine Beine wollten sich nicht bewegen.

Shusuke ging auf ihn zu, die Faust erhoben. Die blauen Augen weiteten sich, als sie ihren Gegner erblickten und fixierten ihn fast schon panisch. Sie waren nur noch ein paar Schritte von einander getrennt.
 

Drei, zwei. Einer.
 

Yamato schloss die Lider und sein Gesicht wurde wieder starr. Shusuke ließ ein frustriertes Schnauben hören. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine kleine Zornesfalte. Hinter ihm kicherte Yuri auf diese dämliche, mädchenhafte Art.
 

Dann schlug er zu.
 

Yamato!
 

Ich hörte das leise Wimmern und sah wie Yamato zu Boden stürzte. Die Tasche fiel ihm aus den Händen und ihr Inhalt rutschte heraus. Bücher, Hefte, lose Blätter. Shusuke machte ein selbstgefälliges Gesicht. Ihm hatte es gefallen. Für ihn war es ein gutes Gefühl gewesen, Yamato zu schlagen.
 

Ein. Gutes. Gefühl!
 

„Ihr scheiß Idioten!“
 

Erschrocken wirbelten Yuri und Shusuke herum. Sie starrten mich ungläubig an, schienen nicht zu begreifen, weshalb ich so aufgebracht war. Aber es war mir egal. Ich wollte sehen, wie sie sich vor Schmerz am Boden wanden und um Gnade flehten. Ihre Schandtaten Yamato gegenüber bereuten und einsahen, was für absolut hirnlose Idioten sie gewesen waren. Das es ihnen nicht zustand, so etwas zu tun. Ihnen, die selbst zu dumm waren, um sich ihre eigene Homosexualität einzugestehen.
 

Es war surreal und ich begriff es zuerst nicht wirklich. Dann hörte ich das schmerzerfüllte Keuchen von Shusuke und Yuris Wimmern. Sah meine Faust, spürte die pochenden Knöchel. Kurz wanderte mein Blick hinüber zu ihnen, verweilte allerdings nicht lange.
 

Ich stürzte hinüber zu Yamato und ließ mich vor ihm auf die Knie fallen. Verwundert blickten die blauen Augen zu mir hinauf und ich war mir sicher, dass er mich nicht erkannte. Einen Moment fixierten sie mich, dann weiteten sie sich erschrocken.
 

„Was… was machst du denn hier?“, fragte er mit leiser Stimme, wischte sich fahrig mit dem Ärmel über die Mundwinkel und tupfte sich über die Stirn. Ich fischte ein Taschentuch aus meiner Jacke und übernahm den Rest. Yamato zuckte bei der Berührung zusammen, wehrte sich allerdings nicht dagegen. Er senkte betreten den Blick, wie als hätte er etwas Schlimmes getan.
 

„Geht’s dir gut?“, fragte ich besorgt.
 

Er nickte.
 

„Sie… ich hätte früher kommen müssen.“
 

„O nein, nein“, sagte Yamato beiläufig und schenkte mir sein schüchternes Lächeln. „Es war nett von dir, überhaupt zu helfen.“
 

„Nett?“, wiederholte ich erhitzt. „Yamato, sie haben dich zusammen geschlagen. Das war kein Zeichen von Freundlichkeit – so etwas macht man, aus Hilfe, aus Freundschaft, aus…“ Ich konnte mich gerade noch daran hindern Liebe zu sagen, schluckte diese Silbe herunter und verlor kurz den Faden. „… s-so etwas tut man einfach! Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?“
 

Wieder nickte er, fügte jedoch ein leises „Danke“ hinzu.
 

Der Drang überkam mich und ich konnte es nicht verhindern.
 

Ich schlang die Arme um seinen zierlichen Körper und presste ihn an mich. Wieder zuckte er zusammen, seine langen Finger krallten sich in meine Jacke. Er versuchte mich von sich zu drücken, ich spürte es, aber ich gab nicht nach.
 

Nicht jetzt.
 

Mein Herz klopfte noch immer und meine Augen brannten. Ich hatte wirklich Angst um ihn. Wegen einer dummen Schlägerei von zwei Jungen, die wahrscheinlich noch nicht einmal wussten, wie man das Wort buchstabierte. Wegen Yamato, weil er sich nicht gewehrt, nie jemanden zu Hilfe geholt hatte und es dann nicht einmal als selbstverständlich ansah, wenn man ihm half.
 

Er zitterte, aber nach einer Weile merkte ich, dass ich es in Wirklichkeit war, der zitterte. Yamato lag vollkommen regungslos in meinen Armen, den Kopf an meine Schulter gelehnt. Sein warmer Atem strich an meinem Hals entlang, über das Schlüsselbein. Ich erschauderte, eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Es war unglaublich. Unglaublich ihn zu umarmen, ohne dass ich mich dafür als übermüdet oder unzurechnungsfähig ausgeben musste oder das er sich wehrte.

Mittlerweile hatte ich nicht mehr den Eindruck, dass er mich nicht mochte.
 

„Ich… ich bring dich um deine ganze Mittagspause“, brach Yamato leise das Schweigen und löste sich sanft von mir. Ich wollte ihn sofort wieder zu mir ziehen, aber als in seine Augen sah, ließ ich es. Er meinte es ernst. Vollkommen ernst.
 

„Das ist doch egal“, sagte ich.
 

Yamato wirkte verdutzt.
 

„Aber…“, er stockte. „Wieso bist du überhaupt hier? Wieso hast du mir geholfen?“
 

„Was >wieso<?“
 

„Na, was hat es dir gebracht?“, fragte Yamato.
 

„Was sollte es mir schon bringen?“, erwiderte ich und lachte. „Ich hab das doch nicht getan, weil ich daraus Profit schöpfen konnte. Ich hab’s gemacht, weil ich wollte.“
 

Meine Aussage schien ihn zu verwirren. Aus großen Augen sah er mich an, dann wandte er hastig den Blick ab und sah auf seine Hände. Wie damals im Auto. Ich wusste nicht, was in seinem Kopf vorging, aber ich konnte mir vorstellen, dass er eine Erklärung dafür suchte. Was war denn daran so schwer zu verstehen? Hatte ihm etwa noch nie jemand geholfen, ohne eigenen Nutzen darin zu sehen?
 

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Takeru so etwas tat.
 

„… danke“, sagte Yamato dann noch einmal. Seine Stimme zitterte leicht. Wie als wäre ihm das ebenfalls bewusst geworden, räusperte er sich und setzte sich gerade hin. „Aber du… musst nicht hier bleiben. Das Zeug einsammeln kann ich auch alleine.“
 

„Ich würde dir aber gerne dabei helfen“, sagte ich lächelnd. Er sah auf und… wow, wer hätte gedacht, dass Yamato so bezaubernd lächeln konnte? Mir wurde etwas schummrig im Kopf und mir war bewusst, dass ich ihn gerade absolut dämlich anstarrte. Hoffentlich war es für ihn nicht auch so offensichtlich.
 

Yamato begann zu lachen.
 

Also doch.
 

Zusammen begannen wir seine Hefte einzusammeln und er packte alles in seine Tasche. Als wir uns aufrichteten, waren seine Wangen vom Lachen leicht gerötet. Wäre seine Lippe nicht etwas angeschwollen, würde es wirklich wunderschön aussehen – auch wenn er selbst mit den Blessuren nicht zu verachten war. Er schulterte seine Tasche und kramte ein Pflaster aus der Hosentasche, dass er sich über den Kratzer an der Stirn klebte.
 

„Ich hab immer welche dabei“, sagte er, als er meinen Blick bemerkte. Lächelte erneut.
 

„O ja, klar“, entgegnete ich grinsend und Yamato lachte. Sein umhauendes, glockenhelles Lachen. Mir lief es heiß den Rücken runter. „Ich schlepp so was auch immer mit mir rum, Yama.“
 

„Wieso nicht?“
 

„Du hast ´nen Knall.“
 

„… du auch“, erwiderte Yamato und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das süßer war als jeder Zucker der Welt. Und ich schmolz dahin wie warme Schokolade in der Sonne, wie Eis auf heißer Haut… wie ein Häufchen Taichi beim Anblick eines Gottes.
 

Mein Herz hämmerte in meiner Brust wie Presslufthammer, schien meine Brust sprengen und Yamato unbedingt darauf aufmerksam machen zu wollen, dass ich mich hoffnungslos an ihn verloren hatte. Meine Gedanken waren von einer süßen, wattigen Wolke umhüllt, die erst gar keinen kritischen Gedanken zu ließ, und wie in Trance hob ich die Hand. Wickelte mir eine hellblonde Strähne Yamatos um den Finger, strich ihm durch das Haar.
 

Yamato sah mich mit einem undefinierbaren Blick an. Aus seinen blauen Augen sprach eine Mischung zwischen Verblüffung, Überraschung, Entsetzen und Freude.
 

Doch bevor ich heraus finden konnte, was es war, wandte er sich hastig ab.
 


 

Part VII

END
 


 


 

So, wie am Anfang schon angedeutet, ist dieses Kapitel frei von Rechtschreibfehlern dank meiner neuen Beta-leserinTweetl! Noch mal ein dickes Dankeschön an dieser Stelle! <3

Ich hoffe, euch allen hat es jetzt NOCH besser gefallen :D

Zum Kapitel an sich: WTF? Sie haben Yama zusammengeschlagen und sind dann vor Taichi abgehauen? òÒ ... Jah~, so sieht's leider aus. Aber ich muss zu den beiden mal sagen, dass es im wirklichen Leben bei solchen Sachen auch nicht immer Gerechtigkeit gibt. Nicht, dass es hier keine geben wird, aber vielleicht nicht so, wie ihr denkt ._.
 

Ansonsten wollte ich nur sagen:

Ich liebe die Vorstellung von Yama in diesem sexy Schlafanzug! ^-^

& Thank U very much for your ♡-Komments <3
 

Alles Liebe,

Nikolaus

To Show You The Way (Yamato/Taichi)

Special now: gebatet byTweetl &SaRiku
 


 

~ Yamatos POV ~
 


 

Es war ein unglaubliches Gefühl.
 

Noch nie war ich jemandem so nahe gewesen und hatte es auch noch selbst gewollt. Noch nie hatte mich jemand so bereitwillig in sein Herz gelassen, ohne den eigenen Nutzen daraus zu ziehen. Ich wusste nicht, wieso Taichi das tat. Wahrscheinlich aus demselben Grund, weshalb mir Herr Heiji immer so nahe kam, aber bei ihm konnte ich mir das nicht vorstellen. Es musste etwas anderes sein.
 

War es möglich, dass er mich einfach nur mochte? Wie… einen Freund?
 

Oder bildete ich mir das nur ein, damit ich mich nicht so schmutzig fühlen musste, wenn ich in seinen Armen lag? Ich wusste, dass ich auf die meisten Menschen nicht sehr freundlich wirkte und auch ihm hatte ich schon einige unfreundliche Sachen an den Kopf geworfen. Es ergab einfach keinen Sinn, dass er sich bedingungslos in meine Nähe begab und auch noch freiwillig dort blieb. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass er gar nicht mehr weg wollte. Das war natürlich reine Fiktion, aber allein das Gefühl, das dabei entstand, war schön.
 

Zu wissen, dass man von jemandem gebraucht wurde. Nicht so, wie ich von Dad und Takeru gebraucht wurde. Sie könnten mich auch jederzeit durch eine Hausfrau ersetzten und es würde sie möglicherweise genauso glücklich machen. Bei ihm war ich mir sicher, dass niemand anderes mich ersetzen konnte. In seiner Nähe fühlte ich mich… einzigartig. Ein Gefühl, dass ich nur selten in meinem Leben gehabt hatte.
 

Wie konnte ich denn nur jemals glauben, ihn nicht zu mögen?
 

Vielleicht hatte ich zu sehr an meinen Vorurteilen gehangen – ja, das war sogar sehr wahrscheinlich. Denn nichts von meinen Beschuldigungen bewahrheitete sich. Er war weder ein Egoist, noch war er überheblich, pervers oder engstirnig. In einigen Momenten konnte ich sogar so etwas, wie eine unscheinbare Intelligenz in den braunen Augen aufflammen sehen und die Worte, die danach seinen Mund verließen, kombiniert mit dieser weichen, tiefen Stimme, jagten mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken. Er zeigten mir, dass ich ihm wirklich etwas bedeutete.
 

Und er mir.
 

Noch nie hatte ich mich so einsam gefühlt, wenn ich alleine war. Natürlich, auch früher war die Einsamkeit in mir aufgestiegen, wenn die Präsenz eines anderen Wesens fehlte, aber nun… solange er nicht bei mir war, fühlte ich mich einfach nicht komplett. Wie als würde ein Teil von mir fehlen, dass er rücksichtslos mit sich nahm, wenn er ging und erst wieder brachte, wenn er morgens an meine Seite trat. Das war ein furchtbar naives Gefühl, oder? Schließlich wusste ich tief in meinem Innern schon, was für Symptome ich aufzählte, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Es würde das Alles zerstören.
 

Einfach so. Mit einem Schlag.
 

Jetzt hatte ich endlich einmal etwas, woran ich mich festhalten konnte und ich würde es nicht wieder gehen lassen. Auf keinen Fall. Und selbst wenn es ich mich blamieren oder als Idioten darstellen würde. Es war mir egal. Ich hatte Takerus Blicke bemerkt und seine Fragen in diese Richtung, doch bei ihm konnte ich beruhigt sein, dass er nichts davon merkte. Er war eifersüchtig, weil sein großes Vorbild öfter mit mir zusammen war, als mit ihm.
 

Bei anderen Leuten konnte ich das leider nicht so einfach sagen. Es gab mehrere, deren Blicke nicht mehr einfach nur zweideutig waren. Einer seiner Freunde schien förmlich zu wissen, was ich für ihn empfand und spielte mit jeder spitzen Bemerkung darauf an. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er sich wegen mir mit zwei seiner Freunde so zerstritten hatte. Sie waren meine Peiniger gewesen, aber… war ich dieses Opfer wirklich wert?
 

So sicher war ich mir da nicht.
 

„Yama, hör auf Trübsal zu blasen!“
 

Ich hob erschrocken den Kopf und sah zu Taichi.
 

Grinsend lief er neben mir her, die Sporttasche lässig über die Schulter gehängt. Heute war das Wetter einigermaßen gut, ein seltener Zustand um diese Jahreszeit, und wir konnten zu Fuß gehen ohne vom Regen bis auf die Knochen durchnässt zu werden.
 

Ich mochte es, einfach so neben ihm herlaufen zu können.
 

„Ich blase kein Trübsal“, erwiderte ich.
 

„Natürlich tust du das“, sagte er und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. Sofort stieg in mir ein mulmiges Gefühl auf und ich wandte den Blick ab.
 

Ich wusste, was das bedeutete. In diesen zwei Wochen, die unsere Freundschaft nun schon zählte, war es oft genug passiert und es wurde mir immer wieder übel dabei, wenn ich daran dachte, dass ich der Grund war. Wenn Taichi ernst wurde, hieß das für mich, die Wahrheit zu sagen. Ich konnte gut lügen, aber ihn anzulügen… ich konnte es einfach nicht. Es war unangenehm und erschreckend zu gleich, wie sehr ich mich selbst an ihn band. Dennoch machte es mich verlegen, dass er jede meiner Stimmungen anhand meines Gesichtsausdrucks erkennen konnte. Hieß das nicht, dass er mich beobachtet hatte, um genau das zu wissen? Das er sich... für mich interessierte?
 

„Wenn es wegen Shusuke und Yuri ist“, fing Taichi an und das Hochgefühl, dass ich gerade selbst herauf beschworen hatte, verschwand, ersetzt durch die Furcht. Furcht vor dem, was sicherlich kommen würde.
 

Das Thema Shusuke und Yuri hatte ich in der letzten Woche bewusst ausgelassen. Ich wollte nicht über die beiden reden und eigentlich hatte ich auch nicht vor, es jemals wieder zu tun. Immer wenn Taichi es angesprochen hatte, lenkte ich ab oder schaltete auf stur. Natürlich tat es in gewisser Weise weh ihn zu ignorieren, aber mir blieb einfach keine andere Wahl. Sonst müsste ich reden und das wollte ich nicht. Schließlich hatte Taichi durch mich die beiden verloren und ich wusste, dass sie davor sehr gut befreundet gewesen waren. Nur konnte ich ihnen nicht ins Gesicht sehen, ohne die Schreie und das Gelächter in meinem Kopf zu hören. Es war wie ein immer wieder kehrender Alptraum, der mich einholte und als Film vor meinem inneren Auge ablief, sobald die beiden in meiner Nähe waren.
 

Es war die Paranoia, die mich allmählich durch fraß und die auch Taichis Nähe nicht verhindern konnte. Die Angst vor dem Zerbrechen, die Tief in meinem Inneren wohnte und jeden Moment auszubrechen drohte. Der Drang, dem Allen ein Ende zu setzen. Letzteres wurde durch Taichis Gegenwart in Schach gehalten, aber die anderen Ängste nicht. Sie waren immer präsent, bereit mich zu verschlucken und nicht mehr herzugeben.
 

„Hör mal Yama“, sagte Taichi besänftigend und hielt mich an einem Arm fest. Ich blieb stehen und sah konstant zu Boden, wollte jetzt nicht mit dem besorgten Blick der braunen Augen konfrontiert werden. Sonst würden die Emotionen überschwappen, ich wusste es. „Ich weiß ja, dass das schwer für dich ist, aber irgendwann müssen wir mal darüber reden. Schließlich sind die beiden meine Freunde und… es ist immer besser, wenn man darüber redet.“
 

Ist es nicht.
 

„… möglich.“
 

„Es ist nicht nur möglich, Yama. Es ist so, glaub mir einfach.“
 

Ich hätte es gerne getan. Ehrlich.
 

Ich würde ihm wirklich gerne glauben, aber etwas hinderte mich daran. Wahrscheinlich die Furcht, die ich vor anderen Menschen hatte und die sich auch bei Taichi noch nicht gänzlich gelegt hatte. Er war mein Hafen, in den ich jeder Zeit zurück kehren konnte, wenn ich es draußen nicht mehr aushielt, aber der Hafen zerbröckelte, sobald Taichi etwas über mich wissen wollte. Was sollte ich ihm denn schon sagen? Dass ich ein emotionales Wrack war, das es nicht schaffte, sein eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen und das Angst vor seinen Mitbürgern hatte?
 

Nein, niemals.
 

„Okay“, seufzte Taichi neben mir ergeben. „Du willst nicht darüber reden, schon verstanden. Aber irgendwann musst du es tun. Wir können nicht die ganze Zeit vor ihnen davon laufen, ich hoffe das ist dir klar. Die letzten zwei Wochen mag das ja funktioniert haben, aber jetzt nicht. Ich gehe mit ihnen in eine Mannschaft und sie sind in deiner Klasse. Irgendwann wird die Konfrontation kommen.“
 

Ich weiß.
 

Aber ich sagte nichts. Ihm jetzt recht zu geben, hieß, dass ich mit ihm darüber reden musste. Und ich glaubte einfach nicht daran, dass es mir danach besser gehen würde. Bisher hatte es doch auch so geklappt, wieso sollte ich das jetzt ändern? Mein ganzes Leben lang hatte ich meine Gefühle für mich behalten, die Wünsche versteckt, die Sehnsüchte unterdrückt. Er konnte nicht einfach so kommen und etwas Anderes verlangen! Ich… ich konnte nicht plötzlich darüber reden! Ich wusste ja nicht einmal, wie.
 

Meine Hände zitterten. Ich krallte sie in den Saum meines T-Shirts und starrte stumm auf den Asphalt, während wir uns wieder in Bewegung setzten. Es würde keine Minute mehr dauern und wir würden um die Ecke biegen, das große Schulgebäude direkt vor uns. Und Taichi würde zu seinen Freunden gehen und nicht so wie die letzten zwei Wochen, sich mit mir zwischen den Schülern verdrücken. Ich müsste in meine Klasse, zu meinen persönlichen Peinigern. Sie hatten mich ignoriert, aus offensichtlichem Zorn, aber das war nun wahrscheinlich vorbei.
 

Es war praktisch das Omen alles Bösen, das über dem Schultor hing, als wir es passierten. Taichi griff nach meiner Hand, aber als er merkte, dass ich mich dabei nur noch mieser fühlte, ließ er sie los. Sein Blick richtete sich auf die linke Ecke des Schulhofs. Direkt auf die große Traube von Jungen, zu denen auch Takeru, Shusuke und Yuri gehörten. Yuris Haare waren heute wieder blond, dafür trug er ein sehr schrilles Outfit. Wieder stellte sich mir die Frage, wie er seine Homosexualität verbergen konnte, wenn er so angezogen war.
 

„Ich geh dann mal“, sagte ich leise zu Taichi und drehte mich um. Das Gefühl, ein Stück von mir zurück gelassen zu haben, stellte sich sofort ein und am liebsten hätte ich mich wieder umgedreht, aber ich tat es nicht.
 

Da packte mich eine Hand und zog mich mit einem Ruck zurück. Ich geriet ins Stolpern und nur Taichis guter Reaktion hatte ich es zu verdanken, dass ich nun nicht auf dem Boden lag. Er half mir mit einem verlegenen Lächeln wieder hoch und sah mich entschuldigend an.
 

Ich zuckte abwehrend die Achseln.
 

„Du willst doch jetzt nicht ernsthaft gehen, oder?“, fragte er.
 

„Wieso nicht? Es sind deine Freunde.“
 

„Ja, schon“, räumte er ein und kaute kurz auf seiner Unterlippe herum, bevor er hinzufügte: „Aber du auch, Yama. Und ich will, dass du endlich dazugehörst.“
 

„Ich werde nie dazu gehören“, entgegnete ich stur.
 

„Das weißt du doch gar nicht.“
 

„Sie mögen mich nicht“, sagte ich nun noch deutlicher und um eine Spur schärfer, als nötig gewesen wäre. Taichi zuckte zusammen und sah mich an. Er wusste, dass ich Recht hatte. Seine Freunde mochten mich nicht, weil ich in ihren Augen ein Außenseiter war. Ein komischer Freak, der nur durch Zufall den nettesten Bruder der Welt hatte. Ein kleines, bösartiges Biest, das nur darauf wartete, sich in ihre Reihen zu involvieren und sie von innen heraus zu zerstören. Natürlich war das Unsinn, aber sie sahen es als die Wahrheit an.
 

Ich hatte nicht vor, ihnen das Gegenteil zu beweisen, denn ihre Abneigung war keine schöne Begrüßung. Als Taichi mich letzten Mittwoch zum Mittagessen mit an ihren Tisch genommen hatte, wurde ich von ihren hämischen und ungläubigen Blicken praktisch bei lebendigem Leibe gefressen. Denn nur weil Taichi mich mochte, schienen sie nicht geneigt zu sein, mir ebenfalls eine Chance zu geben. Nicht, dass ich das erwartete, aber… Taichi eben schon. Es schien ihn sehr zu frustrieren, dass seine Freunde mich nicht mochten. Ich trug einen großen Teil dazu bei, mit meiner Wortkargheit, den bösen Blicken oder meiner zurückhaltenden Art, doch wenn ich ehrlich zu mir selbst war, würde ich das nicht ändern. Taichi nahm mich so hin, wie ich war. Wenn die anderen das nicht tun wollten, würde ich sie nicht dazu zwingen.
 

„Bitte Yama“, flehte Taichi leise und griff wieder nach meiner Hand. Erschuf den Körperkontakt, den ich bei anderen Menschen so sehr verabscheute. Nur bei ihm nicht. Bei ihm gab es mir Vertrauen und Sicherheit.
 

Nur dieses Mal nicht.
 

„Ich kann nicht“, erwiderte ich und zog meine Hand zurück. „Du weißt doch ganz genau, dass es ihnen nicht gefällt, wenn du mich mitbringst.“
 

„Das ist mir doch egal.“
 

Ich stockte und sah zu ihm hoch. Wieso log er? Es war ihm doch förmlich vom Gesicht abzulesen, dass er sich nichts Anderes wünschte, als genau das.
 

„Bitte Yama“, flehte er wieder und umschloss mit festem Griff meine Hand. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken umher und ich war unfähig, auch nur einen von ihnen zu fangen. Selbst wenn ich jetzt mit Taichi zu ihnen gehen würde, um ihn glücklich zu machen, würde es mir nichts als Frustration bringen. Aber… war es nicht immer das gewesen, was ich schon immer gemacht hatte? Wieso fiel es mir jetzt so schwer? Seit wann war ich denn so selbstsüchtig?
 

Ich hatte keine Antwort darauf, aber ich wusste nur einen Wimpernschlag später, dass ich mit ihm mit gehen würde.
 

„Alles in Ordnung?“, er klang besorgt.
 

Ich rang mir ein Lächeln ab und schüttelte den Kopf, sagte leise: „Alles okay. Und jetzt sollten wir besser gehen.“ Obwohl ich wieder zu Boden sah, wusste ich, dass er grinste. Es machte ihn glücklich und auf eine sehr surreale Weise, machte es mich das auch.
 

Ich war glücklich, weil er glücklich war. Einfach total abstrus.
 

Die Meter bis zu der Menschentraube kamen mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Der Asphalt schien an meinen Füßen zu kleben und machte jeden Schritt zu einer Herausforderung. Am Liebsten hätte ich mich einfach fallen gelassen, gespürt, wie der Boden unter mir schwand, und wäre in die bodenlose Dunkelheit gefallen, aber ich tat es nicht. Taichis gleichmäßiger Schritt hielt mich davon ab und gab mir gleichzeitig die Klarheit im Kopf, die ich so dringend benötigte. Wenn ich mich ihren Schikanen aussetzen wollte, dann musste ich es bewusst tun. Wer wusste schon, wie ich sonst reagieren würde.
 

„Hey Tai!“
 

Taichis Hand, die bis dato noch mein Handgelenk umklammert hatte, verschwand plötzlich und machte einer eisigen Kälte platz. Das kleine Stückchen meiner selbst wehte davon, Taichi hinterher. Ich hob den Kopf, obwohl ich es nicht wollte und sah zu den anderen Jungen. Takeru kam auf mich zu, mit einem breiten Grinsen im Gesicht und den Arm um die Schulter eines Mädchens gelegt. Sie hatte braune, lange Haare. Braune Augen. Ein freundliches Lächeln.
 

Sie sah aus wie Taichi.
 

„Yama!“, rief Takeru freudig, wie als hätten wir uns nicht erst vor einer halben Stunde voneinander verabschiedet, und fuhr mir durch die Haare. Eine Geste, die wohl ich bei ihm hätte machen sollen, aber Dank unseres Größenunterschieds ging das nicht.
 

„Hi“, erwiderte ich und musste mit Schrecken feststellen, dass meine Stimme eiskalt klang. Takeru schien es nicht zu bemerken, aber das Mädchen verzog den Mund. Dann streckte sie mir jedoch die Hand entgegen und sagte: „Hey, Yamato, ich bin Hikari. Taichis kleine Schwester. Er hat schon ´ne Menge über dich erzählt.“ Ich schüttelte sie und spürte gleichzeitig, wie mir heiß wurde.
 

Hikari lächelte freundlich.
 

„Keine Angst, nur gute Sachen.“
 

„Oh… o na dann, ist ja gut.“ Ich lächelte zaghaft zurück. Hikari kicherte.
 

Aus den Augenwinkeln gewahrte ich eine Bewegung und tief in mir wusste ich, wer sie verursacht hatte. Wer da hinter mir stand und mich ansah. Aber ich wollte es nicht wahr haben. Vor mir stand Takeru, mit Hikari und dort irgendwo in der Menge war Taichi. Sie würden es nicht wagen, mir etwas zu tun.
 

Nicht jetzt, nicht hier…
 

Wann dann?
 

„… Na sieh mal einer an.“
 

Yuris Stimme klang hämisch und rachsüchtig.
 

Äußerlich ungerührt drehte ich mich zu ihnen um und sah sie an. Auf Shusukes Wange war ein kleiner, blauer Fleck zu sehen. Yuris Unterlippe war noch immer grässlich entstellt, bot den Anblick einer mit Gewalt aufgekratzten Fahrbahn, deren etliche Krater metertief gingen. Weiße Salbe über der Unfallstelle, ließ die Wunde schmierig und eiternd wirken.
 

Ich würgte und wandte den Blick ab.
 

Solche Wunden waren widerlich und sie erinnerten mich nur zu genau daran, dass ich normalerweise derjenige war, der nach einem unserer Zusammentreffen so entstellt war. Sicherlich schürte das ihre Wut nur noch mehr, dass ich, bis auf ein paar blaue Flecken und den kleinen Kratzer an der Stirn, unversehrt geblieben war. Ich wusste, dass Taichi nicht immer bei mir war, spürte die kalte Stelle in meinem Sein, die Taichi jedes Mal mit sich fort riss, und stellte mich schon einmal darauf ein, dass ich das nächste Mal wieder die Blessuren davon tragen würde. Viele Blessuren.
 

„Was suchst du denn hier, Ishida?“, fragte Shusuke mit einem hämischen Lächeln und kam einen Schritt auf mich zu. Ich unterdrückte den panischen Drang wegzulaufen und blieb standhaft, so schwer es mir auch fiel. Die Hoffnung, dass Takeru oder Taichi mir helfen würden, wurden zu einem blassen Nebelschweif, der mir durch die Finger glitt, sobald ich ihn zu fassen versuchte. Panik kroch mir die Kehle hoch und besetzte mein Denken. Die bekannte Paranoia gesellte sich dazu.
 

Langsam verschwamm meine Sicht, drehte und veränderte sich und ich hatte für einen Moment das Gefühl, als würde die Welt auf dem Kopf stehen. Dann sah ich die herabschnellend Fäuste, spürte den Schmerz. Der Film vor meinem inneren Auge begann zu laufen, schnell, rasend.
 

Unaufhaltsam.
 

Ich sah Dad, wie er betrunken in der Wohnung herumtorkelte und die alten Familienfotos schreiend zerstörte. Takeru, wie er weinend in seinem Zimmer saß und den großen Plüschteddybären umklammerte. Ich sah Mum, mit dem freundlichen Lächeln. Mit dem Loch im Kopf. Das Blut, über ihren ganzen Körper verteilt. Der Mund, zu einem stummen Schrei geöffnete.
 

Stimmen erklangen hinter meinen Schläfen, fingen hektisch an zu reden und schimpfen. Eine klang wie Dad, eine Andere wie Shusuke. Imaginärer Schmerz durchzuckte mich. Meine Stirn pochte. Ich krallte die Hände in die Haare und wollte nur noch, dass es aufhörte.
 

Sie waren so lange verstummt gewesen, wieso waren sie jetzt wieder da? Wieso ließen sie mich nicht endlich in Ruhe?!
 

Wieder sah ich die Bilder, zahlreicher als jemals zuvor.
 

Dad. Mum.
 

Blut.
 

Überall Blut.
 

Meine Lider flackerten und der Asphalt unter meinen Füßen schien zu beben. Mein Gleichgewicht schwand, ich taumelte. Mein Körper zitterte unkontrolliert. Die Welt vor meinen Augen begann zu verschwimmen. Angst vernebelte mein Denken.
 

Und dann hörte ich einen Schrei.
 

Hoch, verängstigt, panisch.
 

Mein Schrei.
 


 

~ Taichis POV~
 


 

Regungslos beobachtete ich, wie sich Shusuke und Yuri Yamato langsam näherten. Wie Raubtiere, die ihre Beute fixierten, um sich jeden Moment auf sie zu stürzen. Ich ignorierte Fu, der neben mir stand und mit mir redete. Oder es auch schon nicht mehr tat, ich bekam es nicht mit. Meine Augen hefteten sich auf die Beiden. Sie begannen mit Yamato zu reden. Yamato drehte sich kühl zu ihnen um und sah sie an. Ehrlich gesagt war ich überrascht, dass er keine Angst vor ihnen hatte. Ich hatte das Zusammentreffen von den Dreien immer gefürchtet. Doch es sah zuversichtlich aus.
 

Shusuke sagte erneut etwas, worauf Yamato stumm blieb. Er ging auf ihn zu und ich konnte das kaum wahrnehmbare Zucken seiner Hände sehen. Ein Zeichen dafür, dass er wegrennen wollte. Ich bewunderte ihn dafür, dass er es nicht tat. Aber dann veränderte sich seine Haltung. Die blauen Augen, die gerade noch Shusuke fixiert hatten, schweiften ab. Hastig ging ich zu ihm, musste mir mit den Ellenbogen einen Weg durch die Traube von Schülern bahnen, die sich schon um sie angesammelt hatte.
 

Als ich endlich da war, trat Yamato einen Schritt zurück. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Blick huschte hektisch umher. Sein Atem rasselte.
 

„Yama?“
 

Er reagierte nicht. Er schien mich nicht einmal wahrzunehmen. Neben mir versuchte es Takeru ebenfalls ohne Erfolg. Meine kleine Schwester stand neben ihn, sah so besorgt aus, wie ich mich fühlte. Die Angst schnürte mir die Kehle zu und nur mit Mühe konnte ich meinen Blick wieder auf Yamato richten. Er zitterte immer noch, wimmerte leise. Shusuke und Yuri machten betretene Gesichter, wollten verschwinden, aber sie blieben stehen. Konnten sich nicht von dem Schauspiel losreißen.
 

Ich ging vorsichtig auf Yamato zu und berührte ihn an der Schulter. Yamato taumelte. Sackte auf die Knie und krallte die Hände in die Haare. Sein Mund öffnete sich, hektischer, lauter Atem erfüllte die Stille ringsherum.
 

Dann begann er zu schreien.
 

Ohrenbetäubend laut.
 

Erschrocken machte ich einen Satz zurück, sah verzweifelt zu Takeru. Diesem stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Die Umstehenden gaben keinen Laut von sich. Yamato beugte den Oberkörper nach vorne, das Schreien wurde lauter. Es klang, wie als ob ihn jemand foltern würde. Er holte keine Luft, schien sie nicht zu brauchen. Der Laut hallte in meinen Ohren nach, verklang langsam und bitter. Es erinnerte mich an den monotonen Hupton, den tote Autoinsassen nach einem Unfall verursachten, wenn ihr Kopf auf das Lenkrad fiel.
 

Nur, dass Yamato nicht tot war.
 

Er lebte. Und schrie. Und schrie.
 

Meine Füße wollten sich nicht vom Boden heben, aber mit aller Macht kämpfte ich mich nach vorne. Es kam mir so surreal vor, wie ich ihn an den Schultern packte und schüttelte. Yamato zeigte kein Zeichen der Reaktion. Als ich seinen Kopf anhob, sah ich die Tränenspuren.
 

Panik breitete sich in mir aus. Unverständnis und Verzweiflung.
 

Ich wusste nicht, was gerade hier vor sich ging. Wieso schrie er? Was war der Anlass für die Tränen? Was passierte in seinem Innern, dass ihn so in Schrecken versetzte?
 

Hektisch flogen meine Augen umher, ich suchte einen Grund dafür, aber ich fand keinen. Ich konnte ihm nicht helfen und das machte alles nur noch schlimmer. Ich presste seinen Körper an mich und der Schrei wurde erstickt.
 

Bis er verklang.
 

Ich hörte das laute Aufatmen der Menge und tat es ihr gleich. Ich hoffte, dass es vorbei war. Schlanke Finger krallten sich in mein T-Shirt, eine kalte Nase drückte sich gegen mein Schlüsselbein. Ich vergrub meine Nase in seinem Haar und flüsterte leise seinen Namen. Einen Moment kam keine Antwort.
 

Dann: „… Taichi?“
 

Nur ein Hauchen, aber es war da. Ich hörte es und es versetzte mir einen Stich. Seine Stimme klang verweint, verzweifelt und ängstlich. Er regte sich in meinen Armen, ich sah es als ein Zeichen der Besserung. Aber das Winden und Kratzen, das gleich darauf einsetzte, konnte ich dem nicht zuschreiben. Yamatos Fingernägel ritzten Furchen in meine Haut, er stemmte sich gegen meinen Brustkorb. Aber ich ließ ihn nicht los.
 

„Lass mich endlich... gehen!“, fauchte Yamato wütend und drückte sich von mir. Sein Tonfall ließ mich kurz die Kontrolle verlieren und er schaffte es, sich von mir zu lösen. Auf zitternden Beinen rappelte er sich hoch und sah mich hasserfüllt an.

Ich verstand nicht. Ich verstand überhaupt nichts mehr.
 

Was war hier los? Was war mit Yamato passiert? Wer war dieser verstörte Fremde vor mir?
 

Meine eigenen Arme zitterten, als ich mich aufrecht hinsetzte und seinen Blick erwiderte. Normalerweise würde ich mich sofort abwenden, aber ich konnte es nicht. Dort, wo Yamato die Handballen gegen die Schläfen gepresst hatte, waren rote Abdrücke zu erkennen. Die blauen Augen waren panisch geweitet, er wirkte wie unter dem Einfluss einer heftigen Droge. Seine Hände zitterten. Er krallte die Finger in die Seite und entfernte sich einen Schritt von mir, mich nicht einen Augenblick lang aus den Augen lassend.
 

Seine Lippen formten meinen Namen, aber aus seinen blauen Iriden sprach der Hass.
 

In mir stieg die Verwirrung.
 

Dann löste sich plötzlich eine Gestalt aus der Menge und ich erkannte Takeru, der auf seinen Bruder zulief und ihn am Arm packte. Ihn zu sich herum wirbelte und ihm verständnislos in die Augen blickte. Yamato kämpfte gegen seinen Griff an, wand sich wie ein Fisch im Netz. Doch Takeru blieb standhaft, schickte mir einen verzweifelten Blick zu. Ich konnte nicht mehr tun, als zurück zu starren.
 

In mir herrschte eine Leere, die ich nicht ausfüllen konnte.
 

Mit regungsloser Miene sah ich zu, wie Yamato erneut taumelte. Takeru wich erschrocken einen Schritt zurück und kam zur spät zur Besinnung, als Yamato bewusstlos zusammen sackte.
 

„Yama!“
 

Er stürzte zu ihm, ließ sich neben ihm auf die Knie sacken und beuge sich über ihn. Hikari stand daneben und ich kannte den Ausdruck in ihrem Gesicht.
 

Sie würde gleich anfangen zu weinen.
 

Die Menge schloss sich um Yamato und Takeru. Schüler für Schüler versperrten sie mir die Sicht, aber es rührte mich nicht. In meinem Kopf hallte der hohe Schrei nach und dennoch fühlte ich dumpf, wie mich mit Watte ausgestopft. Ich war unfähig mich zu rühren, meine Beine waren an den Asphalt geklebt.
 

Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung und erkannte Toshi, Fu und Shusuke. Sie allen waren unnatürlich blass und der Schock stand in ihren Augen. Als sie sich neben mich knieten, hörte ich ihre Stimmen wie aus weiter Ferne.
 

„Tai, bist du… bist du okay?“
 

Ich ignorierte sie. Ich wollte nicht mit ihnen reden. Mit niemandem.
 

„Hey.. hörst du uns?“
 

Wieso konnten sie nicht einfach abhauen?
 

„Tai, jetzt sag schon was!“
 

Haut ab!
 

„Bitte… man…“
 

„Tai?“
 

Sie wollten es nicht verstehen. Sie waren wie lästige Parasiten, die sich in meine Haut krallten und nicht mehr losließen. Mit letzter Kraft wandte ich ihnen den Kopf zu. Sie alle gaben ein schreckliches Bild ab, aber Shusuke sah am Schlechtesten aus. Und es freute mich. Er bezahlte.
 

Endlich.
 

„Verschwindet“, zischte ich drohend und ignorierte ihre erschrockenen Mienen. Mir war bewusst, wie kalt ich geklungen hatte, aber es war mir egal. Die Leere in meinen Innern füllte sich mit weicher Watte aus und eine eigenartige Kälte bemächtigte sich meiner Selbst. Sie rückte bis in meine Fingerspitzen vor, schaltete mein Denken aus.
 

Ich starrte nach vorne.
 

Zu dem unsichtbaren Punkt in der Menge, wo Yamato liegen musste.
 


 

Part VIII

END
 


 


 

Allem voran: Es tut mir SO leid, dass so lange nichts mehr von mir gekommen ist. Als ich gesehen habe, dass das letzte Kapitel wirklich im März gekommen ist, bin ich fast in Ohnmacht gefallen.

Aber ich hatte einfach unglaublich viel mit meinen Prüfungen um die Ohren und obwohl ich noch ein Abi habe, um alle Fehler wieder raus zu hauen, war mir mein Abschluss schon enorm wichtig. Und jetzt habe ich es endlich ALLES hinter mir und hoffe einfach mal, dass ich nicht in die mündliche Prüfung muss. Noch mal danke für all die lieben Glückwünsche für meine Prüfungen, es hat alles geholfen (jedenfalls fühlt es sich bis jetzt so an und durchfallen kann ich eh' nicht mehr ;D)

Ich werde jetzt möglichst viel Zeit an AYW verbringen und weiter daran arbeiten, dass das mit dem Hochladen endlich mal schneller geht.

Und vielen, vielen, vielen Dank für die zahlreichen und lieben Kommentare zum letzten Kapitel! Ich war wirklich baff als ich gesehen habe, dass es so viele sind ._. - und vor allem, dass sogar bis vor ein paar Tagen immer noch neue dazu gekommen sind! Ihr seid eine grandiose Unterstützung, mit euch geht das alles gleich viel besser :D

Ihr seid so genial >3
 

Noch ganz kurz zum Kapitel (da ich eh schon so viel laber): Ich weiß, an mancher Stelle ist es furchtbar kitschig. Ich bin deswegen schon gespannt auf eure Meinung! :D Mal sehen, ich hoffe, die Geschichte wird nicht allzu rosa, sonst müsst ihr mich echt in wachrütteln *lach*
 

Alles Liebe,

Nikolaus
 

PS: Meine beiden Betas nicht zu vergessen, ihr seid natürlich auch erste Sahne xD

So I Took Your Hand... (Yamato/Taichi)

Gebatet by Tweetl & SaRiku
 


 

~ Yamatos POV ~
 


 

Es war ein Moment gewesen, der mich zu Fall gebracht hatte. Ein Moment, in dem ich die Kontrolle verloren und die Dunkelheit hatte siegen lassen. Ein Moment, den ich mein ganzes Leben lang bereuen würde.
 

Ich hatte schon immer gewusst, dass ich anders als die anderen Kinder war. Nicht nur deswegen, weil wir weniger Geld hatten oder ich keine Freunde. Es lag an der Art, wie ich war. Die meisten Menschen um mich herum lachten und amüsierten sich, aber selbst wenn ich es versuchte, hatte es keinen Sinn. Es gab in meinem Innern die Sperre, die ich nie überwinden konnte. Meine Mutter hätte es fast einmal geschafft die Schranken einzureißen. Bei ihr hatte ich mich wohl gefühlt, musste keine Angst davor haben, dass öffentlich zur Schau gestellte Emotionen Ärger hervor riefen.
 

Sie liebte mich, einfach so. Weil sie meine Mutter war. Mein Vater hatte das nie geschafft. Für ihn war Takeru das Wunschkind. Takeru war sportlich und liebte Fußball, konnte so die Träume erfüllen, die in Dads Leben nie in Erfüllung gegangen waren. Ich war für ihn ein Klotz am Bein. Nach Moms Tod, hatte er kein Verständnis mehr dafür, dass Bildung oder besondere Talente gefördert werden mussten. Für ihn gab es nur Takeru und den kleinen, runden Ball aus Leder. Da er aber keine Ahnung von Haushalt hatte, war er auf mich angewiesen.
 

Wenn man früher erwachsen wird, sieht man die Welt anders.
 

Das hatte ich gemerkt. Zu dieser Zeit war mir auch immer mehr bewusst geworden, dass ich so anders war. Die Unfähigkeit, sich wirklich zu über kleine Dinge zu freuen, ehrliches Mitgefühl zu empfinden oder einmal im Leben aus ganzem Herzen die Wahrheit zu sagen. Takeru lebte als Kind weiter, während ich erwachsen werden musste. Er erlebte all die Dinge, die ich nur aus der Ferne beobachten konnte und doch versuchte ich, seine Freude zu teilen. Die Freude, die so rasch aus meinem Leben verschwunden war.
 

Irgendwann kam mir der Gedanke, dass das Alles nicht gerecht war. Wieso musste ich mich um zwei Menschen kümmern, obwohl ich selbst nicht einmal ausgewachsen war? Wieso musste ich Dinge tun, die andere Kinder nicht tun mussten? Dad sagte immer nur, ich solle doch, bitte, endlich aufhören, mich mit anderen Kindern zu vergleichen. Wir waren eben nicht so wie sie, sagte er immer, und wir würden es auch nie sein.
 

Ich wollte ihm nicht glauben, aber ich musste einsehen, dass er Recht hatte. Doch die Zeit der Rebellion kam und sie versiegte nie wirklich. Mit der Einsicht, dass sowieso niemand auf mich hörte, fing ich an, mein Leben in mir zu führen. Eine eigenartige Angewohnheit, die ich wohl nie richtig ablegen konnte. Ich merkte, dass es so viel einfacher war, alles für mich zu behalten, als mit jemanden darüber zu reden, der mir gar nicht zuhörte. Ich konnte nicht verletzt werden, wenn ich mich niemanden mehr öffnete.
 

Manchmal stiegen die Zweifel in mir auf und ich versuchte, so zu sein, wie die anderen. Ich konnte nicht verstehen, weshalb Takeru und ich so unterschiedlich waren, obwohl wir doch verwandt waren. Wie konnte er so lebensfroh sein und ich solch ein Frack? Die Antwort kam nie. Aber der Schmerz wurde häufiger, kam in größeren Wellen, die über mir zusammen schlugen und mich erbarmungslos unter sich begruben. Nie war ich fähig, ihnen auszuweichen.
 

Es kam der Moment, in dem wir in der Schule das Thema Suizid durchgenommen hatten. Bis dato fand ich solche Handlungsweisen idiotisch, kindisch und ohne jeglichen Sinn. Was sollte es einem schon helfen, wenn man sich selbst verletzte? Danach sah die Welt doch genauso aus, wie davor auch. Es hatte keinen Sinn! Aber die Einstellung blieb nicht.
 

Als ich das erste Mal das glänzende Blut fließen sah, fühlte ich mich gut. Besser als ich es mir vorgestellt hatte. Es war eine Erleichterung und all die angestauten Emotionen, die dafür sorgten, dass ich unkonzentriert und nervös wurde, schwammen in einem roten Fluss hinaus. Über die Ellenbeuge, hinab in die Dunkelheit. Ich stand am Rand meines Seins, manchmal mit einen Fuß über der Klippe, mal einen Schritt davor. Diese Verletzungen waren unschön, sie hinterließen Narben und wenn das Gefühl der Erleichterung verschwand, kehrte der Schmerz zurück, den ich davor nicht gespürt hatte.
 

Aber es half.
 

Es war der imaginäre Ansprechpartner, den ich mir gewünscht hatte und der mir immer zuhörte. Bald merkte ich, dass Takeru darauf aufmerksam wurde. Glücklicherweise fand er es nie heraus, aber an manchen Tagen waren seine Blicke so misstrauisch, dass ich Angst hatte, sie zu erwidern. Wie albern! Ich war der große Bruder und doch war ich nicht fähig, ein Vorbild zu sein. Wahrscheinlich schob Takeru mich deshalb als Solches ab.
 

Aber die Abart, die mich von den anderen unterschied, wurde immer größer. Immer öfter hatte ich das Gefühl Stimmen zu hören, die greifbar waren und dann doch wie eiskalter Nebel durch meine Finger glitten. Ich dachte, dass ich verrückt wurde. Wirklich verrückt. Mit allem drum und dran; Schizophrenie, Borderline-Syndrom, Depression.
 

Nie konnte ich mir sicher sein, dass ich es nicht wirklich war. Tief in meinem Innern ein gestörter Freak, dessen Ende, als Vergewaltigungsopfer in einer Seitenstraße, schon auf ihn wartete. Die Dunkelheit, an deren Abgrund ich stand, griff nach mir und zog mich hinunter. Manchmal hatte ich das Gefühl, schon längst gefallen zu sein. An anderen Tagen dachte ich gar nicht daran. Takeru war mir immer eine große Hilfe gewesen, auch wenn er es nicht merkte. Und Taichi auch.
 

Selbst wenn nur für kurze Zeit.
 

All das ging mir durch den Kopf, als ich auf der ledernen Liege saß und den Mann vor mir ansah.
 

Herr Fuji.
 

Er war groß, hatte schwarze Haare und trug eine randlose Brille auf der Nase. Die grünen Augen sahen mich wissend an, der Kugelschreiber ruhte geduldig auf dem schneeweißen Blatt. Er wartete darauf, dass ich etwas sagte, aber diese Genugtuung würde ich ihm nicht gönnen. Er war ein Psychiater – mein Psychiater, wie mir die Krankenschwester versichert hatte. Aber ich brauchte ihn nicht.
 

Ich war kein Kontrollfreak und ich klammerte auch nicht. Ich hatte mein ganzes Leben sehr gut so verbracht, wie ich es verbracht hatte und das mit Taichi… war ein kleiner Ausrutscher gewesen. Er war mir einfach zu nah gekommen und ich hatte es zugelassen. Das würde nicht noch einmal passieren. Der Moment der Schwäche würde nie wieder kehren. Doch um zu dieser Erkenntnis zu kommen, brauchte ich ihn nicht.
 

„Yamato, willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“, fragte er nun schon zum dritten Mal und rieb den Handballen an seinem Schreibbrett. Ein Zeichen seiner Ungeduld, auch wenn er sich als recht geduldig gab. Meiner Meinung nach, waren die meisten Leute, die therapiert wurden, viel intelligenter und wissender, als die Psychiater selbst. Denn so jemand, der nicht einmal zehn Minuten still sitzen konnte, wusste sicherlich nicht, was in mir vorging. Zudem kannte er mich nicht und konnte mich nicht beurteilen, egal auf wie vielen Seminaren er dafür war.
 

„Ich dachte, das wüssten Sie“, wiederholte ich meine Antwort.
 

„Natürlich weiß ich das“, sagte er und seufzte leise. Fuhr sich durch das schwarze Haar und blickte mich durchdringend an. „Aber ich würde es gerne aus deiner Sicht hören.“
 

„Wozu?“
 

„Damit ich dir helfen kann.“
 

„Ich brauche keine Hilfe“, antwortete ich kühl. Er lächelte leicht und setzte sich wieder aufrecht hin.
 

„Einsicht ist der erste Weg zur Besserung, Yamato“, sagte er weise und ich konnte mir nur mit Mühe ein Schnauben verkneifen. Stattdessen erwiderte ich ungerührt: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, Herr Fuji.“ Er zog die Augenbrauen zusammen. Mir war nicht klar, ob ich ihn nun verärgert hatte oder ob er sich nur wunderte. Diese dämliche Freundlichkeit von Leuten, die in seinem Metier arbeiteten, mochte ich nicht. Wenn er mich nicht mochte, sollte er nicht freundlich zu mir sein.
 

„Das hast du schön gesagt“, meinte er lächelnd.
 

„Sie auch“, sagte ich.
 

„Dennoch würde ich jetzt gerne die Geschichte hören.“
 

„Es ist keine Geschichte“, sagte ich und lehnte mich in auf der Liege etwas zurück. Das Gespräch würde länger dauern, das war mir klar. Selbst wenn ich nichts sagen würde, müsste ich hier bleiben. Denn er schien offensichtlich darauf zu hoffen, dass ich es von alleine erzählte. Aber weshalb sollte ich das tun? Nur damit er sich besser fühlte und einen geheilten Patienten mehr auf seiner Liste hatte? Ich war nicht krank und musste auch nicht geheilt werden. „Harry Potter ist eine Geschichte.“
 

„Entschuldigung, Yamato“, lächelte er und meinte wohl, dass er mich hiermit aus der Reserve lockte. „Tut mir leid. Dann erzähl mir doch einfach… was passiert ist. Den Ablauf.“
 

„Und wenn ich nicht will?“
 

„Ich will dir doch nur helfen, Yamato“, sagte er und mir viel auf, wie oft er meinen Vornamen sagte. Falls er Vertrauen schaffen wollte, schlug er fehl. Ich wollte ihm nicht vertrauen und ich wollte ihm auch nichts erzählen.
 

„Das sagten Sie schon.“
 

„Dann sorge doch dafür, dass das nicht noch einmal passiert und erzähle es mir einfach.“ Nun klang er angespannt. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr und schnalzte mit der Zunge. „Dir ist bewusst, dass jede Stunde kostet?“
 

„Ich würde gerne gehen“, sagte ich und erhob mich. Sofort schnellte sein Kopf nach oben und ich sah die Erkenntnis in seinen Augen flackern. Die folgenden Worte bestätigten es.
 

„Das war kein Angebot, Yamato. Du kannst noch nicht gehen. Du bist in einem sehr kritischen Zustand.“
 

„Ach wirklich?“, entgegnete ich und konnte es nicht verhindern, dass ich genervt klang. Die ganze Situation ging mir gehörig gegen den Strich. Ich hatte immer gewusst, dass es irgendwann so weit kommen und ich gegen meinen Willen festgehalten werden würde. Die Möglichkeit einfach davon zu rennen, würde nicht funktionieren. Ich merkte jetzt schon, wie die Wut in mir aufstieg und ich musste dagegen ankämpfen, ihn einfach anzuschreien: „Ich liege nicht in einem Krankenbett, ich kriege keine Medikamente, ich hatte keine Operation hinter mir und ich habe auch keine gebrochenen Knochen. Was ist an meinem Zustand denn bitte sehr kritisch, Herr Fuji?“
 

„Du hattest einen Nervenzusammenbruch, Yamato“, erklärte Herr Fuji es mir ruhig, in dem Tonfall, indem man sich auch mit naiven Dreijährigen unterhielt. Wahrscheinlich wusste er, was er damit anrichtete, aber ich zeigte ihm nicht, wie wütend es mich machte. Er wollte mich aus der Reserve locken, aber ich würde nicht reden. Und ich würde weder weinen, noch schreien. Ich war nicht krank. „Und wir haben die Narben an deinen Armen entdeckt.“
 

„Gehört es jetzt auch schon zur der Arbeit von Notärzten unerlaubt in die Privatsphäre des Patienten einzudringen?“
 

„Du hattest einen Nervenzusammenbruch!“
 

„Ich war ohnmächtig, Herr Fuji. Das ist etwas ganz anderes“, sagte ich zu ihm und äffte seinen Tonfall nach. „Und ich würde jetzt gerne gehen.“
 

„Du kannst nicht…“, das Telefon klingelte und er brach ab. Kurz warf er mir noch einen mürrischen Blick zu, dann nahm er ab und redete mit der Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Ich würde mich hier nicht festhalten lassen. Nicht gegen meinen Willen. Gab es denn niemanden, der mich hier raus holen konnte? Dad, Takeru… Taichi? Keiner der drei war hier gewesen. Als ich vor ein paar Stunden im Nebenraum aufwachte, war ich vollkommen alleine gewesen. Ich hatte eine Weile gebraucht, um wieder zu wissen, wo ich mich befand und was passiert war. Es war ein kleiner Schock gewesen, dass ich mich so hatte gehen lassen. Doch der größere Schock war das Eintreten von Herr Fuji und seine Ansage, wo ich hier war. In einem Krankenhaus mit einer extra Nervenheilanstalteinrichtung – Klapse, hätte ich gesagt, aber er umschrieb es mit diesen Worten, wohl in der Annahme, dass ich es so nicht erkennen würde.
 

Am liebsten hätte ich geschrieen und wäre davon gerannt. Aber ich tat es nicht, sondern blieb solange stumm auf dem Bett liegen, bis er wieder ging. Letztendlich musste ich doch mit ihm reden und eine Krankenschwester hatte mich zu ihm gebracht. Ich hätte zwischendurch abhauen können. Aber ich tat es nicht. Lieber still und schweigsam, als aufsässig und auf Jahre hier. Glücklicherweise war es eigentlich nur ein Krankenhaus. Spätestens in vier Stunden musste Herr Fuji mich gehen lassen, wenn er nicht noch einen sehr triftigen Grund fand, um mich hier zu behalten.
 

Und ich würde alles tun, damit er keinen Grund fand.
 

„Du hast Besuch, Yamato“, sagte er zu mir, nachdem er aufgelegt hatte. Ich sah ihn an und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Dein Bruder und ein Freund. Willst du mir nicht verraten, weshalb dein Vater nicht hier ist? Schließlich muss er sich doch um dich sorgen.“
 

„Nein.“
 

„Nein?“
 

„Ich will Ihnen nicht sagen, weshalb er nicht hier ist“, antwortete ich und richtete den Blick auf die Tür. Dass Takeru jetzt erst kam erfreute und erboste mich zugleich. Wer der so genannte Freund war, konnte ich mir auch denken. Taichi. Dass er mich besuchte, löste ein unkontrolliertes Kribbeln in meinem Magen aus und machte mich etwas nervös. Er sollte mich nicht hier sehen, in ein und demselben Zimmer wie dieser krankhafte Psychiater, der mir diese Fragen stellte. Ich wollte nicht, dass Taichi dachte ich sei… krank.
 

Ich war es nicht.
 

„Yama!“
 

Die Türe flog auf und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Herr Fuji an seinem Schreibtisch zusammen zuckte. Takeru rannte ins Zimmer und brachte eine Welle aus Verwirrung, Sorge und Freundlichkeit mit, die mich überrollte. Ausnahmsweise machte es mir nichts aus. Ich war froh, dass er sich so darüber freute mich zu sehen. Und ich zuckte auch nicht zusammen, als er mich stürmisch umarmte.
 

„Dir geht’s gut“, flüsterte Takeru aufgelöst. „O Gott… ich dachte schon, dass was Schlimmes passiert ist.“ Er presste mich so fest an sich, dass ich kaum Luft bekam. Vorsichtig drückte ich gegen seine Brust und er löste sich von mir. Mit vor Freude strahlenden Augen sah er mich an und lächelte erleichtert.
 

Ich lächelte zurück, sah dann zu Taichi. Er stand im Raum und wirkte auf gewisse Weise verloren. Das breite Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden und es versetzte mir einen Stich. Seine Miene war ernst, gefasst. Wie als dachte er, ich wäre wirklich…
 

krank.
 

„Hi“, sagte er leise. Ich nickte nur und wandte den Blick ab, die Lippen fest aufeinander gepresst. Wenn ich jetzt die Beherrschung verlor, wäre das für Herr Fuji ein gefundenes Fressen. Er lauerte nur darauf, dass die Maske bröckelte und er etwas fand, was er beschuldigen konnte. Aber diese Möglichkeit würde ich ihm nicht geben. Ich war der Meister der Masken.
 

Ich stand auf und sah ihn an. Herr Fuji schien überrascht, dass ich meine Worte an ihn richtete.
 

„Ich möchte, dass Sie raus gehen.“
 

„Was? Yamato…“
 

„Das ist ein vertrauliches Gespräch und Sie haben kein Recht mitzuhören, wenn es nicht in meinem Wohlwollen geschieht“, unterbrach ich ihn kühl und beobachtete, wie er böse den Mund verzog.
 

„Wenn du meinst, Yamato.“
 

Ruckartig erhob er sich und verließ den Raum, offensichtlich darüber erbost, aus seinem eigenen Büro geworfen zu werden. Takeru stieß neben mir einen leisen Pfiff aus und stupste mich in die Seite. Er ließ die Fingerknöchel knacken und beobachtete, wie die Türe laut ins Schloss fiel.
 

Mit dem Knallen wurde es kalt im Zimmer und ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Ich wollte nicht zu ihnen sehen. Ich war schreiend auf dem Schulhof zusammen gebrochen und landete in einem Krankenhaus. Wurde unter die Aufsicht eines Psychiaters gestellt, der glaubte, ich sei psychisch krank. Und jetzt waren sie beide hier her gekommen, in dem festen Glauben, ein seelisches Frack vorzufinden, das nie wieder die Wände dieser Einrichtung verlassen durfte.
 

Aber ich war nicht krank. Ich hörte keine Stimmen und das mit der Selbstverletzung… das taten so viele Leute und gerade mich wollten sie dafür bestrafen? Das… das konnte nicht sein. Taichis Gesichtsausdruck war Strafe genug gewesen.
 

Ich hatte vorhin Recht gehabt; Taichi war mir ebenfalls eine Hilfe gewesen, dem Abgrund nicht zu Nahe zu kommen. Selbst wenn nur für kurze Zeit.
 

„Wir haben uns ganz schön Sorgen gemacht“, sagte Takeru nach einer Weile. Ich drehte mich nicht zu ihnen um, stand regungslos neben dem Sessel und starrte aus dem Fenster. Ich hatte nicht die Kraft mich umzudrehen und ihren Blicken zu begegnen. Würden sie mich verachten? Als Irren abstempeln? „Wir wussten nicht, was los war.“
 

„Ich auch nicht“, erwiderte ich leise. Meine Stimme zitterte. Ich war wieder dabei die Beherrschung zu verlieren. Nur für einen Moment. Und falls ich wirklich verlieren sollte, würde dieser Moment erneut alles entscheiden. Das durfte einfach nicht passieren. Für einen Augenblick presste ich mir die Hand auf den Mund und zwang mich, durch die Nase tief ein und auszuatmen.
 

„Es war echt… grauenvoll“, redete Takeru weiter. „Du hast plötzlich geschrieen und… wir wussten nicht, was los war. Ich dachte, du… was war los?“
 

Er sprach nicht aus, was er gedacht hatte. Aber er musste es auch nicht. In gewisser Weise wusste ich es schon und es behagte mir nicht.
 

Ich dachte, du bist verrückt geworden.
 

Ich war es aber nicht und es entfachte einen kleinen Funken Wut in mir, dass Takeru dachte, er könnte es beurteilen. Diese Reaktion war übertrieben, schließlich wollte er mir nur zeigen, wie die Situation ihn verwirrt hatte, aber momentan erschien es mir die einzig richtige Möglichkeit überhaupt zu reagieren. Ich durfte keine Wut zeigen und nicht anfangen zu weinen, sonst würde Herr Fuji mich hier behalten, aber ich konnte doch… ich konnte es doch nicht einfach so hinnehmen! Und so lange es man mir nicht ansah, war es in Ordnung.
 

Das dachte ich jedenfalls. Woher hätte ich denn auch wissen sollen, dass Psychiater immer etwas fanden, was sie einem anhängen konnten? Und sei es noch so klein.
 

„Keine Ahnung“, wich ich einer direkten Antwort aus und hörte, wie Takeru hinter mir seufzte.
 

„Was wollte der Mann wissen?“, fragte er stattdessen und ließ sich auf die Liege sinken, in der ich noch vor ein paar Minuten gesessen hatte. Wo Taichi war, konnte ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen. Das kleine Stück, das er immer von mir nahm und normalerweise wieder zurück brachte, wenn er wieder bei mir war, behielt er dieses Mal für sich.
 

Ich fühlte mich klein, verletzlich und angeschlagen.
 

„Ich sollte ihm erzählen, was passiert ist“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
 

„Und? Hast du?“
 

„Nein.“
 

„Was noch?“, wollte er wissen. Sofort wusste ich, dass ich seine Neugier entfacht hatte. Takeru würde wohl noch für immer ein kleines Kind bleiben.
 

„Er wollte wissen, wieso Dad mich nicht besucht. Und er hat mir unterstellt, ich hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt und wäre in einem zu kritischen Zustand, um das Krankenhaus jetzt zu verlassen. Ich hab ihm nicht geantwortet“, sagte ich tonlos und beobachtete unten auf dem Bürgersteig eine Mutter, die eine Einkaufstasche trug und einen Kinderwagen vor sich her schob. Sie wuselte weiter und entschwand meinem Blick, der nun auf dem trostlosen, grauen Asphalt der Straße klebte.
 

„Hattest du nicht einen Nervenzusammenbruch?“, fragte Takeru verwirrt. Mir wurde klar, dass die Krankenschwester ihm das wohl erzählt hatte, bevor sie zu mir kamen. Dass sie sorgsam mit mir umgehen, langsam sprechen und nicht überschwänglich handeln sollten.
 

Idioten.
 

„Nein.“
 

„Oh…“, macht er leise. „Was war es dann?“
 

„Ich habe kurz die Kontrolle verloren“, sagte ich und erfreute mich praktisch an dem Schweigen, das daraufhin entstand. Ich wollte mit Takeru nicht darüber sprechen, was passiert war. Er hatte Moms Tod gut weggesteckt und war immer in der Annahme gewesen, dass es sonst keine Sorgen gab und ich wollte ihm keine bereiten. Wenigstens er sollte normal leben, wenn ich es schon verbockt hatte.
 

Nach einer Weile ging schwungvoll die Türe auf und Herr Fuji kam herein, seine schlechte Laune über seinen Rausschmiss, schien verflogen. Mit einer fließenden Bewegung setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und sah uns alle hintereinander an. Anhand von seinem Blick, der hinter mir haftete, vermutete ich, dass dort Taichi war. Einen Moment verspürte ich den Drang, mich zu ihm umzudrehen, um ihn zu sehen und zu wissen, dass er mich nicht für verrückt hielt, aber ich tat es nicht. Ich hatte zu große Angst davor, dass mich das Gegenteil erwarten würde.
 

„So Yamato“, fing er gutgelaunt an und sah zu mir. Ich nickte stumm. „Ich habe über dich nachgedacht und über deine Worte, dein Verhalten. Du meinst du hattest keinen Nervenzusammenbruch, ja?“
 

„Hatte ich das nicht schon gesagt?“, entgegnete ich kühl.
 

„Natürlich, Yamato. Das hast du schon.“ Er lächelte väterlich. In mir stieg die Übelkeit hoch. „Deiner Meinung nach hast du nur kurz die Kontrolle verloren.“
 

„Ich wusste nicht, dass Psychiater seit Neuestem die privaten Gespräche ihrer Patienten abhören dürfen, Herr Fuji“, sagte ich, meine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. Ich wunderte mich, dass ich so klar denken konnte. Mein normaler Hang zum Abdriften oder Abschalten bei Situationen, die mir nicht gefielen, schien hier aus irgendeinem Grund nicht vorhanden zu sein. „Wäre das für mich nicht ein Grund auf der Stelle hier raus zu gehen und sie zu verklagen?“
 

Er wurde weiß im Gesicht und schluckte. Er nahm meine Worte ernst und es erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung, auch wenn ich in dem geheimen Wissen war, dass ich das nie gemacht hätte und auch nie konnte. Nicht ich.
 

„Und ich habe folgende Diagnose daraus gezogen“, redete er mit gepresster Stimme weiter, wie als hätte ich nie etwas gesagt. „Deine Depressionen sind nur allzu offensichtlich. Genauso wie dein gestörtes Sozialverhalten. Hinzu kommt das Borderline-syndrom und der Verdacht auf Schizophrenie.“ Er lächelte mich gütig an. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
 

„Depressionen? Gestörtes Sozialverhalten? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Doktor?“, kam mir Taichi unerwartet zur Hilfe. Seine tiefe Stimme und das, ungewohnt kalte, Lachen, schickten mir einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken. „Yamato ist nicht krank.“
 

„Entschuldigen Sie, aber das kann ich ja wohl besser beurteilen“, erwiderte Herr Fuji steif und richtete sich auf.
 

„Nach einer Stunde, ja?“
 

„Das ist mein Beruf!“
 

„Ich kenne Yamato schon deutlich länger als Sie und sein Sozialverhalten ist alles andere als gestört. Zudem liegen Sie bei den Depressionen auch sehr daneben“, sagte Taichi scharf und seine Gestalt löste sich aus den Schatten. Ich zuckte zusammen, als er plötzlich neben mir stand. Ärgerte mich einen Moment später dafür schon wieder unglaublich, als ich sah, wie Herr Fuji interessiert die Augenbraue hob. „Und selbst wenn er sich ritzt – ist doch egal, oder? Wenn er es längere Zeit nicht mehr getan hat, hat er sich selbst geheilt. Ohne Ihre verdammte Hilfe, Sie Quacksalber!“
 

„Sie können das sehr schlecht beurteilen, Sie sind emotional in diese Sache…“
 

„Hören Sie doch auf damit!“, rief Taichi sauer. „Sie wollen ihn doch nur hier behalten, damit sie etwas mehr Geld bekommen und weil es sie ärgert, dass er nicht mit Ihnen redet. Sagen Sie mir nicht, ich wäre emotional in diese Sache verwickelt, wenn Sie sich selbst nicht einmal davon distanzieren können!“
 

„Junger Mann, jetzt lehnen Sie sich eindeutig zu weit aus dem Fenster!“
 

„Ach wirklich?“
 

„Ja!“, donnerte Herr Fuji, vor Zorn pochte eine Ader auf seiner Stirn. Ich packte hektisch Taichis Handgelenk, wollte ihn dazu bewegen, mich anzusehen und damit aufzuhören, aber er schüttelte meine Hand ab. „Sie können nicht entscheiden, was ich mit ihm mache, er ist mein Patient!“
 

„Ist er nicht!“
 

„Natürlich ist er das und ich entscheide, dass er hier bleibt!“
 

„Ach ja? Und weswegen? Weil Sie ihn nicht leiden können und ihn gerne ein bisschen quälen? Damit er in diesem Irrenhaus gänzlich zerbricht und Sie etwas haben, woran Sie herum kritteln können, ohne dass Ihnen jemand dazwischen funkt?!“ Taichi stützte die Hände vorne auf seinem Schreibtisch ab und sah Herr Fuji erzürnt an. Dieser blickte genauso böse zurück.
 

Takeru war neben mir aus seinem Stuhl geschnellt, traute sich allerdings nicht an Taichi heran. Ich stand regungslos da und wusste nicht, was ich tun sollte. In meinem Innern schwankte es zwischen Entsetzen, Freude, Wut und… einem riesigen Bienenschwarm, der mich von Innen aufzufressen drohte. Ich trat von einem Fuß auf den anderen und sah zu ihnen hinüber, mein Atem war flach.
 

„Lassen Sie ihn gehen oder ich hetze Ihnen meinen Vater auf den Hals“, drohte Taichi mit bedrohlicher tiefer Stimme, die mich an das Knurren eines Hundes erinnerte. Herr Fuji schreckte kurz zurück, dann blitzten seine grünen Augen genauso sauer wie zuvor.
 

„Susumo Yagami, richtig?“, zischte er wütend. Taichi lehnte sich ein Stück zurück und grinste selbstgefällig.
 

„Richtig.“
 

„Dann sehen wir uns vor Gericht“, sagte Herr Fuji gefasst und setzte sich wieder hin, schien uns zu ignorieren. Taichi nickte in Richtung Tür und machte Anstalten das Zimmer zu verlassen. Ich sah verwirrt zu Takeru hinüber, der ebenso wenig begreifen zu schien, wie ich. Eilig folgten wir Taichi nach draußen. Als wir uns von der Krankenschwester in mein Zimmer führen ließen, legte sich die spürbare Wut um Taichi etwas und er atmete laut aus.
 

„Tut mir leid, dass ich so ausgerastet bin“, sagte er leise und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ich konnte einfach nur nicht mit anhören, was er über dich gesagt hat.“
 

Mir schoss augenblicklich die Röte ins Gesicht und der wütende Bienenschwarm in meinem Magen flog orientierungslos durch die Gegend. Ich lächelte ihn aufmunternd an und sagte leise: „Kein Problem. Ich… ich … danke.“ Er grinste, ungemein erleichtert und nur einen Moment später fand ich mich in seinen Armen wieder, die Nase gegen sein Schlüsselbein gedrückt. Kurz war ich unsicher, wie ich reagieren sollte, dann schlang ich zögernd die Arme um ihn.
 

Die Bienen summten zufrieden.
 

„Äh, Tai“, sagte Takeru neben uns und räusperte sich vernehmlich. Ich zuckte zusammen, aber Taichi machte keine Anstalten die Umarmung zu lösen. Über meinen Kopf hinweg sah er meinen kleinen Bruder an. „Was meinte er damit, dass wir uns vor Gericht sehen?“
 

Taichi löste sich nun doch von mir. Lächelte verlegen.
 

„Mein Dad ist Anwalt. Ich hab ihn praktisch… verklagt“, erklärte er.
 

„Was?!“, rief ich erschrocken aus. „Taichi, du kannst ihn doch nicht verklagen!“
 

„Wieso nicht?“, erwiderte er überrascht. „Du hast doch gesagt, du würdest es auch tun. Außerdem hat mein Dad bisher noch keinen Prozess verloren. Und das wird er auch nicht – nicht gegen so einen Idioten.“ Ich war zu verlegen, um jetzt auch noch etwas zu erwidern. Schließlich hatte er es für mich getan. In meinem Magen stieg ein unbekanntes Gefühl auf. Er hatte das für mich getan. Er hatte sich für mich eingesetzt und somit verhindert, dass der Psychiater mich für unbestimmte Zeit hier behalten hatte. Ganz ohne dabei an die Konsequenzen zu denken oder an sich.
 

Nur an mich.
 

Es war ein gutes Gefühl.
 


 

~ Taichis POV ~
 


 

Die Türen öffneten sich und ein Schwall kalter Luft drang uns entgegen. Hastig schloss ich meine Jacke, Yamato steckte die Hände in die Jackentaschen und zog die Schultern hoch. Einzig und allein Takeru schien gegen die Kälte immun zu sein. Er ging, wieder gut gelaunt, neben uns die Straße entlang und warf immer wieder interessierte Blick in die Umgebung. Ein kleiner Hund kam an uns vorbei und rieb sich zutraulich an Yamatos Bein, bis sein Herrchen ihn weiter rief.

Takeru lachte.
 

Wir liefen hinunter in den U-Bahnschacht und stiegen in einen der Züge ein, der Richtung Innenstadt fuhr. Yamato stand die ganze Zeit schweigend da und starrte zu Boden. Einen Moment stieg in mir der Gedanke auf, ihn zu fragen, ob ich mich nicht umsonst für ihn eingesetzt hatte, aber ich ließ ihn wieder fallen. So etwas wollte ihn jetzt nicht fragen. Er war gerade erst der Hölle entkommen, da musste ich ihn nicht wieder dran erinnern. Dennoch stand er mir etwas zu weit weg, aber ich wagte es nicht, ihn zu mir zu ziehen, da ich noch immer Takerus misstrauischen Blick vor Augen hatte, als ich Yamato vorhin im Krankenhaus umarmt hatte.
 

Als wir wieder hinauf in die Freiheit kamen, war es dunkel. Neben mir gähnte Takeru herzhaft und ließ ein müdes Brummen hören. Kurz wanderte mein Blick hinüber zu Yamato, aber er starrte noch genauso zu Boden, wie ein paar Minuten zuvor. Er schien so sehr in Gedanken versunken, dass er zuerst gar nicht mitbekam, dass ich ihn ansprach.
 

„Yama?“, versuchte ich es ein zweites Mal und er sah verwirrt auf.
 

„Hm?“
 

„Du…“, fing ich an und stockte, als mir nicht dir richtigen Worte einfielen. Was sollte ich denn auch fragen? Ob er sich sicher war, dass er nicht doch verrückt war und in dieses Krankenhaus gehörte? Ich atmete tief ein und entschloss mich, es sanfter an zu gehen. „Stimmt es, dass du dich ritzt?“ Das war zwar nicht unbedingt die sanfte Art, die ich hatte haben wollen, aber solange Yamato in meiner Nähe war, konnte ich keinen vernünftigen Gedanken fassen.
 

Yamato stutzte und warf einen vorsichtigen Blick zu Takeru. Dieser blieb stehen und sah seinen Bruder verständnislos und etwas misstrauisch an. Mir wurde klar, dass Takeru davon nichts wusste und ich Yamato gerade in eine große Bredouille gebracht hatte.
 

Ich lächelte ihn entschuldigend an.
 

„Wieso sollte er das tun?“, fragte Takeru mich scharf.
 

„Ich weiß nicht, ich…“, fing ich unsicher an, fühlte mich furchtbar unwohl. Ich wollte die Situation nicht noch schlimmer machen, als sie ohnehin war. Glücklicherweise kam Yamato mir zu Hilfe.
 

„Takeru, er wollte es doch nur wissen“, sagte er besänftigend zu seinem Bruder. „Schließlich hat Herr Fuji es gesagt.“
 

„Und, tust du es?“, wollte Takeru missgelaunt wissend. Er sagte dies in einem Ton, wie als wäre es das Dümmste, was man machen konnte, um sich selbst und seine Mitmenschen zu blamieren und entstellen. Yamato wand sich sichtlich und schüttelte dann den Kopf. Es verwunderte mich etwas, aber ich sagte nichts dazu. Takeru warf mir einen spöttischen Blick zu, schnaubte und trabte voran. Er schien damit zufrieden, doch ich hatte kurz die Angst in seinen Augen aufflackern sehen, als Yamato gezögert hatte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, schlenderte er vor uns dahin, warf immer wieder einen kurzen Blick zurück.
 

Yamato lief dich hinter mir. Sah kurz zu seinem Bruder, dann hielt er mich am Ärmel fest und ich blieb überrascht stehen. Er räusperte sich leise und schluckte.
 

„Sag es ihm nicht, okay?“, flüsterte er und blickte mich verzweifelt an. „Er… er weiß es nicht. Und er soll es auch nicht wissen. Takeru würde es nicht verstehen. Er… du hast seinen Blick gesehen. Er denkt, es ist idiotisch und dumm.“
 

Fassungslos starrte ich ihn an. Sagte er mir damit, dass er sich selbst verletzte?
 

„Bitte, Taichi…“
 

Ich nickte stumm, schluckte den großen Klos in meinem Hals hinunter.
 

Yamato lächelte mich zaghaft an und wandte sich ab, ging Takeru hinterher, der ungeduldig an der nächsten Straßenecke auf uns wartete. Als er sah, dass wir uns wieder in Bewegung setzten, bog er ab und verschwand in der Dunkelheit. In meinem Kopf ratterte es unablässig, ich hatte das Gefühl, gleich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Bevor Yamato sich all zu weit von mir entfernen konnte, griff in nach seinem Handgelenk und zog ihn zurück.
 

Er sah mich erschrocken an.
 

„Wie lange?“, platzte ich heraus, konnte mich nicht mehr zurück halten. Ich musste es wissen! Wenn Yamato sich wirklich selbst verletzte, dann… ich konnte mir gar nicht vorstellen, was alles in seinem Leben schief gelaufen sein musste, damit dass passiert war. Von Takeru wusste ich, dass ihre Mutter gestorben war, kurz darauf die Großmutter. Jedoch schien Takeru das alles überwunden zu haben, wieso Yamato nicht?
 

Sie waren doch Brüder.
 

„Was meinst du?“, fragte Yamato, sah mich dabei allerdings nicht an. Mir war klar, dass er eigentlich ganz genau wusste, was ich meinte.
 

„Wie lange?“, wiederholte ich deshalb nur und zwang ihn, mich anzusehen. Mit zwei Fingern fixierte ich sanft sein Kinn und hob es an. Die blauen Augen huschten umher, bis sie sich auf einen fernen Punkt über meinem Kopf fixierten.
 

„Seit ich… zwölf bin, glaub ich“, flüsterte Yamato leise. „Aber ich…“
 

„Wieso?“, unterbrach ich ihn verständnislos. Mittlerweile konnte ich Takerus Reaktion nachvollziehen. Es tat weh zu wissen, dass er innerlich so verzweifelt war. Takeru musste es wahrscheinlich noch viel mehr schmerzen. Er lebte schließlich schon immer mit ihm zusammen.
 

„Es…“, er stockte und biss sich auf seine zitternde Lippe. „Es wurde zuviel. Alles… Ich hab’s nicht mehr ausgehalten.“ Er riss sich von mir los und verschränkte die Arme vor der schmalen Brust, rieb sich fröstelnd über die Oberarme und fügte leise hinzu: „Aber ich hab’s nicht mehr getan. Ehrlich.“
 

Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben konnte, aber ich wollte ihn zu nichts zwingen. Jedenfalls nicht hier. Zudem sah ich das Zittern seines Körpers, auch wenn er es zu verbergen versuchte, und das hatte sicherlich nichts mit der Kälte zutun. Wie als hätte er meine Gedanken gespürt, wandte Yamato sich von mir ab und straffte die Schultern.
 

Er war stark, das musste man ihm lassen.
 

„Gehen wir weiter, sonst muss Takeru so lange vor der Haustüre warten“, sagte er und seine Stimme war wieder gefasst. Tonlos.
 

Ich fragte mich, ob ich zu nah an ihn heran getreten war und traute mich nicht mehr, das Wort an ihn zu richten. Wie würde ich wohl reagieren, wenn mich jemand auf dieses pikante Thema ansprechen würde? Wahrscheinlich wäre es mir unangenehm und ich wäre nicht gewillt darüber Auskunft zu geben. Dass, was Yamato mir verraten hatte, war eigentlich schon viel zu viel.
 

Schweigend gingen wir nebeneinander her, seine Worte schwirrten in meinem Kopf herum. Als weiße Dunststreifen, die wie Wasser durch meine Finger glitten, wenn ich sie ergreifen wollte. Es waren zu viele und doch zu wenige.
 

Es wurde alles zu viel… Alles. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten.
 

Was meinte er damit? Was war in seinen Augen alles? War seine Psyche um so viel schwächer, als die von Takeru oder war Takeru einfach nur nicht so anfällig für solche Reaktionen? Hatte Yamato etwas erlebt, was Takeru nicht erlebt hatte? Die Antwort darauf fand ich nicht. Nicht nur deswegen, weil Yamato so dicht neben mir lief und ich die ganze Zeit über den Drang verspürte, nach seiner Hand zu greifen, sondern auch deswegen, weil sich etwas in mir dagegen wehrte, die Antwort hören zu wollen. Wahrscheinlich würde ich sie nicht einmal hören wollen, wenn Yamato sie mir höchst persönlich erzählte.
 

Ich schielte zu Yamato hinüber, bemerkte, dass er meinen Blick erwiderte. Er wandte sich hastig ab, während sich ein Lächeln auf mein Gesicht schlich. Kurz warf ich einen Blick nach vorne. Dort in der Dunkelheit konnte man das große Hochhaus erkennen, in dem die beiden Ishidas wohnten. Mein Auto parkte davor und heute Abend würde ich wieder nach Hause fahren. In eine Welt ohne Yamato.
 

Ich atmete tief durch und ergriff seine Hand. Yamato zuckte zusammen, sah mit undefinierbarem Blick zu mir hoch, dann senkten sich die blauen Augen wieder gen Boden.
 

Lange Finger schlangen sich um die Meinen und mein Händedruck wurde zaghaft erwidert.
 


 

Part IX

END
 


 


 


 

Nach langer Zeit endlich mal wieder was von AYW - und natürlich ein Lebenszeichen von mir :D Tut mir leid, dass es doch wieder so lang wurde, der viele Urlaub hat mich doch irgendwie fertig gemacht.... >_>
 

Jaahh, das mit dem Anwalt war heftig, aber nach langen Gesprächen (xD), weiß ich jetzt, dass es passend war... oder was meint ihr? Und falls es noch jemandem komisch vorkommen sollte, warum Herr Fuji gleich wusste, er Taichis Vater ist: In meiner Vorstellung sieht Taichi genauso aus wie sein Dad >D Aber das kommt eh noch mal.
 

Ich möchte mich hier noch mal dafür bedanken, dass so viele Kommentare zum letzten Kapitel eingegangen sind, das ehrt mich jedes Mal wirklich sehr - außerdem gebt ihr mir so viel Inspiration, dass ich gar nicht mehr weiß, wohin damit :D Wie immer bin ich jetzt schon ganz gespannt darauf, was ihr alle so zu dem neuen Kapitel sagt... :)
 

Alles Liebe & einen schönen Schulanfang (wobei ich glaube, dass alle außer Bayern eh schon dran sind, oder? oô)
 

Nikolaus
 

PS: Und wieder ein großes DANKE an meine Erste-Sahne-Betas :D

.... And We Figured Out That (Takeru)

Gebetat byTweetl
 


 

~ Takerus POV ~
 


 

Aus irgendeinem Grund gefiel mir die Freundschaft zwischen Taichi und Yamato nicht. Die komische Vertrautheit die zwischen ihnen herrschte und die, vor allem von Taichi, an allen Enden und Ecken gezeigt und genutzt wurde. Die Blicke die sich zuwarfen und die Art, wie sie miteinander redeten. Es war nicht so, dass ich Yamato es nicht gönnte, endlich einmal einen Freund zu haben, der ihn nicht ausnutzte und sich wirklich für ihn interessierte. In gewisser Weise freute es mich für ihn.
 

Aber eben auch nur in gewisser Weise.
 

Wieso musste er denn auch Taichi als neuen Kumpel haben? Sie hatten sich doch gehasst, als sie sich das erste Mal gesehen hatten. Yamato hatte ihm dutzende Wörter an den Kopf geschmissen, die alles andere als freundlich gewesen waren und Taichi hatte danach ausgesehen, als ob er ihn eigenhändig würde ermorden wollen. Yamato hatte immer abfällig von Taichi gesprochen, von seiner Überheblichkeit und seinem Drang nach Aufmerksamkeit. Zwar redete er jetzt nicht mehr über ihn, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, was das bedeutete. Yamato mochte Taichi, wirklich.
 

Taichi hatte sich schon früher ein bisschen für Yamato interessiert, natürlich. Ich war sogar wirklich überrascht gewesen, als er mich all die Dinge fragte. Es hatte mich wahnsinnig fertig gemacht, dass ich so wenige Dinge über meinen Bruder wusste und in dieses Tief war ich nur gefallen, weil Taichi unbedingt etwas über meinen Bruder erfahren wollte. Und ich war nicht so naiv wie Yamato und sah den eigentlichen Sinn dahinter nicht. Ich selbst hatte es schön öfters so gemacht, zum Beispiel als ich Kouji ins Bett kriegen wollte. Aus dem dümmlichen Grund, einmal beide Zwillinge flachgelegt zu haben. Leider war Kouji nicht so einfach darauf hereingefallen wie Kouichi und hatte mich abblitzen lassen.
 

Doch Yamato kannte dies nicht. Er hatte keine Ahnung, er war mit seinen achtzehn Jahren noch nicht einmal aus, noch nie auf einer Feier gewesen, bei der man sich besoffen und danach haltlos gekotzt hatte. Er kannte die zahlreichen Anmachen nicht, mit der einem Frauen, und auch Kerle, an den Hintern fassten und versuchten, einen ins Bett zu bekommen. Es erschreckte mich regelrecht, dass Taichi diese primitive Methode bei Yamato anwandte und das Yamato es nicht kapierte.
 

Wo war da die überragende Intelligenz meines Bruders?
 

Dann war mir jedoch aufgefallen, dass die typischen Laber-nicht-sondern-schlaf-endlich-mit-mir-Blicke von Taichi sich in etwas Anderes umgewandelt hatten. Meine Angst um Yamato, dass seine erste Freundschaft in einer harmlosen Bettgeschichte enden würde, war verschwunden. Jedoch nicht gänzlich, sie hatte sich einfach in anderen Bereichen wieder ausgebreitet. In Bereichen des Neides, der Eifersucht und der Sorge.
 

Neid, weil Yamato, obwohl er nie etwas zu den Unterhaltungen beitrug und mehr abweisend, als aufgeschlossen war, so viel Aufmerksamkeit von Taichi erhielt, den es gar nicht zu jucken schien, dass sein Gegenüber unbeteiligt ins Nichts starrte. Eifersucht, weil Taichi sich somit weniger mit mir beschäftigte und so meine Künste im Fußball von ihm nicht mehr genügend gewürdigt wurden. Es war natürlich in gewisser Weise lächerlich, aber ich brauchte es. Dad war doch nie da, um mich zu loben. Und letztendlich Sorge, weil Taichi sich so offensichtlich in meinen ahnungslosen Bruder verliebt hatte. Ich konnte es sehen, bei jedem Blick, den Taichi Yamato zuwarf. Diese bedingungslose Hingabe, egal wie unfreundlich Yamato sein würde.
 

Yamato hingegen begriff natürlich nicht, dass er es nur noch schlimmer machte, wenn er all die Berührungen von Taichi zuließ und immer wieder auf diese Art und Weise lächelte, die Taichi sichtlich kirre im Kopf werden ließ. Ohne es mir wirklich eingestehen zu wollen, war ich auch auf Taichi etwas eifersüchtig, denn Yamato lächelte in meiner Gegenwart zwar auch, aber nicht so ehrlich und viel, wie bei ihm.
 

Ich fühlte mich ausgeschlossen, ein Gefühl, das ich so sehr hasste.
 

Ich hatte meine Art so geändert, dass ich keine Scheu mehr davor hatte, andere Leute anzusprechen und so oft zu lachen, bis sie einfach nicht mehr anders konnten, als mitzulachen. Ich hatte gelernt, mich innerhalb von Minuten der Situation anzupassen und mich wie ein Chamäleon unter die Masse zu mischen, ohne aufzufallen. Jetzt nützte mir diese Begabung überhaupt nichts mehr, denn die beiden hatten nur noch Augen füreinander. In Taichis Fall sehr bewusst, in Yamatos eher unbewusst. Er war es nicht gewöhnt, von einem Menschen so offensichtlich gemocht zu werden, das sah ich ihm an.
 

Als sie während des ganzen Rückwegs vom Krankenhaus so weit hinter mir blieben, stiegen schon die schlimmsten Gedanken in meinem Kopf auf. Was, wenn die beiden dort hinten heimlich über mich tuschelten? Oder noch schlimmer: Sie küssten sich!
 

Hastig sah ich zurück, stellte allerdings zu meiner Erleichterung fest, dass sie schweigend nebeneinander hergingen und kein Wort wechselten. Yamato schien regelrecht wütend zu sein. Zwar konnte ich es aus dieser Entfernung und erst Recht nicht bei diesem Licht genau sagen, aber wenn er so heftig auf seiner Lippe herum kaute, bedeutete es meistens nichts Gutes.
 

Für einen Moment war ich froh, dass ich nicht bei ihnen war und drehte mich wieder um. Ich fing an, den Abend zu planen. Yamatos Nervenzusammenbruch, oder wie er es nannte, Kontrollverlust, war überraschend gekommen und hatte mich ziemlich getroffen. Ich hatte wirklich Angst gehabt, ihn zu verlieren. Die Hilflosigkeit, die ich in dem Moment verspürt hatte, als ich neben ihm stand, war schlimmer gewesen, als jedes andere Gefühl, das ich jemals empfunden hatte. Es war grauenvoll gewesen. Meine eigentlich Pläne, mit Yamato über unsere Mutter zu reden, hatte ich kurzfristig sausen lassen müssen. Ich hatte nicht angenommen, dass er schon so früh wieder bei Verfassung war.
 

Konnten wir das jetzt nicht nachholen?
 

Ich stockte, als ich das Hochhaus erreichte. Nur eine einzelne Laterne an der Fassade beleuchtete den Weg, ließ Bäume und Büsche lange Schatten werfen und tauchte alles in ein unheimliches Dunkel. Taichis Wagen stand auf der Auffahrt und er müsste sicherlich nach Hause gehen, er hatte erzählt, dass seine Mutter für heute Abend ein großes Essen plante. Es würde Yamato sicherlich einiges an Überwindung kosten, etwas zu erzählen, aber ich wusste, dass er eine starke Psyche hatte.
 

Ein Grund mehr, weshalb er sich nicht selbst verletzen würde. Ich kaufte Taichi nicht ab, das er diese Frage nur gestellt hatte, weil Herr Fuji das angesprochen hatte. Er hatte so überzeugt geklungen, als… als ob er das selbst geglaubt hätte. Es befürchtet hätte. Aber Yamato tat es nicht. Yamato würde so etwas nie tun.
 

Oder?
 

Ich drehte mich erneut zu ihnen um, nur um feststellen zu müssen, dass sie Händchen hielten. Sie sahen sich zwar nicht an, aber Taichi machte einen unglaublich erleichterten und glücklichen Eindruck. Auf seinem Gesicht prangte ein seliges Lächeln. Yamatos Wangen waren vor Kälte und vor Verlegenheit, das war mir sofort klar, rosa angelaufen und er starrte angestrengt zu Boden, während er dicht neben Taichi ging. Die Situation war so absurd, dass ich fast gelacht hätte.
 

Aber nur fast.
 

„Yama, hast du die Schlüssel?“, fragte ich und versuchte, nicht allzu unfreundlich zu klingen. Ich wusste nicht genau, was diese Wut in mir hervor rief, aber ich konnte den Anblick nicht ertragen. Er war zu… perfekt.
 

„Oh“, machte Yamato verwirrt und fing an in seinen Taschen herum zu kramen, löste dazu den Kontakt mit Taichi. Dessen Lächeln verschwand, erschien jedoch gleich wieder, als er ebenfalls das leise Klirren hörte, was Yamato zu überhören schien. Taichi griff schamlos in die hintere Hosentasche von Yamato und holte den kleinen Bund hervor. Sofort lief mein Bruder rot an und nahm den Schlüssel stotternd entgegen. „Danke… ich… hier.“ Er streckte ihn mir entgegen und ich wandte mich ab.
 

Sie passten zueinander wie ein Ei zum Anderen. Sie ergänzten sich perfekt. Die Größe stimmte. Das Aussehen. Der Charakter. Und gerade das störte mich maßlos. Yamato wurde von Taichi verehrt, ja, geradezu angehimmelt und er merkte es nicht! Wie konnte das nur sein? Wie hatte Yamato es nur verdient, nach all den Jahren der Untätigkeit, als Außenseiter, jemand, der sich nie darum bemüht hatte, von den anderen Menschen gemocht zu werden, von jemandem wie Taichi Yagami angebetet zu werden?!
 

Das war nicht fair.
 

„Ich geh dann mal nach Hause“, meldete Taichi sich wieder zu Wort. Es kostete mich Überwindung, mich jetzt wieder umzudrehen, aber zu meinem Glück küssten sie sich nicht. Auch wenn Taichi so aussah, als ob er es liebend gerne getan hätte.
 

Sein Blick blieb kurz an Yamatos Lippen hängen und ein leises Seufzen entfloh ihm. Yamato hob nur eine Hand zum Abschied und scheuchte mich dann ins Treppenhaus, ohne sich noch einmal umzublicken, während ich in der Spiegelung der Glastüre Taichis sehnsüchtigen Blick sehen konnte.
 

Unglaublich, aber Yamato kapierte es wirklich nicht.
 

Manchmal war ich mir nicht mehr so sicher, wer hier der Jüngere von uns beiden war. Solch eine Naivität legte ich sicherlich nicht an den Tag.
 

Schweigend gingen wir die endlos vielen Treppenstufen hinauf. Yamato ging langsam, aber ich wusste, dass das ausnahmsweise nicht daran lag, dass er jede Art von Sport verabscheute, selbst total tollpatschig, unsportlich und faul war, sondern daran, dass er erschöpft war. Ich beobachtete ihn von der Seite und erst jetzt fielen mir die dunklen Ringe unter seinen Augen auf, die bleiche, fast schon weiß-leuchtende Haut.
 

Würde er das Gespräch noch durchhalten, oder würde er mir jeden Moment vor Müdigkeit in Ohnmacht fallen?
 

Als ich die Türe aufsperrte, lehnte Yamato sich an den Türrahmen und schloss die Augen, wartete geduldig, bis ich sie geöffnet hatte und hindurch getreten war. Dann erst folgte er mir, schloss sie hinter sich und legte den Riegel vor. Ich wollte gerade den Mund aufmachen und sagen, dass Dad noch nach Hause kam, da nickte er beiläufig zur Garderobe. Dort standen schon ein paar Schuhe.
 

„Er ist schon zu Hause.“
 

Ich verschluckte meinen eigenen Kommentar. Mir selbst wäre das nie aufgefallen.
 

„Willst du noch was Essen?“, fragte Yamato, während er seine Jacke auszog und aufhängte.
 

Ich schüttelte den Kopf, erwiderte: „Nein. Taichi und ich haben was gegessen, bevor wir zu dir gekommen sind. Wir dachten nicht, dass du schon so früh wieder wach bist. Die Ärztin sagte, dass es Stunden dauern wird. Sorry. Hätten wir gewusst, dass du schon wach bist, hätten wir dir was mitgenommen.“
 

„Kein Problem“, sagte er leise und unterdrückte ein Gähnen. „Ich hab keinen Hunger.“
 

„Du hast seit… gestern Abend nichts mehr gegessen“, erinnerte ich ihn, ritt allerdings nicht weiter auf der Sache herum, als er gleichgültig mit den Schultern zuckte. Yamato war zu dünn, mir fiel es auf und er wusste es auch, aber wenn er nichts Essen wollte, konnte ich ihn nicht dazu zwingen. Er war sturer als ein Esel.
 

Er verschwand im Bad und ich ging ins Wohnzimmer. Dort lag die Fernsehzeitung aufgeschlagen auf dem Sofa und ein dreckiger Teller, samt Besteck, stand noch auf dem kleinen Tisch davor. Also war Dad wirklich schon da. Ich rückte den Teller beiseite, legte die Füße auf den Tisch und wartete darauf, dass mein Bruder wieder kam. Lustlos schaltete ich den Fernseher ein, sah mir eine Sendung über Hunde im Tierheim, das neueste Video von Dir en Grey und eine Kochshow über die Vorteile von Wasabi an.
 

Bis Yamato zurück kam, musste ich kurz eingenickt sein. Das vorsichtige, liebevolle Rütteln an meiner Schulter, das sanfte Streichen über meine Haare, mit dem er mich jeden Morgen weckte, und mein leise geflüsterter Name holten mich wieder in das Hier und Jetzt zurück. Ich schlug die Augen auf und sah zu ihm hoch. Er stand vor mir, in der schwarzen Boxershorts und dem großen, lila T-Shirt. Es gehörte mal mir, aber mittlerweile war es mir zu klein.
 

„Du solltest ins Bett gehen“, sagte er leise, reichte mir die Hand und zog mich hoch. Wobei ich ihn eher zu mir herunter zog.
 

„Yama, ich würde gerne noch mit dir über was reden“, erwiderte ich hastig, setzte mich wieder hin und drückte ihn neben mir auf die Sofakissen. Überrascht sahen mir die blauen Augen entgegen.
 

„Worüber?“
 

„Über…“, ich zögerte. „Über Mum, Yama.“
 

Seine Lippen verengten sich zu einem dünnen Strich, ansonsten blieb sein Gesicht ausdruckslos.
 

„Wieso?“, fragte er tonlos.
 

„Weil… ich würde einfach gerne etwas über sie wissen wollen“, sagte ich lahm, suchte nach den richtigen Worten. Was sollte ich denn auch schon sagen? Dass ich wollte, dass er nicht weiterhin mehr wusste, als ich? Dass ich es unfair fand, dass er Mum so gut gekannt hatte und ich nicht? Dass ich ihn in gewisser Weise dafür hasste, dass er nicht selbst darüber sprach? Dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, glaubte, ein mieser Sohn zu sein, weil ich so selten an sie dachte?!
 

Niemals.
 

„Du hast mir nie erzählt, wie sie war. Und Dad auch nicht.“
 

„Dad redet nie über sie“, warf Yamato grimmig ein.
 

„Ja, aber du auch nicht“, erwiderte ich scharf. „Ihr beide verliert nie ein Wort darüber. Aber ich würde es nun mal gerne wissen, schließlich war sie auch meine Mum. Und da ist es wohl nicht zu viel verlangt, ein bisschen was über sie erfahren zu wollen, oder?“ Eigentlich hatte ich gar nicht so wütend reagieren wollen, aber ich spürte, wie Yamato auf Distanz ging. Er schottete sich von mir ab, er wollte nicht mit mir reden. So wie immer.
 

„Doch“, sagte er kühl und ich stutzte. „Jetzt schon. Es ist spät, ich hatte einen anstrengenden Tag und ich würde jetzt gerne schlafen. Noch… so was, kann ich nicht noch mal gebrauchen.“ Er erhob sich und wandte sich von mir ab, ging aus der Türe und ließ mich einfach hier sitzen. In mir buhlten Ungläubigkeit, Verwirrung und Wut um die Macht und am Ende, war es die Wut, die siegte. Wie immer.
 

Wieso wollte er nicht mit mir darüber reden? War es wirklich so tragisch, dass ich erst nach etlichen Jahren nach ihr fragte? Aber sie war meine Mutter… irgendwer musste mir doch etwas über sie sagen können. Ich wollte wissen, wie sie gewesen war, was sie gemocht hatte… ob sie mich gemocht hatte. War mein schlechtes Gewissen unbegründet?
 

Herrgott, ich wusste ja noch nicht einmal wie sie gestorben war. Dad meinte immer, es sei ein Herzinfarkt gewesen, aber an manchen Tagen, war es auch ein Gehirntumor oder ein drittes, tödliches verlorenes Kind. Yamato reagierte auf keine dieser Fragen. Wenn ich ihn darauf ansprach, verstummte er, ging aus dem Raum oder zeigte mir für mehrere Stunden die kalte Schulter.
 

Genauso wie jetzt.
 

Sauer setzte ich mich gerade hin, starrte auf den Fleck, an dem mein Bruder geraden noch gesessen hatte und stand dann ebenfalls auf. So einfach würde ich ihn jetzt nicht davon kommen lassen! Ich lief ihm hinterher, erwischte ihm im Bad. Er lehnte an der Wand, putzte sich die Zähne und öffnete träge ein Auge, als ich eintrat. Zwar schien er zu ahnen, was ich vorhatte, tat aber nichts, um es zu verhindern. Wieder mit geschlossenen Augen wartete er ab, bis ich etwas sagte.
 

„Ich will es wissen.“
 

„Ich weiß“, sagte er leise, ging zum Waschbecken und spülte sich den Mund aus. Mit einer raschen Bewegung hatte er sich etwas Wasser ins Gesicht gespritzt und trocknete es an einem der weißen Handtücher ab. Als er wieder zu mir sah, waren die dunklen Ringe unter seinen Augen nur noch deutlicher.
 

Plötzlich fühlte ich mich unwohl.
 

„Dann erzähl mir was“, forderte ich dennoch, sah überrascht, dass er den Kopf schüttelte.
 

„Geh zu Dad und frag ihn.“
 

„Der wird mir nie was sagen“, erwiderte ich grimmig. „Du weißt doch, wie er ist.“
 

„Momentan ist er angetrunken und würde dir wahrscheinlich sogar von seinen verschiedenen One-Night-Stands erzählen, wenn du’s geschickt genug anstellst“, sagte er und fügte auf meinen verwirrten Blick hinzu: „Ich hab die Bierflaschen gesehen, als ich vorhin in der Küche war. Du hast im Wohnzimmer geschlafen, ich wollte dich erst wecken, wenn ich damit fertig bin.“
 

Mit damit meinte er das all abendliche Putzen in Küche, Wohnzimmer und eigentlich auch in Dads Zimmer, wenn dieser nicht zufällig zu Hause war. Manchmal bewunderte ich ihn wirklich dafür. Für die Dinge, die er alle tat, ohne sich je ein einziges Mal zu beschweren, dabei warf er den gesamten Haushalt für drei Männer, von denen zwei hoffnungslose Chaoten waren. Er kochte, putzte, wusch, räumte auf, erledigte nebenbei noch meine Aufsätze, wenn ich sie mal wieder nicht auf die Reihe bekam, und schaffte es trotzdem, der beste Schüler in seinem Jahrgang zu sein.
 

Wie machte er das nur?
 

„Nacht, Takeru“, hörte ich noch seine leise Stimme, dann fiel die Badezimmertüre hinter ihm auch schon ins Schloss und ich stand alleine in dem kalten Raum. Die weißen Fließen mit den schwarzen Mosaiken blickten mir leblos entgegen, wie tausende Pfauenaugen. Ich wandte mich ab, starrte mein Spiegelbild an. Meine Haut war blass, die wenigen Sommersprossen um die Nase, die man sonst eigentlich nie sah, zeichneten sich jetzt deutlich ab. Auch ich sah fertig aus.
 

Aber ich konnte nicht an Schlaf denken. Ich wollte unbedingt etwas über Mum herausfinden.
 

Dieses plötzliche Interesse konnte ich mir selbst nicht richtig erklären. Vielleicht lag es daran, dass Taichi mich mit seinen Fragen darauf gebracht und mich der Gedanke nicht mehr losgelassen hatte. Vielleicht auch daran, dass wir letzten im Religionsunterricht das Thema Familie durchgenommen hatten und sagen mussten, was wir uns unter einer perfekten Familie vorstellten. Niemand hatte einen Dreimännerhaushalt erwähnt, in dem der eigentlich Schwächste für alle bürgen musste.
 

Seufzend steckte ich mir die Zahnbürste in den Mund, beobachtete die ganze Zeit mein Ebenbild vor mir. Es sah zurück, traurig und niedergeschlagen. Kurz huschte ein Flimmern durch die blauen Augen, dann starrte es wieder genauso trostlos zurück, wie zuvor.
 

Ich sah schrecklich aus.
 

Als ich mich rasch umgezogen hatte, schlich ich mich durch die dunkle Wohnung und tastete mich zu Yamatos Zimmer durch. Unter der Türe drang schwaches Licht hervor, zeigte mir, dass er noch längst nicht schlief. Und war eine schöne Geschichte über die eigene Mutter nicht das Beste zum Einschlafen?
 

Vorsichtig öffnete ich die Türe. Yamato lag im Bett, sah nicht auf, als ich eintrat. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, den Blick zur Decke gerichtet. Im Hintergrund lief leise Musik, die ich nicht identifizieren konnte. Das T-Shirt war ein Stück nach oben gerutscht, entblößte die blauen Flecken auf dem flachen, weißen Bauch. Ich unterdrückte die Frage, wer ihn schlug. Darauf hatte er mir damals schon nicht geantwortet und ich glaubte nicht daran, dass er es jetzt tun würde. Außerdem hatte Taichi mir versprochen, auf ihn Acht zu geben und so oft, wie die beiden einander in der letzten Zeit sahen, würde ihm sowieso nichts passieren.
 

„Wie sah sie aus?“, fragte ich ohne Umschweife und setzte mich auf sein Bett. Er blickte ungerührt zu mir und sagte nach einer Weile: „Oma hat doch so viel über sie erzählt, wieso hast du dir das nicht gemerkt?“
 

„Weil Oma Dinge aus Mums Kindheit erzählt hat“, klärte ich ihn zähneknirschend auf. „Das ist etwas ganz anderes.“
 

„Wirklich?“
 

„Ja.“
 

Yamato setzte sich auf, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Stützte den Kopf auf den Knien ab. Seine Augen waren gen Boden gerichtet, aber er schien mir aufmerksamer als sonst.
 

„Also gut“, sagte er leise. „Was willst du wissen?“
 

„Wie sie aussah“, wiederholte ich und er antwortete ohne Umschweife: „Genauso wie du. Nur mit längeren Haaren, größeren Augen und… eben als Frau.“
 

„Echt?“, fragte ich überrascht und verlegen zugleich. Die wenigen Fotos, die ich von ihr kannte, und die weder Dad noch Yamato zerrissen hatten, zeigten sie, als sie mit Yamato schwanger war und das auch nur aus der Ferne oder leicht verwackelt, wie das Bild auf meinem Schreibtisch.
 

„Ja.“
 

„Und… was machte sie gerne so?“
 

„Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern“, räumte Yamato ein. „Aber ich weiß, dass sie gerne gelacht hat. Und, dass sie ganz fasziniert von deinen kleinen Füßen und Händen war.“ Seine Stimme versagte im den Dienst und er musste heftig schlucken, bevor er weiter sprach. „Sie lachte über alles. Sie war froh, dass ich so gut in der Schule war, aber…“
 

„Was aber?“
 

„Sie sagte, dass… die Pandabären nur vom Aussterben bedroht sind, weil sie immer so viel alleine sind. Wenn die Pandabären geselliger wären, hätten sie keine Probleme mit dem Überleben.“
 

Ich brauchte einige Sekunden um zu begreifen, was er damit meinte. Zuerst dachte ich, dass er mir eine Anekdote aus einer Geschichte zitierte, aber dann kam mir die Erkenntnis, dass Mum das wahrscheinlich im Bezug zu ihm gesagt hatte. Der Vergleich war in gewisser Weise passend. Yamato war schon immer alleine gewesen, so weit ich mich zurück erinnern konnte. Er hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem einsamen Pandabären, der alleine durch die Gegend streifte und jeglichen Kontakt mit anderen Menschen vermied. Mit gefiel diese Metapher. Nicht nur, weil ich Pandabären mochte, sondern weil es mir zeigte, dass Mum intelligent gewesen war. Sie hatte schon früh erkannt, was für ein Eigenbrödler Yamato war.
 

„Und sie sagte, dass du den Fußball essen würdest, wenn du könntest. Oder deine Freunde. Sie war begeistert davon, was du alles lustig fandest und wen du alles geliebt hast. Sie meinte, dass du einmal sehr groß raus kommen würdest, weil die Leute so jemanden wie dich lieben. Außerdem hast du alle zum Lachen gebracht. Sie auch.“
 

Ich musste unwillkürlich lächeln. Mum wurde mir immer sympathischer. Es war gut gewesen, dass alles zu fragen. Es gab keine bösen Überraschungen, wie in meinen Alpträumen und Yamato brach auch nicht in Tränen aus.
 

„Du warst in ihren Augen ein Held. Jemand, der anderen Leuten Mut machen kann. Wusstest du, dass das ein französisches Sprichwort ist? Wirkliche Helden, sind die Leute, die anderen Mut machen können. Sie hat es geliebt“, sagte Yamato tonlos und starrte auf seine Hände. „Manchmal war sie wütend darüber, weil du etwas mit deinem Fußball kaputt gemacht hattest, aber sie hat dir schnell verziehen.“ Er hörte auf zu reden und streichelte mit den Fingern der einen Hand den Handrücken der Anderen.
 

Mir fiel auf, dass er zitterte. Ganz leicht.
 

„Yama, ich…“, fing ich unsicher an, aber er würgte mich mit einer unwirschen Handbewegung ab.
 

„Wenn du noch mehr wissen willst, frag mich ein anderes Mal“, sagte er und legte sich hin. Zog sich die bis zur Nase hoch und drehte mir den Rücken zu. Mit einer Hand ertaste er den Lichtschalter und löschte das Licht.
 

Ich fühlte mich plötzlich unglaublich schlecht, das Hochgefühl schwand. Natürlich, jetzt wusste ich mehr über Mum, aber Yamato… er machte auf mich den Eindruck, dass er mir das nur erzählt hatte, weil er sich dazu gezwungen fühlte. Und, dass es ihm alles andere als leicht fiel.
 

„Ich bin müde. Nacht.“
 

„Yama, ich wollte dich wirklich nicht… es tut mir leid“, sagte ich, wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Schließlich wusste ich noch nicht einmal, was genau ich falsch gemacht hatte. Vorsichtig legte ich eine Hand auf seine Schulter und streichelte über den Stoff, aber schon nach ein paar Sekunden schüttelte er mich ab.
 

„Es muss dir nicht leid tun“, erwiderte Yamato entnervt. „Aber ich hab dir ’was erzählt und jetzt würde ich gerne schlafen. Gibt’s noch irgendetwas unglaublich Wichtiges, was nicht bis morgen warten kann?“
 

Die beste Antworte wäre jetzt wahrscheinlich nein gewesen. Ihn nicht noch mehr zu verärgern oder zu kränken oder was auch immer. Aber ich konnte es nicht. Trotz des schlechten Gefühls, wuchs in mir die Neugierde. Es gab so viel, was ich noch wissen wollte, aber nicht fragen konnte. Welche Frage war die Wichtigste? Hastig ging ich sie im Kopf durch, entschied mich dann. Es war sicherlich nicht das, was Yamato erwartet hatte und für diese Uhrzeit war sie sicherlich auch etwas zu unangenehm.
 

„Wie ist sie gestorben?“, platzte ich doch noch heraus.
 

Yamato zuckte zusammen und zog die Decke noch ein Stück höher.
 

„Das weißt du doch“, wehrte er ab.
 

„Nein, weiß ich nicht. War es jetzt der Herzinfarkt, der Gehirntumor oder der hohe Blutverlust, als das Baby gestorben ist?“
 

Ich war penetrant und ich merkte es. Aber ich hörte nicht auf. Es war mir zu wichtig.
 

Yamato schluckte hörbar.
 

„Das… ist doch vollkommen unwichtig, Takeru.“
 

„Für mich nicht.“
 

„Wieso? Damit du dir genau vorstellen kannst, wie sie gestorben ist? Damit das die letzten Bilder sind, die du von ihr hast?“, fauchte er mich an, zog die Beine an den Körper und fuhr die unsichtbare Mauer hoch. Er schottete sich ab, wollte nicht, dass ich erfuhr, was er gerade wirklich dachte. „Du scheinst sie doch jetzt so sehr zu mögen, mach es dir dadurch nicht kaputt.“
 

„Yama, an was?!“, langsam aber sicher machte mich das ganze nervös. Seine Worte trugen nicht dazu bei, dass es mir besser ging. Was war damals nur geschehen? Wieso wollte er es mir nicht erzählen? Es war mein Recht, verdammt! Ich war genauso ihr Sohn, wie er. Yamato besaß keine Sonderrechte, nur weil er als erster geboren war und sie besser kannte. Ich hatte ja nie die Möglichkeit gehabt, es zu tun.
 

„Das ist unwichtig.“
 

„Nein, das ist es nicht.“
 

„… hör zu, ich gebe dir jetzt das Fotoalbum und dann lässt du mich mit dieser dämlichen Frage in Ruhe, verstanden?“, er richtete sich mit einem Ruck auf und sah mich an. Ich konnte seinen bösen Blick förmlich spüren, wie er mich fraß und mich zu einer kleinen Kugel zusammen schrumpfen ließ.
 

„Welches Foto…?“, fing ich leise an, aber er ließ mich erneut nicht ausreden.
 

„Nimmst du das Angebot jetzt an, oder nicht?“, fragte er unwirsch zurück. Als ich unsicher nickte, schlug er die Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. So sicher, wie als würde das Licht brennen, ging er im Dunkeln durch sein Zimmer und ich konnte hören, wie Schubladen heraus gezogen wurde. Yamatos alter Schreibtisch ächzte bei jeder Bewegung, gab einen lauten, kläglichen Laut von sich, als er etwas Großes darauf legte. Ich spürte, wie er auf mich zu kam und spürte einen Moment später seine langen Finger, die meinen Arm hinab fuhren und mir etwas in die Hand drückten.
 

Ich fuhr an den Rändern entlang, merkte überrascht, dass es wirklich ein Fotoalbum war. Die dicken Seiten, die dünnen, transparenten Trennblätter und der in Leder gebundene Einband. Was da wohl drin war?
 

Neugierig wollte ich es schon aufschlagen, doch Yamato verhinderte dies mit einem mürrischen Brummen.
 

„Sieh es dir in deinem Zimmer an“, sagte er und kroch wieder ins Bett. „Wenn du willst, kannst du es haben.“
 

„Ich, danke…“, wortlos starrte ich zu der schwach umrissenen Silhouette meines Bruders, aber er regte sich nicht. Reagierte nicht auf meinen Gutenachtgruß und sagte selbst dann nichts, als ich leise die Türe hinter mir schloss und mich auf den Weg zu meinem Zimmer machte.
 

In der Wohnung war es nun stockdunkel, da kein Licht mehr unter Yamatos Tür hindurch schimmerte und ich stieß mir mehrmals schmerzhaft das Knie. Aber ich traute mich nicht, jetzt das Licht anzumachen. Erstens würde sonst wahrscheinlich Dad aus seinem Zimmer kommen und momentan verspürte ich nicht die geringste Lust, mich mit ihm zu unterhalten. Und zweitens wollte ich das Album erst sehen, wenn ich in meinem Bett saß und genügend Zeit hatte, es zu betrachten.
 

Leise schloss ich die Türe hinter mir, tastete mich blind zu meinem Bett und ließ mich auf die weiche Bettdecke fallen. Erst da merkte ich, wie müde ich selbst war, aber ich konnte jetzt noch nicht schlafen. Entschlossenen suchte ich nach meiner Nachttischlampe und einen Wimpernschlag später erleuchtete schwaches Licht mein Zimmer. Ich kroch unter die Bettdecke, überkreuzte die Beine und hob das Fotoalbum auf meinen Schoß. Es war ziemlich schwer.
 

Auf dem roten Einband stand in goldenen Lettern: Natsuko Ishida (geb. Takaishi) 1960 – 1989
 

Es war Yamatos saubere, verschnörkelte Handschrift, das wurde mir sofort bewusst. Behutsam, wie als könnte es jeden Moment zu Staub zerfallen, klappte ich den Deckel auf und blickte auf das Deckblatt, das mit einem großen Bild einer blonden Frau verziert war. Im Hintergrund waren Sakurablüten zu sehen. Mum. Yamato hatte Recht, ich sah wirklich so aus wie sie – er natürlich auch, aber sie hatte dieses Funkeln in den Augen, was Yamato fehlte. Sie wirkte glücklich, lebensfroh. Eigenschaften, die ich leider noch nie bei meinem Bruder gesehen hatte.
 

Überrascht stellte ich fest, dass auf den ersten Fotos ich zu sehen war. Als kleines Baby, mit winzigen Füßen und kleinen Händchen. Unwillkürlich musste ich lächeln. Unter jedes Bild hatte Yamato den Namen, das Datum und den Ort dazu geschrieben. Bei manchen fehlte der Ort, aber ich wahrscheinlich konnte er sich bei diesen nur nicht mehr daran erinnern.
 

Die Bilder mit meiner Mum waren schön. Sie war schön.
 

Ich war nie nah am Wasser gebaut gewesen, aber als ich auf meine Hände sah, musste ich feststellen, dass sie zitterten. Die erste Hälfte hatte ich schon fast durch, die Fotos wurden zahlreicher, immer mehr Schnappschüsse und leicht verschwommene Bilder, wie als wäre es Yamato plötzlich egal gewesen, wie sie aussahen. Hauptsache er konnte den Moment festhalten. Auf einigen erkannte ich den kleinen, lächelnden Yamato. Mal mit mir, mal mit Dad, mal mit Mum.
 

Kurz vor dem Ende, stoppte ich. Es standen keine Titel mehr unter den Bildern und falls doch, war die Handschrift zittrig und schludrig geworden. Ich erinnerte mich an Yamatos Worte und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich die letzten Bilder noch sehen wollte. Ich atmete tief durch und schlug sie auf.
 

Es war… nichts Besonderes. Nichts Großartiges.
 

Auf weißem Hintergrund klebte das Bild, mit dem das Album eingeführt worden war. Die rosa Blüten im Hintergrund, das lächelnde Gesicht, umrahmt von blonden Haaren. Darunter stand nur ein Wort;
 

Mum
 

Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Strich, ausgehend von einem rostbraunen Fleck. Ich fuhr darüber, fühlte die raue Beschaffenheit. Der Fleck wirkte hypnotisierend, es gab nichts anderes auf dem weißen Grund. Ich konnte einfach nicht mehr wegsehen. Dennoch schlug ich es mit aller Willenskraft zu und legte es weg.
 

Mein Atem ging flach und in meinem Kopf schwirrte es. Schlaf würde ich jetzt sicherlich nicht finden, aber ich schaltete trotzdem das Licht aus und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere, gab es irgendwann auf und starrte in die Dunkelheit.
 

Und nach all den Jahren, in denen ich angenommen hatte, dass meinen Bruder keine Alpträume mehr quälten, hörte ich ihn im Schlaf schreien.
 


 

Part X

END
 


 


 


 

Sorry, dass es mit dem Kapitel jetzt noch länger gedauert hat als normalerweise. Ich bin jetzt in der Übergangsklasse (was aus Bayern, wer nicht weiß, was das ist, soll fragen ;)) und da ist es momentan sehr stressig. Zudem haben wir zu W-LAN gewechselt (Yay xD) und da hatte ich eine Zeit lang kein Internet. Dafür ist es ab jetzt besser als zuvor ^-^
 

Thanks a lot natürlich für die lieben Kommentare zum letzten Kapitel und (um gleich mal das zu klären, was einige gestört/verwirrt/was auch immer hat ;)): Also, Herr Fuji war so unsympathisch, weil Yamato ihn so empfunden hat. Wer weiß, vielleicht fanden Takeru und Taichi gar nicht, dass er all zu unfreundlich war (das wissen wir ja nicht), aber YAMATO hat das eben gedacht - weil es aus Yamatos Sicht war. Wenn ich auktorial schreiben würde, wäre das vielleicht anders rüber gekommen. Aber dieser Erzählstil bindet sich nun mal allein an die Empfindungen EINER Person, nicht an die der anderen.
 

Und um gleich mal sämtliche Hasstiraden gegenüber Takeru abzuwenden (denn ich mag den Süßen immer noch :D): Er war es NIE gewöhnt, teilen zu müssen. Er bekam immer alles, weil Yamato und sein Vater ihm alles gegeben haben. Und vor allem, sogar als Wichtigstes, musste er Yamato nie teilen, weil Yamato nie zuvor richtige Freunde hatte und immer nur für ihn da war. Und jetzt, wo er zu seinem Glück, sich mit Taichi angefreundet hat, verliebt sich gerade sein Idol, also Taichi, in Yamato (!). Jetzt muss er nicht nur mit der Zurückweisung von Taichi klarkommen, weil der sich lieber mit seinem Bruder beschäftigt, sondern auch mit der Tatsache, dass Yamato, der ja sonst immer nur für ihn da war, plötzlich so viel mit Taichi unternimmt. Ihn also praktisch vernachlässigt - aus seiner Sicht.

Ich hoffe, das erklärt sein egoistisches und vielleicht ein bisschen trotziges Verhalten :D
 

Ich hoffe, ihr hattet alle sehr schöne, erträgliche und vor allem friedliche Weihnachten und ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr! <3
 

Alles Liebe,
 

Nikolaus
 


 

PS: Wieso weiß Takeru nicht, wie seine Mum gestorben ist? - Tja, das kommt später noch raus. Und ja, er weiß es wirklich nicht. Aber das wird alles noch aufgeklärt... :3

When The Tides Come (Yamato)

gebetat by Tweetl
 


 

~ Yamatos POV ~
 


 

Gleißend schien die Sonne vom Himmel, ließ die rosa Blüten an den Bäumen aufleuchten und gab der blonden Woge um Mums Kopf einen goldenen Schimmer. Sie saß auf der Picknickdecke und malte zusammen mit Takeru in ein kleines Malbuch. Ihre Zeichnungen waren schöner, aber Takeru schien mehr Spaß an der Sache zu haben. Seine kleinen Finger umfassten fest den Buntstift und malten in weiten, kreisenden Bewegungen etwas auf das weiße Papier, während Mum sorgfältig eine Rose in die linke Ecke malte. Sie fing an zu lachen, als Dad meinte, dass Takerus Talent zum Malen genauso beschränkt sei, wie sein Talent zum Kochen.
 

Dads Haar war an manchen Stellen grau geworden und die Geheimratsecken wurden größer. Mum meinte dazu immer, dass es etwas habe. Es verleihe ihm einen Schein von Weisheit. Er selbst mochte sie nicht, hatte es allerdings schon lange aufgegeben, sich die anderen Haare darüber zu kämmen. Zudem hatte Takeru sowieso bei jeder Gelegenheit seine kleinen Hände in seinem Haar und machte jede Mühe zu Nichte.
 

Ich drehte mich auf den Rücken und schloss die Augen. Die Sonne schien durch meine Lider und ließ bunte Punkte vor meinem inneren Auge entstehen. Aber ich genoss die Wärme, das Gefühl, nichts zu tun zu müssen. Es war gut, so wie es war. Niemand verlangte etwas von mir und ich musste mich auch nicht an dem Gespräch von Mum und Dad beteiligen, oder mich mit Takeru beschäftigen. Nicht, dass ich nicht gerne etwas mit meinem Bruder machte, aber er war… laut. Ein kleiner Wirbelwind, den man nicht bändigen konnte. Es wurde mir manchmal einfach zu viel mit ihm.
 

„Schatz, du bist doch nicht etwa schon wieder müde, oder?“, fragte Mum und strich mir durch das Haar. Ich konnte das Lächeln auf ihren Lippen praktisch hören. Wortlos schüttelte ich den Kopf, drehte mich auf den Bauch und sah zu ihr auf.
 

„Willst du nicht mit Takeru etwas malen?“
 

„… nein.“
 

Sie seufzte. Nicht böse, eher so, als ob sie gewusst hätte, dass ich das antworten würde, und es sie ein bisschen amüsierte.
 

„Soll ich dir mal was erzählen, Yamato?“, fragte sie, legte ihren Stift beiseite und ließ Takeru alleine weiter malen. Er schien sich nicht daran zu stören, war ganz bei der Sache und gab vergnügte Laute von sich. Dad beobachtete ihn mit einem seligen Lächeln.
 

„Was?“, stellte ich die Gegenfrage und konnte meine Neugierde nicht verbergen. Mum konnte wunderschöne Geschichten erzählen. Sie schmückte sie mit allen Dingen aus, erschuf eine unglaubliche Illusion, und am Ende, hatte ich jedes Mal das Gefühl, wieder gewaltsam in die Realität zurück gezogen zu werden.
 

„Von dem Pandabären Yama“, sagte sie und es freute mich, dass er meinen Namen hatte. Den Spitznamen, den ich anfangs überhaupt nicht gemocht hatte, war auf ihrem Einfallsreichtum gewachsen und es durften mich auch nur sie und Takeru so nennen. Sie, weil sie alles durfte, und Takeru, weil ich ihn lieb hatte und er meinen richtigen Namen öfters falsch aussprach. Dad durfte es nicht, aber ich wusste auch so, dass er niemals das Bedürfnis danach verspürte.
 

„Ja!“
 

„Also gut“, sie legte sich neben mich und pflückte eine Blume aus, die sie mir in die Hand drückte. Leicht verwirrt betrachtete ich sie, behielt sie aber, weil Mum sie mir gegeben hatte. Alles was sie mir gab, hatte in irgendeiner Weise einen wichtigen Sinn und war kostbar. „Es war einmal ein kleiner Pandabär mit dem Namen Yama. Er aß den ganzen Tag Bambusblätter und wanderte alleine durch die Wälder. Manchmal traf er auf einen anderen Pandabären, aber sobald dieser sich dazu anschickte, ein Gespräch zu beginnen, ergriff Yama die Flucht. Er mochte die Einsamkeit. Eines Tages kam eine schöne Pandabärdame zu ihm und sagte ihm, dass er ein wunderschönes Fell habe. So ein wunderschönes habe sie noch nie gesehen. Yama fühlte sich geschmeichelt, aber er verstand nicht ganz, was sie wollte. Auch nicht, als sie ihm sagte, dass es eine Schande wäre, es dies nicht weiter zu vererben. Als die Dame merkte, dass Yama nicht wirklich Wert auf ihre Gesellschaft legte, ging sie davon. Yama störte es nicht. Er lebte so weiter, wie bisher.
 

Dann kam er eines Tages an einen großen Abgrund. Überall war rutschiges Geröll, aber Yama wollte unbedingt auf die andere Seite, also stieß er einen Baumstamm um und balancierte darüber. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und kippte zur Seite. Verzweifelt hielt er sich fest und rief um Hilfe, aber es war niemand außer ihm da. Bald konnte er sich nicht mehr halten und stürzte hinab. Und so ein schönes Fell hat bisher kein anderer Pandabär mehr gesehen.“ Sie beendete die Geschichte, indem sie ihre Stimme senkte und mich ansah. Erwartungsvoll und auch etwas traurig.
 

Ich sah weg.
 

Es bestürzte mich nicht wirklich, dass der Pandabär am Ende gestorben war. Ich mochte keine kitschigen Märchen und deshalb erzählte Mum mir auch keine von dieser Sorte. Dass, was mich störte, war die Tatsache, dass er hauptsächlich schlechte Eigenschaften hatte, obwohl er meinen Namen trug. Normalerweise hatten die Figuren mit meinem Namen ein aufregendes Leben und retteten die Welt, dieser hier starb am Ende. Einsam und ungeliebt. Es gefiel mir nicht. Die Geschichte hatte einen beunruhigend anklagenden Nachgeschmack.
 

„Pandabären sind vom Aussterben bedroht, Yama“, sagte Mum nach einer Weile. „Weil sie immer so viel alleine sind und die Einsamkeit suchen. Ich denke, wenn sie etwas geselliger wären, hätten sie kein Problem mit dem Überleben. Was meinst du, Schatz?“
 

„Keine Ahnung“, murrte ich beleidigt und drehte mich wieder auf den Rücken. Mir war vollkommen klar, dass sie damit darauf anspielte, dass ich so wenige Freunde hatte und auch nicht versuchte, es zu ändern. Aber ich mochte die anderen Kinder nun mal einfach nicht. Was sollte ich denn dagegen tun? Außerdem war ich erst vor Kurzem sieben geworden, da konnte sich noch so vieles ändern. Wer wusste schon, ob ich später vielleicht nicht ganz viele Freunde haben würde?
 

„Willst du nicht zu mit Takeru auf den kleinen Spielplatz gehen?“, versuchte sie es weiter und spielte mit meinen Haarsträhnen. „Da findet ihr sicher noch ein paar andere Kinder zu spielen. Dann wird es euch hier nicht so langweilig.“
 

„Mir ist nicht langweilig“, erwiderte ich.
 

„Aber Takeru vielleicht“, hielt sie dagegen.
 

„Dem auch nicht. Er malt.“
 

„Bitte, Yama“, flehte sie. Ich murrte leise und rappelte mich hoch. Krabbelte zu meinem kleinen Bruder und nahm ihm den Stift aus der Hand. Er sah mich anschuldigend an.
 

„Komm schon, Takeru“, sagte ich und lächelte ihn an. „Wir gehen auf den Spielplatz.“
 

„Wirklich?“, er grinste begeistert und ließ sein Malbuch unbeachtet auf der Decke liegen. „Toll! Kommen Mama und Papa auch mit? Sind da andere Kinder?“
 

„Nein, TK“, sagte Mum lächelnd und strich mir durchs Haar, gab mir einen Kuss auf die Stirn und tat bei Takeru das Selbe. Ich mochte es, auch wenn ich es nie sagen würde. „Wir kommen nicht mit. Aber ich bin mir sicher, dass da noch ganz viele andere Kinder sind. Und bleibt in der Nähe, wir wollen euch im Auge behalten können. Sobald was passiert, schreit ihr und kommt sofort zurück, ja?“
 

„Ja, Mama“, antworteten wir synchron und ich nahm Takeru bei der Hand. Sofort klammerte er sich an mich und ging ganz dicht neben mir, wie als hätte er Angst, ich könnte ihm davon laufen. Ich ging mit ihm zum Spielplatz und während er sich in den Sand stürzte und sofort mit ein paar Mädchen zu reden anfing, setzte ich mich auf einen umgefallenen Baum und stützte den Kopf auf die Hände.
 

Spielplätze waren doof. Sandkästen waren doof. Picknicke, bei denen ich mit anderen Kindern spielen sollte, waren auch doof. Aber ich sagte nichts dagegen, es würde Mum nur unnötig weh tun. Seit sie in letzter Zeit so nah am Wasser gebaut war und ständig die runden Tabletten schluckte, schien sie generell etwas empfindlicher zu sein. Wahrscheinlich hatte sie mir deshalb die Geschichte mit dem Pandabären erzählt.
 

Ich schabte mit der Fußspitze im Sand.
 

Nach einer Weile setzte sich ein Junge neben mich. Er hatte schwarze Haare und braune Augen. Zuerst sagte er nichts, trommelte nur mit den Beinen gegen den Baumstamm. Dann sah er zu mir und fragte: „Wie heißt du?“
 

„Yamato“, sagte ich. Ich wollte mich nicht mit ihm unterhalten und hoffte, dass er bald wieder ging. Er schien zu merken, dass ich ihn nicht in meiner Nähe haben wollte.
 

„Bist du traurig?“, fragte er.
 

„Nein.“
 

„Willst… willst du nicht, dass ich da bin?“
 

„Ja.“
 

„Wieso?“, wollte er wissen und sah mich verwirrt an. Auf mein „Weil ich dich nicht mag“, sah er noch komischer drein. Seine Augenbrauen verschwanden unter dem schwarzen Haar.
 

„Du kennst mich doch gar nicht“, sagte er sachlich. „Dann kannst du doch auch noch nicht wissen, ob du mich magst oder nicht.“

„Mir egal“, erwiderte ich desinteressiert und sah weg.
 

„Du bist ganz schön öde, weißt du das?“, er klang ein bisschen beleidigt. Ich wusste, dass ich nicht nett gewesen war und wäre Mum jetzt hier, hätte ich mich sofort entschuldigen müssen, aber sie lag auf der Picknickdecke, ganz weit weg von mir.
 

„Mir egal“, wiederholte ich. Mir fiel die Geschichte mit dem Pandabären ein, der sofort die Flucht ergriff, wenn jemand anderes mit ihm reden wollte. Ich ergriff nicht die Flucht.
 

„Du bist ein Blödmann, Yamato“, sagte er sauer und stand auf. Ich hob kurz den Kopf und beobachtete, wie er mit großen Schritten davon ging. Irgendwie fühlte ich mich ein bisschen mies, weil ich so böse gewesen war. Aber ich hatte einfach nicht mit ihrem reden wollen. Er war einfach zur falschen Zeit gekommen.
 

Und ich würde schon nicht alleine in einen Abgrund fallen, nur weil ich ihn jetzt weggeschickt hatte.
 


 

Wir gingen erst wieder, als Takeru sich mit einem anderen Jungen in die Haare kriegte und sie sich zu hauen anfingen. Ich ging dazwischen, packte meinen kleinen Bruder am Arm und warf dem Jungen ein paar Schimpfwörter an den Kopf, die dieser nicht verstand. Er wich meinem bösen Blick aus und fiel zurück in den Sand, Takeru stapfte triumphreich neben mir daher. Mum machte ein erschrockenes Gesicht, als sie Takerus aufgeplatzte Augenbraue sah, aber im Nachhinein schien es nicht so schlimm zu sein.
 

Wir liefen zurück zum Auto, luden die Sachen ein und Takeru und ich setzten uns auf die Rückbank. Dad lobte Takeru dafür, dass er sich das nicht hatte gefallen lassen, Mum hielt entrüstet dagegen. Ich schwieg, zog die Beine an und sah aus dem Fenster. Dads überschwängliche Reden gegenüber Takeru war ich gewohnt.
 

Auf der Fahrt nach Hause war es ruhig.
 

Aber gegen Ende, fing Mum an zu weinen und hörte auch nicht damit auf, als Dad anfing, sie anzuschreien. Takeru begann ebenfalls zu weinen, was Dad nur noch wütender machte. Er drückte mächtig aufs Gaspedal und fuhr uns in einem so raschen Tempo nach Hause, dass mir fast übel wurde. Die Landschaft raste nur so an uns vorbei, ein Gewirr aus Braun und Grün.
 

Takeru hörte nach einer Weile auf zu weinen und schlief auf seinem Kindersitz ein, den großen, brauen Teddybären fest an sich gedrückt. Mum saß zitternd vorne aus dem Sitz, ein Taschentuch auf Nase und Mund gedrückt, und schluchzte unterdrückt. Dad machte ein grimmiges Gesicht, wie als wollte er nur schnell weg von hier. Seine Lippen waren ein schmaler Strich und sein Dreitagebart ließ ihn sehr alt aussehen. Mir war noch nie richtig aufgefallen, wie alt er war. Er bemerkte meinen Blick und sah mich aus dem Rückspiegel böse an.
 

Ich schaute weg.
 

Nach ein paar Minuten kamen wir mit quietschenden Reifen vor unserem Haus an. Ein kleines Haus, eigentlich nur für zwei Personen gedacht. Takeru und ich mussten uns ein Zimmer teilen. Ich mochte es eigentlich, aber wenn er mich bei den Hausaufgaben nervte, wünschte ich mir oft, ein eigenes Zimmer zu haben. Außerdem knarrte das obere Bett unseres Hochbettes, weil Takeru so oft darauf herum gesprungen war. Dad schaltete den Motor ab und Mum stürmte sofort aus dem Auto.
 

Ich beugte mich zu Takeru hinüber und weckte ihn sanft. Er murrte und streckte mir seinen Teddy entgegen, in der stummen Aufforderung, ihn zu für ihn zu halten, während er den Gurt löste und aus dem Auto krabbelte. Ich nahm das Plüschtier entgegen und wartete. Es war ein ganz großer Vetrauensbeweis von Takeru, dass er mir Mr. Pepper gab, schließlich durfte ihn sonst niemand anfassen. Zusammen gingen wir ins Haus, Dad direkt hinter uns. Er versuchte mal wieder, Takeru davon zu überzeugen, dass große Jungen keinen Teddybären mehr brauchten, aber mein Bruder hörte nicht auf ihn, sondern nahm meine Hand und zog mich nach oben.
 

Wir gingen zu dem Zimmer unserer Eltern und klopften an die Türe. Wir konnten ihre Stimme hören, aber ihre Worte waren nicht an uns gerichtet. Sie weinte, schrie auf und warf etwas gegen die Wand. Das hatte sie öfters.
 

„Was ist mit Mama?“, fragte Takeru leise und drückte sich an meine Seite.
 

„Ich glaube, ihr ist ein bisschen schlecht“, sagte ich. „Wir sollten sie besser in Ruhe lassen.“
 

„Aber sie weint“, erwiderte er.
 

„Trotzdem“, ich zog ihn in unser Zimmer und während er anfing mit seinen Spielzeugautos auf der Rennbahn herum zu fahren, holte ich meine Gitarre aus der Ecke und übte. Mein Traum war es, einmal eine große Gitarre zu besitzen. Mit Metallseiten, Plektron und allem Drum und Dran. Möglicherweise auch eine E-Gitarre. Doch dafür brauchte ich Geld und Talent, deshalb übte ich jeden Tag.
 

Takeru setzte sich nach einiger Zeit neben mich und hörte mir abwesend zu, während das leise Weinen von Mum durch die Wände drang. Dad telefonierte laut im Erdgeschoss.
 

Wir verzichteten an diesem Abend auf das Essen, bis auf ein paar Schokoriegel und ein Butterbrot für den unersättlichen Takeru, gab es nichts. Nachdem wir uns die Zähne geputzt und uns umgezogen hatten, versuchten wir es noch einmal bei Mum, aber sie antwortete nicht.

Unter der Tür schien kein Licht hindurch.
 

„Komm“, sagte ich leise zu Takeru und nahm in bei der Hand. „Wir gehen schlafen.“
 

Er nickte.
 

Ein lauter Schrei von unten ließ uns zusammen zucken. Ich schubste Takeru ins unser Zimmer und schloss die Türe. Er sah mich mit ängstlichem Blick an. Ich versuchte zu lächeln, aber es fiel unsagbar kläglich aus. Obwohl es Takeru nicht aufzuheitern schien, kletterte er nach oben in sein Bett und sah zu mir hinunter.
 

„Schläfst du heute bei mir?“, fragte er.
 

Ich zögerte.
 

„Dad sagt doch immer, das machen große Jungen nicht.“
 

„Dad sagt auch, dass Mr. Pepper doof ist“, erwiderte er mürrisch. Ich schaltete das Licht aus und blieb einen Moment unschlüssig vor dem Hochbett stehen. Dann erklomm ich die ersten Sprossen und kletterte zu ihm ins Bett. Er machte ein glückliches Geräusch und drückte sich ganz fest an mich, schlang die Arme um meinen Oberkörper. Ich fühlte mich wohl. Zwar war es etwas peinlich, aber ich mochte es mit Takeru in einem Bett zu schlafen. Es beschützte mich vor Alpträumen und die Angst die in mir aufstieg, wenn die Schreie aus dem Nachbarzimmer ertönten, war nicht so schlimm, wie wenn ich alleine schlief. Ich drückte mich an ihn, zog die Decke bis zur Nase hoch.
 

Der arme Mr. Pepper wurde zwischen uns erquetscht.
 

Dann hörte ich den Knall.
 


 


 

Mit einem lauten Schrei fuhr ich aus dem Schlaf.
 

Mein Herz raste, pochte so laut, dass ich meinen flachen, hektischen Atem kaum hörte. Ich war von Schweiß durchnässt, meine nassen Haare, die Decke und das Laken klebten an mir. Mit bebenden Händen strich ich mir die Strähnen aus dem Gesicht, schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Wacklig stand ich auf, ging langsam zum Fenster hinüber und öffnete es. Kalte Luft schlug mit entgegen, der Schweiß auf meiner Haut fühlte sich an wie Eis.
 

Ich atmete tief ein und lehnte mich zitternd an den Fensterrahmen.
 

Es war einer der Träume gewesen, die mich eigentlich schon seit Jahren nicht mehr heimsuchten. Die Träume, die zwischen Schrecken und Glück, Dunkelheit und Licht hin- und her schwankten. Ich wusste nicht, ob das alles wirklich damals so passiert war, so genau konnte ich mich nicht mehr entsinnen, aber dass dies alles Realität gewesen war, wusste ich. Mum hatte mir wirklich die Geschichte erzählt, der Junge war am Spielplatz zu mir gekommen. Ich hatte bei Takeru geschlafen und den Schuss gehört.
 

Es stellte sich heraus, dass Takeru den Schuss nie gehört hatte. Er war nur aufgewacht, weil ich mich plötzlich so hektisch bewegt hatte und aus dem Zimmer gerannt war. Als ich damals die Türe zu Mums Zimmer öffnete, war es dunkel. Nur das fahle Mondlicht schien in den Raum, enthüllte genügend, um sich für immer in meine Erinnerung zu brennen.
 

Die Tabletten, die Mum früher genommen hatte, waren gegen ihre Schizophrenie gewesen, unter der sie erblich bedingt litt. Die Depressionen hatten sich daraus ergeben. Dad hatte nie wirklich damit umgehen können, war schnell aggressiv und wütend geworden. Der Tränenausbruch im Auto war wegen der Depression gekommen. Damals hatte ich das noch nicht gewusst, aber Dad hatte das alles dem Notarzt erzählt, der sie damals abgeholt hatte. Ich war mit ihm mitgefahren und nach einigem Zögern erzählte er es auch mir.
 

Sie hatte sich mit der Waffe erschossen, die neben ihrem Kopf lag. Ein einziger Schuss, direkt ins Gehirn, sofortiger Tod. Ich hatte es nie begriffen, schließlich schien sie immer so glücklich. Aber innerlich war sie tausend Tote gestorben, die Stimmen hatten sie um den Verstand gebracht. Der Notarzt meinte, ich sei noch zu jung dafür und in gewisser Weise hatte er auch Recht, aber ich wollte es einfach Wissen. Die Neugierde der kleinen Kinder.
 

Sie brachte mich jahrelang um den Schlaf.
 

Auf Takerus Frage heute Abend, wie Mum gestorben sei, hatte ich nicht geantwortet. Aus einem ganz simplen Grund: Ich hatte die Freude in seinen Augen glänzen gesehen, die Sympathie für Mum, an die er sich nur noch so schemenhaft erinnern konnte. Er sollte sich dieses positive Bild nicht dadurch zerstören, dass sie sich selbst ermordet hatte. Dass sie an einer Krankheit gelitten hatte, die auch in uns stecken konnte.
 

Der junge Notarzt hatte damals gesagt, dass wir spätestens bei unserer Volljährigkeit jemanden aufsuchen sollten, der uns sagen konnte, ob wir ebenfalls darunter litten oder nicht. Natürlich wäre das sinnlos, wenn wir schon seit geraumer Zeit Stimmen hörten, die uns zum Selbstmord rieten.
 

Ich hatte Angst davor, selbst einmal so zu werden. Panische Angst. Aber der junge Notarzt hatte gemeint, dass es ganz unterschiedlich sein konnte. Manchmal vererbte es sich und manchmal nicht. Er hatte mir den Kopf getätschelt und gesagt, dass ich mir darüber keine Gedanken zu machen bräuchte, wahrscheinlich würde es mich nicht treffen. Und ich hatte sein freundliches Lächeln gesehen und ihm geglaubt. Und das tat ich jetzt immer noch.
 

Oder?
 

_
 


 

„Du bist ganz schön blass“, sagte Taichi besorgt und blieb stehen. Ich sah ihn nicht an, blickte hinüber auf den dicht besiedelten Schulhof. Vor ein paar Tagen hatte mich niemand dort gekannt. Seit gestern wussten sie nicht nur alle wie ich heiß hieß, sondern auch noch, dass ich in aller Öffentlichkeit einen Nervenzusammenbruch hatte. Sie hatten es schließlich alle gesehen. Alle.
 

Mir wurde übel.
 

„Bist du dir sicher, dass du heute schon wieder in die Schule willst?“, fragte er und strich über meinen Arm. „Es würde dir keiner übel nehmen, wenn du’s nicht tust, schließlich…“
 

„… haben sie ja alle gesehen, dass ich wie ein Irrer zusammen gebrochen bin, ja ich weiß“, fauchte ich zurück. „Danke für die Erinnerung. Es wird so schon schlimm genug werden.“ Ich zog meinen Arm zurück, presste ihn an meine Brust. Es gab keinen Grund böse zu Taichi zu sein und es tat mir im gleichen Moment schon wieder leid. Er würde der Einzige sein, der mich heute nicht komisch von der Seite ansehen und über mich tuscheln würde, ich sollte ihn nicht vergraulen. „Ich… tut mir leid. Das war nicht so gemeint.“
 

Er lachte und legte mir einen Arm über die Schulter.
 

Der Körperkontakt war ungewohnt, aber ich mochte ihn. Ich fühlte mich gleich nicht mehr so klein und schutzlos. Es war dumm, dass ich mich so an ihn hängte, mich selbst so von ihm abhängig machte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Taichi hatte etwas, was mich anzog, wie die Motten das Licht. Dabei wusste ich doch, dass es im Nachhinein so nur noch mehr schmerzen würde, wenn ich letztendlich wieder alleine da stand.
 

„Kein Problem“, sagte er gutmütig. „Ich wäre auch etwas nervös. Und… ach ja…“ Er stockte und lief rosa an.
 

Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen.
 

„Was?“
 

„Ich hab mit Shusuke gesprochen und…“, er zögerte. „Yama, es tut ihm wirklich Leid. Dein Zusammenbruch von gestern hat ihm die Augen geöffnet. Er würde sich gerne bei dir entschuldigen. Er…“ Ich unterbrach ihn, in dem ich mich unsanft von ihm löste und ihn böse ansah.
 

Er erwartete doch nicht wirklich, dass ich nach einer simplen Entschuldigung einfach so mit Shusuke wieder im Reinen war! Er hatte mich fünf elendige, lange Jahre über traktiert, geschlagen und gedemütigt. Ein einfaches Es tut mir leid reichte da nicht. Wahrscheinlich würde er es in ein paar Monaten schon wieder vergessen haben und dann würde es wieder von Vorne losgehen. Er, zusammen mit seinem hirnlosen Freund, war der Grund gewesen, weshalb ich die Schule gehasst und mich vor ihr gefürchtet hatte!
 

Es hatte mich so viel Überwindung gekostet jeden Morgen durch das Tor zu treten, in der ständigen Angst, in einem der Flure von ihnen überfallen zu werden. Ich konnte ihre Stimmen in meinem Kopf hören, ihr Lachen und ihre Anschuldigen, all das vermischt mit der Panik, die Krankheit meiner Mutter geerbt zu haben, und schizophren zu werden. Irgendwann einmal in einer Irrenanstalt zu landen, einsam und verlassen und von niemandem geliebt zu sterben, in den Abgrund fallen und keiner würde mich je wieder sehen, geschweige denn an mich denken, weil ich so unfreundlich gewesen war und niemanden an mich heran gelassen hatte, wie dieser verdammte Pandabär!
 

Da half sicherlich keine Entschuldigung, egal wie ernst gemeint sie war. Egal, wie Leid es ihm tat und wie sehr es ihm die Augen geöffnet hatte. Weder Shusuke noch Taichi wussten, wie es war, Opfer solcher Peinigung zu werden. Für sie war das Leben bunt und fröhlich, sie besaßen in ihrem Leben kein einziges Problem. Sie wurden nicht von der Außenwelt abgeschlossen und waren selbst nicht einmal zu unfreundlich, um sich wenigstens an ihrem Rand festklammern zu können. Sie liefen nicht jeden Tag am rutschigen Abgrund entlang und drohten zu stürzen, mit dem Hintergedanken, dass es doch sowieso egal wäre. Dass sich doch sowieso niemand darum scheren, geschweige denn, sie vermissen würde.
 

Was dachten sie denn, was ich war? Eine Puppe, bei der man den Schalter umlegte und dann einfach so weiter lebte, wie bisher? Mal ganz davon abgesehen, dass es bei mir kein bisher gab.
 

„Yama, komm schon. Ich hab ihm gesagt, du würdest mit ihm reden“, sagte er leise und fügte hastig hinzu: „Du musst ja nichts sagen. Hör ihm einfach zu.“
 

„Nein“, sagte ich kalt und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„Was >nein<?“, wiederholte er verwirrt. Er schien einfach nicht begreifen zu wollen, dass es nicht so einfach war, wie er dachte. „Du musst nicht mal was sagen. Sei einfach dabei und… mein Gott, tu nur so, als ob du zuhören würdest. Es würde ihm sicherlich helfen, sich von seinen Schuldgefühlen zu befreien.“
 

Einen Augenblick lang, hatte ich das Gefühl, mich einfach verhört zu haben. Dann wurde mir klar, dass das nicht der Fall war.
 

Taichi stand vor mir und verlangte allen Ernstes, dass ich Shusuke dabei helfen sollte, seine Schuldgefühle zu beseitigen, falls denn überhaupt welche vorhanden waren. Denn wo waren seine Schuldgefühle die letzten Jahre gewesen? Hatte er sie in eine Schublade gesperrt oder sich gestern erst welche bei Taichi geliehen? Hatte es ihm denn ein schlechtes Gewissen bereitet, wenn ich mich vor Schmerzen kaum auf den Beinen halten konnte und mein Blut an seinen Händen klebte?!
 

„Nein“, sagte ich erneut und diesmal zitterte meine Stimme. Das erste Mal in meinem Leben nicht vor Angst, Panik, Verzweiflung oder Verwirrung. Sondern vor Wut. Es tat gut dieses Gefühl, dass schon all die Jahre in mir gelodert, ich jedoch jedes Mal gelöscht hatte, endlich ein Mal auszuleben. Ein Wandel in meinem Leben, der mich sicherlich um die Freundschaft von Taichi brachte und mich zurück in die Isolation schubste, aber in diesem Moment war es mir egal. Ich wollte einfach nur verhindern, Shusuke zu einem guten Gefühl zu verhelfen, während ich mit meinen Schäden weiterleben musste. „Wieso sollte ich das tun?“
 

„Er ist mein bester Freund“, sagte Taichi. „Wir kennen uns schon seit wir ganz klein sind. Und glaub mir, ich hab ihn noch nie so reumütig gesehen. Es tut ihm wirklich leid. Er war ganz aufgelöst am Telefon.“
 

„Oh, wirklich?“, fragte ich desinteressiert.
 

„Ja!“
 

„Na wie toll für ihn“, ich lachte trocken. Noch nie war ich so kalt gewesen. Und doch war es ein gutes Gefühl… ein eigenartig stumpf gutes Gefühl. „Aber wieso hat er nicht geheult? Vielleicht hätte ich es dann getan.“
 

„Sag mal, hast du sie noch alle?“, erwiderte Taichi sauer. Es versetzte mir einen leichten Stich, ihn so zu sehen. Der Moment, in dem wir wieder unsere eigenen Wege gingen, rückte immer näher. „Wie kannst du so was nur sagen? Es tut ihm wirklich Leid und er will sich bei dir entschuldigen. Du kannst doch nicht einfach so tun, als ob es dich nicht interessiert. Er wollte dich schließlich nicht umbringen oder so.“
 

„Denkst du? Für mich hat es sich auf alle Fälle so angefühlt.“
 

„Jetzt stell dich nicht so an! So schlimm kann es nicht gewesen sein!“
 

„Wurdest du von diesen beiden Idioten zusammengeschlagen oder ich?“, fauchte ich zurück und presste wütend die Lippen aufeinander.
 

Ich stritt mich mit Taichi. Dem einzigen Menschen, der mich je so angenommen hatte, wie ich war. Ich machte alles kaputt. Mit meinem dämlichen Widerstand.
 

„Yama, du….“, er stockte und biss sich auf die Zunge. Atmete geräuschvoll aus. Es ärgerte mich, dass er jetzt einfach so aufhören wollte. Wenn unsere Freundschaft schon zu Ende gehen sollte, dann wenigstens mit Posaunen und Trompeten. „Wir kennen uns wirklich schon lange. Und es tut ihm echt leid.“
 

„Ach, auf einmal.“
 

„Wirklich, er wollte das nicht.“
 

„Und wieso hat er’s dann getan? War es der Stoff für seine nächste Wissenschaftsstudie oder war er einfach zu blöd, um selbst zu merken, dass er das gar nicht wollte?“
 

„Jetzt stell ihn nicht als Idioten hin“, sagte Taichi ruhig.
 

„Er ist einer.“
 

„Nein, ist er nicht.“
 

„Aber auch nur, weil er dich nicht schlägt, oder?“, erwiderte ich giftig.
 

„Das würde er nicht wagen. Er hätte keine Chance“, sagte er und mir fiel einen Augenblick früher als ihm auf, was er gesagt hatte. Er sah mich entsetzt an und öffnete den Mund, um etwas hinzufügen, aber ich gab ihm nicht die Möglichkeit dazu.
 

„Klar, verstehe. Weil ich zu schwach dafür bin“, schoss ich wütend zurück. „Da wundert es mich ja wirklich, wieso nicht auch noch die andere Hälfte der Schule auf mich einschlägt. Wirklich, Taichi, sehr treffend. Der arme kleine Yamato ist nicht fähig, sich gegen zwei Leute zu wehren, die stärker als er sind und in der Überzahl. Pah, es wäre ja lächerlich, wenn man da unterliegt, nicht wahr? Du musst es ja wissen, als Fußballstar, der von allen angehimmelt wird. Bestimmt hast du das schon ganz, ganz oft in deinem Leid geplagten Dasein erlebt, oder?!“
 

„Yama, es tut mir leid, wirklich, ich…“
 

„Halt die Klappe“, fuhr ich ihn mit bebender Stimme an und spürte gleichzeitig, wie die Verzweiflung in mir aufstieg. Heiße Tränen brannten schmerzhaft in meinen Augen. Taichi war ein Idiot. Und ich war ein Idiot, weil ich mich jemals auf ihn eingelassen hatte. Die Ahnung, dass Schmerz kommen würde, wenn das Band brach, bewahrheitete sich, ebenso wie das Wissen, dass ich mich nicht so an ihn hätte hängen sollen. Ich war einfach unfähig, mit jemandem über einen längeren Zeitraum zusammen zu sein. Ein Wunder, dass mein Bruder mich über all die Jahre aushielt ohne einfach davon zu laufen.
 

Ich hätte es schon längst getan. Ganz sicher.
 

„Jetzt sei nicht so. Es wird dich schon nicht umbringen, wenn du ihm zuhörst“, sagte er und der letzte Teil von seinem Satz wurde von dem Vorgong verschluckt, der jeden Tag den in zehn Minuten beginnenden Unterricht ankündigte. Ich schenkte Taichi noch einen wütenden Blick, damit er nicht merkte, wie die Wogen in meinem Innern aufgewühlt wurden, und ging davon. Er rief mir hinterher, aber ich blieb nicht stehen.
 

Jetzt war es vorbei.
 

Die Welle schlug mit einer solchen Macht über mich zusammen, dass ich kaum die Blicke meiner Mitschüler bemerkte. Was interessierte mich schon, was sie dachten? Ich balancierte gerade wieder am Abgrund entlang und momentan kam er mir so verlockend vor, wie nie. Das Verlangen, mich einfach in die Tiefe fallen zu lassen, wurde übermächtig. Mit zitternden Händen strich ich über die Narben an meinem linken Handgelenk, die nur noch weiße Striche waren und mich doch so sehr daran erinnerten, dass ich oft die Möglichkeit gehabt hätte, das Alles zu beenden.
 

Wieso hatte ich es nicht getan? Nur wegen Dad und Takeru? Sie hätten sicherlich schon einen Weg ohne mich gefunden. Schließlich war es nach Mums Tod auch weiter gegangen, wenn doch mehr indirekt. Dad war danach praktisch aus unserem Leben verschwunden und meines spielte auf der Klippe, während Takeru außerhalb von uns beiden lebte.
 

„Hey, Ishida!“
 

Ich ignorierte den Ruf. Ich wollte jetzt mit niemandem reden, weder mit einem Lehrer noch mit einem Schüler. Aber die Person ließ mich in Ruhe, packte mein Handgelenk und zog mich zurück. Wütend drehte ich mich und starrte direkt in das bleiche Gesicht von Yuri Aron. Die grünen Augen waren farblos, die Haare wieder blond. Ich riss meine Hand los.
 

„Was ist?“, fauchte ich ihn an und bemerkte mit einer gewissen Genugtuung, wie er zusammen zuckte. Dann tat es ihm jetzt also auch Leid?

Wie gütig.
 

„Ich wollte dir sagen, dass… es tut mir leid. Wir wollten dich nicht so quälen, ehrlich. Aber dein Zusammenbruch von gestern…“
 

„Wer sagt, dass das wegen euch war?“, fuhr ich scharf dazwischen. Natürlich war die Annahme dumm, dass es aus einem anderen Grund passiert war. Schließlich war das nur all zu offensichtlich und es kam auch nicht sonderlich überzeugend rüber. „Und selbst wenn“, fügte ich hinzu, „kann es dir doch egal sein, oder? Schließlich hat es dich die letzten Jahre auch nicht gejuckt.“
 

Er schien etwas überrumpelt davon, dass ich auf einmal so viel sprach. Bei all unseren Zusammentreffen hatte ich so gut wie kein Wort gesagt, und selbst wenn ich etwas von mir gegeben hatte, dann nur auf ihre Aufforderungen hin. Aber jetzt verspürte ich nicht das Gefühl, gefügig zu werden. Ich war sauer. Wütend. Enttäuscht. Traurig. Verzweifelt. Und noch so viel mehr. Doch es gelang mir nicht, diesen Gefühlen Luft zu machen und ich wünschte mir nur noch einen Raum, worin ich mich einsperren konnte, um mich in den Wellen zu ertränken.
 

„Aber es tut…“
 

„Es ist mir egal, okay?“, ich krallte die Finger in mein Handgelenk, presste es an meinen Bauch. „Weder deine dumme Entschuldigung, noch die von Shusuke macht das einfach wieder ungeschehen, verstanden? Wenn es euch so Leid tut, hättet ihr damals nicht damit anfangen sollen, dann gäbe es jetzt keinen Grund dazu. Also haut endlich ab und lasst mich in Ruhe! Eure falsche Betroffenheit könnt ihr euch sonst wohin schieben – geht zu Taichi, der hat ja so viel Verständnis für euch!“ Ich wirbelte auf den Absätzen herum und rannte durch die Schülermassen, rempelte Dutzende von ihnen an und kümmerte mich nicht um ihre Blicke oder ihre Ausrufe. Ich wollte nur noch weg.
 

Weg von Shusuke und Yuri und Taichi, die einfach nicht verstanden, dass es nicht durch ein paar Worte besser wurde. Meine Welt besaß dadurch einen großen Riss und den konnte ich nicht mit Luft wieder zusammen kleben, so viel stand fest. Natürlich konnten sie nicht mehr tun, aber die Wut darüber, war einfach zu groß. Es reichte mir nicht. Es würde nie reichen.
 

Ich wollte weg von all den Blicken, die sich wahrscheinlich auch noch daran labten, dass ich den Zusammenbruch gehabt hatte und sie endlich etwas besaßen, worüber sie den ganzen Tag lang reden konnten.
 

Und weg von meiner eigenen Inkompetenz. Von dem Wissen, wieder etwas zerstört zu haben, was so gut angefangen hatte.
 

Hastig schlug ich die Türe hinter mir, als ich die Toilette erreicht hatte. Niemand außer mir war hier, weder die Schulschwänzer, die den ganzen Tag hier verbrachten, noch die Raucher, die hier ihr Zigarettendepot hatten, oder die Leute, die wirklich aufs Klo mussten.
 

Aber es war mir ganz recht.
 

Ich schloss mich in einer der Kabinen ein und lehnte mich an die Wand, rutschte langsam daran zu Boden. Schloss die Lider. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken umher, ich sah die Bilder vor meinem inneren Auge umher blitzen, konnte keines davon ergreifen und festhalten. Jedes Mal, wenn ich die Hand ausstreckte, zerflossen sie zu rauchigem Dunst und glitten durch meine Finger hindurch. Die Welle der Emotionen umspülte mich und meine Gefühlslage wechselte von Sekunde zu Sekunde.
 

Nichts war von Dauer, nichts relevant.
 

Meine Augen begannen zu brennen, meine Hände zu zittern. Ich wollte schreien, weinen und lachen. Alles auf einmal. Die ersten Tränen flossen meine Wangen hinab und tropften auf mein T-Shirt. Ich fühlte mich unglaublich dämlich, weil ich hier in der Schule saß und heulte. Ich war unglaublich sauer, weil Taichi nicht einsehen wollte, dass man tausend Schläge nicht mit Worte heilen konnte. Ich war unsagbar traurig, weil ich gerade meinen besten und einzigen Freund vergrault hatte.
 

Wie von selbst glitten meine Hände in meine Tasche und suchten nach der Taschentuchpackung. Ewigkeiten schleppte ich sie mit mir herum, aber nur selten war sie zum Einsatz gekommen. In der schlimmsten Phase meiner Verzweiflung hatte ich sie eingepackt, weil ich damals gedacht hatte, ich würde irgendwann einfach platzen. Genau das Gefühl hatte ich jetzt auch. Nur noch viel, viel schlimmer.
 

Das kalte Metall fühlte sich gut an in meiner Hand, als ich es aus der Verpackung heraus holte und aus den Taschentüchern wickelte. Die Klingen waren alt, fast schon brüchig. Wahrscheinlich würde der Schmerz eher durch die Infektion, als durch den Schnitt ausgelöst werden. Aber das war mir momentan egal. Ich wollte nur noch, dass die Flut zu fließen aufhörte und ich endlich wieder ruhig atmen konnte. Dass mein Herz nicht mehr so heftig schlug und die Panik, vermischt mit Wut und Verzweiflung, verschwand.
 

Meine Hand zitterte. Ich krallte die Finger fest um die scharfe Klinge, um es zu unterdrücken, und sie riss sofort die dünne Haut auf. Das Gefühl war bekannt. Ich setzte es an meinem Handgelenk an und zog. Mit einem Ruck. Mit aller Kraft.
 

Der Schmerz kam schnell. Pochend. Überwältigend.
 

Mit tränenden Augen starrte ich hinunter und presste dann das Handgelenk an die Brust, während ich von den Schluchzern geschüttelt wurde, nicht richtig atmen konnte. Meine Nase war verstopft, mein Mund fühlte sich klebrig und viel zu klein an. Die Welt verschwamm vor meinen Augen, ich nahm nur noch das Pochen in meinem Unterarm wahr. Sah in dem Farbengewirr das Rot so deutlich heraus, wie als würde es leuchten.
 

In meinem Kopf konnte ich Schritte hören, die lauter wurden und stoppten.
 

Sofort stieg in mir die Verzweiflung auf, letztendlich doch von der Krankheit eingeholt worden zu sein, und der nächste Schnitt folgte. Anhand des aufflammenden Schmerzes war es nicht der erst der Zweite, aber die anderen waren mehr unbewusst geschehen. Ich versuchte, den Tränenfluss zu stoppen und hielt für einen Moment die Luft an. Die Schwärze kroch augenblicklich in mein Sichtfeld, ich schnappte nach Luft. Eigentlich war mir bewusst, dass ich es in so einer Situation nicht heraus fordern durfte, Ohnmächtig zu werden.
 

Zu Hause wäre es egal, aber hier musste ich eigenhändig und vor allem rechtzeitig wieder von hier verschwinden und die Spuren verwischen. Das ging nicht, wenn ich bewusstlos war und mich wahrscheinlich irgendjemand fand. Nicht weil er nach mir suchte, sondern, weil er aufs Klo musste. Die Vorstellung, dass nach diesem Morgen überhaupt noch jemand nach mir suchte, war absurd. Mein Talent, alles und jeden zu vergraulen, hatte sich wieder bewiesen und war zu meinem einzigen Talent geworden.
 

Wieder erklangen die Schritte. Lauter, näher.
 

Ich kniff die Augen zu und betete, dass ich sie mir nicht einbildete. Und gleichzeitig hoffte ich doch, dass sie nur Suggestion waren. Es sollte jetzt niemand hier sein und mich sehen. Ich wollte niemanden bei mir haben.
 

Auf meinem Oberschenkel breitete sich ein warmes Gefühl auf und mir war klar, dass das Blut anfing zu fließen. Kurz richtete ich den Blick nach unten, aber noch immer nahm ich alles mehr abwesend und verschwommen war. Richtig atmen konnte ich auch nicht. Mit der Hand, mit der ich die Klinge hielt, wischte ich mir über Nase und Mund. Der Geruch auf der Toilette war eklig, wie auf jeder Schultoilette, aber es war auszuhalten. Sie mussten erst vor Kurzem geputzt haben.
 

Wieder senkte ich die Hand und wie von selbst, setzte sie den nächsten Schnitt. In meinen Ohren hallte eine leise Stimme. Sie sagte etwas, was ich nicht verstehen konnte.
 

Dann hörte ich einen Schrei.
 

Ich zuckte zusammen, presste mich erschrocken an die Wand hinter mir. Noch nie war die Einbildung in meinem Kopf so real gewesen wie jetzt. Oder war es doch nur wieder ich, der schrie? Ich horchte, aber es war nicht ich. Eine Türe knallte und aufgeregtes Stimmengewirr folgte. Die Kraft meiner Halluzination oder der Stimmen in meinem Innern überraschte mich. Auch wenn ich sie nicht verstand, waren sie doch erschreckend nah. Wie als würde jemand neben mir stehen.
 

Aber ich wusste, dass ich alleine war.
 

Etwas packte mich an den Schultern. Ich wand mich, krallte die Hand um die Klinge und zog die Knie an. Legte die Stirn darauf und wusste, dass dort wirklich niemand war, auch wenn sich die Finger so real anfühlten. Der Druck, das Schütteln. Aber hier war nur ich. Ich, ich, ich, ich. Keine fremden Hände, keine fremden Stimmen. Nur das Pochen hinter meiner Stirn, das wirre Reden in meinem Kopf. In Wirklichkeit fand mich niemand. In Wirklichkeit saß ich noch immer auf dem kalten Boden, heißes, klebriges Blut zwischen den Fingern.
 

In Wirklichkeit war ich immer noch alleine hier.
 

Mit der rostigen Klinge in der Hand, dem dumpfen Pochen im ganzen Körper. Mit den bebenden Lippen und dem rasselnden Atem.
 

Nur ich.
 

Da waren keine Schritte. Da waren keine Stimmen. Da waren keine anderen Menschen.
 

Nur ich, ich.
 

Ich.
 

Alleine.
 

Alleine mit den Stimmen in meinem Kopf, die von innen gegen meine Schläfen drückten und mit harten Fäusten und Füßen gegen meine geschlossenen Lider schlugen und traten.
 

Mit einem kraftlosen Keuchen sackte ich nach vorne. Konnte meine Hand nicht mehr spüren. Spürte eine bleierne Schwere, die sich über mich legte und mich stetig nach unten drückte. Hörte wie die Stimmen langsam verklangen und mich zurück ließen.
 

Auf dem dreckigen Boden, neben dem dreckigen Klo.
 

Ganz alleine.
 


 


 

Part XI

END
 


 


 


 

Das erste Kapitel im neuen Jahr - und das leider schon wieder so spät ._. Tut mir sehr leid. Passend zu dem doch sehr bedrückendem Kapitel verabschieden wir uns (vor allem ich mich) von meinem zweiten BetaSaRiku - au revoir! q_q

Und ich möchte mich - natürlich - noch für all die lieben Kommentare zum letzten Kapitel bedanken. Ihr seid wirklich toll, wir sind jetzt schon bei über hundert (!) Kommentaren und ich hätte nie gedacht, dass die Geschichte mal solchen Anklang finden würde... *gerührt ist* <3
 

Und ja, das war schon wieder irgendwie in ein bisschen (für manche vielleicht mehr, für andere vielleicht weniger) Klischeehaltig. Eigentlich wollte ich das gar nicht so weit kommen lassen, aber der Plot rutschte irgendwie davon und... tadaa, jetzt sind wir alleine bei dem dreckigen Klo xD

Wie immer dürft ihr mir an dieser Stelle alles auf die Nase binden, was euch beim Lesen durch den Kopf gegangen ist - und sei es nur, dass es auch nicht gefallen hat ;)
 

Und für alle, die die Änderung nicht mitgekriegt haben: schnell auf die Beschreibung schauen, die Begleitungsmusik anklicken und ! - das ganze Kapitel ncoh einmal lesen xP (Nein, müsst ihr natürlich nicht tun |D) Ab jetzt gibt es da immer einen kleinen Link, falls es denn so passende Musik zu dem entsprechenden Kapitel gibt (denn hauptsächlich ist es ja All You Wanted von M. Branch, das im Hintergrund läuft).
 

Ach und übrigens: Wer errät, was es mit dem fremden Jungen auf sich hat, darf sich was wünschen ;D Der spielt nämlich noch eine schöne (oder auch unschöne) Rolle.
 


 

Liebe Grüße,
 

Nikolaus
 

I'd Take You Away (Taichi)

gebatet byTweetl
 


 

~ Taichis POV ~
 


 

Blut.
 

Überall Blut.
 

Schockiert starrte ich hinunter zu Yamato, der benommen auf dem Boden saß, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Sein ganzer Körper zitterte, aus den blauen, rot geschwollenen Augen, flossen die Tränen. Seine rechte Hand umklammerte eine glänzende Klinge. Im Gesicht klebte die rote Flüssigkeit, war in breiten Bahnen über Mund und Nase verteilt. Durchsichtiger Rotz durchbrach den roten Streifen.
 

Mein Herz pochte unglaublich laut. Wie betäubt starrte ich zu ihm hinunter. Meine Kehle kratzte, als ich seinen Namen sagte:
 

„Yamato?“
 

Er reagierte nicht. Vorsichtig ging ich auf ihn zu, wollte nicht, dass er sich unnötig erschreckte oder in Panik verfiel. Aber es passierte sowieso nichts, noch immer starrte er apathisch ins Nichts.
 

Gerade als ich mich vor ihm auf die Knie sinken ließ, flog die Türe zu den Toiletten mit einem lauten Knall auf und Shusuke rannte zu mir, kam schlitternd zu Stehen und atmete heftig. Er hob den Kopf, strich sich das wirre schwarze Haar aus der Stirn. Einen kurzen Moment war sein Blick ungläubig. Seine braune Augen wanderten über das Bild, das sich im bot. Sogen es auf.
 

Dann schrie er verspätet auf und wich zurück.
 

Yamato zuckte zusammen, atmete hektisch aus und ein und presste sich an die kalte Wand hinter ihm. Er sah umher, doch über seiner Iris lag ein milchiger Schleier und er nahm weder mich noch Shusuke wirklich wahr. Dieser kam zögernd zu mir und stellte sich neben mich, immer darauf bedacht, nicht in Berührung mit dem Blut zu kommen. Mir war es egal, mit einem Blick hinunter bemerkte ich, dass auf meiner Hose etliche rote Flecken zu sehen waren.
 

Egal.
 

„Was ist mit ihm?“, fragte Shusuke.
 

„Ich… er…“, unfähig mehr zu sagen, stockte ich und zu sah zu Yamato hinunter. Mein Engel, mit gebrochenen Flügeln, zerrissen und verzweifelt. Er wimmerte leise. Zaghaft rutschte ich näher, legte die Hände auf seine Schultern und schüttelte ihn sanft. Nach einem Augenblick der Regungslosigkeit, fing er unerwartet an sich zu winden und traf mit einem unbewussten, aber heftigen Tritt mein Schienenbein. Direkt unter der Kniescheibe. Sofort begann es zu schmerzen, aber ich ignorierte das heiße Pochen, packte Yamato fester. Seine Gegenwehr erstarb, er zog langsam die Beine an den Körper und presste die Stirn gegen die Knie. Die Hand, die die besudelte Klinge umklammerte, umfasste zitternd den zierlichen Knöchel, hinterließ rote Streifen.
 

Die blassen Lippen bewegten sich stumm, Tränen rannen über seine Wangen.
 

„O mein Gott, o mein Gott …“, wiederholte Shusuke neben mir seinen leisen Singsang, kniete sich letztendlich doch neben mich und schluckte hörbar. „Wir… wir müssen etwas tun!“
 

„… was?“, meine Stimme klang hohl. Tonlos. In meinem Innern tobte es, Verzweiflung, Angst und Panik schwammen an der Oberfläche und paddelten ans Ufer, packten mich und zogen mich in die dunkle Tiefe. Am liebsten hätte ich geschrieen, geweint und getobt, aber mein Gesicht schien eine schwere Maske zu sein, die ich nicht abnehmen konnte. Mein Verstand wehrte sich dagegen, mein Stolz versperrte den Ausweg.
 

„Die Krankenschwester, den Direktor, einen... einen Lehrer holen – irgendwas!“, sagte Shusuke aufgebracht und fuhr sich durch die Haare. Unter seinen Augen waren dunkle Ringe. „Er verblutet oder… oder sonst was! Jetzt komm schon, Tai!“
 

Ich sah hinunter zu Yamato und zog ihn vorsichtig an mich. Er wehrte sich nicht, einen Augenblick später merkte ich, dass er ohnmächtig war. Die Klinge rutschte aus seiner Hand und fiel mit einem scheppernden Geräusch zu Boden, störend und hoch klang der Ton in meinen Ohren nach. Ich wollte danach greifen, es an mich nehmen und wegschmeißen. Weit weg von Yamato, damit er nie wieder so etwas tun konnte.
 

Aber meine Hand regte sich nicht.
 

Stattdessen presste ich seinen regungslosen Körper an mich und sah wieder zu Shusuke. Er sah genauso verzweifelt aus, wie ich mich fühlte. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe, die braunen Augen fuhren fiebrig im Raum umher, schienen nach einer passenden Lösung zu suchen.
 

„Die werden ihn in die Irrenanstalt stecken, wenn wir ihn zur Krankenschwester bringen“, sagte er nach ein paar Sekunden unruhig. „Das geht nicht. Wir… kann dein Dad nicht einen Arzt beschaffen?“ Fragend sah er zu mir, in meinem Innern ratterte es.
 

„Ja“, sagte ich dann monoton. Shusuke machte eine hektische Handbewegung und erhob sich, tigerte im Raum auf und ab, wartete, bis ich Yamato behutsam hochgehoben hatte, und schnappte sich seine Sachen. Yamatos Handgelenk rutschte gegen meine Brust und ich konnte das warme Blut spüren. In mir kam der Gedanke auf, dass wir eigentlich etwas machen mussten, um die Blutung zu stillen, aber mir fiel nicht ein, was. Panisch suchte ich in meinem Kopf nach der Antwort, aber ich fand keine.
 

Mein Blick huschte zu meinem Gegenüber, aber dieser schien völlig fertig mit den Nerven. Er bedeutete mir, ihm zu folgen und verließ rasch den Raum. Ich drückte Yamatos Körper an mich.
 

Ich hatte das Gefühl, ein Kind zu tragen, so leicht war er. Kurz musterte ich ihn, während ich Shusuke durch die verlassenen Gänge hinterher eilte. Sein Gesicht war blass, die Unterlippe leicht bläulich, das Blut glitzerte purpurrot auf seinem T-Shirt. Die Atmung wurde flach.
 

Und blieb aus.
 


 


 


 


 

„Tai!“
 

Erschrocken hob ich den Kopf und sah in das besorgte Gesicht meiner kleinen Schwester. Hikari saß neben mir auf dem Fußboden, zusammen mit Shusuke hatten wir uns vor dem Gästezimmer positioniert, indem sich ein Arzt um Yamato kümmerte. Shusuke hatte seit unserer Ankunft in unserem großen Haus kein Wort mehr gesagt, mit bleichem Gesicht und fest aufeinander gepressten Lippen starrte er zu Boden. Auf Hikaris Frage, ob er vielleicht etwas zu Trinken haben wolle, hatte er nicht geantwortet. Er war nur regungslos an der Wand zu Boden gerutscht und hatte in den drei Stunden, in denen wir hier schon saßen, kein einziges Mal seine Haltung geändert.
 

Ich hingegen rutschte immer wieder unruhig hin und her, konnte nicht still sitzen. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, ich konnte keinen von ihnen richtig fassen, und doch schwirrten die permanenten Bilder vor meinem inneren Auge umher. Das Blut. Yamatos blasses Gesicht. Die Klinge. All das, und noch so viel mehr. Ich konnte sie nicht abschalten, immer wieder suchten sie mich heim. Als ich eben gerade kurz eingenickt war, musste ich auch davon geträumt haben.
 

Ich warf meiner Schwester einen kurzen Blick zu, sie sah schon wieder an mir vorbei zur Tür.
 

„Du hast gezittert“, sagte sie nach einer Weile nur, wie als wollte sie erklären, weshalb sie mich so unsanft aus meinen Gedanken gerissen hatte. Ich war ihr dankbar dafür, aber das sagte ich ihr nicht. Sie wusste es selbst.
 

Ich glaubte, Schritte hinter der Türe zu hören und riss den Kopf herum. Auch Hikari starrte zur Tür. Die Stimmen dahinter wurden lauter, ich glaubte, einige Wörter verstehen zu können, aber dann verstummten sie, hinterließen die gleiche Stille, die schon davor zwischen uns geherrscht hatte.
 

Die kalte Unsicherheit umklammerte mich mit festem Griff, lieferte mich wehrlos der Panik und Verzweiflung aus.
 

Wieso hatte Yamato sich das nur angetan? Es hätte so viel schlimmer ausgehen können. Möglicherweise hätten wir ihn erst viel später gefunden. Oder wir hätten ihn überhaupt nicht gefunden. Wäre Shusuke nicht auf die Idee gekommen, Yamato doch noch zu suchen, um sich bei ihm zu entschuldigen, obwohl Yuri gesagt hatte, dass es zwecklos sei, hätte er Stunden dort gelegen. Bewusstlos, vergessen und allein. Elendig verblutet und niemand da, der ihn retten könnte.
 

Vielleicht hat er genau das gewollt.
 

Nein, nein. Das konnte nicht sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das wirklich Yamatos Absicht gewesen war. Natürlich steckte dieses Motiv häufig hinter einem Selbstmordversuch, aber wer sagte denn, dass es auch einer gewesen war? Vielleicht war er mit der Selbstverletzung einfach nur zu weit gegangen. Vielleicht hatte er nicht an die Konsequenzen gedachte. Vielleicht… Aber er konnte das nicht gewollt haben.
 

Er durfte das nicht gewollt haben.
 

Ich hatte bemerkt, dass im Hause Ishida nicht alles so lief, wie es eigentlich sollte. Yamato fühlte sich sichtlich unterdrückt, hatte eine unausgesprochene hohe Wut gegenüber seinem Vater und Bruder in sich, welche schon seit Jahren heran wuchs, loderte und fauchte. Takeru bekam davon nichts mit, dazu war ein wenig zu naiv, aber dennoch schien auch er angespannt und unruhig. Aber niemand griff deswegen zu solchen Mitteln, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es so schlimm war. Die beiden waren nicht dumm, wenn es zu weit ginge, hätten sie schon miteinander darüber geredet.
 

Oder nicht?
 

Schließlich war Yamato vernünftig und intelligent, er würde es sich zwei Mal überlegen, ob er so etwas Leichtsinniges tat. Er hatte zwar gesagt, dass er sich damals selbst verletzt hatte, aber… ich hatte nie angenommen, dass es solche Ausnahme annehmen würde. Wieso sollte er solch einen Ausweg suchen? Es gab so viele andere Möglichkeiten, Probleme zu regeln. Darüber zu reden, Hilfe zu suchen, es aufzuschreiben. Irgendetwas – aber nicht das. War es eine Kurzschlussreaktion von Yamato gewesen, weil er einfach mit der Wut nicht mehr klargekommen war? Aber woher kam dann plötzlich die Klinge?
 

Er konnte sie unmöglich auf dem Schulhof oder im Gebäude gefunden haben, ich wusste, dass dort so etwas nicht herum lag, der Hausmeister gehörte zu meinen Freunden. Dennoch konnte ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass die Klinge wahrscheinlich schon die ganze Zeit bei Yamato in der Tasche gelegen hatte, auf der Lauer, wartend darauf, dass ihr Besitzer zusammen brach.
 

Und ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen.
 

„Ich… ich hätte nie gedacht, dass so was mal passiert“, flüsterte Shusuke plötzlich. Er war noch immer unglaublich blass und wandte den Blick nicht vom Teppich ab. „Ich hab das immer im Fernsehen gesehen oder Freunde haben’s mir erzählt. Aber jetzt… ich dachte eigentlich, dass die tote Katze auf dem Bürgersteig das Schlimmste sein würde, was ich je sehen würde.“ Seine Mundwinkel hoben sich nach oben und er stieß ein trockenes Lachen aus. „Wer hätte gedacht, dass ich mich so irren konnte?“
 

Die braunen Augen richteten sich auf mich.
 

„Ja“, sagte ich lahm, wusste nicht, was ich sonst erwidern sollte und sah auf meine Hände.
 

„Es wird schon alles wieder gut werden“, sagte Hikari aufmunternd und stupste mich leicht an, aber ich reagierte nicht darauf. Sie hatte es schon öfters gesagt, immer in der Absicht, die unangenehme Spannung zwischen uns zu entladen, aber es war ihr nicht gelungen. Es war nur ein Standardsatz, sie wusste genauso wenig, wie es um Yamato stand wie wir.
 

Wahrscheinlich sogar noch weniger.
 

Sie war erst auf dem Parkplatz zu uns gestoßen. Ihr Unterricht begann heute erst eine Stunde später und zusammen mit ein paar Freundinnen hatte sie vor den Autos gesessen und gelacht. Die Stimmung aller fünf Mädchen hatte sich schlagartig geändert, als Shusuke und ich auftauchten.
 

Ich legte Yamato behutsam auf die Rückbank, während Shusuke unsanft die Mädchen abwehrte, auf meine Aufforderung hin, jedoch Hikari zu uns ins Auto ließ. Sie war kreidebleich geworden, als sie Yamatos blutbeschmiertes Hemd gesehen hatte, riss einen großen Streifen von ihrem T-Shirt ab und band es hektisch um sein Handgelenk, um die Blutung zu stillen. Da erst fiel mir wieder ein, dass wir das wohl als Erstes hätten tun sollen, als wir ihn fanden. Aber zu diesem Zeitpunkt war mir jegliches Denken schwer gefallen.
 

Ich wandte mich ab und fuhr nach Hause.
 

Unterwegs rief Hikari bei Mum an, informierte sie über die Situation und trug ihr auf, einen Arzt zu rufen. Danach schrieb sie Takeru eine SMS, dicke Tränen kullerten dabei über ihre Wangen. Es nahm sie sehr mit und fast beneidete ich sie dafür, dass sie ihre Emotionen so offen zeigen konnte. Mein Stolz stand vor verschlossenen Türen und ließ mich nicht hindurch, in meinem Magen begann es unangenehm zu zwicken. Erst als wir vor der Türe hielten und Dr. Desplat, unser Hausarzt, uns eilig ins Gästezimmer brachte, konnte ich es verdrängen. Der stämmige, braunhaarige Mann, Mitte vierzig, scheuchte uns sogleich wieder aus dem Raum hinaus und uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
 

Und nun saßen wir hier.
 

Mein Steißbein schmerzte, mein Kopf pochte, der heiße Schmerz in meinem Schienenbein war zu neuem Leben erwacht. Ich wünschte mir eine Kopfschmerztablette, eine eiskalte Dusche, ein warmes Bett und ein sorgenfreies Dasein, aber nichts davon geschah. Die leise Hoffnung, dass Yamato unbeschadet wieder aufwachen würde, schwand von Sekunde zu Sekunde und erfüllte mich mit einer eigenartigen Leere, die ich nicht vertreiben konnte.
 

Wieder ertönten laute Schritte, diesmal von der Treppe.
 

Takeru kam auf uns zu gerannt, mit geröteten Wangen und verschwitzter Kleidung, stoppte schlitternd seinen Lauf und stützte die Hände auf die Knie. Während er nach Atem rang, sah er verständnislos von einem zum anderen, sein Blick blieb an mir hängen.
 

„Was…?“, war das Einzige, was nach einer halben Ewigkeit seinen Mund verließ, begleitet von einem lauten Keuchen. Ich blickte fragend zu Hikari, wusste nicht, wie viel sie Takeru offenbart hatte. Ich konnte nicht einfach so mit der Tür ins Haus fallen, Takeru würde vor Schreck und Sorge in Ohnmacht fallen. Glücklicherweise übernahm Hikari das Reden.
 

Sie strich sich elegant eine Haarsträhne hinters Ohr und setzte ihr gütigstes Lächeln auf, das wohl aufmunternd und fröhlich wirken sollte. Auf mich wirkte es gestellt, traurig und ratlos.
 

„Tai hat Yamato verletzt in der Schule gefunden“, sagte sie. „Wir haben ihn sofort hier her gebracht. Ein Arzt kümmert sich gerade um ihn.“
 

„Hier her?“, fragte er mit rasselndem Atem. „Wieso habt ihr ihn nicht in ein Kranken… O nein.“ Erkenntnis flackerte in den hellen Augen auf und mit einem entsetzen Gesichtsausdruck taumelte Takeru rückwärts, prallte gegen die gegenüberliegende Wand und rutschte kraftlos an ihr zu Boden. Er zog die Beine an, wie sein Bruder ein paar Stunden zu vor, und vergrub den Kopf in den Händen.
 

„TK, es ist alles gut. Es wird schon nicht so schlimm sein“, versicherte Hikari ihm, machte vorsichtig einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schien es gar nicht zu bemerken. Aus geröteten Augen sah er zu mir auf und seine nächsten Worte waren direkt an mich gerichtet.
 

„Er hat es selbst getan, nicht? Er war nicht nur ´verletzt´.“
 

Ich nickte stumm.
 

Sofort zog Hikari scharf Luft ein und warf mir einen bösen Blick zu, aber ich wusste nicht, weshalb ich es ihm nicht sagen sollte. Wenn er schon von selbst darauf kam, konnte ihn ja nicht davon abbringen. Es schien ihn zwar zu schockieren, aber nach ein paar Minuten wurde mir klar, dass er damit gerechnet hatte. Irgendwann. Dennoch war die Tatsache, dass es so früh passierte, entsetzlich.
 

„Ich wusste es“, flüsterte Takeru wie zur Bestätigung meiner Gedanken. „Er kann es also doch nicht einfach so wegstecken.“ Er seufzte und rieb sich mit den Handballen über die Augen. Hikari tätschelte ihm tröstend die Schulter. Eine Geste, wie ich bemerkte, die nicht nur dazu dar war, um ihm zu helfen, sondern um Nähe zu schaffen, die sie wollte.
 

„Wann kann ich ihn sehen?“
 

„Keine Ahnung“, meldete Shusuke sich aus dem Hintergrund leise, seine Stimme klang ungewohnt tief und rau. Überrascht wandte ich mich ihm zu, aber sah mich nicht an. Wieder fixierte er den Boden. „Wir warten schon seit Stunden und der Arzt kommt immer noch nicht raus. Vielleicht gibt es auch gar keinen Grund dazu.“
 

„Shusuke!“, rief Hikari entrüstet, Takeru zuckte zusammen. Er krallte die Finger in die Ärmel seines Pullovers.
 

„Was? Glaubst du etwa ernsthaft daran, dass er jetzt noch lebt?“
 

Er klang gelassen, gleichgültig. Kalt.
 

„Natürlich“, erwiderte sie, aber sie schien nicht selbst von ihrer Aussage überzeugt.
 

Shusuke schnaubte verächtlich.
 

„Haltet endlich die Klappe!“, fuhr ich sie an, bevor Hikari zu einer bösen Erwiderung ansetzten konnte. „Er wird da drinnen nicht sterben, kapiert? Es gibt überhaupt keinen Grund dazu, hier jetzt so Trübsal zu blasen, Shusuke!“
 

Beide sahen mich ratlos an.
 

Ich biss mir auf die Unterlippe und sah weg.
 

Ich wollte jetzt nicht von ihnen hören, dass es zu spät war. Yamato war… er war das, was ich in meinem ganzen Leben immer gewollt hatte. Egal ob Junge oder Mädchen, egal ob ich schwul oder hetero gewesen wäre, ich hätte ihn genommen, so oder so. Er war das Bild in meinem Kopf, mit dem ich abends einschlief und morgens wieder aufwachte. Er war das leise Lachen in meinen Gedanken, dass ich hören konnte, wenn ich mich missgelaunt fühlte. Er war die Stimme in mir, die mir Mut machte, wenn ich an mir zweifelte. Selbst als ich noch nicht einmal seinen Namen gekannt hatte, hatte ich ihn verehrt und all seine beiläufigen Berührungen nach unserer Bekanntschaft, hatten ein unglaubliches Feuer in mir entfacht.
 

Es störte mich nicht mehr, dass er mich zappeln ließ. Es störte mich auch nicht, dass er meine Anmachversuche nicht einmal zu bemerken schien. Nicht einmal die Tatsache, dass er möglicherweise eine etwas labilere Psyche hatte, schreckte mich ab.
 

Ich war noch nie in meinem Leben so… so verknallt gewesen. Er konnte jetzt einfach nicht sterben!
 

Plötzlich schwang die Türe auf.
 

Ich zuckte zusammen, sah aus den Augenwinkeln, dass es meinen Freunden nicht anders erging und blickte hinauf zu dem Mann, der durch den Türrahmen schritt. Sein schütteres Haar fiel ihm strähnig in die Stirn, die Brille auf seiner Nase war verrutscht und zerkratzt. Der weiße Kittel wirkte lächerlich über der Jeans und den Turnschuhen. Dennoch verlieh ihm das Stethoskop und der kleine Koffer das nötige Aussehen, um Respekt einzuflößen.
 

Hinter meiner Mutter sah er jedoch schäbig aus. Sie trug ein champagnerfarbenes Kleid, das braune, lange Haar hatte sie kunstvoll nach oben gesteckt und ihre Augen waren in einem dezenten Rosa geschminkt, das auf abstruse Art zu ihrer Kleidung passte. Die goldenen Spangen in ihrem Haar harmonierten mit den Arm- und Ohrringen.
 

Hastig rappelte ich mich auf, fuhr mir durch das Haar und sah abwartend von ihm zu meiner Mutter. Sie lächelte freundlich, während das Gesicht von Dr. Desplat eine undurchdringliche Festung war.
 

„Es geht ihm gut“, sagte er schließlich, wie als hätte er erst just in diesem Moment entdeckt, dass eine Horde Jugendlicher ungeduldig vor ihm stand und ihn anstarrte. Ein allgemeines Aufseufzen hallte durch den Gang, die Erleichterung kam in einer riesigen Welle angerollt und spülte über uns alle hinweg. Mein Herz setzte einen Moment aus, bis es wieder regelmäßig zu schlagen begann. Yamato lebte. Es ging ihm gut.
 

O Gott, danke!
 

„Allerdings braucht er jetzt Ruhe und muss sich erholen. Wenn Sie ihn unbedingt sehen wollen, dann immer nur einer, höchstens zwei. Es wird so schon anstrengend genug für ihn sein.“
 

„Jetzt?“, fragte Takeru atemlos. Er verhakte nervös die Finger ineinander, trat von einem Fuß auf den anderen. Es war nur allzu offensichtlich, dass er auf der Stelle zu seinem Bruder rennen würde, egal ob mit oder ohne der Erlaubnis des Arztes.
 

„Was jetzt?“, wiederholte Dr. Desplat verwirrt.
 

„Können wir ihn jetzt schon sehen?“
 

Der Dr. sah Takeru nachdenklich an, musterte ihn von oben bis unten und nickte dann zögernd, bevor er sagte: „Aber nur, wenn Sie leise sind und Rücksicht auf ihn nehmen. Der arme Junge ist vollkommen fertig.“ Er lächelte noch einmal kurz Mum und Hikari an, dann verabschiedete er sich mit einer dezenten Handbewegung und schritt den Flur entlang, die Treppe hinunter und verschwand. Sofort waren alle Blicke auf Mum gerichtet.
 

Sie lachte nervös.
 

„Ich würde mal sagen, Takeru und Taichi gehen zuerst, was?“, sie sah Hikari und Shusuke an, beide schienen etwas niedergeschlagen. Aber sie sagten nichts dagegen und Mum trat einen Schritt beiseite. Augenblicklich war Takeru an ihr vorbei geschossen. Ich zögerte einen Moment, bis ich ihm folgte und leise die Türe hinter mir schloss. Ich hatte nicht erwartet, gerade mit Takeru bei Yamato zu sein. Jegliche Berührungen, die mehr bedeuten könnten, waren nun tabu.
 

Als ich den Raum durchquert und mich zu den beiden gesellt hatte, saß Takeru unruhig auf der Bettkante und hielt Yamatos Hand umklammert. Yamato selbst hatte die Augen geschlossen und machte den Anschein, als würde er schlafen. Das Bild wurde jedoch sogleich zerstört, als er langsam die Lider hob und die trüben, blauen Iriden von Takeru zu mir huschten. Er fixierte mich verwirrt und verzog den Mund, bis ihm wieder einzufallen schien, was vorgefallen war.
 

Sofort wurde er noch blasser.
 

„Hey“, sagte ich mit hohler Stimme und lächelte ihn an. Yamatos Gesicht blieb ausdruckslos. Er wandte sich ab und sah hinauf zu seinem Bruder, der überglücklich neben ihm saß, seine Hand hielt und grinste. Getrocknete Tränenspuren waren auf seinen Wangen zu sehen, bei ihrem Anblick verzog Yamato erneut den Mund.
 

„Wieso bist du hier?“, fragte er. Ich war etwas überrascht, dass dies seine erste Frage war und auch Takeru schien es nicht anders zu ergehen. Doch er fasste sich schneller als ich, rieb fahrig mit dem Daumen über Yamatos Handinnenfläche, das Lächeln in seinem Gesicht flackerte.
 

„Hikari hat mich angeschrieben. Ich hab dem Lehrer gesagt, mir geht’s nicht so gut und bin abgehauen. Es hat ´ne Ewigkeit gedauert, hier her zu rennen, aber ich hatte keine Zeit für den Bus“, erzählte er knapp. Seine Augen leuchteten.
 

„Du solltest wegen so etwas Lächerlichem nicht die Schule schwänzen“, rügte Yamato ihn leise und versuchte sich aufzurichten. Weder ich noch Takeru unternahmen einen Versuch, ihn davon abzuhalten, obwohl er seinen Arm sicherlich noch nicht so belasten durfte. Yamatos Worte hatte die Leere in mir zum Tosen gebracht, ich glaubte meinen Ohren nicht. Takeru zog neben mir scharf Luft durch die Zähne und ließ die Hand seines Bruders los. Stand ruckartig auf.
 

Verwirrt hob Yamato den Kopf.
 

„Was ist…?“
 

„Wegen so etwas Lächerlichem?“, wiederholte Takeru laut. „Meinst du das ernst, Yamato?“
 

Ich hatte noch nie gehört, dass Takeru den Namen seines Bruders ganz aussprach. Yamato selbst schien zu merken, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Unbewusst zog er die Decke höher, sein Blick streifte meinen. Unsicherheit stand in den blauen Augen.
 

„Ich meinte doch nur, dass du…“, fing er an, aber erneut ließ ihn Takeru nicht ausreden.
 

„Hast du sie noch alle?“, rief er aufgebracht und Yamato zuckte zusammen. „Du hättest sterben können, verdammt noch mal! Da ist doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich einmal bei dir sein will, oder? Ich hab mir Sorgen um dich gemacht und du willst mir ernsthaft sagen, dass das lächerlich war? Dass dein beschissener Selbstmordversuch lächerlich war?!“ Er rauchte vor Zorn. Seine Wangen waren gerötet, Blitze schossen aus den blauen Augen und erstachen ihr Ebenbild.
 

Diese starrten irritiert zurück, die blassen Lippen ungläubig geöffnet.
 

„Takeru, ich wollte doch nur…“
 

„Was?! Was wolltest du?“, fauchte Takeru zurück und trat einen Schritt auf ihn zu. Ich packte seinen Arm, wollte ihn zurück ziehen, aber er schüttelte mich ab. Das Ganze schien mir etwas zu Privat, als dass ich mit anhören dürfte, doch ich konnte einfach nicht gehen. Schließlich schrie eine leise Stimme in meinem Innern danach, den Grund für Yamatos Tat zu erfahren. „Wolltest endlich mit all dem Mist abschließen und einfach so Sang- und Klanglos verschwinden? Oder wolltest du doch eher ein bisschen Aufmerksamkeit erhaschen?“
 

„So war es nicht“, antwortete Yamato, die Lippen nun fest aufeinander gepresst. Auch er schien mit sich zu hadern, ich konnte die Wut in seinen glasigen Augen lodern sehen. Einen Moment verspürte ich das unbändige Verlangen, auf ihn zuzugehen und ihn in die Arme zu nehmen, doch ich widerstand ihm. Er hätte es nicht gewollt.
 

„Wie war es denn dann?“
 

„Das…“, Yamato stockte und sah grimmig zu Boden. „Das verstehst du nicht.“
 

„Wie soll ich es denn auch verstehen, wenn du mir nie etwas erzählst?!“, sagte Takeru aufgebracht und warf die Hände in die Luft. Mir wurde klar, dass er genau auf das die ganze Zeit hinaus gewollt hatte. „Verdammt noch mal, wieso hast du mir nicht einfach gesagt, dass du alleine damit nicht fertig wirst? Kannst du nicht einmal deinen scheiß Stolz überwinden? Ist es so schwer, mit anderen Menschen darüber zu reden? Ich bin dein Bruder, Yama, du hättest doch zu mir kommen können! Was hast du dir dabei gedacht? Ich meine… wieso?“ Seine letzten Worte waren nur noch ein leises Hauchen. Entkräftet ließ er sich wieder auf die Bettkante sinken und sah zu seinem Bruder.
 

Yamato erwiderte seinen Blick nicht. Kurz huschten die blauen Augen zu mir, fast hatte ich den Eindruck, er bat mich um Hilfe, aber er wandte sich zu schnell wieder ab. Vorsichtig setzte ich mich an sein Fußende, wollte nicht so verloren mitten im Raum herum stehen. Als Yamato die Bewegung der Matratze spürte, zog er die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Umklammerte das linke Handgelenk, welches sich, eingebunden mit dem schneeweißen Verband, kaum von seiner blassen Haut abhob.
 

Er gab ein leises Wimmern von sich.
 

Takeru streckte die Hand nach ihm aus, zog sie jedoch unschlüssig wieder zurück und sah zu mir. Ich zuckte mit den Schultern.
 

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus und auch wenn ich mir wünschte, dass es endlich aufhörte, wusste ich doch nichts, was ich hätte sagen können. Meine Zweifel lagen mir wie schwere Steine im Magen, ließen mich heftig schlucken. Yamato starrte regungslos auf seine Decke. Takeru seufzte ab und zu, sah zu seinem Bruder, zu mir und wieder zu seinem Bruder.
 

Und er war es letztendlich, der das Schweigen brach.
 

„Es ist wegen Mum, oder?“, sagte er leise.
 

Yamato schüttelte stumm den Kopf.
 

„Aber… weswegen dann?“, fragte Takeru verwirrt und richtete sich auf. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich wollte nicht hören, was Yamato als nächstes sagte, aber ich konnte mein Gehör nicht abschalten.
 

„Das geht dich nichts an.“
 

Wie in Zeitlupe kam Takerus Reaktion.
 

Zuerst zuckte sein linker Mundwinkel, ungläubig, verwirrt. Dann weiteten sich die blauen Augen vor Schreck und er sprang auf, öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und schloss ihn wieder. Unschlüssig stand er vor seinem Bruder, sah fassungslos auf ihn hinunter und raufte sich immer wieder die Haare.
 

„Du bist unglaublich“, sagte er schließlich und sah sauer zu Yamato hinunter. „Du bist einfach unglaublich!“
 

Yamato erwiderte nichts.
 

„Wie kannst du so was sagen? Ich bin dein Bruder, verdammt! Wenn es mich nichts angeht, wenn denn dann? Tai, weil er dir immer so schöne Augen macht?“, wutentbrannt deutete er auf mich und ich konnte ein leichtes Zusammenzucken nicht verbergen. Die ganze Zeit war ich aus ihrem Streit heraus gehalten worden, jetzt so plötzlich hinein gezogen zu werden, behagte mir nicht. Erst Recht nicht die Anspielung, die er auf meine Gefühle machte. „Ich kann einfach nicht glauben, dass du so… so dumm sein kannst! Du hättest sterben können! STERBEN, Yamato!“ Er ballte zitternde die Fäuste und sah zu seinem Bruder, ich konnte sehen, wie sehr er sich jetzt nach einer provozierenden Antwort sehnte. Er wollte den Streit, um endlich all das heraus zu lassen, was sich all die Jahre angestaut hatte.
 

Ich wollte nur noch hier weg.
 

Yamato hob langsam den Kopf und sah ihn gleichgültig an. Seine wortlose Antwort war provozierend, ja, aber offensichtlich nicht auf die Art und Weise, die Takeru sich erhofft hatte. Mit einem letzten lauten Schrei und einem wüsten Ausdruck gegen Yamato, drehte er sich auf den Absätzen um und stürmte aus dem Raum. Die Türe fiel krachend ins Schloss und Yamato zuckte zusammen.
 

Ich saß da, regungslos, angespannt, in der leisen Hoffnung, dass er mich einfach vergessen hatte und ich gehen konnte. Er rührte sich nicht, aber erst nach einer Weile wurde mir klar, dass er mich sehr wohl bemerkt hatte. Vorsichtig kletterte ich zu ihm ins Bett und krabbelte umständlich zu ihm nach vorne, er reagierte nicht. Auch nicht, als ich direkt neben ihm saß.
 

„Er hasst mich“, sagte er plötzlich und mein Herz blieb vor Schreck stehen.
 

„Wen meinst…?“
 

„Takeru“, unterbrach er mich aufgewühlt. „Ich hätte das nicht sagen sollen!“
 

„Wieso hast du es dann getan?“, fragte ich nach, schallte mich im nächsten Augenblick jedoch für diese dumme Frage. Yamato schien es mir glücklicherweise nicht übel zu nehmen.
 

Zum ersten Mal, seit ich bei ihm war, sah er mich wirklich an und sein Blick ging mir durch Mark und Bein. Die blauen Augen waren glasig, ob vor Tränen oder den Schmerzmitteln, die ihm Dr. Desplat gegeben hatte, wusste ich nicht. Auf den Wangen waren die letzten Blutspuren zu sehen, die blassen Lippen ein dünner Strich.
 

Ich schluckte trocken.
 

„Was hätte ich denn sagen sollen?“, erwiderte er und fuhr sich mit zitternden Händen durchs blonde Haar. Wirr stand es vom Kopf ab, an den Spitzen glitzerte es rot. „Es würde ihm nur noch mehr Sorgen bereiten.“
 

Ratlos sah ich zu ihm.
 

„Yama, ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst“, gestand ich ehrlich und war froh, als seine Mundwinkel leicht zuckten. Ein trauriges Lächeln, aber es ließ ihn schon viel gesünder wirken.
 

„Er kam gestern zu mir und wollte etwas über Mum wissen“, erzählte er leise. „Ganz normale Dinge. Wie sie war und so, er kannte sie schließlich kaum. Ich wollte ihm eigentlich gar nichts sagen, aber ich hab’s doch getan. Aus Dummheit. Ich hätte wissen sollen, dass die Frage kommt.“
 

„Welche Frage?“
 

„Wie sie gestorben ist“, antwortete Yamato. „Dad kann sich an seine eigene Lüge nicht halten und erzählt manchmal, dass sie einen Gehirntumor hatte. An anderen Tagen ist sie allerdings auch bei der Fehlgeburt des dritten Kindes verblutet. Oder ein Herzinfarkt! Ich hab Takeru gesagt, dass es unwichtig ist, aber er hat keine Ruhe gegeben. Erst als ich ihn mit diesem dummen Fotoalbum abgelenkt habe, ist er gegangen. Ich wollte ihm sein Bild von Mum nicht zerstören, er… er liebt sie.“
 

Unbehaglich rutschte ich hin und her, wusste nicht, ob ich es wagen konnte, eine gewisse Frage zu stellen, oder nicht. Wenn Yamato sie schon seinem kleinen Bruder nicht beantwortet hatte, wieso sollte er es dann bei mir tun? Ich starrte auf seinen Kopf, wich erschrocken zurück, als er meinen Blick erwiderte. Die fein geschwungenen Augenbrauen trafen sich für einen Moment über der Nasenwurzel, dann seufzte er leise.
 

„Eine Kugel in den Kopf. Sofortiger Tod“, sagte er, in seiner Stimme ein undefinierbarer Unterton.
 

„Wa—?“
 

„So ist sie gestorben. Sie hat sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Sie war sofort tot. Ich hab sie damals gefunden, weil ich den Knall gehört habe. Takeru wurde von Dad im Gang aufgehalten und hat nie das Zimmer betreten. Er kann sich kaum noch an diese Nacht erinnern“, sagte Yamato, aber zum Ende hin wurde er immer leiser. „Also weiß er es auch nicht. Und das ist gut so. Deshalb hab ich das zu ihm gesagt.“
 

Wortlos starrte ich ihn an.
 

Mir fiel nicht ein, was ich dazu hätte sagen können. Ich wollte ihm gerne mein Beileid aussprechen, aber dann erinnerte ich mich daran, wie dumm ich mich dabei immer fühlte und wie sehr ich es selbst hasste, wenn es jemand tat, und schwieg. Yamato schien das ebenfalls mehr zu gefallen, denn er entspannte sich sichtlich. Sein Blick glitt aus dem Fenster, streifte kurz mein Gesicht.
 

Meine Wangen glühten. Betont lässig sah ich an ihm vorbei, in meinem Kopf schwirrten die Gedanken unruhig umher. Ich konnte keinen von ihnen fangen, war mir nicht einmal so sicher, ob ich das überhaupt wollte. Jetzt über seine Worte nachzudenken, erschien mir falsch.
 

Ich blickte wieder zu Yamato und stellte bestürzt fest, dass er weinte.
 

Stumm rannen die Tränen über seine geröteten Wangen, während er die Lippen fest aufeinander presste und jegliche Laute unterdrückte. Erschrocken schnappte er nach Luft, als ich die Arme um ihn schlang und ihn an mich zog. Er wehrte sich nicht, aber er war steif wie ein Brett. Alles in mir schrie danach, ihn einfach wieder loszulassen und jetzt zu gehen. Die letzte Möglichkeit dazu am Schopf zu packen, bevor es zu spät war und ich mich so tief hinein geritten hatte, dass ich nicht mehr hinaus kam.
 

Aber ich hörte ihnen nicht zu.
 

Sanft streichelte ich ihm übers Haar, registrierte glücklich, wie sich seine dünnen Arme um meinen Hals legten und er sich an mich drückte. Heiß tropften seine Tränen auf mein T-Shirt, ich konnte spüren, wie sich der Stoff an meiner Haut festsaugte. Sein rasselnder Atem strich unregelmäßig über mein Schlüsselbein, jagte mir einen warmen Schauer nach dem nächsten über den Rücken. Vergessen waren die anderen, die wartend vor der Türe standen. Vergessen war der heftige Streit zwischen Takeru und Yamato.
 

Glücklich vergrub ich mein Gesicht in dem blonden Haar. Yamatos berauschender Eigenduft, gepaart mit dem beißenden Geruch von Schweiß, Desinfektionsmitteln und Blut. Obwohl es nicht die schönste Mischung war, schwebte ich auf Wolke sieben. Sein zitternder Körper schmiegte sich ergeben an mich und ohne groß darüber nachzudenken, zog ich ihn auf meinen Schoß und lehnte mich an das Kopfende.
 

Er seufzte leise auf und sein Atem entspannte sich, letztendlich stoppte der Tränenfluss und alles was die entstandene Stille durchbrach, war sein gelegentliches Schniefen.
 

„Taichi?“, fragte er nach einer Weile.
 

„Hm?“, machte ich schläfrig. Ich wollte die wunderbare Situation nicht durch unnötiges Gerede zerstören, war dabei, mir alles genau einzuprägen, falls es das letzte Mal gewesen sein sollte – was ich natürlich nicht hoffte. Ich fühlte mich so wohl wie noch nie zuvor in meinem Leben.
 

„Was meinte Takeru mit >weil er dir so schöne Augen macht<?“
 

„Also… hm“, ich stockte. Ehrlich gesagt war mir nie in den Sinn gekommen, dass Yamato sich das merken würde. Ich hatte angenommen, dass er von dem anderen viel zu mitgenommen war, um sich daran zu erinnern, aber ich hatte mich deutlich geirrt. Was sollte ich jetzt dazu sagen? „War… ist das nicht offensichtlich?“
 

Yamato löste sich vorsichtig von mir, viel zu schnell, wie es mir vorkam. Fragend sah er zu mir auf, die sinnlichen, blassen Lippen einen Spalt geöffnet.
 

Gott, wie gerne würde ich ihn jetzt küssen…
 

„Du… hm, magst mich?“, fragte er unsicher.
 

Ich lachte, erlag dem Impuls, ihm durch die Haare zu streichen. Er verfolgte jede Bewegung meiner Finger mit den Augen, aufmerksam und irritiert zugleich.
 

„Viel mehr als mögen, Yama“, sagte ich und fühlte mich plötzlich unglaublich erleichtert, als es gesagt war. Jetzt wusste er es und ich musste mich nicht mehr verstellen.
 

Endlich.
 

Yamato sah zu mir, kaute auf seiner Unterlippe herum und zuckte dann mit den Schultern.
 

„Okay“, sagte er.
 

„Was okay?“
 

„Es ist okay“, sagte er und lächelte mich an. Mein Herz schlug heftig gegen meinen Brustkorb. „Ich mag dich auch.“
 


 


 

Part XII

END
 


 


 


 

Himmel, das letzte Update ist wirklich schon viel zu lange her. Es tut mir leid, aber irgendwie... momentan gibt's bei zu viel Fußball, zu viel sinnlosen Unterricht (der glücklicherweise bald zu Ende ist), zu viel Freundestress und schlechten Sommer (mal ehrlich, das ist doch kein Sommer!). Aber ich möchte mich hiermit seeeehr bei Tweetl bedanken, die das schon so schnell und schön gebatet hat und es lag allein an mir, dass es trotzdem so lange gedauert hat--Vergebung n.n
 

Ein riesiges Dankeschön an all die Leser und ein noch größeres an meine treuen Kommentatoren, ohne euch wäre das alles nur halb so schön ;) UndTaylor: der Parental Impact ist näher als du denkst! (da warte ich auch schon drauf <3)
 

Ich kann nur hoffen, dass es nicht zu schnulzig/kitschig/was auch immer an manchen Stellen war, denn bei diesem Kapitel... nun, ich arbeite auf mein persönliches Lieblingskapitel hin, deswegen :]
 

Als Überbrückung bis zum nächsten Mal lade ich wahrscheinlich einen OS von den beiden hoch (so schnell es geht ;]), wer will, kriegt Bescheid, wenn er da ist. Zwar über Taito, aber nicht in Zusammenhang mit AYW.
 

Vielen Dank fürs Lesen und Warten, hoffentlich auf Bald ;)
 

Alles Liebe

Nikolaus

If You Want To (Yamato/Taichi)

gebetat von Tweetl
 


 


 


 

~ Yamatos POV ~
 


 


 


 

Hier.“
 

Ich schluckte und nahm das Telefon entgegen, das mir Frau Yagami in die Hand drückte. Ihre warmen, braunen Augen blickten mich aufmunternd an und mit diesem gütigen, bezaubernden Lächeln auf dem Gesicht, fügte sie hinzu: „Du musst ihn nicht anrufen, wenn du nicht willst. Ich kann das auch für dich übernehmen. Du bist sicherlich noch müde.“ Anhand ihrer Wortwahl wurde mir klar, dass sie mein Zögern gesehen hatte.
 

Ich schüttelte den Kopf.
 

„Vielen Danke, aber nein“, erwiderte ich und versuchte zu lächeln, aber es misslang kläglich. Die Vorstellung, wie sie meinen Vater anrief, war grauenhaft. „Ich… es wird nicht lange dauern.“ In meinem Kopf kramte ich nach der Handynummer meines Vaters, entsann mich aber dann der Tatsache, dass er aus New York schon wieder zurück war und wahrscheinlich gerade in seinem Büro saß und die Dokumente für seinen Chef bearbeitete. Also tippte ich die Nummer seiner Firma ein, merkte dabei, dass meine Hände zitterten.
 

Ich hob das schnurlose Telefon an mein Ohr, hörte das monotone Tuten und fühlte mich furchtbar unwohl. Bisher hatte ich ihn nur zwei Mal in der Arbeit angerufen, als ich neun war und dachte, dass ich ihn darüber informieren sollte, dass Takeru sich das Bein beim Fußball gebrochen hatte und wir zusammen ins Krankenhaus fuhren. Wirklich dafür interessiert hatte er sich nicht, war allerdings am Abend früher nach Hause gekommen. Das andere Mal war ich mit zehn Jahren zum ersten Mal Jahrgangsbester geworden. Ich war nicht einmal bis zu ihm durchgekommen, die Empfangsdame meinte, er habe keine Zeit für so etwas.
 

Danach hatte ich es nie wieder versucht.
 

Um mich abzulenken, ließ ich den Blick durch den Raum schweifen und blieb an Shusuke hängen. Dass er hier war, hätte ich nicht erwartet, aber ich konnte mir vorstellen, weshalb er anwesend war. Die schwarzen Haare hingen in unordentlichen Strähnen ins Gesicht, der Blick aus den braunen Iriden wirkte stumpf und leer. Dunkle Ringen waren unter seinen Augen zu sehen, er erweckte den Anschein, als habe er Tage nicht geschlafen.
 

Das Tuten endete abrupt, eine tiefe Stimme ertönte am anderen Ende der Leitung. Erschrocken zuckte ich zusammen. Noch nie war ich direkt mit meinem Vater verbunden worden.
 

„Ishida“, er klang genervt und überanstrengt, keine guten Vorraussetzungen für ein angenehmes Telefonat.
 

„… Hi Dad“, sagte ich mit einiger Verzögerung.
 

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Ich konnte hören, wie leise ein Stuhl scharrte und ein Stift auf harten Untergrund traf. Er schien nachzudenken.
 

„Takeru?“, fragte er schließlich.
 

Das Gefühl von Enttäuschung stieg in mir auf, kroch in mein Gehirn und betäubte mich. Ich fühlte mich leer, dumm. Nutzlos. Ein Zustand, der mich meistens ereilte, wenn ich mit meinem Vater unterhielt. Ich atmete tief ein und fing an auf meiner Unterlippe herum zu kauen. Verneinend schüttelte ich den Kopf, auch wenn er es nicht sehen konnte.
 

„Nein, Yamato“, berichtigte ich ihn.
 

„Oh“, machte er nur und ich hörte, wie er den Stift aufhob und den Stuhl wieder zu Recht rückte. „Wieso rufst du an? Du weißt doch, dass ihr mich nicht bei der Arbeit stören sollt.“
 

Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, ihm zu sagen, was passiert war. Sollte er nicht erfahren, dass sein erstgeborener Sohn fast sein Leben verloren hätte? Dass er vor ein paar Tagen einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte und im Krankenhaus gelandet war? Dass er sich nicht um uns kümmerte, obwohl es eigentlich seine Aufgabe war, für uns zu sorgen?
 

Nein.
 

„Ich… wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute nicht nach Hause komme“, sagte ich stattdessen. Ich spürte die bohrenden Blicke der anderen. Sicherlich erwarteten sie, dass ich meinem Vater gleich erklärte, weshalb ich denn nicht nach Hause kam, aber ich wusste, dass er nicht nach dem Grund fragen würde. Solange es nicht um Takeru ging, interessierte es sich sehr wenig für den kläglichen Rest seiner Familie, und selbst dann war sein Interesse sehr gemäßigt. Seit Mums Tod lebte er sein eigenes Leben, in seiner eigenen, kleinen Welt. Weit weg von Takeru und mir ... und noch weiter weg von mir. „Ich bleibe über Nacht bei einem… Freund.“
 

„Und deswegen störst du mich?“, murrte er missgelaunt und gab ein Grunzen von sich. „Du weißt, dass du mich wegen so einer Sache nicht anrufen musst.“
 

„Ja.“
 

„Was ist mit deinem Bruder?“
 

Bei Takerus Erwähnung durchzuckte mich ein Anflug von Schmerz.
 

Er war seit unserem Streit nicht wieder zurück gekommen, obwohl seit dem schon mehrere Stunden vergangen waren. Wahrscheinlich war er nach Hause gegangen oder zu einem seiner Freunde, nur um nicht bei mir zu sein. Dass er mich jetzt natürlich hasste, war mir klar, aber es gefiel mir nicht. Ich hatte das doch nur gesagt, damit Takeru nicht schlecht von Mum dachte! Er sollte nicht die Gedanken an Sorge, Panik und Wahnsinn mit ihr verbinden. Er liebte sie und das war gut so.
 

„Er… ist gerade nicht da. Du siehst ihn bestimmt heute Abend.“ Falls du nach Hause kommst.
 

„Yamato“, seufzte er genervt und ich konnte ihn vor mir sehen, wie er sich durch die Haare fuhr und verständnislos den Kopf schüttelte. Er hatte mich noch nie verstanden, hielt mein Verhalten für übertrieben und neurotisch. Ich wehrte mich heftig gegen den Drang, jetzt einfach aufzulegen. Die dumpfe Taubheit in meinem Innern machte einem leichten Pochen Platz, das hinter meinen Schläfen begann und hinter meinen Augen endete. Ich wusste, dass er jegliche meiner Handlungen für unrelevant hielt. Sollte ich ihm doch sagen, dass ich beinahe gestorben wäre? Was würde er wohl dazu sagen?
 

Wahrscheinlich wäre es ihm egal, gestand ich mir leise ein und unterdrückte ein Seufzen. Es würde sich nie etwas ändern, egal wie sehr ich es erhoffte. Dazu müsste mein Vater aus seiner Welt zurück kehren und das würde er nur tun, wenn Mum wieder auferstehen würde. Ein unmögliches Unterfangen.
 

Ich verkrampfte die Finger um den Hörer und biss mir wieder auf die Unterlippe. Schmeckte etwas Warmes.
 

„Sonst noch was?“
 

„… nein.“
 

„Gibt’s noch Tiefkühlpizza?“
 

„… ja.“
 

„Gut.“
 

Er legte auf, ohne Vorwarnung, ohne Verabschiedung. Das leise Tuten hallte in meinen Kopf nach, während ich ungläubig auf die weiße Bettdecke starrte. War das alles? Seine letzte Erkundigung war, ob wir noch Tiefkühlessen hatten? Obwohl ich nicht wirklich etwas anderes von ihm erwartet hatte, war ich dennoch enttäuscht. Und traurig. Schließlich war er mein Vater.
 

Mir war plötzlich eiskalt.
 

Ich ließ die Welle von Emotionen hinter der Mauer aus Taubheit abprallen. Es würde mir nichts nützen, wenn ich jetzt wieder zusammenbrach, mich nur vor allen Anwesenden bloßstellen. Wenigstens hatte er sich an mich erinnert und nicht im Eifer seines Tuns wieder aufgelegt, nachdem ich mich gemeldet hatte. Aber wie sollte man mich auch in Gedächtnis behalten?
 

Auf seinem Schreibtisch standen zwei Fotos. Eins von Takeru. Und eins von Mum.
 

Ich schluckte den schweren Klos in meinem Hals hinunter, lauschte dem Tuten des Telefons. Auflegen konnte ich jetzt nicht, also zwang ich mich dazu, ein leises „Bye“ in den Hörer zu flüstern und drückte erst dann die rote Taste. Möglichst gefasst hob ich den Kopf und sah Taichi und seiner Mutter entgegen, die mich beide mit undeutbaren Blicken musterten.
 

Schweigend reichte ich das Telefon Frau Yagami.
 

„Wollte dein Vater denn nicht wissen, weshalb du nicht nach Hause kommst?“, fragte Hikari plötzlich und ich sah sie überrumpelt an. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem flüchtigen Pferdeschwanz zusammen gebunden, ihre blaue Sportjacke war geöffnet und entblößte einen flachen Bauch unter einem kurzen, rosa T-Shirt. Sie sah gut aus, aber ich mochte ihre falsche Fröhlichkeit nicht.
 

Zögernd sah ich sie an.
 

„Nein“, gab ich dann zu. „Er war gerade… sehr beschäftigt.“
 

Hikari spitzte die Lippen und warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu. Frau Yagamis mildes Lächeln schwand nicht für eine Sekunde, auch nicht, als sie bedeutungsvoll die Augenbraunen hob und das Misstrauen in ihren Augen aufflackerte. Es war eine lausige Ausrede gewesen. Selbst Shusuke, dessen wächsernes Gesicht kaum eine Regung zu ließ, verzog abschätzend den Mund. Sie alle ahnten wohl, dass er einfach nur nicht danach gefragt hatte. Meine einsilbigen Antworten hatten nicht den Eindruck erweckt, dass ich ein angeregtes Gespräch mit meinen Vater führte. Glücklicherweise wussten sie nicht, wie Recht sie hatten.
 

Aber als ich Taichi ansah, wurde mir klar, dass er mehr ahnte – wusste – als der Rest. Seine braunen Augen blickten mich fast schon traurig an, wie als würde ihn meine Lüge enttäuschen. Hatte er gehört, was mein Vater gesagt hatte? War das Freizeichen am Ende so laut gewesen, dass er es hören konnte?
 

Möglich.
 

Unbehagen stieg in mir auf. Ich wusste nicht, wieso es mir so schwer fiel Taichi anzulügen, aber ich wusste, dass ich nicht länger dicht halten konnte, wenn er mich so ansah. Ich leckte mit der Zunge fahrig über meine Unterlippe, schmeckte das süße Blut und wandte den Blick ab. Taichi würde es schon verkraften.
 

Neben mir senkte sich das Bett, in mein Sichtfeld stahl sich ein braunes Kleid.
 

Frau Yagami.
 

„Vielleicht sollten wir jetzt besser gehen und dich ein bisschen alleine lassen, was? Du bist sicher müde“, ihre Stimme war warm und herzlich, lange Finger strichen beruhigend über meine kalte Wange. Ihre Art, ihr ganzes Wesen, erinnerte mich so stark an meine Mutter, dass es fast schon weh tat. Zudem hatte ich zu große Angst davor, die letzten Erinnerungen an meine Mutter zu verlieren, wenn ich mir ihr Gesicht zu sehr einprägte. Schon zu viele Bilder, waren in den schwarzen Schlund gefallen und machten es mir unmöglich, sie wieder herauf zu beschwören.
 

Frau Yagamis Hand legte sich sanft auf meine Schulter und ich konnte ihr Lächeln fast spüren.
 

Obwohl sie mich heute zum ersten Mal gesehen hatte und das nicht gerade unter blumigen Umständen, war sie nett und fürsorglich. Selten hatte ich eine Frau gesehen, die so hübsch und gleichzeitig so frei von Egoismus und Intoleranz war. Sie hatte keine Fragen gestellt, als ich aufgewacht war und den Arzt von seinem Drängen abgebracht, den Grund für meine Tat zu erfahren. Es war außerordentlich freundlich gewesen und auch wenn ich meinen Dank nicht in Worte gefasst hatte, hatte ich gespürt, dass sie es auch so wusste. Eine Fähigkeit, die alle liebenden Mütter zu haben schienen.
 

Meine Schneidezähne bohrten sich schmerzhaft in meine Unterlippe.
 

„Ich geh nach unten und mach dir einen Tee, in Ordnung?“
 

Ich nickte stumm. Spürte wie sie mir noch einmal über die Wange strich, bevor sie aufstand und sich zur Tür wandte.
 

„Ich komm mit!“, rief Hikari hastig und erhob sich ebenfalls, ich spürte, wie Matratze nach oben ging, als das Gewicht verschwand. „Erhol dich gut, Yamato.“ Sie lachte leise und trabte mit federleichten Schritten ihrer Mutter hinterher. Sie zeigte es zwar nicht, aber sie schien erleichtert darüber zu sein, endlich den Raum verlassen zu können.
 

Ich unterdrückte ein Seufzen.
 

Die Türe fiel hinter den beiden mit einem Krachen zu, das in der aufkommenden Stille unsagbar laut klang. Nervös verhakte ich die Finger ineinander und spielte mit dem Gedanken, mich jetzt einfach wieder hin zu legen und so zu tun, als ob ich schlafen wollte. Mein ganzer Körper schrie förmlich nach Erholung, meine Lider juckten. Ich fühlte mich ausgelaugt und träge, aber es wäre unhöflich gewesen, Shusuke und Taichi so aus dem Raum zu schicken. Schließlich gab mir mein Suizidversuch nicht das Recht, Leute hinaus zu werfen, in einem Haus, in dem ich nicht einmal wohnte. Wenn schon, dann konnte Taichi mich hinaus werfen.
 

Ich überwand mich also dazu den Kopf zu heben, ließ den Blick von Taichi zu Shusuke schweifen und wieder zurück. Taichi sah müde aus, Shusuke grauenhaft.
 

„Yamato?“, fragte er mit kratziger Stimme.
 

„… ja?“, sagte ich widerwillig.
 

„Wärst du bereit, dich mit mir zu unterhalten?“, er sah mich ausdruckslos an. Unsicherheit stieg in mir auf. Noch nie hatte er so mit mir geredet, sonst war ich derjenige gewesen, der um Erlaubnis bitten musste. Dass er es überhaupt tat, verwirrte mich so sehr, dass ich mich rasch von ihm abwandte und Taichis Blick suchte.
 

Er nickte kaum merklich und lächelte.
 

„Ja“, erwiderte ich leise.
 

Shusuke setzte sich zögernd auf die Bettkante. Sein Brustkorb hob sich unregelmäßig, er wirkte nervös und angespannt. Was erwartete er von mir? Dass ich es ihm heimzahlen würde, weil er mich all die Jahre gequält hatte? So gern ich diesen Gedanken erfüllt hätte, wusste ich doch, dass ich das nie konnte. Und das nicht nur, weil mein Körper unfähig war, solch eine Kraft zu erzeugen, sondern aus der einfachen Tatsache heraus, dass ich mich vor ihm fürchtete.
 

Noch immer.
 

„Es… es tut mir leid“, begann er leise. Kurz huschte sein Blick ziellos im Raum umher, dann suchte er meine Augen und sah mich entschlossen an. Ich fühlte mich furchtbar unwohl, wollte den Blickkontakt unterbrechen, traute mich aber nicht. Mein Herz klopfte laut. „Wir hätten das wirklich nicht tun sollen. Ich weiß nicht, wie wir darauf gekommen sind, aber… bitte Yamato, verzeih mir, okay?“
 

Ich schwieg. In mir kämpfte Panik gegen Trotz.
 

Panik, weil einer der beiden Peiniger, die mich über Jahre zusammen geschlagen hatten, direkt vor mir saß und den Körperkontakt herstellte, den ich sonst nur gespürt hatte, wenn einer seiner Fäuste auf mich traf. Ich befürchtete sogar jetzt, dass er mich schlagen könnte, wenn ich etwas Falsches sagte. Und doch war irgendwo in mir der Trotz, der nicht nachgeben wollte. Wieso sollte ich ihm das verzeihen, was nie wieder ungeschehen gemacht würde? Heilten seine Worte meine Narben?
 

Nein.
 

Nur einer von vielen Gründen, jetzt einfach abzulehnen.
 

„Ich weiß, dass die Worte dir natürlich nicht helfen, aber… wenn ich es ungeschehen machte könnte, würde ich es tun, glaub mir. Und Yuri auch. Aber… O Gott, wir wussten einfach nicht, was wir taten! Es kam so… so plötzlich und wir… bitte Yamato, glaub mir. Es tut mir leid.“
 

Ich hielt für einen Moment den Atem an, als er mich mit seinen braunen Augen so durchdringend ansah. Ich wusste, dass ich ihm besser eine Chance geben sollte und das nicht nur deswegen, weil Taichi mit Shusuke befreundet war und es ihn verletzten würde, wenn wir immer und ewig auf Kriegsfuß leben würden. Zu dem musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass Taichi Recht gehabt hatte – diese Sache war nun einmal passiert und weder Shusuke noch ich konnten etwas daran ändern. Es würde mich nur noch mehr quälen, wenn ich ihm nie verzieh…, oder? Schließlich würden dadurch nur seine Schuldgefühle verschwinden, meine Schäden würden bleiben.
 

Das war doch nicht fair!
 

Aber ich konnte den Mund nicht öffnen, nicht widersprechen. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht. Was würde er tun, wenn ich nicht einwilligte? Zuschlagen?
 

„Ich wollte dir nicht so schaden! Wirklich. Glaub mir!“
 

Mein Herz klopfte unregelmäßig in meiner Brust. Meine Hände zitterten.
 

… o Gott.
 

„Yamato, du…“, Shusuke hob die Hand.
 

Nein!
 

Ruckartig riss ich die Arme vor den Kopf und zog die Beine an den Körper. Kniff die Augen zusammen und hielt den Atem an, ein leises Wimmern entfloh meiner Kehle. Ich wartete auf den brechenden Schmerz, während sich alle Muskeln in meinem Körper zusammen zogen und meine Hände immer stärker zitterten. Das Blut rauschte laut in meinen Ohren.
 

Plötzlich legte sich eine Hand auf meinen Arm. Packte zu.
 

Erschrocken schrie ich auf, wollte mich losreißen und spürte, wie ich festgehalten wurde. Mir stockte der Atem. Panik kroch in mir hoch, besetzte mein Denken. Die Welt vor meinen Augen drehte sich, das Weiß der Bettlaken verschwamm zu einem unscharfen Grau. Unruhig wand ich mich hin und her. Trat um mich, traf etwas Hartes und hörte ein schmerzerfülltes Aufkeuchen, aber der Griff lockerte sich nicht. Wurde fester. Mir einem Ruck, wurden meine Hände gegen die Matratze gedrückt und ich so bewegungsunfähig gemacht.
 

Ich kniff die Augen fester zu, wartete mit rasendem Herzen auf die Schläge.
 

O bitte nicht, o bitte nicht… nein, nein… nein…
 

„Yama? Yama!“
 

Beim Klang der bekannten Stimme erstarrte ich. Unsicher hob ich den Kopf, öffnete die Augen sah in besorgte, braune Iriden. Taichi saß direkt vor mir, halb über mich gebeugt und umklammerte meine Handgelenke mit festem Griff. Sein warmer Atem streifte mein Gesicht.
 

Er hatte nach meinem Arm gegriffen.
 

Ich atmete laut und zitternd aus. Taichi ließ vorsichtig meine Arme los und sank zurück, den wachsamen Blick auf mir ruhend. In meinem Innern lockerte sich der Knoten und mein Herz schlug wieder langsamer. Die Umgebung wurde wieder gestochen scharf, die weißen Bettlaken umhüllten weich meine Knöchel. Zitternd senkte ich die Hände und strich darüber, sah zu Taichi und bemerkte das zaghafte Lächeln auf seinem Gesicht.
 

Plötzlich sehnte ich mich nach seiner Nähe und dem Gefühl von Sicherheit, das er mir jedes Mal gab, aber ich unterdrückte den Impuls, ihm die Arme um den Hals zu werfen.
 

„Alles okay?“, fragte er besorgt. Ich nickte. Nach kurzem Zögern strich er mir ein paar verirrte Haarsträhnen hinter die Ohren, das Lächeln auf seinem Gesicht wurde sicherer. „Gut…“ Er ließ sich neben mir auf die Matratze sinken, gab den Blick frei auf einen leichenblassen Shusuke. Dieser hatte die Hand wieder sinken lassen, aber sein Blick wirkte fassungslos und ungläubig. Die Lippen waren trocken und rissig. Er schluckte hörbar, unter seinem linken Auge zuckte ein Muskel.
 

„… es tut mir so leid“, hauchte er leise. „Das wollte ich alles nicht… wirklich.“ Die immer gräulicher erscheinenden Augen blickten voller Selbsthass zu mir, sein Kiefer verspannte sich.
 

Ich sah stumm zurück.
 

Shusuke wandte verletzt den Blick ab und stemmte die Füße gegen den Teppichboden.
 

„Shusuke…“, fing Taichi an, aber der Schwarzhaarige schien ihn nicht zu hören. Wie betäubt erhob er sich und ging um das Bett herum. Blieb stehen, musterte mich mit leerem Blick. Dann fasste er sich verzweifelt an die Stirn und schüttelte den Kopf, bevor er eilig das Zimmer verließ. Taichi sah zerrissen zwischen ihm und mir hin und her. Als die Tür ins Schloss fiel, ließ er sich erschöpft in die Kissen sinken und seufzte laut auf.
 

„Das war nicht so geplant“, sagte er und warf mir einen Blick zu, wie als erwartete er eine Erwiderung. Ich schluckte und nickte.
 

„Es macht ihn ganz schön fertig… oder?“
 

„Sieht ganz so aus“, erwiderte Taichi trocken und fuhr sich durch die Haare, schloss die Augen. Zögernd beobachtete ich ihn. Er war unzufrieden, das konnte ich ihm ansehen und er schien auch nicht mit meiner Reaktion sonderlich zufrieden zu sein. Aber was sollte ich tun? Shusuke zu verzeihen war leider nicht so einfach wie es sich anhörte.
 

„Tut mir leid“, sagte ich leise und biss mir auf die malträtierte Lippe.
 

Taichi öffnete ein Auge und sah mich verwirrt an.
 

„Was?“
 

„Ich kann es einfach nicht“, fuhr ich fort und hielt seinem bohrenden Blick stand. „Das alles… das war alles zu viel.“
 

Taichi richtete sich ruckartig auf und in seinen braunen Augen flackerte der Zorn.
 

Erschrocken wich ich zurück.
 

Dass ihn meine Worte so verärgerten, hatte ich nicht gewollt.
 

„Sag das nicht noch mal“, sagte er steif.
 

„Was meinst du?“
 

„Dass das alles zu viel war“, antwortete er und nahm mein Gesicht in beide Hände, brachte es ganz nah an seins. Sein heißer Atem streifte meine Lippen. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Taichis verkniffener Gesichtsausdruck schwankte zwischen Besorgnis und etwas Anderem, was ich nicht identifizieren konnte. „Es wird nie zu viel, okay? Mach das nie wieder, Yama. Versprech’s mir.“
 

Mir war nicht sofort klar, wovon er sprach, aber sein Blick erledigte das Übrige.
 

Unruhig wandte ich den Blick ab, heftete ihn auf seine Schulter und kaute auf meiner Lippe herum. Inzwischen war das Blutrinnsal versiegt. Natürlich ging es einfach, zu sagen, dass ich mich nicht mehr selbst verletzte, aber aus guter Erfahrung wusste ich, dass es in der Praxis nicht so leicht war. Die Schübe von Verzweiflung, Unsicherheit und Frustration kamen ohne Warnung, schlugen über mir zusammen und bisher hatte ich es nicht geschafft, ihnen auszuweichen. Die letzten Jahre über hatte ich es fertig gebracht, so wenig über mein Leben nachzudenken, dass es kein Problem mehr darstellte. Jetzt, wo ich Taichi hatte und er mich so aus der Bahn warf, würde es schwierig werden.
 

„Taichi…“, fing ich vorsichtig an, aber er schüttelte den Kopf und brachte mich zum Schweigen.
 

„Wenn du nicht mehr kannst, kommst du zu mir“, sagte er überzeugt und lehnte seine Stirn an meine. Mein Herz begann vor Aufregung und Nervosität zu rasen. Noch nie war ich ihm so nahe gewesen. „Ich… ich will nur nicht, dass du das wieder tust. Es könnte wirklich was passieren. Ich helfe dir – natürlich nur, wenn du willst“, fügte er hastig hinzu und ich spürte, wie ich verlegen rot anlief.
 

Er meinte es wirklich ernst. Die Worte, die er vorhin zu mir gesagt hatte, waren kein Scherz gewesen, spätestens jetzt wurde mir das klar. Taichi war ein Mann, der zu dem stand, was er sagte und der nicht locker lassen würde, bis er das hatte, was er haben wollte. Egal, ob es nun um mich ging oder darum, dass ich mich selbst verletzte. Und aus irgendeinem unsinnigen Grund, rief das ein angenehmes Kribbeln in meinem Magen hervor. Die Bienen, die im Krankenhaus zum ersten Mal zum Leben erwacht waren, summten orientierungslos durch die Gegend.
 

Ich lächelte ihn zaghaft an, er strahlte glücklich zurück.
 

„Natürlich will ich.“
 

„… toll“, seine Daumen strichen sanft über meine Wangen. Mein Herz klopfte so laut, dass ich mich schon wunderte, wieso er es noch nicht bemerkt hatte.
 

„Also?“
 

„… okay“, antwortete ich.
 

„Versprich es“, forderte er mit seiner berauschenden Stimme, die mir einen heißen Schauer über den Rücken jagte.
 

„Versprochen. Ich… tu’s nie wieder“, sagte ich und eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte: ‚Nie ist ein großes Wort’.
 

Und das war es wirklich.
 

Aber Taichi hatte gesagt, dass er mir helfen würde und zusammen würden wir das schon durchstehen, oder nicht? Schließlich war Taichi willenstark, selbstbewusst, hatte Mut und einen positiven Charakter. Vielleicht würde das ja alles auf mich abfärben—irgendwann. Vielleicht war es überhaupt nicht vorgeschrieben, dass ich wirklich Mums Krankheit erbte und schizophren wurde. Und vielleicht war es doch gar nicht so schlecht Ich zu sein, wie ich immer dachte.
 

Jedenfalls nicht mit Taichi an meiner Seite.
 

Selbst davon überrascht, woher ich plötzlich den Mut dazu nahm, rutschte ich auf ihn zu, überbrückte den letzten Abstand zwischen uns und schlang die Arme um seinen Nacken. Taichi gab ein erschrockenes Keuchen von sich, erstarrte einen Moment ungläubig. Dann lachte er dunkel auf, legte die Arme um mich und drückte mir einen Kuss auf die Haare.
 

Mein Herz schien meine Brust in tausend Teile zusprengen.
 

Ich atmete leise aus, um mich etwas zu beruhigen und drückte die Nase gegen seine Schulter. Er strich mir durchs Haar, spielte an den einzelnen Strähnen. Diese Berührung fühlte sich gut an. Mein Puls ging herab und ich schloss erschöpft die Augen. Meine Glieder fühlten sich an wie Blei. Taichi pustete gegen meinen Hals und lachte leise, als ich erschrocken zusammen fuhr.
 

„Weißt du noch, als ich das im Bad gemacht hab?“, fragte er.
 

„Du kannst dich daran erinnern?“, erwiderte ich überrascht. „Ich dachte, dass du vor Müdigkeit kaum noch stehen konntest und es deshalb getan hast. Außerdem hast du doch gesagt…“
 

„Damit du mich nicht für einen Perversen hältst“, murrte Taichi verlegen. „Aber ich war eigentlich nur ein bisschen von deiner Gegenwart benommen.“
 

„Meiner?“, irritiert hob ich den Kopf und sah ihn an. Er nahm mich sicherlich auf den Arm. Noch nie hatte jemanden meine Gegenwart benommen gemacht—höchstens etwas verärgert, irritiert oder missgelaunt.
 

„Wenn du da bist, kann ich sowieso nicht richtig denken“, er grinste mich verschmitzt an.
 

„Das sagst du jetzt nur so.“
 

„Woher willst du das wissen?“, fragte er lächelnd.
 

„Weil ich ein seelisches Frack bin, gerade einen Selbstmordversuch hinter mir habe und du versuchst mich aufzumuntern“, antwortete ich zynisch. Es war eigenartig, Taichi so nahe zu sein und auf diese Art mit ihm zu reden, obwohl das Thema eigentlich nicht zum Spaßen war, aber es machte mir nicht aus. Ihm anscheinend auch nicht, denn er lachte befreit und strich mir neckend durchs Haar.
 

Es war ein gutes Gefühl.
 

„Hilft es denn?“
 

„… ja.“
 

Er lachte und drückte mich wieder an sich, vergrub seine Nase in meinem Haar. Ich lächelte glücklich und schmiegte mich an ihn. Spielte mit dem Stoff seines T-Shirts.
 

Ein verdammt gutes Gefühl.
 


 


 


 

~ Taichis POV ~
 


 


 


 


 

Mit einem Gähnen streckte ich mich und sah auf Yamato hinunter, der dicht neben mir lag und schlief. Seine Lider waren geschlossen, verdeckten die blauen Ozeane, seine Gesichtszüge waren entspannt. Er wirkte so friedlich im Schlaf, dass es fast schon wieder surreal war. Er träumte nicht schlecht, er schrie nicht, er weinte nicht.
 

Wie gerne würde ich ihn so einmal sehen, wenn er wach war und bei vollem Bewusstsein. Wenn er unter Menschen war und wusste, dass ihm keiner von ihnen etwas tun würde. Wenn er an meiner Seite war.
 

Ich wollte nicht, dass Yamato sich weiterhin so quälte. Mir wurde immer noch ganz schlecht bei dem Gedanken daran, was er sich selbst angetan hatte. Welch Verzweiflung musste nur in einem einzelnen Menschen stecken, dass er so etwas tat? Die Frage, wieso Takeru besser damit zu Recht kam, als Yamato hatte sich inzwischen ja geklärt. Wenn ich meine Mutter gesehen hätte, wie sie mit einem Loch im Kopf regungslos auf dem Boden liegt und der Teppich sich mit Blut färbt… Yamato verkraftete das alles recht gut, nur eben auf seine Art und Weise. Er war stark, nur merkte er es selbst nicht. Er musste mehr an seine Fähigkeiten glauben und daran, dass er nicht alleine war. Ich war mir sicher, dass Takeru ihm helfen würde, wenn er ihn nur darauf ansprach. Solche Sorgen, wie er sich um seinen Bruder machte, war es ihm sicherlich nicht egal, was mit Yamato geschah.
 

Wobei ich das bei seinem Vater leider nicht sagen konnte. Natürlich wollte ich mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angingen, aber das war nicht mehr normal! Obwohl ich es Yamato noch nicht erzählt hatte, hatte ich einen kleinen Teil seines Telefonats von vorhin mitbekommen. Die kühle, kurz angebundene Stimme am anderen Ende der Leitung. Yamatos Körperhaltung und Gesichtsausdruck waren Antwort genug gewesen. Er hatte sich sichtlich unwohl gefühlt und für einen Moment hatte ich eine Leere in seinen Augen erblicken können, die mir einen eiskalten Schauer über den Rücken gejagt hatte. Niemand sollte sich je so fühlen müssen.
 

Das Erschreckende daran war jedoch die Tatsache, dass Yamato seine Verabschiedung dem monotonen Freizeichen entgegen gesprochen hatte. Sein Vater hatte einfach so aufgelegt – und Yamato hatte sich in keiner Weise dazu geäußert. In mir schlich der Verdacht auf, dass es für ihn vielleicht gar nicht so ungewöhnlich war. Aber wie konnte Yamato damit leben? Ich hatte die Wut in seinen Augen gesehen, den Drang alles loszuwerden und endlich reinen Tisch zu machen. Wieso tat er es nicht endlich? Wieso fraß er alles in sich hinein?
 

Mit einem leisen Seufzen strich ich Yamato eine Haarsträhne aus dem Gesicht und vergrub das Gesicht in dem goldenen Meer. Sein linker Arm, dessen schneeweißer Verband zwei kleine, rote Punkte aufwies, lag quer über meinem Bauch und sein Kopf war auf meiner Brust gebettet. Es war das atemberaubenste Gefühl, dass ich je erlebt hatte. Ich schwebte auf Wolke sieben, acht, neun, zehn… und noch viel, viel höher.
 

All die dunklen Gedanken verschwanden aus meinem Kopf, als Yamato sich an meiner Seite leicht regte und sich noch näher an mich schmiegte. Immer wieder zwirbelte ich eine weiche Strähne um meinen Finger und starrte an die Decke. An all das Negative wollte ich nicht denken. Es gab so viel, was noch ausstand und Probleme bereiten könnte. Was uns im Weg stand und Yamato vielleicht hinunter ziehen würde. Aber momentan gab es nur mich und den schlafenden Engeln in meinem Armen, der so friedlich war wie noch nie.
 

Bis vor einigen Tagen hätte ich nie daran gedacht, ihm so nahe zu sein. Nach meiner Unterredung mit Takeru hatte ich für ein paar Augenblicke sogar schon die Hoffnung aufgegeben, Yamato überhaupt herum zu kriegen und mich dazu entschlossen, aufzugeben. Aber jetzt… Yamato war mein Freund. Mein Freund!
 

Diese Bezeichnung hörte sich in meinen Ohren surreal und wunderschön zugleich an. Würde er sich trauen, unsere Beziehung in der Öffentlichkeit zur Schau zur stellen? Obwohl man es ja nicht wirklich als richtige Beziehung bezeichnen konnte – wir hatten uns noch nicht geküsst und die glorreichen drei Worte waren auch noch nicht gefallen. Aber was machte das schon? Mum meinte immer, in einer Beziehung ginge es nicht nur um Sex und Fummeleien, sondern um Verständnis, das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.
 

Das kam selbst mir immer noch ziemlich schwul vor, aber ich konnte es nun besser verstehen. Manche Menschen brauchten das. Yamato brauchte das. Er brauchte mich. Und ich würde alles dafür tun, damit er nicht enttäuscht wurde.
 

Ich schloss die Augen und ließ die Atmosphäre auf mich wirken, strich sanft über Yamatos Rücken und hörte mit klopfendem Herzen das leise Seufzen, das ihm entfloh. Unbeirrt fuhr ich mit meiner Tätigkeit fort, Yamatos schlanke, lange Finger krallten sich in meine Seite.
 

Ich grinste.
 

Diese Geste erinnerte mich so sehr an eine Katze.
 

Glücklich drehte ich mich auf die Seite, vorsichtig, damit ich Yamato nicht weckte und ihn nicht versehentlich unter mir vergrub, so wie bei meinem ersten Übernachtungsbesuch bei den Ishidas, und schlang beide Arme um ihn. Vergrub die Nase in seinem Haar und setzte einen kleinen Kuss darauf. Und noch einen. Und noch einen. Und noch einen.
 

O Gott!
 

Ich war wirklich noch nie in meinem Leben so sehr verknallt gewesen wie jetzt.
 


 


 


 


 

Part XIII

END
 


 


 


 


 


 


 

I'm SO sorry!
 

Ehrlich, es ist jetzt schon 2012 so lange her, dass ich hier was upgedatet habe! Und das tut mir wirklich leid. Es gibt demnächst wieder einen kleinen OneShot mit viel Taito, nachdem ich hier so wenig auf die Reihe kriege.
 

Ich hab mich in letzter Zeit viel im englischen Raum von ff.net aufgehalten, beschäftigt mit BTR und CM und hatte Digimon schon so ziemlich vergessen... aber es gibt ja meinen lieben Beta, Tweetl, und jetzt bin ich wieder da und loade das up :) Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen... das nächste Mal wird es nicht so lange dauern!
 

Es ist ein wenig kitschig (ein wenig?!), vllt ein bisschen zu sehr... sagt mir einfach eure Meinung dazu :)
 

Den Leuten, den ich momentan am meisten danke: Lin_Uchiha, Sethan, Ruha_Ducky, between_black_pages & GeezKatsu, Nanamori, SayuriKon, Heromi, abgemeldet, Taylor, SaRiku & Hikaru_Hyuga. Und natürlich Tweetl. Ihr, und natürlich auch alle anderen, die immer fleißig lesen und/oder reviewn, seid eine große Aufmunterung und Motivierung zum Schreiben :) <3
 

Alles Liebe,

Nikolaus
 

I Can Save You (Takeru)

gebatet von Tweetl
 


 


 


 

~ Takerus POV ~
 


 


 


 

Klatschnass stand ich in der Eingangshalle der großen Villa der Yagamis.
 

Hikari kam mit einem blauen Handtuch die Treppe hinunter gerannt und drückte es mir mit einem verlegenen Lächeln in die Hand. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden und ein paar Strähnen fielen ihr keck ins Gesicht. Sie wirkte ein bisschen aufgeregt, nervös, vielleicht sogar angespannt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wieso. Dankend nahm ich das Handtuch entgegen und fing an, mir die Haare trocken zu rubbeln.
 

Vorhin war ich einfach so abgehauen.
 

Ich war davon gelaufen, hatte nicht einmal ein richtiges Ziel gehabt. Ich war so lange durch die Stadt gerannt, bis meine Beine wehtaten und es in Strömen anfing, zu regnen. Und selbst dann kehrte ich noch nicht zurück. Eine Ewigkeit wie es mir vorkam, stand ich dort, schlotternd und durchnässt, und wollte einfach nur, dass alles aufhörte. Dass Yamato sich nicht diese Wunden zufügte, dass er sich nicht so dagegen wehrte, mit mir zu reden. Dass Mum wieder lebte und Dad mehr Zeit für uns hatte. Aber spätestens als der LKW an mir vorbei gerauscht war und mich mit einer ekligen Masse braunen Wassermatschs überschüttet hatte, wurde mir klar, dass es niemandem helfen würde, wenn ich in Selbstmitleid versank. Mir nicht und am wenigstens meinem Bruder.
 

Dennoch hatte es mich unglaublich viel Überwindung gekostet, hier her zurück zu kehren.
 

Und nun stand ich hier, wusste nicht recht, was ich tun sollte. Das einzig Vernünftige wäre natürlich gewesen, jetzt auf der Stelle nach oben zu Yamato zu gehen und mit ihm über die Sache zu reden, damit sie vom Tisch wäre. So hatte ich es mir anfangs auch vorgenommen, als ich hier her gegangen war. Aber jetzt stellte sich das Vorhaben doch schwieriger heraus, als gedacht. Was war, wenn Yamato mich gar nicht sehen wollte? Wenn er so wütend auf mich war, dass er mich wieder wegschickte?
 

„Willst du zu Yamato?“, fragte Hikari leise und nahm das Handtuch wieder entgegen, das ich ihr hinstreckte.
 

Ich schluckte.
 

„Ich… ich weiß nicht“, gestand ich leise, „ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.“
 

Hikari schwieg einen Moment. Sie beobachtete mich still von der Seite, dann bedeutete sie mir zu folgen und ich lief ihr hinterher in das riesige Wohnzimmer. Ich war schon allein von der Größe des Hauses beeindruckt gewesen und auch von dem schlichten Gästezimmer, ganz zu schweigen von der weißen Treppe aus Marmor und dem großen Foyer. Aber das Wohnzimmer schlug alles um Längen. Ich hatte gar nicht genügend Augen um mir alles anzusehen. Die sauberen Fenster, der Flachbildschirm, der weiche Teppich unter meinen Füßen, das gemütliche Sofa und der braune Eichenholztisch davor waren nur einige der Sachen, die hier standen.
 

Hikari setzte sich auf das Sofa und ich tat es ihr gleich, zog ein Kissen zu mir und legte es auf meinen Schoß. Ich umklammerte es, wie ein Ertrinkender das Rettungsseil. Ich wusste nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund brauchte ich in diesem Moment halt. Und sei es nur das rote Samtkissen.
 

„Ich hab ein bisschen was von dem Streit vorhin mitgekriegt“, fing Hikari vorsichtig an, „ihr wart schließlich nicht zu überhören. Und ich würde dir wirklich gerne helfen, Takeru. Aber ich weiß nicht wie.“ Sie lächelte traurig. Ich sah ihr an, dass sie die Wahrheit sagte und es erfüllte mich mit einem komisch glücklichen Gefühl, dass sie so ehrlich zu mir war. Und dass sie mir helfen wollte.
 

„Dennoch denke ich“, fuhr sie fort, „dass du es nicht überstürzen solltest. Yamato ist sicherlich noch total fertig und als ich vorhin nach den beiden gesehen habe, hat er noch geschlafen wie ein Stein. Vielleicht solltet ihr euch erst einmal wieder vertragen und dann darüber reden, wenn es ihm wieder besser geht. Es würde ihn möglicherweise zu sehr überfordern.“
 

Ich schwieg einen Moment.
 

„… beide?“, hakte ich dann leicht irritiert nach und hob eine Augenbraue.

Hikari wurde leicht rosa.
 

„Yamato und Tai“, antwortete sie schließlich. „Sie schlafen beide oben. Sie… sie sind zusammen, oder?“
 

„Wie kommst du darauf?“, wollte ich überrascht wissen. Natürlich stellte Taichi meinem Bruder hinterher und ich hatte mich auch schon mit Taichi darüber unterhalten, aber bis jetzt hatte ich nie den Eindruck gehabt, dass mein Bruder ähnliche Gefühle für ihn hegte. Er war genauso zu ihm gewesen, wie zu mir—na gut, ein bisschen anders schon. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie jetzt zusammen waren, schließlich hatte Yamato Taichis Vergötterung noch nicht einmal bemerkt—außer natürlich, Taichi hatte endlich mit der Sprache rausgerückt, was ich mir aber irgendwie nicht vorstellen konnte. Hätte er es dann nicht schon viel früher getan? Taichi wirkte auf mich nicht wie jemand, der lange mit Entscheidungen haderte.
 

„Na ja, weil sie im selben Bett schlafen und Tai ihn im Arm hält“, erklärte sie achselzuckend, aber auch ein bisschen unsicher. Wie, als hätte sie Angst vor meiner Reaktion. „Außerdem redet Tai andauernd von ihm und ich hab noch nie gehört, dass er so von jemandem gesprochen hat. Er ist ganz übel verknallt. Deshalb dachte ich, dass sie jetzt zusammen sind.“
 

„Echt?“
 

„Ja, echt.“
 

„Nein, das meinte ich nicht“, sagte ich. „Ich meinte, ob Tai wirklich so von ihm spricht.“
 

„O ja“, sie kicherte hinter vorgehaltener Hand, offensichtlich erheitert. „Du solltest ihn mal hören—als ob er den König höchstpersönlich vor sich hätte. Er kommt von der Schule nach Hause und spricht seit dem Moment, wo er über die Türschwelle geht, von niemand anderem mehr. Dass Yamato ihn umarmt hätte, dass Yamato mit ihm zu Mittag gegessen hätte, dass Yamato ein blaues T-Shirt trug, dass er dies getan hat, dass er das getan. Es ist fast schon wieder nervig, aber ich finde es süß. Sie sind ein hübsches Pärchen. Keiner seiner anderen Partner hat je so gut zu ihm gepasst, wie Yamato.“
 

„Du kennst Yama doch gar nicht richtig“, gab ich argwöhnisch zu bedenken. Es war nicht wirklich freundlich, aber ich wollte mich nur vergewissern, ob sie wirklich zu einander passten.
 

Vielleicht war es das, was mich an dem Bild der beiden so störte; die Unsicherheit, ob Taichi ihn nicht einfach wieder so von sich stoßen würde. Ich war zwar der Jüngere von uns beiden, aber mein Beschützerinstinkt war immer stärker geworden, je mehr ich Yamato überragte. Er hatte es nicht verdient, einfach wieder fallengelassen zu werden, dafür war er ein viel zu guter Mensch.
 

Taichi und Yamato kamen aus vollkommen verschiedenen Lebensverhältnissen. Das bewies allein das Sofa, auf dem ich gerade saß. Yamato war ein Mensch, dem es schwer fiel seine Gefühle auszudrücken. Der lieber alleine in seiner Welt lebte und alles nach Plan organisierte. Er musste für zwei Menschen sorgen und obwohl er noch zur Schule ging, arbeitete er, um uns zusammen mit Dads spärlichem Gehalt über Wasser zu halten. Taichi kannte diese Probleme nicht. Er war offen, direkt, ehrlich und freundlich. Er lebte ständig an der Seite an seiner Freunde und lachte über die Hälfte des ganzen Tages über absolut unsinnige Dinge. Sein Leben wurde für ihn organisiert und seine Eltern verdienten mehr, als wir uns es jemals ausmahlen konnten.
 

Wieso sollte sich dann gerade Taichi an meinem Bruder interessieren? Was hatte Yamato, das solch ein Interesse seinerseits hervorrief? Und wie lange würde es halten?
 

Ich wusste es nicht, aber ich wusste, dass ich es Taichi nie verzeihen würde, wenn er Yamato wehtat. Egal, ob ich nun zu meinem neuen Vorbild ernannt hatte oder wegen ihm zu den beliebten Schülern gehörte. Er hatte nicht das Recht Yamatos Gefühle zu verletzten, da konnte er noch so reich, hübsch und begabt sein wie er wollte.
 

„Ja schon“, gestand Hikari und auf ihren Wangen bildeten sich rosa Flecken. „Aber nachdem was ich jetzt von ihm gesehen habe, scheint er ganz nett zu sein. Klar, das waren nicht gerade rosige Umstände, aber… hm, gut, er ist schüchtern und sehr vorsichtig, bei allem was er tut und sagt, und ich hab mich auch vorhin nicht wirklich wohl gefühlt, aber das nur deshalb, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was passiert sein muss, dass er so etwas tut. Aber ich denke, dass er einfach nur Angst hat.“
 

„Angst? Wovor?“, fragte ich verwirrt.
 

„Angst davor im Stich gelassen oder verletzt zu werden“, sagte sie, wie als wäre es nur allzu offensichtlich und jeder, der das nicht sähe, hätte ein großes, dickes Brett vorm Kopf. Allerdings fühlte ich mich auch so, als würde ich immer wieder gegen ein Brett laufen.
 

Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, dass Yamato Angst davor hatte verletzt oder verlassen zu werden. Natürlich, ein bisschen Furcht, aber keine richtige Angst. Jetzt, da Hikari es sagte, erschien es mir aber gar nicht so abwegig. Wieso sollte er sonst diese Mauer um sich herum aufbauen und sich von allen und jedem fernhalten? Es würde seine Unsicherheit erklären, die höfliche Distanz. Aber es würde nicht erklären, wieso er nicht mit mir redet, fügte ich in Gedanken hinzu und konnte gerade noch ein Seufzen unterdrücken.
 

Ich spürte Hikaris besorgten Blick auf mir ruhen, aber ich sagte nichts dazu. Ich würde es sowieso nicht schaffen, ihr das zu erklären, dafür war es zu kompliziert.
 

Ich verstand es ja selbst nicht einmal wirklich.
 

„Was denkst du noch?“, wollte ich nach einer Weile wissen und sah sie auffordernd an. Hikari blickte irritiert zurück.
 

„Wieso willst du das wissen?“, erwiderte sie.
 

„Weil ich denke, dass du Recht hast. Und vielleicht kannst mir ja noch mehr helfen und ich muss mich nicht als allzu großer Idiot fühlen, wenn ich jetzt nach oben zu dem glücklichen Paar gehe und alles kaputt mache“, sagte ich ernst, konnte mir ein kleines Schmunzeln allerdings nicht verkneifen. Hikari lächelte mich gutmütig an und meinte: „Und ich denke nicht, dass etwas kaputt macht. Yamato wird sich sicherlich freuen, dich wieder zu sehen. Er war ganz fertig, als du plötzlich verschwunden bist.“
 

„Wirklich?“
 

„Wirklich“, versicherte sie mir. „Als Taichi vorhin unten war, um etwas zu trinken, hat er gesagt, dass er sich deswegen furchtbar schlecht fühlt und jetzt befürchtet, dass du ihn hasst.“
 

„Ich hasse ihn doch nicht!“
 

„Das weiß ich“, sagte Hikari lachend. „Aber es bringt nichts, wenn du’s mir sagst. Dass musst du schon Yamato sagen.“ Sie strich sich ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht und lächelte mich an. Wieder fiel mir auf, wie hübsch sie war. Sie hatte etwas, was andere Mädchen nicht hatten. So ein Selbstbewusstsein, gepaart mit der Gelassenheit einer trägen Katze, was sie sehr sympathisch machte.
 

„Kommst du mit hoch?“, fragte ich dann leise. Es war mir etwas peinlich das zu fragen, aber ich musste ehrlich gestehen, dass ich mich alleine nicht traute. Wahrscheinlich würde ich auf der Hälfte einen Rückzieher machen und einfach wieder gehen.
 

Ich war überglücklich, als Hikari verständnisvoll lächelte und „Ja“ sagte.
 

Gemeinsam verließen wir das Wohnzimmer und gingen die Treppe hinauf. Unsere Schritte hallten im Haus nach, erst der Teppich, der im oberen Stockwerk wieder begann, dämpfte unsere Schritte. Ich hatte das Gefühl, mit jedem Meter, dem wir dem Gästezimmer näher kamen, schwerer voran zu kommen. Meine Glieder wurden schwer und meine Gewissensbisse schrecklicher. Ich malte mir die grauenhaftesten Dinge aus, darunter auch, dass Yamato mich sofort wieder hinausschmeißen würde, sobald ich auch nur einen Fuß ins Zimmer gesetzt hatte.
 

Als wir letztendlich vor der Türe standen, schwitzten und zitterten meine Hände. Mein Herz klopfte ohrenbetäubend laut. Hikari, die wirklich Verständnis für mein Verhalten aufzubringen schien, strich mir aufmunternd über den Arm und öffnete die Türe. Sie trat voran, ich blieb einen Moment unschlüssig stehen. Dann folgte ich ihr und wagte es kaum, mich umsehen. Ich ließ meinen Blick bewusst von der anderen Ecke des Zimmers aus über den Raum gleiten, damit ich nicht gleich auf das Bett stoßen würde, und erst als wir direkt davor standen, sah ich es an.
 

Mit unglaublicher Erleichterung und leichter Irritation stellte ich fest, dass Yamato nicht darin saß und mich vorwurfsvoll anstarrte, um mich sogleich wieder hinaus zu werfen. Allerdings wusste ich auch nicht so Recht, was ich fühlen sollte, als ich die beiden dort liegen sah;
 

Taichis dunkle Haut stach aus den blütenweißen Bettlaken hervor, wie eine schwarze Rose im Schnee. Er hatte fürsorglich beide Arme um die zerbrechlich wirkende Gestalt meines Bruders geschlungen und ihn dicht an sich gedrückt.
 

Yamato verschwand fast gänzlich unter der Decke, aber ich konnte dennoch sehen, dass er sich wohl fühlte. Er lächelte zwar nicht im Schlaf, dies hatte er noch nie getan, aber er war ruhig. Entspannt. Ein Zustand, den ich bei ihm leider nur selten sah.
 

Das Bild wirkte idyllisch und harmonisch, wie als hätte es schon immer so gehört und es sollte auch nie mehr anders sein. Es passte einfach. Und dennoch drückte etwas in meinem Magen unangenehm und stahl mir den Atem. Erst nach einem Augenblick des Zögerns wurde mir klar, dass ich eifersüchtig war.
 

Auf Taichi.
 

Ich war es einfach nicht gewohnt, meinen Bruder mit jemandem teilen zu müssen. Normalerweise drehte sich Yamatos Welt um mich, weil ich sein Bruder war. Weil er der Ältere von uns war und sich um mich kümmerte. Weil er außer lernen und erledigen des Haushalts nichts anderes tat. Weil er keine Freunde hatte. Aber jetzt hatte er Taichi. Schon im Verlauf der letzten Wochen hatte ich ihn immer weniger gesehen und wenn ich ehrlich war, hatte es mir nicht gefallen.
 

Es war ein dummes und naives Gefühl, dass ich empfand, aber ich konnte einfach nichts dagegen tun.
 

Dass Yamato jetzt noch jemand anderen hatte, um den sich seine Gedanken drehen würden, musste ich erst noch akzeptieren. Es war zwar nicht so, dass ich es ihm nicht gönnen würde, mit Taichi zusammen zu sein, aber… würde es trotzdem so wie früher bleiben?
 

Hikari räusperte sich neben mir und holte mich ruckartig aus meinen Gedanken.
 

Sie sagte deutlich Taichis Namen, aber er rührte sich daraufhin nicht. Mit einem Seufzen, das gleichzeitig gerührt und genervt klang, ging sie um das Bett herum und schüttelte ihren Bruder sanft, aber bestimmt an der Schuler. Dieser gab ein dunkles Murren von sich und drückte Yamato noch ein bisschen fester an sich, offenbar nicht gewillt, jetzt schon aufzuwachen.
 

„Tai, jetzt wach schon endlich auf!“, fuhr Hikari ihn letztendlich ungeduldig an. „Takeru ist da. Tai~, jetzt mach schon!“ Wieder stupste sie ihn an und diesmal rührte er sich. Mit einem leisen Knacken seiner Knochen, streckte er sich, löste sich vorsichtig von meinem Bruder und gähnte, bevor er Yamato zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, ihn auf die Stirn küsste und leise etwas murmelte.
 

Hikari beobachtete sie gerührt.
 

Ich wusste nicht Recht, was ich tun sollte, schritt dann jedoch an das Fußende und setzte mich hin.
 

Sie waren also wirklich zusammen. Taichi und Yamato. Allein ihre Namen waren wie ein Paradebeispiel für ein Paar.
 

Ich musterte sie stumm und stellte widerwillig fest, dass Hikari Recht hatte. Sie passten wirklich gut—perfekt zueinander. Die Größe, das Aussehen. War es überhaupt möglich, dass es zwei Menschen auf der Welt gab, die so perfekt zueinander passten, wie die beiden?
 

Als mein Bruder sich rührte, zuckte ich überrascht zusammen.
 

Yamato krallte verschlafen seine Finger in Taichis T-Shirt und öffnete flackernd die Lider. Er schien eine Weile zu brauchen, bis er erkannte wo er war und wer da vor ihm lag und kurz erweckte es den Anschein, dass er Taichi von sich schieben wollte, doch dann schmiegte er sich an ihn und Taichi legte mit einem über- und überglücklichen Strahlen einen Arm um ihn. Zaghaft presste Taichi die Lippen auf Yamatos Schläfe und sagte etwas, was ich nicht verstehen konnte.
 

Yamato verharrte regungslos. Dann drehte er sich ruckartig um und die blauen Augen flogen durch den Raum, bis sie mich erfassten hatten. Leicht fassungslos starrte er mich an. Rührte sich für einen Moment nicht. Und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dieses Verhalten Furcht bedeutete.
 

Furcht vor mir.
 

Seine Augen weiteten sich unscheinbar, einen Moment später wandte er den Blick ab und sah sich unsicher im Raum um. Einen Augenblick lang fixierte er Taichi, dann wandte er sich wieder mir zu. Er richtete sich langsam auf und strich sich durch die wirren Haare.
 

Ich wusste nicht, was ich jetzt tun wollte, knetete nervös die Hände im Schoß und sah von ihm zu Taichi, zu Hikari und wieder zu ihm. Dann tat ich das einzig Sinnvolle, was mir in diesem Moment einfiel; ich kletterte zu ihm aufs Bett und schlang beide Arme um ihn.
 

Yamato gab ein überraschtes, ersticktes Geräusch von sich.
 

„Es tut mir Leid“, murmelte ich leise und drückte ihn fest an mich. „Es tut mir wirklich, wirklich leid. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Es war dumm. Und es wird nicht wieder vorkommen. Es tut mir so leid, Yama, wirklich.“ Ich drückte ihn noch ein bisschen fester an mich und wartete angespannt auf eine Erwiderung.
 

Nach einer Weile spürte ich, wie Yamato mir unsicher über den Rücken strich.
 

Eine Welle von Glück rollte über mich hinweg und ich konnte fühlen, wie sich ein überdimensionales Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. Ob es eine Geste des Verzeihens war, wusste ich nicht genau, aber es war ein Anfang. Denn wäre er immer noch böse auf mich, hätte er mich ohne zu Zögern von sich gestoßen, das war mir klar. Yamato wirkte nicht so, aber er ließ nicht mit sich spaßen.
 

„So schlimm war es nicht“, meinte er schließlich zögernd. „Außerdem… hab ich angefangen.“
 

„Nein, das stimmt nicht“, erwiderte ich und löste mich von ihm. Traurig bemerkte ich seinen leicht apathischen Blick. „Ich hab angefangen zu schreien und diese Sachen zu sagen.“ Schuldbewusst verkreuzte ich die Hände im Schoß und sah ihn entschuldigend an. Yamato sah emotionslos zurück. Dann lächelte er aufmunternd und klopfte mir auf die Schulter.
 

Mein Herz schien für einen Moment stehen zu bleiben.
 

„Es war ja nicht so, dass du nicht Recht gehabt hättest“, sagte er leise.
 

„Mit was?“
 

„Dass ich…“, er stockte und sein Blick huschte nervös zu Hikari hinüber. Was immer mir auch sagen wollte, er war scheinbar nicht gewillt es zu tun, solange Hikari hier war. Es überraschte mich etwas, dass er nur sie ansah, schließlich war Taichi auch noch da. „… dass ich dir nichts erzähle“, fuhr er zögernd fort und krallte die Hände ineinander. Mir fiel auf, wie sehr der Knochen seitlich des Handgelenks heraus stach. „Ich sollte vielleicht mehr mit dir darüber reden. Und natürlich über Mum.“
 

Wieder huschte sein Blick zu Hikari hinüber. Hikari schien inzwischen verstanden zu haben, dass ihre Anwesenheit Yamato daran hinderte, wirklich offen zu sein und erhob sich mit einem Lächeln, das zwischen Enttäuschung und Traurigkeit schwankte.
 

„Ich… geh dann mal wieder“, sagte sie und drehte sich um. Mit einem energischen Blick sah sie zu Taichi. Dieser schien einen Moment zu brauchen, um zu kapieren, weshalb sie gerade ihn ansah. Dann krabbelte er hastig aus dem Bett, drückte Yamato noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und folgte seiner Schwester.
 

Yamato öffnete den Mund, ganz offensichtlich um Taichi am Gehen zu hindern, aber Taichi winkte mit einer lässigen Handbewegung ab und schon waren die beiden aus dem Raum verschwunden.
 

Yamato gab ein entmutigtes Seufzen von sich und sein Blick blieb an der Türe haften.
 

Mit der Präsenz der beiden immer glücklichen Yagamis war es, als wäre sämtliche warme Luft aus dem Zimmer gewichen. Kälte legte sich um uns und ich sah, wie Yamato die Decke höher zog und sie sich schließlich um die Schultern legte. Der Blick seiner blauen Augen wich dem Meinen immer wieder aus, bis er sich dazu überwand, mich direkt anzusehen.
 

„Ich will es dir nicht sagen“, sagte er plötzlich.
 

„Was willst du nicht sagen?“, fragte ich ein wenig verwirrt nach.
 

„Ich will dir nicht sagen, warum Mum gestorben ist“, erklärte er und mir blieb vor Überraschung, der Mund offen stehen. Er wollte es mir nicht sagen? Was… aber wieso denn nicht? Es war verdammt noch mal mein gutes Recht es zu erfahren, sie war auch meine Mutter gewesen, er hatte nicht das Recht solch eine wichtige Sache vor mir zu verbergen! Er—
 

„Aber nur, damit du dir dein Bild von ihr nicht zerstörst“, unterbrach er meine Gedanken und meine Wut, die sich bei seinen letzten Worten angestaut hatte, löste sich Stück für Stück in Rauch auf, als ich seine zitternde Stimme hörte. Obwohl er mich nicht ansah, wusste ich, dass er die Augen geschlossen hatte. „Du magst sie und das ist gut so. Sie ist unsere Mum. Sie… war ein guter Mensch, der dich so geliebt hat, wie du bist und sie würde es sicherlich auch noch tun, wenn sie leben würde. Wenn du den Grund erfahren würdest, würde das alles verändern.“ Zum Ende hin wurde er immer leise.
 

In meinem Magen breitete sich ein furchtbar ungutes Gefühl aus.
 

Was, wenn sie an etwas ganz Schlimmen gestorben war? Oder sie sogar umgebracht worden war? Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass Dad mich davon abgehalten hatte, Yamato in ihr Zimmer zu folgen. Ich hatte seinen Schrei gehört, das anschließende Weinen. Dunkel erinnerte ich mich an den Notarzt, der danach kam und dass Yamato plötzlich verschwand. Danach musste ich wohl eingeschlafen sein, denn ich konnte mich nur noch schwach an die folgenden Morgen und die Beerdigung entsinnen. Es war wie ein großes, schwarzes Loch. Das ich unbedingt füllen wollte.
 

„Yama…“, fing ich leise an, aber er schüttelte den Kopf.
 

„Es ist besser so“, sagte er steif. „Glaub mir.“
 

„Ich würde es aber gerne wissen!“, verlangte ich heftig, in meinem Magen zog sich etwas. Zwei Stimmen in meinem Kopf sagten mir gleichzeitig, dass ich das Richtige und das Falsche mit dieser Forderung tat. „Yama, bitte!“
 

„Wieso? Wieso musst es denn wissen?“, fragte er erzürnt und sah mir wütend in die Augen. Sie glitzerten verräterisch. „Wieso willst du es kaputt machen? Was ist denn daran so wichtig, diesen dummen Grund zu erfahren?!“ Er ballte die Hände zu Fäusten und zog die Beine an den Körper, damit sich unsere Knie nicht mehr berührten. Es versetzte mir einen leichten Stich, dass er den Körperkontakt abbrach, denn das war ein Zeichen dafür, dass er die Wand wieder aufbauen wollte. Aufbauen würde.
 

Er hat Angst davor im Stich gelassen oder verletzt zu werden.
 

Ich musterte ihn zögernd von oben bis unten.
 

Mir war nie wirklich aufgefallen, dass Yamato psychisch so labil war. Natürlich, er war schon immer etwas schwächer und verletzlicher gewesen als ich, also war es meine Aufgabe ihn zu schützen, aber da er nie über Probleme klagte, hatte ich bisher immer angenommen, dass er psychisch so stark war, dass er meine Hilfe nicht bräuchte. Früher hatte ich einmal geglaubt, er würde ausrasten und alles hinschmeißen, als er plötzlich aufgesprungen und einen Teller zerschmettert hatte, nachdem Dad ihn gefragt hatte, warum die Wohnung noch nicht aufgeräumt sei. Aber es war nicht passiert.
 

Er war in sein Zimmer gegangen und hatte nie wieder ein Wort darüber verloren.
 

Das war für mich das Zeichen gewesen, dass er stark war. Nie war mir in den Sinn gekommen, dass das alles nur Fassade war, damit niemand sein wirkliches Ich sah. Dass er Angst davor hatte, von jemandem verlassen oder verletzt zu werden. Doch es war so logisch! … wieso hatte ich nur Hikari gebraucht, um darauf zu kommen? All die Jahre lebte ich nun schon mit ihm zusammen, er war mein einziger Bruder, der Tag und Nacht für mich da war, mich bekochte, mir bei den Hausaufgaben half und mit mir abends auf dem Sofa saß, aber ich hatte ein Mädchen gebraucht, dass ihn erst zwei Tage kannte, um diese Erkenntnis zu haben!
 

Vielleicht stimmte es ja wirklich, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen konnte. Bei mir war es jedenfalls so gewesen.
 

Ich hatte nicht verstanden, dass er diese Mauer als Schutz um sich baute, weil ich es als selbstverständlich ansah. Für mich war sein Wesen einfach so, mit Mauer und Schloss und Riegel, Tag für Tag. Für mich war es normal, dass er sich von allem und jedem abschottete, weil es die einzige Art war, die ich von ihm kannte. Von der Zeit, in der Mum noch lebte, hatte ich kaum noch Erinnerungen.

Das Meiste betraf sie oder irgendwelche nebensächlichen Dinge, aber nicht ihn.
 

Ich brauchte Yamato, deshalb war er in meinen Augen stark. Er war das Einzige, was ich noch hatte, deshalb durfte er mich nicht verlassen. Dad war nie für uns da. Yamato war derjenige, der mich aufmunterte und mich aus jedem Tief zurück holte, deshalb musste er stark sein.
 

Und mit Schrecken wurde mir klar, dass er diesen Schein für mich gelebt hatte, es aber selbst nie war.
 

Doch bewies dieses Verhalten nicht Stärke?
 

Vielleicht.
 

Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und strich über seinen Arm. Yamato zuckte zusammen, zog den Arm jedoch nicht weg.
 

Ich war der schlechteste Bruder, den er sich hätte wünschen können, und trotzdem hatte er sich nie über mich beschwert. Er hatte alles so hingenommen, wie es gekommen war, und sogar aus diesen Situationen noch das Beste gemacht, es zumindest versucht. Er hatte unser beider Leben organisiert, auch ohne Dad. Er hatte schon Monate vor Dads Degradierung einen Job gesucht, um uns über Wasser zu halten. Er war das Genie in der Familie und obwohl kaum etwas für ihn getan wurde, tat er alles für uns. Er war derjenige, der unbedingt Halt brauchte, und doch war er es, der immer Halt gab.
 

Er war mein Bruder, aber ich hatte versagt.
 

„Es tut mir leid“, flüsterte ich mit belegter Stimme.
 

Yamato hob den Kopf und sah mich irritiert an.
 

„Was tut dir leid?“
 

„Dass ich nicht gesehen habe, dass es dir so schlecht geht“, sagte ich und fuhr mir mit der Hand durch die Haare, stützte mein Gesicht in den Handflächen ab und atmete aus. „Ich hätte es einfach sehen müssen, aber ich hab’s nicht getan. Es tut mir so leid, Yama.“ Ich spürte seine schmale Hand, die zaghaft über mein Haar strich, aber diesmal fühlte ich mich nicht besser.
 

„Deswegen musst du dir doch keine Vorwürfe machen“, sagte er sanft. „Du hättest es gar nicht sehen können, es ist nicht deine Schuld.“
 

„Ist es doch!“, erwiderte ich heftig und hob ruckartig den Kopf. Yamato zuckte zurück. „Ich bin dein Bruder und ich lebe die ganze Zeit an deiner Seite, aber ich kriege nicht mit, wenn du zu Grunde gehst! Du hast jemanden gebraucht, der dir hilft und ich hab es nicht bemerkt!“
 

„Das stimmt doch gar nicht“, sagte er. „Ich bin dein großer Bruder, es ist nun mal meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass es dir gut geht und nicht mir. Außerdem war es ja nicht so schlimm…“
 

„Hör auf damit!“, unterbrach ich ihn scharf. „Du kannst nicht immer sagen, dass es doch gar nicht so schlimm war, es war schlimm! Du wärst fast gestorben, Yama, schlimmer hätte es gar nicht kommen können! Und das nur, weil ich zu dumm war, um es zu bemerken. Ich… wie konnte ich nur?! Es ist doch vollkommen egal, ob du der Ältere von uns beiden bist, ich muss dir auch helfen, nicht immer nur du mir. Das… ich…“ Ich brach ab, starrte mit glasigen, brennenden Augen auf das weiße Bettlaken.
 

In meinem Innern brach etwas mit lautem Getöse in sich zusammen.
 

„Aber ich wollte es so“, sagte Yamato leise.
 

„… was wolltest du so?“
 

„Ich wollte dir helfen. Ich habe dafür keine Gegenleistung erwartet, niemals. Ich hab mich schon immer um dich gekümmert, ohne etwas dafür zu bekommen. Ich mache Dads Steuererklärungen und ich habe mich noch nie darüber beschwert, dass er sich nicht dafür bedankt, weil ich es so gewohnt bin. Ich hab mich um den Haushalt gekümmert, während du mit deinen Freunden unterwegs warst. Weil ich der große Bruder bin und auf dich aufpassen muss.“
 

Weil ich muss.
 

Er sagte das so, als wäre es ganz richtig, vollkommen normal. Wie als wäre es das Normalste der Welt, dass sich ein Junge, der erst vor Kurzem volljährig geworden war, ganz alleine um einen ganzen Haushalt kümmerte und nebenbei seine Ausbildung meisterte. Wie, als würde er hinter jedem Wort zu hundert Prozent stehen.
 

Aber nur ein Blick in seine leeren Augen sagte mir, dass das nicht so war.
 

Irgendetwas in mir krampfte sich schmerzhaft zusammen und ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich kam mir vor wie ein riesengroßer Idiot, Egoist und Ignorant zusammen. Wie konnte ich nur all die Jahre sein Tun als selbstverständlich hinnehmen? Wieso habe ich immer nur geredet, anstatt zuzuhören? Wieso war ich nur all die Jahre so, wie ich bin?
 

„Das ist in Ordnung so“, fuhr er fort, aber seine Stimme klang brüchig. Ich wusste, dass er es nur für mich tat und dieses Wissen schmerzte noch mehr. „Ich muss auf dich aufpassen, weil ich…“
 

„Das ist doch vollkommen egal!“, unterbrach ich ihn verzweifelt.
 

„Ist es nicht“, erwiderte er. „Mum meinte immer, dass ich der Klügere von uns bin und deshalb auf dich aufpassen muss. Dir würde sonst was zustoßen!“ Seine Finger krallten sich in die weiße Bettdecke und er zog sie enger um sich. „Sie wollte es so.“
 

Ich sagte nichts, musste mir erst klar darüber werden, was ich darauf entgegnen sollte. Schließlich war er von Yuri und Shusuke geschlagen worden, er war zart und zerbrechlich. Früher mochte es vielleicht gestimmt haben, dass er auf mich aufpassen musste, aber jetzt war es anders. Jetzt musste ich auf ihn aufpassen, weil er derjenige war, der die Hilfe mehr brauchte als ich.
 

Ich schüttelte leicht den Kopf und sah ihm fest in die Augen.
 

„Ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen“, sagte ich mit fester Stimme. „Aber du nicht. Damals war das richtig so, aber jetzt nicht mehr. Ich will, dass du mir endlich sagst, was in deinem Kopf vorgeht und wenn ich dir helfen soll, dann tue ich das auch, okay? Du musst nur endlich mit mir reden.“
 

Ich sah ihn an, aber er sah weg.
 

Rastlos suchten die blauen Augen einen unsichtbaren Punkt im Raum, huschten unruhig hin und her, bis er seine Finger fixierte. Seine Hände zitterten. Nach einem Moment schloss er die Augen und ich hatte den Eindruck, dass er mir gerade entschwand. Kurz hatte ich Angst, dass er sich wieder vor mir verschließen würde, aber dann öffnete er langsam die Augen und sah zu mir auf.
 

„Ich will, dass Dad es dir sagt“, flüsterte er und schluckte. „Wenn du wissen willst, was mit Mum passiert ist, dann geh zu ihm.“
 

„Oh… okay“, willigte ich ein. Yamatos Augen weiteten sich überrascht. „Es ist okay, Yama. Ich kann dich nicht dazu zwingen. Und Dad wird es mir schon sagen.“ Wirklich sicher, ob er es mir jemals sagen würde, war ich mir nicht. Aber ich sah ein, dass ich Yamato nicht drängen konnte. Er hatte seinen Entschluss gefasst und wie nebensächlich fiel mir auf, dass es das erste Mal war, dass er zu seiner Meinung stand. Dass er nicht davon abwich und sich auch nicht von mir überreden ließ.
 

Ob es gut oder schlecht war, konnte ich in diesem Moment nicht sagen.
 

Vorsichtig streckte ich die Hand nach ihm aus und er ließ zu, dass ich sie auf seinen Arm legte und über die kalte Haut strich. Ich spürte, dass er keinen Versuch unternahm seine unsichtbare Mauer zu errichten. Er wirkte verletzlich und angreifbar, ein Zustand, den er meistens durch Kühle und Distanz vermied und geschickt kaschierte. Mir fielen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf und die zwei roten Flecken auf dem weißen Verband. Wie unglaublich schmal er war und wie sehr die Knochen seines Schlüsselbeins hervor stachen.
 

„Du solltest etwas essen“, sagte ich nach einiger Zeit leise.
 

„Ich bin nicht hungrig.“
 

„Aber du bist zu dünn“, erwiderte ich und streichelte fester über seinen Arm. Er hob den Blick und sah mich an. „Außerdem kann Taichis Mutter bestimmt toll kochen.“ Ich lächelte.
 

Und beschloss, dass ich ab jetzt die Rolle des großen Bruders übernehmen würde.
 

Yamato lächelte zaghaft zurück.
 


 


 


 

Part XIV

END
 


 


 


 


 


 


 

Ich habe mal wieder viel zu lange gebraucht, um ein neues Kapitel hoch zu laden - I'm so, so sorry.

Für alle, die das hier mal wieder so schnell finden: die Benachrichtigungs-ENS werden kommen, wenn ich diesen Mittwoch wieder aus dem Chorlager zurück komme, dann werde ich auch endlich die lieben, lieben, sehr geschätzten Kommentare vom letzten Kapitel beantworten. Ihr seid echt mehr Ansporn als ihr denkt.

Schon mal an dieser Stelle ein riesen Dankeschön. Mittlerweile verfolgen fast 150 Leute jedes Mal die Story und über 160 Kommentare - ich hätte niemals gedacht, dass das hier so gut ankommt.

I love you guys, really.
 

Zum Kapitel an sich: Ich bin kein Fan von Hikari, wirklich nicht. Aber ich habe versucht, das bei Seite zu schieben und sie so darzustellen, dass man sie mag. Hoffentlich ist mir das einigermaßen gelungen. Ich weiß nicht wieso, aber aus der Yagami-Familie, die eigentlich in meinen Augen die perfekte Familie ist, kann ich Hikari als einzige nicht leiden.

Und ich hoffe, dass es nicht allzu kitschig geworden ist. Ich gebe keine Garantie für Takerus große Bruder-Rolle, ob er sie meistert oder nicht oder wie auch immer, aber in meinem Kopf war es logisch, dass sich nach allem solche Gefühle in ihm aufbauen.

Und ja, es kommt noch raus, wie Yamatos Mutter gestorben ist. Nur will Yamato es nicht sagen (warum nur? ;3) und es kommt eh noch eine Menge mehr.
 

Den ganz gründlichen unter euch, dürfte aufgefallen sein, dass aus dem x/19 Kapitel ein x/19 (?) Kapitel geworden ist, weil ich mir langsam nicht mehr so sicher bin, dass das alles in 19 Kapitel passt.
 

Mal wieder Danke an Tweetl für's treue Betan und falls euch langweilig sein sollte, lest das hier: http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/286728/ (das dann hoffentlich schon freigeschaltet ist)
 


 

A bientôt, mes amis!

Alles Liebe

Nikolaus
 

I Can Take You Away From Here (Taichi/Yamato)

gebetat von Tweetl & SaRiku
 


 


 

[Warnung!: Zucker-Kitsch-Faktor: mind. 70%]
 


 


 


 

~ Taichis POV ~
 


 


 


 

Yamato schlief äußerst unruhig.
 

Ich wusste nicht, was er träumte, aber er drehte sich die ganze Nacht von der einen auf die andere Seite, wimmerte und vergrub den Kopf im Kissen. Manchmal bewegten sich seine Lippen, in einem stummen Hilfeschrei und seine fein geschwungenen Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel. Ich hätte ihn zu gerne von seinem Leiden erlöst und ihn aufgeweckt, aber meine Mutter hatte mir einmal erzählt, dass man nie jemanden aus seinen Alpträumen wecken dürfe. Die Erinnerung, die ihn Träumen verarbeitet wurde, würde so nur noch öfter wiederkehren.
 

Ich beobachtete ihn die ganze Zeit, konnte nicht schlafen, wenn ich ihn nicht friedlich schlummernd neben mir liegen sah, so wie heute Nachmittag. Ein schrecklich unangenehmes Gefühl zerfraß meinen Magen von innen heraus, aber ich wagte es nicht, Yamato in den Arm zu nehmen, da er sich zu sehr bewegte und ich schon einmal einen Kinnhaken von ihm bekommen hatte, als ich zu nah an ihn herangerutscht war.
 

Dennoch juckte es mich in den Fingern ihn zu berühren, ihn an mich zu ziehen und so fest an mich zu drücken, dass er nie wieder fort konnte.
 

Es war etwas vollkommen Ungewohntes für mich in einer Beziehung so sehr auf meinen Partner zu achten. So… keusch zu sein. Bei jeder Berührung auf eine Erwiderung zu warten und erst dann weiter zu machen. Sonst tat ich das nie.
 

Ich hatte ihm meine Liebe gestanden – mehr oder weniger –, was ich eigentlich noch nie getan hatte. Die drei glorreichen Worte waren, bis auf den Bezug zu meiner Familie, noch nie über meine Lippen gekommen. Weder bei meiner ersten Freundin, noch bei meinem letzten Freund. Doch bei Yamato war das etwas Anderes.
 

Und gerade das verwirrte mich so.
 

Bisher hatte ich meistens schon nach dem ersten Date Sex, sie konnten mir nicht widerstehen und ich wollte sie haben. Die wunderbare Drei-Date-Regel gab es bei mir nicht. Wenn ich scharf auf jemanden war, dann bekam ich ihn oder sie auch, da konnte kommen was wolle. Und meine bisherigen Beziehungen hatten damit auch kein Problem. Nicht mal meine einigen One-Night-Stands. Aber ich traute mich nicht Yamato anzufassen. Ich hatte Angst ihn zu verunsichern, ihm weh zu tun, oder, am Schlimmsten von allem, etwas zu tun, was er gar nicht wollte und sich nur aus Liebe zu mir gefallen ließ.
 

Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas gefühlt. Noch nie.
 

Vorsichtig streckte ich die Hand nach ihm aus, als er gerade ruhig dalag, und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie flüssiges Gold floss sie durch meine Finger, schmeichelte meiner Haut und ließ ein heißes Kribbeln durch meinen ganzen Körper laufen.
 

Yamato seufzte leise auf und warf sich auf die andere Seite.
 

Aber das Eigenartigste an der ganzen Sache war, dass ich nicht wirklich das Bedürfnis verspürte, jetzt gleich mit ihm zu schlafen. Natürlich wollte ich ihn irgendwann einmal, aber nicht jetzt. Zugegeben, anfangs ging es mir wirklich darum. Yamato war das hübscheste Wesen, das ich je gesehen hatte und ich wusste immer noch nicht, wieso das keinem vor mir aufgefallen war. Sie müssten sich doch in Scharen um ihn reißen! Und da hatte ich die Möglichkeit gesehen, wieder einen guten Fang zu machen und auf meine Verflossenenliste zu schreiben. Aber dann wurde es ernster, je mehr ich von ihm sah.
 

Um ehrlich zu sein, reichte ein erster scheuer Blick aus seinen blauen Augen und ich war hin und weg gewesen. Als Takeru ihm den Reis und das Gemüse über das T-Shirt gegossen und er kurz zu mir hinüber gesehen hatte, war ich förmlich dahin geschmolzen – etwas, was mir noch nie passiert war. Eigentlich schmolzen alle bei mir dahin. Selbst als er mich danach anschrie und mich als unterbemittelnden Neandertaler beschimpfte, mochte ich ihn noch. Und als ich dann vor ihm stand, war es gänzlich um mich geschehen.
 

Dabei waren es doch immer die anderen, die nicht genug von mir bekamen und ich wurde von so vielen begehrt, dass ich es bei den meisten gar nicht wusste. Bei Yamato und mir war es genau anders herum gewesen. Er hatte bis heute Mittag nicht gewusst, dass ich ihn mochte, selbst meine Anspielungen und das Händchenhalten hatte er als normal abgetan.
 

Dass es eine Anmache oder ein kleiner Flirt gewesen war, schien ihm nie aufgefallen zu sein.
 

Um mit ihm zusammen zu sein, hatte ich eine ganze Woche lang meine Freunde gemieden und hatte sogar die Anrufe von Shusuke ignoriert, weil ich so sauer auf ihn gewesen war. Von Yuri ganz zu schweigen. Und nur wegen ihm war ich in albernen Schwärmereien versunken, wie ein Teenager. Als Daisuke, einer meiner besten Freunde und mein Nachbar, mir auch noch von seinem neuen Fang erzählt hatte, war mit mir die Fantasie durchgegangen. Falls es wahre Liebe gab—und laut den Schmachtromanen meiner Mutter gab es sie—dann hätte Yamato große Chancen meine zu sein.
 

Mit einem dämlich-glücklichen Grinsen sah ich auf ihn hinunter. Yamatos blondes Haar passte perfekt zu seiner marmorweißen Haut und in seinem Nacken, den er mir gerade so wunderbar präsentierte, waren feine, dünne, weiche Härchen zu sehen. Ich liebte diesen Haaransatz, diesen weichen Haarflaum, der auch auf seiner Stirn war, kurz bevor das dichte Meer anfing. Es erinnerte mich auf abstruse Weise immer wieder an kleine Katzen.
 

Wieder regte sich Yamato. Er gab einen Laut von sich, den ich nicht wirklich identifizieren konnte, aber gleich darauf warf er sich wieder herum und ich sah, dass er angespannt die Augenbrauen zusammen gezogen hatte und die Augen zupresste. Seine Schneidezähne bohrten sich so tief in seine Unterlippe, dass diese wieder aufriss und ein dünnes Rinnsal hinab in die kleine Kuhle über seinem Kinn floss. Sein Atem ging hektisch.
 

Unter den Lidern flogen die Augen herum, ich konnte deutlich sehen, wie sie zuckten und sich drehten, wie, als wollte er sie jeden Moment öffnen. Er bog den Rücken durch und presste sich gleichzeitig seitlich ins Laken. Die Angst und die Panik standen ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Ich versuchte mich an das zu halten, was meine Mutter mir gesagt hatte, aber es fiel mir von Sekunde zu Sekunde schwerer. Ihn so zu sehen war—
 

Mit einem lauten Schrei fuhr Yamato hoch.
 

So plötzlich, dass ich erschrocken zusammen zuckte und ein Stück von ihm weg rutschte. Mein Herz klopfte heftig in meinem Brustkorb, wie nach einem 100 Metersprint und ich sah ihn entsetzt an. Yamato hingegen starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und das einzige Geräusch war sein lauter, rasselnder Atem. Seine schlanken Finger krallten sich in das weiße Laken. Sein Ganzer Körper zitterte.
 

„… Yama?“, meine Stimme war nur ein vorsichtiges Flüstern, aber es sorgte dafür, dass er fürchterlich erschrak und mit einem neuerlichen Schrei herumwirbelte. Seine Pupillen wirkten so groß, dass man das Weiße seiner Augen gar nicht mehr sehen konnte und dennoch wirkte der Ausdruck in den dunkeln Iriden verängstigt. Er brauchte eine Weile um sich zu sammeln. Dann entspannte sich sein Körper sichtlich, die verkrampften Muskeln lockerten sich und er entließ das Laken aus seinem verzweifelten Griff.
 

„Taichi?“, fragte er leise zurück, wie als wollte er feststellen, dass es wirklich ich war und nicht jemand anders.
 

Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und schickte gleichzeitig meine Hände auf die Suche nach den Seinen, umschloss sanft seine Handgelenke und zog ihn zu mir hinunter. Fast augenblicklich sackte der schmale Oberkörper nach vorne und Yamato ließ sich entkräftet neben mich sinken. Sein kalter Körper schmiegte sich an meinen und ich schlang fest beide Arme um ihn.
 

„Was hast du geträumt?“, fragte ich in die Stille hinein und spürte, wie er mit den Achseln zuckte.
 

„Ich weiß nicht genau. Wahrscheinlich dasselbe, wie immer“, sagte er leise. Was dasselbe war, sagte er nicht. „Es war… verschwommen. Und…“, er verstummte und sein heißer Atem streifte mein Schlüsselbein. Seine Lippen berührten für eine Sekunde meine Haut.
 

Mein Körper stand für unendliche Momente in Flammen und ich drückte ihn noch ein bisschen näher an mich. Sein heißer Atem strich in regelmäßigen Intervallen über meine empfindliche Haut.
 

Ich wusste nicht wieso, aber in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich noch nie richtig darüber nachgedacht hatte, wie es wohl sein würde, mit Yamato zu schlafen.
 

„Hab ich dich geweckt?“, flüsterte Yamato schuldbewusst und senkte den Kopf. „Tut mir leid, ich wollte…“
 

„Nein“, unterbrach ich ihn und küsste ihn sanft auf die Stirn. „Ich war schon die ganze Zeit wach.“
 

„Was?!“, fassungslos sah Yamato zu mir hinauf. „Aber wir haben morgen Schule, du musst schlafen!“
 

„Wir?“, wiederholte ich. „Denkst du etwa, dass du jetzt schon wieder in die Schule kannst?“
 

„Ich dachte….“, fing er an, aber er schüttelte sogleich den Kopf. „Nein, nicht wirklich.“ Er drückte den Kopf gegen meine Schulter und ich vergrub die Nase in seinem Haar.
 

Inzwischen waren wir in mein Zimmer umgezogen und ich musste zugeben, dass es in meinem Bett viel bequemer war. Zudem war es größer. Yamato schien dem Umzug nicht wirklich registriert zu haben, er war die ganze Zeit so abwesend gewesen, dass ich mir schon Sorgen gemacht hatte. Aber meine Mutter meinte, das sei ganz normal. Er habe jetzt nun einmal viel zu verarbeiten. Und ich glaubte ihr. Also ließ ich Yamato seinen Freiraum und sobald wir in meinem Zimmer waren, hatte er sich wieder ins Bett gelegt und war fast augenblicklich eingeschlafen. Das Abendessen hatte er verschlafen.
 

Allerdings hatte meine Mutter mich bei dieser Gelegenheit bei Seite gezogen und mir etwas anvertraut, was mir jetzt noch Kopfzerbrechen bereitete.
 

„Taichi, ich weiß, über so etwas spricht man nicht gerne“, hatte sie mit besorgtem Gesichtsausdruck gesagt, „aber du sollst wissen, dass Yamato unter erheblichem Untergewicht leidet. Der Arzt vermutet, dass er vielleicht magersüchtig ist. Ich weiß es nicht. Fest steht nur, dass er für seine Altersklasse mindestens neun Kilo zu wenig wiegt.“
 

„Was?“, ich hatte sie nur anstarren können. Mir schon war aufgefallen, dass Yamato sehr dünn war. Und dass er sehr leicht war. Aber ich hatte angenommen, dass er einfach etwas zierlicher gebaut war.
 

„Ich werde nachher mit seinen Eltern telefonieren und sie bitten, Yamato die nächste Woche über bei uns wohnen zu lassen“, sagte sie entschlossen. „Ich will, dass er zunimmt. Dr. Baptist sagte, dass ihn sein hoher Blutverlust vor allem wegen seinem geringen Gewicht und den damit fehlenden, benötigten Stoffen, fast umgebracht hätte. Er wird bei uns wohnen und du animierst ihn dazu, zu essen, okay?“
 

Ich nickte nur stumm.
 

„Ich weiß, dass ist kein schönes Thema, Tai.“
 

„Das war sein Selbstmord auch nicht“, erinnerte ich sie tonlos.
 

„Ja schon, aber falls er wirklich magersüchtig ist, kommt das noch hinzu und… ach, Tai“, sie seufzte unglücklich, „Ich mag Yamato wirklich, aber ich frage mich, ob du dir da wirklich den richtigen Freund mit nach Hause gebracht hast. Es wird schwierig und zwar nicht nur für ihn. Auch für dich.“
 

„Ich weiß.“
 

„Und du willst ihn trotzdem behalten?“, wollte sie wissen.
 

„Ich will ihn nicht behalten!“, hatte ich widersprochen und die Arme vor der Brust verschränkt. „Sprich nicht über ihn, wie als wäre er ein Stück Holz. Ich will, dass er bei mir bleibt und wenn er das auch will, dann wird das auch so sein.“ Ihr daraufhin folgendes Lächeln verstand ich bis jetzt noch nicht richtig. Aber sie hatte sich nur wieder abgewandt und mich weiter essen lassen.
 

Yamato hatte in der Zwischenzeit geduscht und roch jetzt, dank Hikaris Shampoo, nach einem Berg aus Orangen, Nektarinen und Zitronengras. Ich mochte es, vor allem, weil jetzt sein Eigengeruch besser zu riechen war und ich musste neidlos gestehen, dass Yamato Pur schöner war als jeder Zitrusduft.
 

Ich atmete tief ein und hörte, wie Yamato leise lachte.
 

Als ich ihm vorhin gestanden hatte, dass ich seinen Eigenduft so sehr mochte und deshalb immer an ihm roch—was in gewisser Weise sehr peinlich war und sich noch dämlicher angehört hatte—hatte er sich köstlich amüsiert und hatte sogar richtig gelacht. Befreit, laut und ganze fünf Minuten lang.
 

Und dann hatte er mir zögernd gestanden, dass ich auch ganz gut riechen würde.

Allein bei der Erinnerung daran schlug mein Herz heftiger.
 

„Nacht, Taichi“, ertönte Yamatos schlaffe Stimme von weit her.
 

„Gute Nacht, Yama“, erwiderte ich leise und zog ihn noch ein bisschen enger an mich, damit er in dieser Nacht auch ja nicht von mir weichen konnte. Vielleicht wirkte es tatsächlich so, als ob ich Angst hätte ihn zu verlieren und ihn nie wieder loslassen wollte.
 

Aber ich hatte ja auch nie das Gegenteil behauptet.
 


 

_
 


 


 

Ich erwachte durch das penetrante Gefühl beobachtet zu werden. Und weil irgendetwas Warmes an meiner Seite auf und ab strich, was mich sogar noch im Halbschlaf ganz wuschig machte. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, aber dieses schöne Gefühl, berührt zu werden, ließ mich immer wieder abdriften.
 

Schließlich erweckte mich doch der Verdacht, angestarrt zu werden, aus meinen… sehr feuchten Traum, wie ich mir plötzlich eingestehen musste. Ich hatte doch tatsächlich davon geträumt, mit Yamato zu schlafen. Zwar hatte ich das schon einmal, aber sehr unscharf, nicht so detailliert und vor allem nicht so real. Ich hoffte nur, dass ich jetzt nicht mit einer Morgenlatte aufwachte.
 

Mit einem schweren Seufzen drehte ich mich auf die Seite und öffnete die Augen.
 

Yamato lag neben mir, die klaren, blauen Iriden sahen mir reglos entgegen. Mit einem Blick nach unten stellte ich fest, dass es seine Hand war, die mich gestreichelt hatte. Seine schlanken, langen Finger hatten mein Shirt ein bisschen nach oben geschoben und seine blasse Haut stand in so krassem Gegensatz zu meiner eigenen Dunklen. Kein Wunder, dass ich so etwas Geträumt habe, dachte ich und lächelte Yamato verschmitzt an.
 

Yamato blinzelte und sah mich an, als ob er erst just in diesem Moment bemerkt hätte, dass ich wach war. Dann färbten sich seine Wangen dunkelrosa und er zog hastig seine Hand weg.
 

„Morgen“, sagte ich lächelnd und küsste ihn auf die Stirn.
 

„Ich… hab ich dich geweckt?“, fragte er stotternd und starrte an mir vorbei auf mein Schlüsselbein. „Das wollte ich nicht. Ich… ich hab nicht… nachgedacht…“
 

„Nicht so tragisch“, erwiderte ich fröhlich und umfasste sanft sein Handgelenk, führte die langen Finger wieder an meine Seite. „Außerdem fand ich es sehr schön.“ Ich bedeutete ihm weiter zu machen. Doch Yamato zögerte. Seine Wangen wurden um ein paar Nuancen dunkler und er sah mich nicht an, als er die Finger wieder auf meine Hüfte senkte und unsichtbare Kreise auf meine Haut malte.
 

Nur um ihm ein bisschen die Berührungsangst zu nehmen, zog ich ihn zu mir und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. Yamatos blaue Augen weiteten sich und er sah mich erschrocken an. Vorsichtig näherte ich mich ihm, bis ich seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Yamato atmete stockend und schien sichtlich nervös. Und ich auch. Mein Herz pochte laut und schnell, mein Puls raste. Seine Gegenwart machte mich so überglücklich und gleichzeitig auch so unsicher.
 

Aber ich kratzte all meinen Mut zusammen, schloss die Augen und presste meine Lippen auf seine.
 

Yamatos Finger krallten sich überrascht in meine Hüften und ich konnte deutlich spüren, wie er erschrocken Distanz zwischen uns bringen wollte. Ich öffnete wieder die Augen, ohne die Berührung zu unterbrechen, legte die eine Hand in seinen Nacken und fing an, zärtlich durch den weichen Haarflaum zu streichen. Seine Iriden beobachteten jede meiner Bewegungen, ganz so, als ob er Angst hätte, dass ich ihm etwas tun könnte, wenn er nicht aufpasste.
 

„Entspann dich einfach“, hauchte ich ihm zu und löste mich widerwillig von ihm, nur um meine Lippen dann wieder auf seine zu legen, diesmal etwas sanfter und nicht ganz so ungestüm. Ich ließ meine Zunge über seine Unterlippe gleiten, biss sanft hinein und zog an ihr. Yamatos Lider senkten sich halb, er entspannte sich und öffnete zögerlich seinen Mund.
 

Seine Hände wanderten hinauf zu meiner Brust, legten sich darauf. Krallten sich unsicher in den Stoff, als ich meine Zunge in seinen Mund gleiten ließ und gegen die Seine stupste. Ich wartete, ob er den Kuss abbrechen wollte, aber er tat es nicht. Unglaublich zaghaft bewegte sich seine Zunge und strich an meiner entlang, er zuckte jedoch am ganzen Körper zusammen, als ich mich wieder regte.
 

Mir entfloh ein amüsiertes Glucksen.
 

Daraufhin drückte Yamato gegen meinen Oberkörper und mehr als nur widerwillig löste ich mich von ihm.
 

„Was ist denn?“, wollte ich wissen, da es doch gerade angefangen hatte, Spaß zu machen. Außerdem hatten wir uns bis jetzt noch nicht geküsst und ich musste gestehen, dass ich total aufgeregt war. Und ich wollte weiter machen—unbedingt.
 

„Das ist… eklig“, sagte er leise.
 

„Wa… Was?!“, schockiert starrte ich ihn an. Mein Herz setzte aus.
 

„Ne-nein!“, sagte Yamato hastig, hob die Hände, um mich zu beruhigen, und setzte sich ruckartig auf. „Ich meinte nicht den Kuss! Das heißt… irgendwie schon, aber—aber nicht so, wie du denkst!“
 

„Wie dann?“, wollte ich atemlos wissen, während ich das Gefühl hatte zu ersticken. Mein Magen überstülpte sich schmerzhaft, während Yamato sichtlich nach Worten suchte.
 

„Wir haben noch nicht die Zähne geputzt“, sagte er schließlich mit knallrotem Gesicht und deutete dann eine leichte Verbeugung an. „Das habe ich gemeint. Ich… Entschuldigung, Taichi.“
 

Mit einem sehr lauten Seufzen drehte ich mich auf den Rücken und zog ihn, ohne wirklich zu ihm zu sehen, zu mir hinunter und drückte seinen zierlichen Körper fest an mich. Yamato schmiegte sich an mich und vergrub entschuldigend seinen Kopf in meiner Halsbeuge. Ich spürte seinen Schulterknochen, der leicht schmerzhaft gegen meinen Oberarm stach.
 

Sofort schossen mir die Worte meiner Mutter durch den Kopf.
 

Wie um sie zu vertreiben, zog ich Yamato auf mich, sodass er nun wortwörtlich auf mir lag. Er wirkte zwar ein bisschen perplex, aber er sagte nichts.
 

„Mach das nicht noch mal“, knurrte ich leise und fuhr ihm mit einer Hand durchs Haar, während ich immer wieder über seinen Rücken strich. „Ich hab schon gedacht, dass…“, ich stockte und schluckte. Ich wollte nicht einmal laut aussprechen, was ich gedacht hatte. Vielleicht würde es ja Unglück bringen.

Aber glücklicherweise verstand Yamato mich auch so.
 

„Wenn ich das tun würde, dann wäre ich jetzt nicht hier“, meinte er dazu nur und ich spürte, wie sein warmer Atem über meinen Hals strich, was mir einen heißen Schauer nach dem anderen durch den Körper jagte. „Außerdem mag ich dich doch auch—also wäre das unlogisch.“
 

„… gut.“
 

Mein Herz, das erst kurz zuvor seinen Dienst quittiert hatte, nahm ihn jetzt wieder auf und zwar so heftig, dass ich mir sicher war, dass es meinen Brustkorb sprengen müsste. Laut und fast schmerzhaft schlug es von innen gegen meine Rippen und ich hatte das Gefühl zu schweben.
 

Yamato hatte das schon einmal gesagt, genauso verschlüsselt wie ich, aber ich wusste, was er meinte, und allein das Wissen, bereitete mir ein unglaubliches Hochgefühl.
 

Grinsend vergrub ich meine Nase in seinem nach Zitrusfrüchten riechenden Haar und sog seinen Geruch ein, lauschte, mit einer Horde voller wild gewordener Hornissen in meinem Bauch, seinem absolut niedlichen Kichern. Spürte seinen warmen Atem und seine langen Finger, die sich in meine Seiten krallten und leicht an meinem Shirt zogen.
 

Eine Stille entstand zwischen uns, die alles andere als unangenehm war. Ich musste zugeben, dass ich noch nie mit jemandem so viel schöne Zeit verbracht hatte, ohne mich voll reden zu lassen oder selbst diesen Part zu übernehmen. Aber mit Yamato war es einfach anders. Ich musste nur seine Gegenwart spüren, seine warme Haut auf der Meinen, und es ging mir gut.
 

Mehr als gut.
 

In meinem Bauch hatten sich die Hornissen in friedliche Schmetterlinge verwandelt, die immer wieder heiße Stöße durch meinen Körper jagten und dafür sorgten, dass meine Hände vielleicht etwas zu tief an Yamatos Hüften entlang strichen, als unbedingt nötig gewesen wäre. Doch alles was ich von ihm hören konnte, war ein leises Seufzen. Ob es als ein Zeichen von Zufriedenheit zu deuten war, wusste ich nicht, aber es hörte sich für mich so an, als ob es ihm gefallen würde. Erst als ich den Bund seiner Boxershorts ein Stückchen gen Süden schob und noch mehr von seiner marmorfarbenen Haut enthüllte, gab er ein warnendes Geräusch von sich und umfasste meine Handgelenke mit festem Griff.

Einen Moment lang war ich überrascht, dass er überhaupt so viel Kraft aufbringen konnte.
 

Dann gab ich ihm grinsend einen Kuss auf den Scheitel und entzog ihm sanft meine Hände, um sie auf seinen Rücken zu legen und meinerseits Kreise zu malen. Er zog sich die Boxershorts wieder zu Recht und richtete sich so weit auf, dass er mir ins Gesicht sehen konnte.
 

„Wollen wir nicht langsam aufstehen?“, fragte er zögernd.
 

„Wozu?“, erwiderte ich. „Wir müssen nicht in die Schule und Mum holt uns schon, wenn es etwas Wichtiges gibt.“
 

„Aber…“, er stockte und richtete sich nun ganz auf. Saß etwas unentschlossen direkt auf meinen Hüften und ich konnte mich des Gefühls nicht verwehren, das kochend heiß durch meine Blutbahnen schoss und in meinen Lenden endete. Langsam musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass ich einfach nicht für die Abstinenz geschaffen war. Als er auch noch anfing, unsicher hin und her zu rutschen, flossen meine Hormone über.
 

Mit festem Griff packte ich ihn um die Taille, hob ihn hoch, legte ihn neben mich und rollte mich über ihn. Yamatos blaue Augen sahen mir verwirrt entgegen.
 

„Ich bin dafür, dass wir jetzt erst einmal die Zähne putzen“, meinte ich und küsste ihn sanft auf die Nasenspitze und registrierte glücklich, wie er nickte.
 

Ich kletterte aus dem Bett und zog ihn hoch. Er blieb an dem Bettlaken hängen, verhedderte sich, taumelte und krallte sich an mir fest, um nicht zu fallen. Ich konnte mir ein lautes Auflachen nicht verkneifen. Der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, schwankte zwischen Missbilligung und Belustigung. Allerdings sagte er nichts dazu, sondern folgte mir nur schweigend ins Badezimmer.
 

In einer Schnelle, die ich sonst nie an den Tag legte, putzte ich mir die Zähne, wusch mich und zog mich um. Yamatos Blick folgte mir die ganze Zeit, aber im Gegensatz zu mir, ließ er sich Zeit und putzte sich geschlagene fünf Minuten die Zähne. Dabei hatte er seine Haare wieder zu diesem niedlichen Pferdeschwanz zusammen gebunden und nur ein paar einzelne, widerspenstige Strähnchen fielen ihm ins Gesicht.
 

Somit konnte ich mir die Zeit damit vertreiben, ihn zu beobachten—und dabei auf die absurde Feststellung zu kommen, dass er sich häufiger diesen Zopf machen sollte. Gedankenverloren begann ich mit dem hellen Haar zu spielen, wickelte die flüssige Seide um meine Finger und ließ sie hindurch gleiten. Ewigkeiten wiederholte ich die Prozedur, bis Yamato plötzlich den Kopf senkte, die Zahnpasta ausspuckte und den Mund ausspülte.
 

Als er sich wieder aufrichtete, strahlte das bezaubernste Lächeln auf seinen blassrosa Lippen, das ich je gesehen hatte.
 

„… Yama…“, es war nur ein heiseres Flüstern, aber es trieb Yamato eine gesunde Röte ins Gesicht und er senkte verlegen den Blick. Ich trat auf ihn zu, wusste, dass er meine Bewegungen beobachtete und schlang beide Arme um seine schmale Taille. Er stützte die Hände auf meiner Brust ab, sah nach kurzem Zögern zu mir hinauf. „Jetzt haben wir ja Zähne geputzt.“
 

„Äh… ja“, sagte er, verstand offensichtlich nicht so Recht, wovon ich redete. „Stimmt.“
 

„Das heißt, dass ich dich jetzt küssen kann?“, fragte ich schmunzelnd.
 

„Oh… ja“, Yamato nickte und erwiderte mein Lächeln. „Das heißt es.“
 

„Wunderbar“, mit zwei Fingern fixierte ich sanft sein Kinn und hob es an. Auf seinen Wangen lag noch immer ein blasser Rotschimmer, der sich um ein paar Nuancen verdunkelte, je mehr ich meinen Kopf zu ihm hinab senkte. Ich konnte spüren, wie nervös er war. Aber ich war auch nervös, sehr nervös sogar. Küssen konnte ich, ohne jegliche Art der Selbstverherrlichung. Doch Yamato zu küssen, war immer noch etwas ganz Anderes und ich wollte, dass es ihm genauso gefiel wie mir—dass es mir gefallen würde, bezweifelte ich erst gar nicht. Egal, wie er reagieren würde.
 

Meine Hand glitt in seinen Nacken, strich durch den weichen Haaransatz und Yamato schlang nach kurzem Verweilen die Arme um meinen Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen. Ich wollte nicht mehr länger warten und ich könnte es auch gar nicht. Zu meiner großen Verwunderung machte jedoch Yamato den ersten Schritt. Unsicher und zögerlich presste er seine Lippen auf meine und vor Schreck zuckte ich zurück. Sofort riss sich Yamato wieder von mir los und öffnete den Mund, aber ich schüttelte hastig den Kopf.
 

„Ich… ich war nur etwas überrascht“, gestand ich verlegen, die Hitze stieg in meine Wangen.
 

„Ah... ach so“, machte er nur leise. Aber dieses Mal wartete er mit jeglicher Rührung, bis ich meine Lippen auf seine gesenkt hatte und mit der Zunge zärtlicher über seine Unterlippe strich. Er gewährte mir Einlass, ein kleiner Spalt. Ich stupste gegen seine Zähne, fuhr an den Spitzen hinüber zu seinem Mundwinkel. Kratzte meine Selbstbeherrschung zusammen und konnte doch nicht verhindern, dass ich etwas zu stürmisch seine Zunge umschlang und seine Mundhöhle eroberte.
 

Erschrocken zuckte er zurück, löste die Verbindung jedoch nicht. Der Griff seiner Arme um meinen Nacken verstärkte sich und ich spürte, wie sich sein warmer Körper an meinen presste. Ich erzeugte mit meiner Zunge sanften Druck auf seinem Gaumen. Und mein Blut sackte mir förmlich in die Lenden, als ihm daraufhin ein unkontrolliertes Wimmern entfloh.
 

In meinem Kopf rauschte es, in meinem ganzen Körper kribbelte es, ich stand förmlich unter Strom. Es war besser als alles, was je zuvor passiert war. Und das nur aus dem unlogischen Grund, dass es mein kleiner Engel war, der hier und jetzt in meinen Armen war.
 

Mit einem lauten Keuchen löste Yamato abrupt den Kontakt und lehnte sich japsend an meine Schulter. Mit verklärten Augen starrte er an mir vorbei ins Nichts. Aber ich gab ihm nicht die Zeit sich ausgehend zu erholen, eroberte wieder ungeduldig seine Lippen und schlang die Arme fester um ihn. Yamato erzitterte. Mein Blut floss schneller.
 

„Tai… Taichi“, flüsterte er erstickt zwischen mehreren Küssen. „Taichi… stopp…“

Widerwillig löste ich mich von ihm. Kurz küsste ich ihn auf die Nasenspitze und lehnte meine Stirn an seine, sah fragend auf ihn hinunter.
 

„Hm?“, murrte ich.
 

Aber Yamato antwortete nicht. Er schloss die Augen und holte tief und rasselnd Luft. Sein linker Arm zitterte stärker als der Rest seines Körpers. Besorgt brachte ich etwas Abstand zwischen uns, strich ihm die widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und versuchte sie zu den anderen in seinen Pferdeschwanz zu stecken. Aus irgendeinem Grund wollten sie allerdings nicht halten.
 

„Alles in Ordnung?“, wollte ich leise wissen und streichelte mit dem Daumen über seine Wange.
 

„Ja, klar“, erwiderte er, klang jedoch etwas zittrig. „Das war nur…“, er stockte und kaute auf seiner Unterlippe herum. Dann sah er mit einem definitiv niedlichen Lächeln zu mir hoch und fügte hinzu: „Atemberaubend.“ Als ich daraufhin nichts tat, außer ihn anzustarren, begann er zu lachen.
 

Sein glockenhelles, wunderschönes Lachen.
 

In Verbindung mit dem süßen Zopf, den geröteten Wangen, dem warmen Körper direkt an meinem, seiner weichen Haut unter meinen Fingern und seinem unglaublichen Anblick vor meiner Nase, ergab das den schönsten Anblick meines Lebens. Ewig hätte ich hier stehen und ihn dabei beobachten können, wie er lachte. So befreit und ehrlich, wie er es noch nie getan hatte. Von meinem Herzen aus floss eine heiße Flüssigkeit durch meine Adern und ließ mich in Flammen stehen.
 

Aber ich mochte das Gefühl. Ich liebte es.
 

Und ich liebte ihn.
 


 


 


 

~ Yamatos POV ~
 


 


 


 

Er war das Beste, was mir bis jetzt passiert war. Da war ich mir ganz, ganz sicher.
 

Und das nicht nur aus dem simplen Grund, dass er keine Angst vor Berührungen mit mir hatte, sondern sie auch noch freiwillig heraus forderte und mich aufmunterte. Er wollte, dass ich ihn berührte. Und jedes Mal, wenn er mich ansah, fuhr ein heißkalter Schauer durch meinen Körper.
 

Ganz sicher war ich mir mit der Bedeutung seines Blickes nicht, aber ich hoffte, dass er das Gleiche dachte wie ich. Es wäre einfach nur schön, auch einmal das zu bekommen was ich wollte. Selbst wenn Taichi plötzlich auf die Idee kommen sollte, mich aus irgendeinem Grund zu verlassen, hatte ich mir vorgenommen, um ihn zu kämpfen. Ich war eigentlich nicht der Typ, der sich groß für jemanden einsetzte, schließlich war meine Courage sehr gering und das nötige Selbstbewusstsein fehlte mir, aber ich wollte Taichi nicht verlieren. Er war es mir wert, dass ich über meinen eigenen Schatten sprang.
 

Wenn nicht sogar noch etwas weiter.
 

Ich lehnte mich mit einem überglücklichen Gefühl an ihn, schlang die Arme um seinen kräftigen Oberkörper und gab ein Seufzen von mir. Erst einen Augenblick später fiel mir auf, dass ich wie ein verliebtes Mädchen klang. Taichi schien es anscheinend auch bemerkt zu haben, denn er lachte amüsiert auf und ich konnte spüren, wie die tiefe Vibration durch seinen Körper hallte.
 

Ich erschauderte und vergrub den Kopf in seinem T-Shirt.
 

„Ach, Yama“, nuschelte er und drückte seine Nase in mein Haar. Ich hörte, wie er einatmete. Und musste selbst lachen. Seine Angewohnheit an meinem Haar zu riechen war amüsant, eigenartig und erfüllte mich gleichzeitig mit so einem ungewohnten warmen Gefühl, das ich nicht missen wollte. Es war schön, dass er sogar solche unrelevanten Dinge an mir so interessant fand.
 

„Hast du Hunger?“, fragte er nach einer Weile.
 

„Mhm“, machte ich und nickte.
 

„Okay, gehen wir mal runter und sehen, ob meine Mum irgendetwas vorbereitet hat“, sagte er und löste sich von mir, aber ich konnte ganz genau spüren, wie ungern er es tat. Mindestens eine Minute nach seinen Worten, hatte er seine Arme immer noch nicht von mir genommen. Schließlich rang er sich doch dazu durch, fuhr mir durch die Haare und zog mich hinunter. Als wir die Treppe hinab liefen, wurde mir vor einen Moment schwindelig und die Sicht verschwamm vor meinen Augen.
 

Taichi blieb augenblicklich stehen, aber ich wimmelte ihn ab und ging weiter. Von allen Seiten kroch die Schwärze auf mich zu, aber ich schüttelte sie ab. Ich wollte nicht schon wieder solche Schwäche zeigen, nicht einmal vor Taichi. Für ihn musste ich stark sein und anfangen, das Leben von der positiven Seite zu sehen. Es war nicht alles Schwarz und Weiß, auch wenn das die einfachste Möglichkeit war. Es gab schließlich auch noch grau und… andere Farben eben.
 

„Morgen Mum!“, begrüßte Taichi seine Mutter lautstark und sah kurz auf die Uhr. Ich folgte seinem Blick, stellte überrascht fest, dass es schon später Vormittag war. Normalerweise säße ich um diese Uhrzeit in der Schule und würde für meine nächste Prüfung lernen.
 

Ich sah zu Frau Yagami hinüber und fragte mich, ob sie mich heute vom Unterricht entschuldigt hatte, denn mein Vater hatte es sicherlich nicht getan. Ich hoffte nur, dass er etwas von der Tiefkühlpizza für Takeru übrig gelassen hatte, damit er nicht verhungern musste. Am Besten wäre es, wenn ich heute Nachmittag einfach wieder nach Hause ging und mich um ihn kümmerte; er war es nicht gewohnt alleine zu sein.
 

„Guten Morgen, Yamato“, sagte Frau Yagami lächelnd.
 

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich regungslos an ein und derselben Stelle stand und ins Nichts starrte. Hastig verbeugte ich mir vor ihr und nuschelte eine Entschuldigung, sowie den dazugehörigen Morgengruß. Als ich wieder aufsah, schien sie ein bisschen verwirrt.
 

Verlegen färbten sich meine Wangen rosa.
 

„Du musst nicht so höflich sein, Yamato“, sagte sie nach einem Augenblick sanft.
 

„Entschuldigen Sie“, ich senkte den Kopf, unterdrücke dieses Mal jedoch den Impuls mich zu verbeugen.
 

„Und du kannst ruhig Du zu mir sagen“, fügte sie mit einem leisen Lachen hinzu. „Ich heiße Yuuko.“
 

„Ich… o—okay“, ihre Worte warfen mich etwas aus der Bahn. Dass jemand so nett zu mir war, ohne mich zu kennen, kannte ich bisher nur von Taichi. Aber vielleicht lag das ja bei den Yagamis in der Familie. Sie sahen gleich aus, hatten das gleiche, freundliche Lächeln und schienen die größten psychischen Fracks auf irgendeine Weise nett zu finden.
 

„Jetzt komm schon her, Yama“, murrte Taichi. Ich drehte mich zu ihm und sah, dass er schon an der kleinen Kücheninsel saß, zwei Löffel und Schalen vor ihm standen und er eine Hand nach mir ausstreckte; eine eindeutige Geste, dass ich zu ihm kommen sollte. Nur zur Vorsicht warf ich einen Blick zu Frau Yagami, aber sie lächelte nur abwesend. Ich ergriff Taichis Hand und ließ mich zu ihm ziehen, setzte mich auf den Stuhl neben ihn und bemerkte mit einem warmen Glücksgefühl, dass er einen Arm um meine Taille schlang und mir einen Kuss auf die Schläfe drückte.
 

Ich mochte es wirklich, wenn er bei mir war.
 

„Willst du nur Cornflakes oder bist du bei der Wahl deines Frühstücks ein bisschen anspruchsvoller als mein Sohn?“, holte Frau Yagamis Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich hob den Blick und war sofort der Fixpunkt ihrer braunen Augen.
 

„Ich esse morgens nicht so viel“, gestand ich mit einigem Unbehagen, als ihr Blick stechender wurde.
 

„Aber du musst doch etwas essen!“, sagte sie energisch. „Sieh dich doch an! Du bist viel zu dünn, Yamato.“
 

Puff!
 

Wie eine riesengroße Seifenblase zerplatzte die gemütliche Stimmung, die bis vor ein paar Sekunden noch in diesem Raum geherrscht hatte, vielleicht sogar im ganzen Haus. Die Wärme von Taichi erreichte mich nur noch unterschwellig und mit einem beklemmenden Gefühl bemerkte ich, wie er seinen Arm von mir nahm. Und auch wenn sie nicht sichtbar, kam doch irgendwie Distanz zwischen uns.
 

Ich wollte auf der Stelle aufstehen und davon gehen, aber ich unterdrückte das Verlangen.
 

Meine Augen brannten für einen schrecklichen Moment. Ich wurde mir meiner knochigen Glieder bewusst und fühlte mich plötzlich wie ein hässliches Skelett, umstellt von lauter Göttern. Blinzelnd verscheuchte ich diese Halluzinationen, konnte das bedrückende Gefühl jedoch nicht vertreiben. Wie ein großer Klumpen lag es mir schwer im Magen. Ich sah kurz auf die braungebrannten Finger von Taichi und wünschte mir, dass er seinen Arm nicht weggenommen hätte.
 

Ich wusste, dass ich zu dünn war. Es war ein heikles Thema. Dass ich nicht magersüchtig war, wusste ich mit Bestimmtheit. Ich verweigerte das Essen nicht und ich übergab mich nicht nach jeder Mahlzeit, ich konnte nur einfach nicht so viel Essen. In den letzten Jahren war ich eben immer seltener dazu gekommen, der Haushalt, die Schule, Takeru und unsere Finanzen hatten mich zu sehr in Anspruch genommen. Es genügte mir, wenn ich sah, dass Takeru genügend aß. Manchmal musste man sein eigenes Wohl in den Hintergrund stellen, wenn es andere Leute gab, die die Zuwendung mehr benötigten.
 

„Mum…“, murrte Taichi neben mir peinlich berührt und sah sie genervt an.
 

„Nein, schon gut“, beruhigte ich ihn und schenkte ihm ein Lächeln, das sich zu gezwungen anfühlte, um als echt zu gelten. „Sie hat Recht“, ich sah wieder zu Frau Yagami hinüber. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen… Dir damit noch mehr Umstände bereite.“
 

„Das tust du nicht, Yamato“, erwiderte sie. „Ich will nur, dass es dir gut geht. Du hast starkes Untergewicht.“
 

Ich spürte, wie ein Muskel in meinem Kiefer zuckte und presste die Zähne zusammen.
 

„Ich bin nicht magersüchtig“, sagte ich dann merkwürdig erstickt. „Ich esse einfach nur nicht genug. Ich habe viel zu tun.“
 

„Was ist denn so wichtig, dass es einem vom Essen abhält?“, warf Taichi dazwischen, wie als wäre allein die Vorstellung, nicht rund um die Uhr essen zu können, etwas absolut Grauenvolles.
 

„Haushalt, Schule…“, ich zuckte die Achseln und versuchte keinem von den beiden in die Augen zu sehen. „Manchmal vergesse ich es einfach.“
 

„Essen vergessen kann man nicht!“, behauptete Taichi voller Überzeugung. Ich konnte nicht anders als zu lächeln und sah zaghaft zu ihm hinauf. Glücklich bemerkte ich, dass er mein Lächeln erwiderte.
 

„Findest du?“
 

„Ja. Und ich werde dir schon beibringen, dass Essen auch nicht zu vergessen ist“, meinte er grinsend, angelte sich eine Erdbeere aus einer kleinen Schale auf der Mitte der Kücheninsel und hielt sie mir vor den Mund. Stupste kurz damit gegen meine Lippen und wartete, bis ich den Mund öffnete. „Dafür ist es einfach viel zu gut.“
 

Ich biss ab.
 

Beobachtete mit klopfendem Herzen, wie er den Rest innerhalb von einer halben Sekunde verschlang und dann die Schale zu sich heran zog. Auf den warnenden Blick seiner Mutter, machte er Anstalten die Portion in die zwei Schälchen vor ihm zu verteilen, aber mitten in der Bewegung stockte er. Er war warf mir einen Blick zu, den ich nicht wirklich deuten konnte, und grinste dann breit.
 

„Mund auf“, forderte er mit heiserer Stimme.
 

Ich folgte und schmeckte nur einen Moment später die süße Beere.
 


 


 


 


 

Part XIV

END
 


 


 


 


 


 


 


 

Viel zu viel Zeit zwischen dem letzten Update und dem hier, dabei habe ich gerade Ferien... keine Ausreden, nur ein RIESIGES Dankeschön, an EUCH, weil ihr trotzdem so treu weiter lest und nicht aufgebt. Ich hab leider beim letzten Kapitel nicht auf alle Reviews geantwortet (ich habe, wie ich zu meiner Schmach gestehen muss, leider den Überblick verloren, wem ich schon geantwortet hatte und wem nicht... >_>), darum hier:
 

Danke an Sachi, AmayaNight, MuckSpuck, SayuriKon, ParadoxKanata, Minerva_Noctua, abgemeldet, Hikaru_Hyuga, Sethan, salud01, between_black_pages, GeezKatsu :) Danke, danke, danke....
 

Ach und AmayaNight: Den Fehler werde ich korrigieren, dankeschön ;) Ich dachte mir schon, das hört sich irgendwie eigenartig an...
 

Hoffentlich war das in diesem Kapitel nicht zu viel Kitsch (dafür extra die Warnung am Anfang, haha), bei den zwei Süßen ist es immer so schwer, das nicht irgendwie... zuckrig zu machen :3 Und für diejenigen unter euch, denen der Zucker jetzt reicht: keine Angst, im nächsten kommt wieder vieeel, vieeeel Drama ;)
 

Das nächste Kapitel (das ich eig. noch vor Ende meiner Ferien hochladen will) ist mein Lieblingskapitel, yay. Ich kann euch nur versprechen, das ich versuche mich mehr hier und weniger auf ff.net rumzutreiben und zurück in die deutsche Fanfiction-nische zu kommen (bybye Kogan ;_;).
 

Danke an meine lieben Betas Tweetl & SaRiku, die wissen immer schon ein bisschen früher als der Rest von euch, was da so abgeht und können noch mal einen Veto einlegen, falls es allzu schrecklich ist, was ich euch da präsentieren will ;)
 

Alles Liebe & Stay tuned!,

Nikolaus
 

PS: Wie immer, Musik zum Kapitel in der Info-box :)

So Lonely Inside (Yamato)

gebatet by Tweetl
 


 


 


 

~ Yamatos POV ~
 


 


 


 

Er war wie aus heiterem Himmel aufgetaucht.
 

Ohne Vorwarnung. Ohne die Möglichkeit zu einer passenden Reaktion. Er war einfach vor der Türe gestanden, mit seinem leicht gestressten, genervten und gleichzeitig wütenden Ausdruck im Gesicht, der Mund zu einem harten Strich verzogen und unter den Augen dunkle Ringe. Sein dunkelblondes Haar war verstrubbelt und ungewaschen, sein unordentlicher Krawattenknoten hatte sich gelöst, hing unschön um seinen Hals und die ersten zwei Knöpfte seines Hemdes waren geöffnet.
 

Ich konnte sehen, dass er viel zu lange gearbeitet und nicht genug geschlafen hatte. Wahrscheinlich war er die letzten Tage gar nicht zu Hause gewesen. An seinen Schuhen klebte Schlamm, seine Hose war durchnässt. Mit einem kurzen Blick hinter ihn, konnte ich sehen, dass es regnete, aber er hatte keinen Regenschirm dabei. Nur sein Jackett, das über seinem Arm hing und pitschnass war. Auf seiner alten, ledernen Mappe perlten die letzten Tropfen ab, wahrscheinlich hatte er sie sich zum Schutz über den Kopf gehalten.
 

Er äußerte sich in keiner Weise dazu, woher er wusste, dass ich hier war. Er stand einfach nur da, sah mich böse an und murrte etwas Undeutliches. Fuhr sich durch das wirre Haar und sorgte dafür, dass es noch mehr ab stand. Kurz blinzelte er, wie als könnte er nicht glauben, was er sah und sein Blick glitt über meinen Körper. Ich zog den Ärmel des Pullovers, den Taichi mir gegeben hatte, über meine Handflächen und verdeckte den Blick auf meine Arme.
 

„Wir gehen nach Hause, Yamato“, sagte mein Vater mit gepresster Stimme und hielt mir auffordernd die Hand entgegen. Ich starrte sie ungläubig an, rührte mich nicht. Traute mich nicht, zu ihm hinauf zu sehen. „Es gibt noch einiges zu tun. Takeru wartet bestimmt schon.“ Die Fingerspitzen waren gelblich gefärbt, ein eindeutiges Zeichen für seinen häufigen Nikotinkonsum, die Fingernägel waren unsauber und brüchig. An seinem Daumen war eine kleine Kruste zu sehen, kurz unter dem Nagelbett war die Haut gerissen und blutig.
 

Unwillkürlich schlang ich die Arme um den Oberkörper.
 

„Yamato.“ Ein gefährliches Knurren. Leise und drohend. Er war gereizt, ich konnte es deutlich spüren. Er war müde und wollte gehen, die Anwesenheit von Yuuko und Taichi schien ihm nicht zu behagen. Obwohl ich ihn nicht ansah, wusste ich, dass er ihre Blicke mied und nur mich taxierte.
 

Ich wollte weg.
 

„Yamato, ich sagte, wir gehen jetzt nach Hause“, wiederholte er nachdrücklich. Mein Vater hasste es, sich zu wiederholen. Und er verabscheute jegliche Gründe, die ihn dazu veranlassten. Mum hatte sich immer wiederholt, wenn sie in Depressionen oder mit den Stimmen in ihrem Kopf geredet hatte. Immer und immer wieder hatte sie die gleiche Phrase gesagt, wie eine kaputte Kassette. Deshalb hasste es mein Vater so.
 

Es rief nur unangenehme Erinnerungen wach.
 

„Komm jetzt!“, wie ein Messer durchschnitt seine Stimme die dicke Luft zwischen uns, zerteilte die Anspannung und ließ seine unterschwellige Wut auf mich überschwappen. Ich zuckte zusammen und nickte hastig. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und suchte nach meinen Schuhen.
 

Irgendwo hier mussten sie ja stehen…
 

„Wollen Sie nicht erst einmal einen Moment hinein kommen, Herr Ishida?“, fragte Yuuko plötzlich. Ich erstarrte mitten in der Bewegung, auf halbem Weg hinunter zum Boden, um nach meinen gefundenen Schuhen zu greifen. Wartete auf eine barsche Erwiderung, die sicherlich kommen würde.
 

Taichi ließ sich neben mir auf die Knie sinken und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sein Gesichtsausdruck war besorgt und in seinen Augen spiegelte sich ein kleiner der Teil der Verunsicherung und Angst, die ich in diesem Moment empfand.
 

Ich hatte bis dahin noch gar nicht gewusst, dass ein schöner Augenblick so schnell zerbrechen konnte.
 

Eben gerade hatten wir noch in der Küche gesessen und Yuuko hatte uns nach und nach das ganze Obst aufgetischt, immer wieder betonend, dass ich unbedingt mehr essen müsste. Und Taichi hat es sich zum Spaß gemacht, mich zu füttern. Natürlich verschlang er die Hälfte des Essens selber, aber mir entging nicht, wie er die Stücke sogar mit den Augen abzählte und mir immer die exakte Hälfte zuschob, wenn nicht sogar ein Viertel mehr. Dass er sich so um mich kümmerte, war ein schönes Gefühl und als Yuuko einen Moment abgelenkt war, hatte ich mich hinüber gebeugt und ihn geküsst.
 

Nur auf die Wange. Nur ganz kurz.
 

Aber Taichi hatte gegrinst, wie ein Honigkuchenpferd, und war mir praktisch um den Hals gefallen. Für jedes Stück Obst, das er mir danach zwischen die Lippen schob, stahl er sich einen Kuss. Manchmal auch zwei. Oder drei.
 

Allein bei dem Gedanken daran begannen meine Knie wieder weich zu werden.
 

Dann hatte es plötzlich geklingelt. Taichi hatte seine Aufgabe nicht eingestellt, meinte nur, dass wahrscheinlich Hikari und Takeru von der Schule kommen würden, aber ich hatte gespürt, dass dem nicht so war. Ein Blick auf die Uhr, bestätigte mein Unbehagen. Und dann hatte ich seine Stimme gehört.
 

Kalt, gehetzt und gepresst. Überanstrengt und entnervt. Wütend und barsch.
 

Wie er hier her kam, wusste ich nicht. Auch nicht, woher er wusste, dass ich hier war. Es war mitten am Tag, normalerweise arbeitete er noch und schenkte Takeru und mir keine Aufmerksamkeit. Selbst wenn er abends nach Hause kam, sah er nicht nach uns. Eine Sekunde hatte ich gedacht, dass Takeru etwas Schlimmes passiert war, aber dann war mir eingefallen, dass in diesem Fall der Notarzt vor der Tür gestanden hätte und nicht er.
 

„Nein danke“, hörte ich meinen Vater nun kühl antworten und war mir sicher, dass er gerade verächtlich die Augenbrauen zusammenzog. Dabei hatte Yuuko viel mehr Grund dazu, überheblich oder spöttisch zu sein, schließlich trug sie ein Kleid, wie es einer Edeldame gebührte, und mein Vater trug das verwaschene Hemd und die braune Kordhose. Aber das war sein Charakter. Seit Mums Tod war er einfach anders geworden. „Ich bin nur hier, um meinen Sohn abzuholen.“
 

„Das sehe ich“, erwiderte Yuuko. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber sie klang eine Spur schärfer, gereizter. „Aber ich habe ihnen doch gesagt, dass Yamato gerne die nächste Woche bei uns wohnen darf. Es macht uns nichts aus.“
 

„Aber mir“, es war unfreundlich, keine Frage, aber das fiel meinem Vater wahrscheinlich gar nicht auf. „So nett dieses Angebot auch sein mag, wir brauchen es nicht. Ich kann für meine Kinder sorgen und wir werden diese Sache schon alleine zu Hause regeln.“ Er tippte mit dem Schuh auf der Türschwelle auf und ab. Ein Zeichen für seine Angespannt- und Gereiztheit. „Yamato ist nicht dumm. Er wird schon wieder zu Vernunft kommen. Es war schließlich nur eine kleine Lappalie.“
 

Taichis Griff um meine Schulter verkrampfte sich und ich verlor für einen Moment das Gleichgewicht. Hastig half er mir dabei es wieder zu finden und wandte sich dann an meinen Vater. Ich wollte ihm sagen, dass er sich nicht für mich einsetzten musste, aber aus meinem Mund kam nur ein leises, klägliches Krächzen. Meine Schuhe schienen mir plötzlich unglaublich weit entfernt, mein Arm schien zu schwer, um sie zu mir zu holen.
 

Neben mir änderte Taichi seine Stellung, verlagerte das Gewicht vom rechten, auf das linke Knie und nahm die Hand von meiner Schulter.
 

Ich hörte, wie er hart Luft ausstieß.
 

„Das war keine ´kleine Lappalie´“, zischte er plötzlich wütend und erhob sich ruckartig. Erschrocken von seiner Reaktion zuckte ich zurück und fiel auf den Boden. Ungläubig sah ich zu ihm auf, aber er sah nicht zu mir. Seine braunen Augen waren zu wütenden Schlitzen verzogen, fixierten meinen Vater. „Es hätte etwas Schlimmeres passieren können!“
 

„Das ist es aber nicht!“, schnarrte mein Vater zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„Noch nicht!“, erwiderte Taichi sauer und machte einen Schritt auf ihn zu. Mein Vater rührte sich nicht, aber die Züge um seinen Mund verhärteten sich. Sofort war Yuuko zur Stelle, schob sich zwischen die beiden Männer und drängte Taichi zurück. Aber Taichi schien nicht gewillt zu sein aufzuhören. Mit vor Schreck geweiteten Augen, sah ich zu, wie er Yuuko einfach zur Seite schob und seine imposante Gestalt vor meinem Vater Stellung bezog.
 

„Das wird nicht noch einmal passieren. Yamato ist vernünftig genug, um das zu wissen.“
 

„Das hat doch alles nichts mit Vernunft zu tun!“, rief Taichi und warf die Arme in die Luft, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen. „Er war verzweifelt! Er wusste einfach nicht mehr weiter.“
 

„Dazu hatte er keinen Grund“, behauptete mein Vater steif und musterte Taichi misstrauisch von oben bis unten. Ich wusste, dass er sich innerlich darüber wunderte, warum sich dieser Junge für mich einsetzte. Woher und wie gut er mich kannte. Und weshalb Taichi solch ein Interesse an mir zu haben schien. Ich wusste die Antworten; auf jede einzelne Frage. Aber ich war nicht zu mehr fähig, als mich auf zitternden Beinen aufzurappeln und die beiden sprachlos anzustarren.
 

Meine Kehle war trocken, aus meinem Mund kam nicht ein einziger Laut. Es war wie als hätte ich meine Stimme verloren und fände sie einfach nicht wieder. Dabei war diese Situation doch gar nichts Ungewohntes.
 

Mein Vater war schon immer unbeherrscht und herrisch gewesen, und nachdem Mum gestorben war, war es nur noch schlimmer geworden. Vor Verwandten und Freunden konnte er sich nicht zurück- oder seine Meinung für sich behalten und schon bald wendeten sich die meisten Leute von uns ab. Da er Takeru und mir die Kontakte zu allen Menschen verbot, die er nicht mochte, war unser Bekanntenkreis praktisch gar nicht vorhanden. Er hatte nur seine Arbeitskollegen und Takeru seinen Freundeskreis. Ich hatte bis jetzt niemanden, den er hätte vergraulen können.
 

Aber jetzt hatte ich jemanden.
 

Ich wollte nicht, dass mein Vater etwas Unüberlegtes sagte oder vielleicht sogar Taichi. Ich wollte mich nicht von ihm fern halten müssen und ich wollte auch nicht umziehen. Ich wollte nicht, dass mein Vater die Kontrolle verlor. Und ich wollte nicht, dass Taichi etwas tat, das er später bereuen würde. Und jetzt, wo ich endlich einmal den Mut ergreifen und einschreiten musste, fühlte ich mich wie ein nasser Sack Reis—ohne Worte, ohne die Kraft, dazwischen zu gehen.
 

„Yamato wird diesen Fehler nicht erneut begehen.“
 

„Das können Sie doch gar nicht wissen! Sie waren nicht einmal hier! Hätte meine Mutter Sie nicht angerufen, wären Sie doch gar nicht aufgetaucht!“, schleuderte Taichi ihm wütend ins Gesicht. Mein Vater versteifte sich und löste die Arme aus der Umklammerung. Er packte seine Aktentasche mit festem Griff und ballte die linke Hand zur Faust.
 

Ich schluckte.
 

Wenigstens wusste ich jetzt, weshalb er überhaupt hier war. Sicherlich hatte Yuuko es nur gut gemeint. Sie konnte ja nicht wissen, dass es in solchen Situationen nicht gut war, meinen Vater zu informieren. Wenn er auch nur Wind davon bekommen würde, was in Wirklichkeit geschehen war, würde er ausrasten. Allein von der Tatsache ausgehend, dass dies noch nicht geschehen war, nahm ich an, dass er nicht genau wusste, was passiert war.
 

Und er sollte es auch nicht erfahren.
 

Ich bückte mich hastig, streifte die Hausschuhe ab und schlüpfte in meine Turnschuhe. Meine Finger zitterten, als ich einen flüchtigen Knoten band und die Schnüre festzog. Ohne den Blick vom Boden zu heben, nahm ich meine Jacke vom Haken und war einen Moment versucht, Taichi seinen Pullover zurück zu geben. Aber ich behielt ihn an, beschloss ihn ihm morgen wieder zu geben und mir meine restlichen Sachen wieder zurückzuholen.
 

„Du hast nicht das Recht mir vorzuwerfen, dass ich nicht für meinen Sohn da wäre!“, donnerte mein Vater plötzlich und ich zuckte erschrocken zusammen. „Ich bin sein Vater! Ich weiß, was am Besten für ihn ist. Und dieser kleine Unfall war nichts als ein dummes Malheur!“
 

Malheur?“, echote Taichi fassungslos. „Malheur?! Yamato hat versucht sich umzubringen, das ist kein dummer Fehler! Er hätte einfach sterben können und Sie wüssten noch nicht einmal warum!“
 

Entsetzt starrte ich zu Taichi. Hoffte, dass ich mir seine letzten Worte nur eingebildet hatte. Er konnte—er durfte meinem Vater nicht gerade gesagt haben, dass ich—
 

„Er hat was?“, seine Stimme klang rau und brüchig. Ohne ihn anzusehen wusste ich, dass ihm sämtliche Züge entgleist waren und er fast schon verzweifelt aussah. Die Augen in tief eingefallenen Höhlen.
 

Nein…
 

„Ich… also“, stotterte Taichi, dem offensichtlich aufzufallen schien, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, sah hilfesuchend zu seiner Mutter hinüber und zuckte dann mit den Schultern. „Ich dachte… Sie wüssten es“, fügte er leise hinzu.
 

Nein.
 

Mein Vater gab nur ein undeutliches Glucksen von sich. Es hätte in diesem Moment alles bedeuten können.
 

Nein!
 

Wortlos zog ich mir meine Jacke über, streifte die Kapuze über den Kopf und ging zu meinem Vater hinüber. Er sah in einer Mischung aus Entsetzten, Wut und Schockierung zu mir, aber ich erwiderte seinen Blick nicht. Ich hatte nie vorgehabt, es ihm zu erzählen. Er litt noch immer unter Mums Tod und würde wahrscheinlich auch nie darüber hinwegkommen. Für ihn war damit eine Welt zusammengebrochen und ich wollte ihm nicht noch mehr Kummer machen.
 

Dazu hatte ich nicht das Recht.
 

„Gehen wir Dad“, sagte ich leise und packte ihn sanft am Arm. Noch ließ er sich ohne Einwände von mir mitziehen, aber es würde sicherlich nicht lange anhalten. Er war niemand, der sich gerne herumkommandieren ließ.
 

„Yama, ich…“, fing Taichi hinter mir an, aber ich würgte ihm mit einem Kopfschütteln ab.
 

Er hat es nur gut gemeint.
 

„Wir sehen uns morgen in der Schule“, sagte ich und versuchte möglichst zuversichtlich zu klingen, aber es gelang mir nicht. Mein Vater entwand sich meinem Griff und schenkte mir einen wütenden Blick. Er öffnete schon den Mund und ich wandte mich hastig von Taichi und Yuuko ab. Sie sollten nicht mitbekommen, dass mein Vater anders mit schmerzlichen Erinnerungen umging, als andere. Es war ein zu tiefer Einblick in seine Privatsphäre.
 

Nur nebensächlich registrierte ich Taichis leises Seufzen und seine Entschuldigung. Eine nicht sichtbare Wand aus Watte schien uns zu trennen und ich konnte, ich wollte sie nicht umgehen.
 

Nicht jetzt.
 

Ich verließ zusammen mit meinem Vater das Haus und ging hinaus in den Regen. Schon nach zwei Schritten war ich bis auf die Knochen durchnässt, aber ich sagte nichts. Mein Vater hielt sich wieder die Aktentasche über den Kopf und machte ein grimmiges Gesicht, jeder Blick, den er mir zuwarf, schien von reinem Gift durchtränkt zu sein. Ich wusste, was passieren würde, sobald wir zu Hause waren. Mein Vater hielt nichts davon, seine Gefühle fremden Leuten mitzuteilen und dass sie sich um mich gekümmert hatten nach dem… Unfall, anstatt, dass ich es ihnen verheimlichte und lieber nach Hause ging, schien für ihn wahrscheinlich an Hochverrat zu grenzen.
 

Aber seit Mums Tod war für Dad alles Verrat.
 

Kurz bevor wir durch das eiserne Tor schritten, drehte ich mich noch einmal um. Yuuko und Taichi standen noch immer im Türrahmen und als ich die Hand zu Abschied hob, erwiderten sie den Gruß. Mutlos und irritiert, aber sie taten es. Vielleicht würde ich ihnen sogar erzählen, weshalb mein Vater so reagierte, nur…
 

Nicht jetzt.
 

„Trödel nicht herum!“, fuhr er mich plötzlich gereizt an, packte mich grob am Arm und zog mich durch den Torbogen auf die glitschige Straße. Ich trat in eine Pfütze. Sofort sogen sich meine Hosenbeine bis zu den Knien mit Wasser voll. Der Stoff klebte an meinen Beinen. „Du hast schon für genügend Ärger gesorgt.“
 

Ich nickte tonlos. Spürte, wie meine Augen brannten und schluckte.
 

Nicht jetzt.
 

Mein Körper begann auf Grund der klirrenden Kälte des Regens zu zittern und ich presste die Kiefer aufeinander, damit meine Zähne nicht klapperten. Aus meinen Fingern, den Zehen und meinen Beinen war sämtliche Wärme gewichen und langsam wurden sie taub. Das Gefühl schlich sich unaufhaltsam durch meinen Organismus, bei jedem Schritt wurde es stärker und als wir um die Ecke bogen und unser Haus in Sichtweite kam, spürte ich nur noch den Druck in meinem Kiefer, das Pochen in meinem Unterarm und das Hämmern in meinem Kopf.
 

Die Schritte meines Vaters hallten hinter meinen Schläfen tausendfach wider, wie ein unendliches Echo, das niemals leiser zu werden schien. Er trat so energisch in die Pfützen, dass das dreckige Wasser seine Hose verdreckte und meine ebenfalls. In meinen Gedanken war ich schon dabei, dass ich die Hosen wieder waschen müsste. An etwas Anderes konnte ich nicht denken. Dazu herrschte eine zu große Leere, die ich nicht ohne Weiteres füllen konnte.
 

In meinen Ohren rauschte es leise, zu leise für das Rauschen des Regens, aber zu laut, um gewöhnlich zu sein. Für einen surrealen Moment hörte es sich für mich so an, als ob ich einzelne Stimmen heraus hören konnte. Doch das war Einbildung. Es musste Einbildung sein. Ich konnte Mums Krankheit nicht geerbt haben, sie konnte nicht ausbrechen.
 

Nicht jetzt.
 

„Halt mal.“
 

Der barsche Ton meines Vaters holte mich aus der Abwesenheit. Überrascht sah ich auf die Stufen unter meinen Füßen und die große Tür davor. Wir waren zu Hause. Mein Blick glitt über die Briefkästen, über die Beine und Arme meines Vaters. Ich mied seinen Blick, wollte nicht sehen, was er gerade dachte, ich wusste es schließlich auch so. Wortlos betrachtete ich die lederne Tasche, deren Profil aufgequollen und aufgeweicht war. Er wackelte unruhig damit herum.
 

Ich nahm sie entgegen.
 

Dann kramte er den Hausschlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Ohne ein weiteres Wort an mich zu verlieren, schnappte er sich die Mappe und verschwand im Hauseingang. Kurz blieb ich stehen und wartete, bis zwei, drei Schritte Abstand zwischen uns waren, folgte ihm dann und beobachtete die Spur kleiner Pfützen, die er auf der Treppe hinterließ, war mir der Tatsache bewusst, dass es bei mir wohl auch nicht anders war.
 

Hohl und einsam klangen unsere Schritte wider. Ich schüttelte den Kopf, um das Geräusch aus meinem Kopf zu vertreiben, aber es funktionierte nicht wirklich. Mein Vater öffnete die Türe zu unserer Wohnung und zu meiner Freude, und vielleicht auch nicht, schlug uns nur gähnende Stille entgegen. Takeru war noch nicht da, übernachtete wahrscheinlich bei einem Freund oder war zuerst zu Hikari und Taichi gegangen. Ich war mir sicher, dass sie ihn über Nacht dableiben lassen würden, schließlich regnete es in Strömen und Takeru war zu Fuß unterwegs.
 

Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen, stellte sie ordentlich auf die kleine Matte und rückte auch die meines Vaters zu Recht, der sie einfach gegen die Wand geworfen hatte. Kleine, schwarze Streifen zogen sich von der Aufprallstelle zum Boden. Eigentlich mochte er es nicht, wenn wir die Wände beschmutzten, da die Wohnung nicht uns gehörte. Takeru hatte dafür sogar einmal Hausarrest bekommen.
 

„Yamato, wir müssen reden.“
 

Nicht jetzt.
 

Ich unterdrückte den Impuls, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.
 

Stattdessen nickte ich nur stumm und zog mir die Jacke aus. Ging in die Küche und hängte sie über die Lehne eines Stuhls, damit sie trocknen konnte. Genau gleich verfuhr ich mit Taichis Pullover, meinem T-Shirt und meiner Hose. Mit leichtem Schrecken konnte ich auf dem Stoff kleine, rote Spritzer erkennen, einzig und allein Taichis Sachen waren rein.
 

Bei dem Anblick begann mein Arm wieder zu pochen und der Stoff, gerade noch so leicht und nass, schien nun von Wasser durchtränkt und tausend Tonnen schwer zu sein. Hastig wechselte ich die Hand und hängte die Klamotten über die Lehne.
 

Mein Vater setzte sich in seinen nassen Sachen zu mir in die Küche, machte sich nicht die Mühe, sich umzuziehen. Dass ich nur in Unterwäsche vor ihm stand, schien ihn nicht zu stören. Ich haderte einen Moment mit der Entscheidung, jetzt einfach zu gehen und mir etwas Trockenes überzuziehen. Letztendlich tat es ich doch. Schlüpfte in eine weite Trainingshose, T-Shirt und Pullover von Takeru, zog mir die Ärmel des Sweaters über die Hände und nahm die kleine Wolldecke aus dem Wohnzimmer mit.
 

Mein Vater saß in genau der gleichen Pose auf seinem Stuhl, wie als ich ihn verlassen hatte.
 

Vorsichtig, wie als könnte er jeden Augenblick explodieren, gleich einer Bombe, legte ich ihm die Decke um die Schultern, aber er schien es nicht zu bemerken. Sein Blick war auf die leere Spüle gerichtet. In dem dunklen Grau seiner Augen spiegelte sich etwas wider, was ich nicht deuten konnte und wollte. Er redete nie über seine Gefühle und doch zeigte er sie so offensichtlich, wie als wäre er nur darauf aus, jemandem damit ein schlechtes Gewissen zu bereiten.
 

„Wir müssen reden“, wiederholte er mit hohler Stimme.
 

„… okay.“
 

Ich wandte den Blick ab.
 

„Stimmt das, was der Junge gesagt hat?“, fragte er nach einer Weile des Schweigens.
 

Ich zögerte.
 

Ich könnte natürlich behaupten, dass Taichi gelogen hatte oder dass er sich falsch ausgedrückt hatte, aber er würde es so oder so heraus finden. Seit Mums Tod drehte sich seine Welt nur noch um solche Dinge. Ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn Takeru oder ich wirklich starben, wusste ich nicht, aber es würde ihn sicherlich schockieren.
 

Also nickte ich.
 

Er schnappte hörbar nach Luft und stieß sie scharf durch die Zähne wieder aus. Seine zu Fäusten geballten Hände zitterten so stark, dass der ganze Tisch wackelte und die zwei Gläser darauf leise klapperten. Aus reinem Reflex heraus, sprang ich auf, presste die Hände aufs Gesicht und wandte mich ab. Wartete seine Reaktion mit pochendem Herzen ab.
 

Mein Vater hatte mich schon öfters geschlagen, aus dem Affekt heraus, wenn die Situation eskalierte. Er war immer der Ansicht gewesen, dass man Kinder einzig und allein mit einer harten Hand erziehen konnte. Und obwohl der letzte Schlag schon Monate her war, hatte ich regelrecht Angst und traute mich nicht, mich umzudrehen.
 

Es war dumm, sich vor so etwas Lächerlichem wie einem Schlag so sehr zu fürchten, aber ich konnte nicht anders. Mein Körper handelte von alleine, ich konnte die Hände nicht mehr herunter nehmen, geschweige denn, durch die Finger linsen. Meine Augen öffneten sich nicht, egal was ich tat. Mein Herz schlug so heftig gegen meinen Brustkorb, dass es ihn sicherlich jeden Moment sprengen müsste. Mein Blut rauschte laut in meinen Ohren.
 

Nicht jetzt.
 

Hektisch atmete ich ein und aus, versuchte mich zu beruhigen und konnte doch die Stimme in meinem Innern nicht zum Verstummen bringen, die mir immer wieder zurief, dass es gleich passieren würde. Jeden Augenblick. Jede Sekunde. Ich spürte, wie sich meine Rippen zusammen zogen, meine Lungen zusammen pressten und hatte das Gefühl zu ersticken. Aber ich öffnete den Mund nicht ein Stück, presste die Lippen krampfhaft aufeinander und wünschte mir, nicht hier zu sein.
 

Überall, nur nicht hier.
 

Ich hörte, wie er seinen Stuhl mit einem lauten Scharren zurück schob und seine großen Füße schwerfällig über den Boden tappten, mir mit jedem Schritt näher und näher kamen. Ich konnte die wütende Aura, die ihn umgab und waberte wie ein flackerndes Feuer, förmlich spüren und die Flammen streckten ihre glühenden Zungen nach mir aus, umschlungen mich und entfachten eine Glut ganz tief in mir. Doch das kalte Wasser meiner Angst war stärker und überschwemmte mein Inneres, löschte jegliche Funken.
 

Er kam vor mir zum Stehen, atmete laut aus und ein und ließ ein abfälliges Schnauben hören.
 

„Wie konntest du nur?“, knurrte er leise und erwartete offensichtlich eine Antwort, aber mein Mund wollte sich nicht öffnen. „Wie konntest du nur?!“ Sein Schrei zerriss die Stille der Wohnung wie ein Peitschschlag, traf mich mit solch einer Wucht, dass ich erschrocken zusammen zuckte und einen Stück nach hinten taumelte.
 

Er packte mich unerwartet am Arm, zog mich brutal nach vorne und riss mir die Hände vom Gesicht. Ich wollte nicht in sein Gesicht sehen, aber meinen Augen flogen sofort darauf und ich konnte den Blick nicht mehr davon lösen. Seine grauen Iriden funkelten erzürnt, ein glasiger Schimmer lag über ihnen. Seine Wangen waren vor Erregung gerötet. Sein ganzer Körper zitterte vor Wut.
 

Dann hob er den Arm. Holte aus.
 

Und schlug zu.
 

Wie aus weiter Ferne, hörte ich das Klatschen, als seine flache Hand mit aller Kraft auf meine Wange traf, meine Nase gewaltsam streifte und ich etwas Warmes meine Nasenwand hinunter rinnen spürte. Der Schock, der mich durch den erwarteten, aber trotzdem überraschenden Schlag, getroffen hatte, steckte tiefer als der Schmerz, der kaum eine Sekunde danach wieder Besitz von mir ergriff. Meine Wange pochte heiß und störend, mir klappte mit einem panischen Japsen der Mund auf, als ich bemerkte, dass ich durch die Nase nicht mehr atmen konnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich zu meinem Vater, aber er sah nicht zurück.
 

„Wie konntest du nur?“, fragte er erneut, aber diesmal klang seine Stimme unsagbar enttäuscht und kraftlos, gebrochen und mühevoll wie die Stimme eines alten Mannes.
 

Ich fühlte nichts bei seinem Anblick. In mir war es kalt und leer. Unendlich leer.
 

„Ich habe nichts getan“, sagte ich mit nasalem Unterton und wischte mir über die Nase, bemerkte das heiße Blut. Verwirrt sah ich auf meine Finger, auf die rote, dickflüssige Spur und schluckte hart. Mit einer automatischen Bewegung griff ich nach einem Küchentuch und presste es mir unter die Nase, damit der Schwall aufhörte zu fließen. Es war ein unangenehmes Gefühl zu spüren, wie das Blut durch die Nase floss und obwohl ich gehört hatte, man solle sich ein kaltes Tuch in den Nacken und den Kopf zurück legen, weigerte ich mich, es zu tun. Aus Erfahrung wusste ich, dass es noch schlimmer war das Blut im Mund zu schmecken, wenn es die Speiseröhre hinunter floss. Also beugte ich den Kopf nach vorne, meine Haare hingen mir ins Gesicht.
 

„Lüg mich nicht an“, fauchte er zornig und setzte sich schwungvoll wieder auf seinen Stuhl zurück. „Ich habe den Verband an deinem Arm gesehen, als du dich gerade umgezogen hast!“, er wedelte mit einer Hand in der Luft herum, fasste die Küche und mich darin ein. „Weißt du überhaupt, wie dumm du bist? Wieso tust du solche idiotischen Dinge? Für Beachtung? War dir Natsukos Tod nicht genug?“ Er stieß hart Luft aus.
 

Einen Augenblick bekam ich kein Wort heraus.
 

Warf er mir gerade wirklich vor, dass meine Tat dumm und idiotisch vor? Wollte er ernsthaft sagen, dass ich mit meinem Tod Aufmerksamkeit erregen wollte und es nur aus Trotz getan hatte?
 

Er wollte mir etwas vorwerfen?!
 

Die Glut begann wieder zu glühen und diesmal war keine Angst da, um sie wieder zum Erlischen zu bringen. Die Wut kochte in mir hoch und das Gefühl war exakt das Gleiche, wie das, als ich mich gestern Morgen mit Taichi gestritten hatte. Nur stärker. Es saß so viel tiefer und hatte seine Wurzeln ganz wo anders. Es war die Wut auf ihn. Auf meinen Vater, weil er mir solche Fragen stellte, nachdem er sich über zehn Jahre komplett aus meinem Leben heraus gehalten hatte und jetzt Ahnung vortäuschte!
 

„Du hast doch nicht den blassesten Schimmer“, fauchte ich ihn an und drückte das Tuch stärker gegen meine heiße Nase. Er hob den Kopf und sah mich ausdruckslos an, aber ganz hinten in den dunklen Iriden konnte ich Verblüffung aufflackern sehen. „Du bist doch nur sauer, weil die Yagamis davon wissen. Du kannst dich doch nur nicht an den Gedanken gewöhnen, dass es auch andere Leute gibt, die unter Mums Tod leiden. Du bist doch nur zu verklemmt um einzusehen, dass das Leben trotzdem weiter geht. Egal ob mit oder ohne ihr.“ Meine Hand zitterte, aber ich verkrampfte meine Finger und zwang mich zur Stärke.
 

„Was redest du da für einen Mist?“, erwiderte er verärgert. „Ich lebe weiter—du tust es offensichtlich nicht. Du ziehst lieber solch eine Show ab, um Aufmerksamkeit zu erregen!“
 

Jetzt zitterten auch meine Arme.
 

In meinem Kopf breitete sich eine eigenartige, schwere Leere aus, die nichts mit Gleichgültigkeit zu tun hatte. Ich wünschte mir irgendetwas, um den unglaublichen Druck in meinem Innern zu beseitigen. Ich wollte schreien und toben, wollte ihm endlich all das an den Kopf werfen, was ich all die Jahre mit mir herum trug. Ich wollte ihm ins Gesicht schlagen und sehen wie er erschrocken zurück zuckte. Ich wollte, dass er endlich büßte für die Ignoranz die er Takeru und mir geschenkt hatte.
 

Und plötzlich tat ich es.
 

„Ich ziehe keine Show ab!“, schrie ich schrill, schmiss das durchtränkte Tuch achtlos auf den Boden und machte einen Schritt auf ihn zu. Seine Pupillen verengten sich. „Ich hab das nicht getan, weil ich Aufmerksamkeit erregen will! Du hast doch gar keine Ahnung, warum ich das tun könnte! Du weißt gar nichts von meinem Leben, du lebst in deiner eigenen Welt und schließt uns alle aus! Du bist derjenige, der nicht kapieren will, dass du mit Mums Tod abschließen musst! Du lässt mich und Takeru seit über zehn Jahren Tag für Tag hängen und scherst dich einen Dreck um uns! Du hast doch… verdammt keine Ahnung!“, ich holte Luft und wischte mir das Blut aus dem Gesicht, das warm über meine Lippen floss, „Weißt du überhaupt, was es heißt, vor einer ganzen Schule einen Nervenzusammenbruch zu haben und in einem Krankenhaus aufzuwachen? Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man seinen einzigen Freund verliert, nachdem man so darauf gehofft hatte, dass es einmal klappt? Hast du auch nur den blassesten Schimmer, was es bedeutet, wenn dich der eigene Vater ignoriert? Wenn du jeden Tag die Angst mich sich herum trägt, dass die Stimmen in deinem Kopf real sind?! Weißt du es?!
 

Er schrumpfte auf seinem Stuhl zusammen und öffnete wortlos den Mund.
 

Doch egal was er sagte, es hätte mich nicht beruhigen können. Irgendwo in mir brach der Damm und alles schwemmte hervor. Verzweiflung kroch in mir hoch, schlich sich in mein Herz und in meinen Kopf und krachte als große Welle über mir zusammen. Tränen rannen zu tausenden aus meinen brennenden Augen und vermischten sich mit dem warmen Rot auf meinem Kinn. Meine Hände zitterten, meine Beine schienen mein Gewicht nicht länger tragen zu wollen.
 

„Ich hab es getan, weil Takeru die Erinnerungen an Mum wieder in mir wach gerufen hat“, rief ich mit stockender Stimme. „Weil ich mit Taichi gestritten hatte! Weil Shusuke und Yuri mich seit fünf Jahren täglich zusammen schlagen, ganz plötzlich Schuldgefühle bekamen und wollten, dass ich es ihnen nicht übel nahm! Fünf verdammte, lange Jahre, haben sie mich verprügelt und das soll mit einem simplen ‚Tut mir Leid’ wieder verschwinden?! Ich hab es getan, weil ich mein ganzes scheiß Leben nicht mehr aushalte und es mir über den Kopf steigt!!“
 

„Yamato….“, sagte er mit leiser, schockierter Stimme und streckte seine Hand nach mir aus, aber ich schlug sie einfach weg. Ich wollte seine Berührungen nicht.
 

Nicht jetzt. Nicht mehr.
 

„Yamato, bitte…“
 

Nie mehr.
 

„Ich hasse dich!“, schleuderte ich ihm ins Gesicht, bevor ich darüber nachgedacht hatte und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Er starrte mich unsagbar entsetzt an. Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. „Ich hasse dich, du verdammter, ignoranter Bastard! Ich hasse dich!“
 

Ich presste mir eine Hand auf den Mund und unterdrückte mein lautes Schluchzen, die Wellen von Verzweiflung drohten mich zu ertränken, mich in den bodenlosen Abgrund hinab zu reißen. Mein Vater saß einfach nur fassungslos vor mir, hob wie in Zeitlupe seine Hand und berührte seine Wange. Stockend entfloh der Atem seinen geöffneten Lippen.
 

„Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich…“, murmelte ich unablässig vor mich hin, wie ein Manta, das mich davor bewahren sollte in die schwarze Tiefe zu fallen. Mein Gesicht brannte, der Tränenstrom wollte nicht stocken. Zitternd wischte ich mir über Mund und Nase, sah den roten Streifen und biss mir schmerzhaft auf die Lippe, als das nächste laute Schluchzen meiner Kehle entfloh. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, aber ich konnte nichts dagegen tun. Hinter meinen Schläfen rauschte es, mein linker Arm pochte heiß und schmerzhaft. Die roten Punkte auf dem weißen Verband breiteten sich kontinuierlich aus.
 

„Yamato…“, seine Stimme war rau, dunkel und brüchig. Es klang wie ein Knurren und gleichzeitig wie ein bitteres Flehen. Bei meinem Namen wich ich zurück, immer schneller und schneller sog ich Luft in meine Lunge. Befürchtete jeden Augenblick zu hyperventilieren. Wie gebannt starrte ich auf sein Gesicht, beobachtete wie er langsam den Kopf hob und mich ansah. Ich wusste, dass er mir diesen Schlag nicht verzeihen würde. Ich war sein Sohn und Söhne hatten nicht das Recht ihre Eltern zu schlagen, egal was passierte. Er würde mir nie verzeihen.
 

Ich wimmerte hoch und verzweifelt auf und vergrub das Gesicht in den Händen.
 

„Ich hasse dich, ich hasse dich… o Gott, ich hasse dich…“
 

Ich wollte hier weg. So sehr.
 

„… Yamato.“
 

Seine Tonlage ließ das Fass überlaufen, stieß mich an den Rand der Klippe, zerriss den dünnen Faden meiner Standhaftigkeit. Ich drehte mich auf den Absätzen um und rannte aus der Küche.
 

Ich musste einfach von dort weg, ich hielt es nicht mehr aus. Die Angst hämmerte in meinem Innern, die Panik fraß mich auf. Mein Herz schlug hektisch und schnell, das Blut pulsierte in meinen Schläfen. Ich konnte nicht mit meinem Vater in einem Raum bleiben und warten, bis ihm erneut die Hand ausrutschte. Bis er sich für mein Vergehen rächte und mir seine Überlegenheit demonstrierte.
 

Automatisch schlug ich den Weg zu meinem Zimmer ein, knallte die Türe hinter mir zu und sperrte ab. Drei Mal drehte ich mit zitternden Händen den Schlüssel um, aber es lieferte mir kein Gefühl vor Sicherheit. Dieses Stück Sperrholz schien viel zu dünn, zu unstabil, zu schwach, um auch nur irgendeiner Attacke stand zu halten. Doch ich konnte nicht mehr tun.
 

Wimmernd und schluchzend lehnte ich mich mit dem Rücken an die Tür und rutschte kraftlos an ihr herunter, meine Beine konnten mein Gewicht nicht mehr länger halten. Ich zog die Knie an den Körper, vergrub hilflos das Gesicht in den Händen. Durch die Nase bekam ich schon lange keine Luft mehr, mein Mund schien verklebt, die Zunge schwer und pelzig. Erneut meinte ich nicht genügend Sauerstoff zu bekommen, atmete viel zu schnell. Die Panik kratzte von innen an meinen Augäpfeln, schrie und tobte, wollte um jeden Preis nach draußen.
 

Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich hörte, wie mein Vater plötzlich gegen die Türe schlug. Er schrie meinen Namen. Immer und immer wieder.
 

Aber ich rührte mich nicht.
 

Er wurde lauter. Das Trommeln seiner Fäuste stärker, heftiger. Eindringlicher.
 

„Yamato! Komm da wieder raus! Yamato!“
 

Ein erstickter Laut entfloh meiner Kehle und ich presste mir die Hand auf den Mund, um es zu unterdrücken. Doch es half nichts. Das Weinen hörte nicht auf, heiße Tränen flossen endlos über meine Wangen und trübten meine Sicht. Kraftlos ließ ich den Kopf gegen die Türe sinken, die immer wieder unter den Schlägen meines Vaters erzitterte.
 

„Yamato, jetzt heul nicht rum und komm sofort wieder da raus! Yamato! Was erlaubst du dir eigentlich?! Yamato!“
 

Die Verzweiflung kroch langsam aus meinem Herzen hoch, schlängelte sich um mein Bewusstsein und packte mich mit festem Griff. Sie hakte sich bei der Panik unter und gemeinsam ertränkten sie mich, drückten mich in die Tiefe, ertränkten mich in dem dunklen Meer. Ich konnte mich nicht wehren, mein ganzer Körper war taub, erbebte einzig und allein unter meinem kläglichen Schluchzen.
 

„Yamato, mach die Tür auf! Yamato!“
 

Ich wünschte mir, an einem anderen Ort zu sein. In einem anderen Universum. Eine andere Person mit einem anderen Leben.
 

Ich wollte weg von hier.
 

„Komm jetzt endlich da raus! Yamato, hörst du mich?!“
 

Unendlich weit weg.
 

„Yamato! Verdammt, mach auf!“
 

So unendlich weit weg.
 


 


 


 


 


 

Part XVI
 

END
 


 


 


 


 


 


 


 


 

tbc...

So Busy Outside (Takeru/Yamato)

Das Kapitel ist nicht Korrektur gelesen.
 


 


 


 

~ Takerus POV ~
 


 


 


 


 

Hier. Sonst wirst du noch nass.“
 

Hikari lachte und hielt den Regenschirm auch über mich, rutschte so nah an mich heran, wie es eben nötig war, damit sie nicht durchnässt wurde. Der Schirm war wie ein kleines Schutzschild, das leider nur bis zur Hüfte reichte. Um uns herum prasselte der Regen in Strömen und unaufhaltsam zu Boden, die Wasserströme schossen neben dem Rindstein her und versanken gluckernd in den Abflüssen. Bunte Blätter von den umstehenden Bäumen und Sträuchern verstopften die kleinen Spalte und das Wasser warf hohe Wellen, während es viel zu langsam in den kleinen Versenkungen verschwand.
 

„Danke“, murmelte ich zerstreut und nach einem kurzen Blick zu ihr, nahm ich ihr den Regenschirm aus der Hand, hielt ihn über unsere Köpfe. Da ich weitaus größer war als sie, musste ich dabei meinen Arm nicht so sehr in die Höhe recken.
 

Hikari lächelte mich freudig an und schlang die Arme um mich.
 

„Nur, damit keiner nass wird und wir beide unter den Regenschirm passen“, grinste sie schelmisch und ich konnte nicht anders als zu lachen. Hikari hatte so eine positive, aufmunternde Art, dass ich sogar Yamato für ein paar Minuten vergessen konnte, dabei schwirrte er doch dauernd in meinem Kopf herum. Nur um mir ein bisschen mehr Ablenkung zu schaffen, schlang ich meinen freien Arm um sie und fügte hinzu: „Weil wir ja auch gar nicht nass sind.“
 

Ich blickte demonstrativ auf ihren durchnässten Rock und meine Jeans und sie folgte meinem Blick.
 

Dann lachte sie.
 

„Ja. Stimmt.“
 

Auf dem restlichen Weg zu dem Anwesen der Yagamis sprach keiner von uns ein Wort. Ab und zu ließ Hikari ein Niesen hören, aber ansonsten blieb sie still. Ich wusste nicht, ob ich sie nicht lieber hätte reden hören. Einfach nur um die Stille zu vertreiben und nicht mehr an das Unabwendbare denken zu müssen. Vielleicht würde dieses bohrende, schmerzhafte Gefühl durch ein paar ihrer erheiternden Worte verschwinden. Das Pochen hinter meinen Schläfen, das Brennen meiner Augäpfel; durch ein einziges Lächeln von ihr.
 

Aber Hikari tat nichts davon. Sie hing stumm an mir und hielt zum Spaß die Hand in den Regen, um zu beobachten, wie die Tropfen an ihrer Haut abprallten und von den Fingerspitzen zu Boden glitten. Es schien sie zu amüsieren, aber mich heiterte ihr kleines Spiel nicht auf. Als wir vor dem großen Tor standen, tippte Hikari in ein geschütztes Feld in dem steinernen Torpfosten eine Zahlenfolge ein und nur einen Augenblick später ertönte ein lautes Summen und das Gatter öffnete sich wie von Geisterhand.
 

Hikari zog mich hindurch.
 

Der weiße Kies glänzte geisterhaft in der milchigen Dunkelheit, die zu dieser späten Mittagsstunde schon herein gebrochen war, und knirschte unter unseren Schritten. Beiläufig warf ich noch einen Blick zurück und beobachtete, wie das Tor sich eigenhändig hinter uns wieder schloss. Hikari kramte neben mir in ihrer Schultasche nach dem Hausschlüssel und als sie ihn fand, löste sie sich von mir.
 

An der Stelle, an der sie eben gerade noch gewesen war, wurde es plötzlich unangenehm kalt.
 

„Hoffentlich haben die drin überall die Heizung an“, murmelte Hikari geistesabwesend. Das Schloss knackte und sie öffnete die Tür. Strahlendes Licht flutete die Trübheit um uns herum und hastig schlüpften wir in die Wärme, zogen uns Jacke und Schuhe aus und verstauten alles sorgfältig in der Garderobe. Eigentlich scherte ich mich nicht sonderlich um Ordnung, aber aus irgendeinem Grund tat ich es in diesem Moment; aus der Tasche von Hikaris Jacke hing eine rote Mütze, die nicht in das saubere Bild passen wollte. Ich zog sie hervor und legte sie auf die Kommode.
 

Hinter mir lachte Hikari auf.
 

„Da seid ihr ja!“
 

Wir drehten uns um und sahen Yuuko, die breit lächelnd auf uns zu kam. Sie trug ihre rosa Schürze und darunter das makellose, bronzefarbene Kleid, was auf skurrile Art nicht miteinander harmonierte. Der glitzernde Samt, mit dem ausgewaschenen Stoff darüber. Ich fragte mich, ob sie dieses Kleid immer nur in der Küche trug und es sich extra dafür gekauft hatte. Reiche Leute scherten sich wahrscheinlich nicht so darum, ob die Sachen schmutzig wurden.
 

„Wir haben schon auf euch gewartet“, sagte Yuuko und strich Hikari durchs Haar. Sofort gab diese ein empörtes „Mum!“ von sich und strich ihre braune Mähne sorgfältig wieder glatt. „Ich hab euch was zu essen gemacht, es steht in der Küche. Taichi hat schon gegessen, aber er wird euch sicherlich noch Gesellschaft leisten. Wartet, ich hohl ihn.“ Sie eilte zum Fuße der breiten Treppe und rief laut den Namen ihres Sohnes. Einen Augenblick geschah nichts, dann tauchte Taichi auf.
 

Imposant, braungebrannt und gut aussehend wie immer. Aber etwas versetzte seinem Anblick einen Stich und erst als er die Stufen herunter gekommen war und direkt vor uns stand, fiel mir auf, was es war. Er hatte dunkle Augenringe, das Haar war unordentlich verstrubbelt und der Ausdruck in seinen Augen wirkte leer. Hikari zuckte erschrocken zurück, als sie ihn sah und fragte noch im selben Moment: „O Gott, was ist denn mit dir los, Tai?“
 

„… hm“, machte er nach kurzem Zögern und zuckte die Achseln. „Nichts.“ Es klang weder sonderlich aufrichtig noch interessiert. Seine Schultern hingen schwer herab und seine ganze Haltung drückte eine gewisse Mutlosigkeit aus, wie als hätte er die schrecklichste Nachricht seines Lebens erhalten. Aber Yamato war bei ihm, eigentlich müsste es ihm doch…
 

Erst in diesem Augenblick fiel mir auf, dass Yamato gar nicht bei ihm war. Kurz sah ich mich suchend um, wie als könnte er plötzlich aus einem anliegenden Raum treten und sich zu uns gesellen.
 

Aber er kam nicht.
 

„Wo ist Yama?“, wollte ich wissen und presste angespannt die Kiefer aufeinander. Das bohrende Gefühl in meinem Magen wandelte sich in Übelkeit um und ich schluckte hart.
 

„Oh… ach ja“, Yuuko machte ein bedauerndes Gesicht und lächelte mich in einer Mischung aus Beschämung und Verlegenheit an. „Dein Vater war vorhin da, Takeru. Er hat Yamato abgeholt, weil er wohl nicht wollte, dass Yamato uns noch länger auf der Pelle sitzt. Dein Bruder ist schon seit ein einigen Stunden nicht mehr da.“ Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, aber die Bewegung ihrer Hand wirkte unsicher und stockend.
 

Ich meinte, mich jeden Moment erbrechen zu müssen.
 

Dad war hier gewesen und hatte Yamato mitgenommen? Aber wieso? Woher wusste er denn, dass er hier war? Ich hatte ihm nichts erzählt und die Yagamis kannten ja nicht mal seine Telefonnummer. Und Yamato selber hätte Dad nicht angerufen. Nicht in solch einer Situation.

Er war zwar unser Vater, aber verständnisvoll und fürsorglich war er nicht. Er kümmerte sich nicht um uns, flog für mehrere Monate ins Ausland wegen seiner Arbeit und alles was wir als Nachricht bekamen war ein Zettel auf dem Küchentisch, mit einem Bündel Scheine. Er interessierte sich nicht dafür, wie es uns ging. Als ich mir das Bein beim Fußballspielen gebrochen hatte, hatte er mich nicht einmal im Krankenhaus besucht. Während Yamato die ganze Zeit bei mir blieb und sich mit Händen und Füßen gegen die Schwester wehrte, die sagte, dass die Besuchszeit nun zu Ende sei, war mein Vater am Abend meiner Entlassung nur ein bisschen früher nach Hause gekommen.
 

Es scherte ihn herzlich wenig, ob Yamato oder mir etwas passierte, er mochte es nicht, mit Verantwortung belegt zu werden und wenn früher der Unterricht ausgefallen war und wir jemanden brauchten, der auf uns aufpasste, hatte er die alte Nachbarsdame damit beauftragt. Dad war alles andere als ein guter Vater, das hatte ich schon vor Langem begriffen. Aber es hatte mich nicht gestört, schließlich hatte ich ihn nie gebraucht.
 

Schließlich war Yamato da gewesen. Immer. Und ihn brauchte ich.
 

Kurz malte ich mir in den Gedanken aus, wie Dad wohl reagieren würde, wenn er von Yamatos Tat erfuhr. Wäre er wütend? Oder enttäuscht? Aber ich kam nicht weit. Es lag nicht nur daran, dass er sich sonst nicht für uns interessierte und es somit keine vergleichbare Situation gab, sondern daran, dass ich es mir nicht weiter vorstellen wollte.
 

Dad war der Meinung, dass man Kinder mit einer harten Hand erziehen müsste. Er schlug mich—und Yamato noch öfter. Es gab viel, was wir in seinen Augen falsch machten und es gab wenig, was wir richtig machen konnten. Yamatos Selbstmordversuch wäre sicherlich ein Fehler. Und wenn nicht, dann war die Tatsache, dass er die Hilfe von den Yagamis angenommen hatte, anstatt sich selbst darum zu kümmern, Fehler genug um beides zu decken. Denn Dad hasste es, wenn andere Leute von unserem Privatleben erfuhren, Dinge, die seiner Ansicht nach niemanden außer uns etwas angingen. Und sei es nur unsere Hausnummer.
 

Ob er Yamato für sein angebliches Vergehen schlagen würde?
 

„Wie lange ist er schon weg?“, fragte ich mit hohler Stimme.
 

„Ich weiß nicht genau… so um die vier, fünf Stunden. Vielleicht ein wenig mehr“, sagte Yuuko achselzuckend. „Aber wollt ihr nicht erst einmal etwas essen? Und euch was Trockenes anziehen? Sonst werdet ihr noch krank und das geht nun wirklich nicht.“ Sie lächelte, aber nicht einmal Hikari erwiderte es, obwohl sie sonst immer so heiter war. Sie schien an der Stimmung gemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte. Unruhig kaute sie auf der Unterlippe herum und strich über ihren nassen Rock.
 

„Ist das schlimm?“, fragte sie schließlich leise, wie als hätte sie den Einwurf ihrer Mutter nicht gehört. Ihre Frage richtete sich sowohl an mich, wie als auch an Taichi.
 

„Was ist schlimm?“, stellte Taichi die Gegenfrage.
 

„Dass Yamas Vater hier war und ihn abgeholt hat“, erklärte Hikari und schenkte mir einen flüchtigen, unsicheren Blick. „Ist das schlimm?“

Ich zuckte als Antwort mit den Schultern. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr von meinen Gedanken erzählen sollte.
 

Was würde sie dazu sagen, wenn sie erfuhr, was für ein verklemmter und herrischer Mensch mein Vater war? Würde sie dann überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben wollen? Oder war sie so wie Taichi und ließ sich von nichts und wieder nichts erschüttern, egal um wen es ging? Ich hoffte letzteres, aber sicher war ich mir nicht.
 

Schließlich hatte sie im Gegensatz zu Taichi anfangs auch einige Schwierigkeiten gehabt sich damit abzufinden, dass Yamato keine psychiatrische Mittel helfen konnten und er damit alleine fertig werden musste. Natürlich hatte sie es damit nur gut gemeint, aber das hätte vielleicht dazu geführt, dass sie mir meinen Bruder weg nahmen. Und allein deshalb war es in meinen Augen etwas Schlechtes.
 

Ich schluckte die Worte hinunter, die mir auf der Zunge lagen und wandte mich an Taichi. Er wirkte merkwürdig zerknirscht, wie als wäre ihm just in diesem Moment etwas äußert Unangenehmes aufgefallen. Als er meinen Blick bemerkte, erwiderte er ihn und verzog dabei den Mund, zog die Schultern hoch. Die Geste wirkte leicht trotzig. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu fragen, ob er mich nicht nach Hause fahren könnte. Dann müsste ich nicht durch den Regen laufen und wäre beim Ankommen noch einigermaßen trocken, zudem war es mit dem Auto um einiges schneller als zu Fuß.
 

Doch konnte ich das einfach so fragen ohne allzu unhöflich zu wirken? Schließlich war ich mit Hikari hier her gekommen, ich konnte sie doch jetzt nicht einfach so alleine lassen, denn eigentlich wollten wir zusammen Hausaufgaben machen.
 

„Willst du zu Yama?“, fragte Taichi nach einer Weile. „Ich könnte dich fahren.“
 

Verdutzt sah ich ihn.
 

Woher wusste er denn, dass ich jetzt lieber zu Yamato wollte, als hier zu sein?
 

Er blickte eindringlich zurück und mir wurde klar, dass er nicht irgendwie ahnte, dass ich hier weg wollte, sondern dass er hauptsächlich von seinen Gefühlen ausgegangen war. Und die Tatsache, dass er sich genauso um Yamato sorgte wie ich, überraschte mich. Bewies das nicht, dass er es wirklich ernst mit ihm meinte und ich nicht befürchten musste, dass er ihn einfach wieder fallen ließ, wenn er etwas Besseres erspäht hatte?
 

Wahrscheinlich.
 

Trotzdem machte es den Gedanken daran, Yamato teilen zu müssen, nicht leichter. Bisher war Yamato nur für mich da gewesen. Für mich alleine. Und jetzt… jetzt gab es Taichi.
 

„… ja“, sagte ich schließlich und schenkte Hikari ein entschuldigendes Lächeln. Sie zuckte nur mit den Schultern und erwiderte mein Lächeln. Ich war wirklich froh, dass sie mich verstand. „Das… das wäre wirklich nett von dir.“
 

Taichi sah kurz zu meiner Mutter und nickte dann in Richtung der Haustüre.
 

„Gehen wir“, meinte er knapp, angelte sich seine Jacke und zog sie sich über. An Hikari und seine Mutter gewandt fügte er hinzu: „Ich bin bald wieder da. Mal sehen, wann.“
 

„Das ist keine genaue Zeitangabe, junger Mann“, kritisierte Yuuko ihn schnippisch. „Spätestens um zwölf Uhr will ich dich heute wieder sehen. Dein Vater kommt heute nach Hause und wir haben einiges zu besprechen. Also trödele nicht so rum—und im größten Notfall rufst du an, verstanden? Lass das mit den SMS’ an Kari, die bekomm ich nämlich nie mit.“ Sie schenkte ihrer Tochter einen tadelnden Blick und Hikari lief verlegen rosa an.
 

Ich konnte nicht anders als dabei zu lächeln.
 

Yuuko war die Mutter für mich, die ich mir immer gewünscht hatte. Sie sah bezaubernd aus, sie war verständnisvoll, tolerant und gleichzeitig vernünftig und streng genug, um ihre Kinder zu erziehen. Unser Dad setzte uns nie Zeiten, zu denen wir zu Hause sein mussten. Und eine Mutter, die das hätte tun können, hatten wir nicht mehr. Manchmal machte Yamato das, aber nur halbherzig und sehr selten. Er wollte meistens nur, dass ich überhaupt irgendwann wieder zurück kam.
 

„Ist gut. Wird gemacht“, Taichi grinste sie schelmisch an, „und die nächste SMS geht auch an dich, Mum. Versprochen.“
 

„Das will ich auch hoffen!“, sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und umarmte ihn kurz. Dann wandte sie sich an mich und verabschiedete sich auf die gleiche Weise bei mir. Verdutzt sah ich sie an, aber Yuuko schien sich dafür nicht zu schämen. „Richtet Yamato von mir gute Besserung aus. Und das Angebot mit dem Wohnen steht immer noch—für dich auch Takeru.“
 

„Ich… ähm… danke“, stotterte ich verwirrt und kratzte über meine Ellenbeuge. Ich wusste nicht, was sie mit dem Angebot meinte. Wieso sollte Yamato hier wohnen? Für immer? Und ich auch? Was… ?
 

„Komm jetzt“, knurrte Taichi und packte mich am Arm, ich schaffte es gerade noch meine Jacke in die Finger zu bekommen. Taichi hob eine Hand zum Abschied und von Hikari ertönte ein lautes „Sagt Yamato von mir auch gute Besserung!“. Dann fiel die Türe hinter uns ins Schloss und das Licht und die Wärme, die im Haus noch geherrscht hatten, waren abrupt verschwunden.
 

Fröstelnd schlüpfte ich in meine Jacke, zog den Kragen hoch und sah zu Taichi.
 

„Mein Wagen steht da vorne“, sagte er und deutete mit dem Kopf auf eine große Gruppe von Bäumen. Ich nickte und folgte ihm rasch zu seinem Auto. Das dunkle Rot des Lacks glitzerte matt in dem prasselnden Regen. Mir fiel auf, dass neben dem Sportwagen noch ein zweites Auto stand. Größer, in schwarz und eindeutig ein Mercedes. Verwundert hob ich die Augenbrauen und sah zu Taichi, aber dieser war gerade damit beschäftigt seinen Schlüssel aus der Jackentasche zu kramen und mit einem leisen Piepen seinen Wagen zu öffnen. Kurz leuchteten die hellen Scheinwerfer durch die Dunkelheit, dann erloschen sie wieder.
 

Helle Pünktchen tanzten vor meinen Augen, während ich mich hastig auf den kalten, ledernen Sitz fallen ließ und die Türe hinter mir zuschlug. Taichi setzte sich hinter das Steuer, steckte den Schlüssel ein und startete mit einem sanften Brummen den Motor. Er drehte kurz an ein paar Knöpfen herum und schon konnte ich spüren, wie von allen Seiten eine laue Brise auf mich zuströmte. Der Sitz unter mir erwärmte sich langsam. Ich seufzte leise auf und ließ mich nach hinten sinken, während ich registrierte, dass das klamme Gefühl aus meinem Körper wich.
 

Taichi fuhr zwischen den Bäumen hervor, in Richtung des Tores und stoppte. Verwirrt sah ich zu ihm hinüber, aber er starrte mit verkniffenem Blick nach vorne, biss sich auf die Lippe. Mit einem beiläufigen Griff schaltete er das Fernlicht ein und ich zuckte erschrocken zusammen, als ich eine dunkle Gestalt erkannte, die hinter dem Tor stand. Die Eisenstangen glitten beiseite und die Person kam auf uns zu, langsam, die Schultern tief herab hängend, als ob er eine Tonnenschwere Last tragen würde.
 

„Wer ist…?“, fing ich an, aber da war Taichi auch schon aus dem Wagen gesprungen. Er packte die Gestalt an den Armen, zog sie mit sich in Richtung seines Autos und dabei rutschte ihr die nasse Kapuze vom Gesicht.
 

Vor Schreck verschluckte ich mich an meinem eigenen Atem.
 

Shusuke.
 


 


 


 


 

~ Yamatos POV ~
 


 


 


 


 


 

Kein Geräusch durchdrang die Stille.
 

Sie waberte um mich herum, lullte mich ein und verstopfte meine Ohren. Hockte in meinem Gehörgang wie dicke, undurchdringliche Watte. Ich konnte nicht einmal meinen eigenen Herzschlag hören. Meinen Atem. Um mich herum herrschte ein eisiges Schweigen, dass ich nicht durchbrechen konnte. Dass niemand durchbrechen konnte. Es drückte mich zu Boden, presste mich auf den alten, billigen Teppich und saß gackernd auf mir. Unsichtbare Finger strichen über meinen Hals, meine Brust, wieder hinauf und legten sich sanft um meinen Kopf. Drückten seitlich gegen meinen Schädel und ein hoher Piepston hallte hinter meinen Augen wider.
 

Ich sah mich um, doch in der Dunkelheit konnte ich nichts sehen. Meine Vorhänge waren zugezogen, der Rollladen hinunter gelassen worden. Die Wohnung hinter der Türe war leer, die Lichter waren allesamt ausgeschaltet. Mein Vater war fort. Schon seit einiger Zeit. Ich wusste nicht, wohin er gegangen war; wann er gegangen war. Er hatte mir noch einen wüsten Ausdruck an den Kopf geschleudert, ein letztes Mal gegen das Holz gehämmert und war dann verschwunden. Die Glühbirnen erloschen und die Schwärze war unter dem Türschlitz zu mir gekrochen, hatte sich neben mich gesetzt und mich mit weit geöffnetem Rachen angestarrt.
 

Ich spürte meinen Körper nicht mehr, obwohl ich mich noch bewegen konnte. Ich strich über meinen Unterarm und fühlte die Berührung, das federleichte Tasten meiner Hände auf meinem Arm, aber nicht das Gefühl des Kontakts in meinen Fingerspitzen. Als ob jemand anders meine Glieder führen würde, wie eine Marionette zur Belustigung meines dunklen Gasts. Kurz schloss ich die Augen, aber ich wusste nicht, ob ich es wirklich getan hatte. In der Wohnung war es dunkel. In meinem Zimmer war es dunkel. Hinter meinen Lidern war es dunkel.
 

In meinem Kopf war es dunkel.
 

Von draußen begann der Regen die Fensterscheiben zu trommeln und durchbrach die Stille im Raum wie ein Peitschenschlag. Ich zuckte zusammen, starrte nach vorne, aber ich konnte mein Fenster nicht erkennen. Noch immer war ich von Schwärze umgeben, die nicht einmal Schatten und Schemen erkennen ließ. Das Prasseln hämmerte gegen mein Trommelfell, lachte und gackerte leise. Dann begann er leise zu jaulen, ein getretener Hund in einem weit entfernten Käfig.
 

Vorsichtig hob ich die Hände, prüfte mit einem fahrigen Berühren der Finger, dass ich sie auch wirklich bewegte, und presste sich gegen meine Ohren. Das Rauschen wurde tiefer, das Piepsen kam zurück. Wurde laut, schrie kurz auf und verschwand dann abrupt. Das tiefe Rauschen blieb. Umso näher ich die Handflächen gegen die Seiten meines Kopfes presste, umso dunkler wurde es, bis es fast zur Gänze verschwand. Aber meine Arme konnten nicht in dieser Situation bleiben, meine linke Hand begann zu beben und zu zittern und ich ließ sie wieder sinken.
 

Das Prasseln schlug in voller Lautstärke wieder auf mich ein.
 

Ich rappelte mich hoch, stützte mich an der Tür ab und lehnte mich an das Holz. Meine Beine waren weich, als ob ich schon Tage regungslos hier gesessen und sie nicht mehr benutzt hätte. Dabei waren es doch höchstens einige Stunden gewesen… oder? Irgendwo dort im Dunkel stand mein kleiner, digitaler Wecker auf dem Nachttisch. Ich müsste nur hinüber gehen, auf die Spitze tippen und das Ziffernblatt würde aufleuchten. Aber meine Füße machten keinen Schritt. Blieben an Ort und Stelle, verwurzelt wie alte Bäume.
 

Meine Hand glitt an dem Türrahmen hinunter, über die blättrige, alte Farbe, bis ich das Schlüsselloch gefunden hatte. Zaghaft umfasste ich das kleine Stück Metal, ruckelte daran und begann ihn zu drehen. IM Uhrzeigersinn, zu mir hin. Einmal, Zweimal. Doch kurz vor dem dritten Mal stoppte ich. Ich wusste nicht wieso. Meine Hände machten einfach nicht weiter. Selbst als ich mich umdrehte, die zweite Hand dazu nahm und den Schlüssel fest mit beiden Händen packte, konnte ich nicht fortfahren. Dabei gab es keinen Grund, jetzt nicht endlich wieder aus meinem Zimmer zu kommen.
 

Dad war doch verschwunden. Er hatte aufgehört gegen das Holz zu hämmern und war gegangen. Er war verschwunden, verschwunden, verschwunden, verschwunden, ver—
 

Meine Arme zitterten, meine Hände umfassten bebend den Schlüssel. Ich lehnte die Stirn gegen die Tür, atmete tief ein und aus und merkte gleichzeitig, dass mein Atem sich nicht beruhigen wollte. Er wurde wieder panischer, die Luft strömte aus meinen Lungen heraus und presste sich dann wieder viel zu schnell hinein. Ich verschluckte mich, hustete und würgte. Presste meinen Oberkörper gegen das Holz, schloss die Lider und biss die Zähne zusammen. Meine Augen begannen heiß zu brennen, zu jucken und ich wusste, dass ich gleich wieder zu heulen anfangen würde.
 

Ich hielt die Luft an und drückte die Lippen zusammen. Zählte bis zehn. Bis zwanzig. Bis dreißig
 

Bunte Pünktchen begannen hinter meinen geschlossenen Lidern zu tanzen, drehten sich im Kreise und flogen über meinem Kopf durch die Luft. Beinahe schon panisch öffnete ich den Mund wieder, holte rasselnd Luft und lauschte meinem eigenen Atem, der sich langsam wieder rationalisierte. Hörte mir so lange zu, bis ich mich vollkommen beruhigt hatte. Mein Herz wieder in seinem normalen Rhythmus schlug. Mein Puls das Blut wieder in einem sanften Pumpen durch meinen Körper strömen ließ.
 

Mit einem Ruck drehte ich den Schlüssel ein letztes Mal herum. Es knackte laut, die Türe löste sich aus ihrer Starre und kam mir mit leichtem Druck entgegen, als ich die Klinke hinunter drückte. Der übrige Teil der Wohnung war genauso dunkel wie mein Zimmer. Glücklicherweise kannte ich mich so gut aus, dass ich nicht Gefahr lief, gegen eine Kommode oder einen Schrank zu laufen. Langsam tasteten sich meine Füße über den Boden, der alte, abgewetzte Teppich drückte seinen Borsten gegen meine Ballen als ob er mich zurück halten wollte.
 

Ich blieb stehen, kratzte mich am Knöchel. Hörte ein lautes Rascheln, Stimmen im Flur und erstarrte. Noch bevor ich die Möglichkeit hatte wieder zurück in mein Zimmer zu flüchten, in irgendein anderes Zimmer oder auch nur ansatzweise in Deckung zu gehen, sperrte jemand von außen die Wohnungstür auf und platzte laut polternd hinein.
 

Grelles Licht stürmte herein, stürzte sich auf meine geweiteten Pillen und ich riss erschrocken die Hände vors Gesicht. Die fremden Stimmen rauschten in meinem Kopf und ich brauchte einen Augenblick, um mein Herz zu beruhigen, das seinen Marathon von vorhin wieder aufgenommen hatte. Dann nahm ich die Hände wieder runter, erkannte die Personen vor mir und trat überrascht einen Schritt zurück. Stolperte beinahe über meine eigenen Füße.
 

„T—Taichi? Takeru?“, hauchte ich perplex und dann fiel ich doch noch nach hinten, als ich die dritte Person im Bunde erkannte, die gebückt und mit gesenktem Kopf hinter meinem Bruder und meinem Freund stand. „Shusuke?“
 

Shusuke zuckte bei der Erwähnung seines Namens zusammen, hob den Kopf und sah aus blutunterlaufenen Augen zu mir hinüber. Er sah so schlecht aus, wie ich mich fühlte und für einen kurzen Moment verspürte ich Mitleid mit ihm. Ich biss mir auf die Unterlippe, hinderte das lodernde Mitgefühl in meinem Innern daran auszubrechen. Die drei Jungen zogen sich die Schuhe aus, Takeru schloss die Türe und schaltete das Licht im Flur ein. Als ich Taichis graues Gesicht besser erkennen konnte, war ich erleichtert und fühlte mich gleichzeitig schlecht. Sah er wegen mir so grauenvoll aus?
 

„Hey, Yama“, sagte Taichi erschöpft, schenkte mir ein erleichtertes Lächeln und kam auf mich zu. Zog mich an seinen warmen, großen Körper und ich lehnte mich widerstandslos an ihn. Schlang die Arme um seine Hüfte und atmete seinen herben, maskulinen Geruch ein. Es tat gut, ihn so nah zu spüren. Nach dem Streit mit meinem Vater brauchte ich das, seine Nähe, die Zuflucht, die er mir bot, das Vertrauen, das durch jede seine Poren zu strömen schien. Ich spürte, wie er mich sanft auf den Kopf küsste und lächelte.
 

„Wieso seid ihr hier?“, fragte ich leise, löste mich ein Stück von ihm und sah zu ihm hinauf. Sein Gesicht hatte allein in den letzten paar Sekunden ein wenig mehr Farbe bekommen, er wirkte wieder lebendiger und das Lächeln auf seinen Lippen fröhlicher.
 

„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht“, antwortete mein Bruder an Taichis Stelle, stellte sich neben uns und musterte mich nachdenklich. „Ist auch alles in Ordnung mit dir? Was hat Dad gemacht? Habt ihr euch gestritten?“ Er strich mir besorgt eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ich fing seine Hand ein und drückte sie beruhigend.
 

„Keine Angst, mir geht’s gut, ehrlich.“
 

„Dafür siehst du aber ziemlich scheiße aus“, bemerkte Shusuke brummend von seinem Platz aus, direkt neben der Garderobe.
 

„Du siehst nicht besser aus“, fauchte ich reflexartig zurück und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen, als Shusuke ertappt zusammen fuhr. Er biss sich auf die Lippe, wich meinem Blick aus und zog die Schultern hoch. Sein dunkles Haar betonte die Ringe unter seinen Augen, er war merkwürdig blass und seine Lippen blutig gebissen.
 

„Jetzt geht euch nicht gleich wieder an die Gurgel“, fuhr Taichi hastig dazwischen. „Shusuke ist hier, um mit dir zu reden. Und ich will, dass du ihm zuhörst – nur einmal. Bitte Yama.“
 

Ich seufzte leise. Ich wollte mich nicht von Taichi lösen, seine warmen Hände auf meinem Rücken missen, und erst recht wollte ich mich nicht mit Shusuke unterhalten. Er war sicherlich ein netter junger Mann, möglicherweise annähernd intelligent und humorvoll. Aber das zählte für mich nicht. Yuri und er hatten mich fünf Jahre lang fast täglich geschlagen, manchmal so schlimm, dass ich an etlichen Stellen blutete und die blauen Flecken über Monate nicht mehr verschwanden.
 

Es würde durch ein einfaches Tut mir leid nicht wett gemacht werden. Worte wogen nicht gegen Fäuste auf.
 

„… in Ordnung“, antwortete ich schließlich leise, mied Shusukes Blick und sah stattdessen zu meinem Bruder. Takeru lächelte mich aufmunternd an, reckte beide Daumen in die Höhe und ich wünschte mir einmal mehr in meinem Leben, dass ich mir etwas von seinem Optimismus leihen könnte, um endlich alles so positiv zu sehen wie er. Er hatte eine genauso schwere Vergangenheit gehabt wie ich, aber er ließ sich nicht davon nieder machten. Er hatte keinen Nervenzusammenbruch, keine hysterischen Anfälle. Er schlitzte sich nicht die Pulsadern auf. Er war stark. Er war fröhlich. Er war mein kleiner Bruder.
 

Irgendwo in meiner Brust glühte ein kleiner Funken Stolz.
 

Ich ging ins Wohnzimmer, Shusuke folgte mir. Takeru und Taichi blieben im Flur und ich wollte schon den Mund öffnen, sie fragen, warum sie uns alleine ließen, aber sie schüttelten beide nur den Kopf und ich schwieg. Da ich annahm, sie wollten, dass wir uns in Ruhe aussprachen, lehnte ich die Türe an. Shusuke setzte sich zögernd auf die Couchkante, als hätte er Angst, sie könnte ihn fressen. Sein Blick schweifte unruhig durch den Raum, blieb an mir hängen und wanderte hastig wieder davon.
 

Schweigend setzte ich mich neben ihn.
 

„… hast du geweint?“, fragte er mich nach einer Weile leise und ich stutzte überrascht. Woher –
 

„Deine Augen sind rot“, er zeigte auf mein Gesicht und ein sanftes Lächeln huschte über seine Züge. Ich war viel zu perplex, um auch nur in irgendeiner Weise zu reagieren. Starrte ihn nur an, wie er seufzte, das Kinn auf den Händen abstützte und zu unserem Fernseher sah. Er war nicht an, der Bildschirm war schwarz, aber das schien Shusuke nicht zu stören.
 

„D-deine auch“, platzte es schließlich aus mir heraus und er sah zu mir, offenbar überrascht, dass ich überhaupt etwas sagte.
 

Dann lachte er leise. Freudlos und ein klein wenig verzweifelt.
 

„Kein Wunder. Ich hab die ganze letzte Nacht geheult wie ein Kleinkind und heute Morgen auch noch“, sagte er und schien dabei ein wenig beschämt. Auf seinen blassen Wangen erschien ein sanfter Rosaschimmer, der ihn gleich ein wenig gesünder aussehen ließ. „Ich… ich war richtig deprimiert. All der Mist mit Selbstmitleid und… hm, meistens hab ich wegen dir geheult.“
 

„Wa… wegen mir?“, hauchte ich irritiert. „Aber wieso?“
 

„Weil… tja“, er verzog den Mund, „Weil ich ein ziemlicher Idiot bin. Ein Arsch. Ein dummer, dummer Egoist. Weil ich dich vier –“
 

„—fünf“, rutschte es mir heraus, aber Shusuke nahm es mir nicht übel.
 

„Weil ich dich fünf Jahre lang geschlagen habe. Ich bin einfach ein… ein Trottel“, er sah auf seine Hände, krallte sie nervös ineinander, um das Zittern zu unterdrücken. Im Moment wirkte er zerbrechlich, angreifbar. Einsam und elend. Nie hätte ich mir vorstellen können, ihn einmal so zu sehen. Gerade Shusuke, der mich geschlagen hatte, der immer ein so großes Ego, ein so großes Selbstbewusstsein an den Tag gelegt hatte und sich von nichts und wieder nichts unter kriegen ließ. „Ich… willst du wissen, wieso wir mit dem Mist angefangen haben? Wieso ich damit angefangen und Yuri dann da mit rein gezerrt habe?“
 

Ich wollte es nicht hören.
 

Der Grund würde die Narben nicht verblassen lassen, genauso wenig wie seine Entschuldigung. Seine Reue. Aber Taichi hatte gesagt, dass ich ihm zuhören sollte. Damit ich ihm verzeihen konnte. Noch war ich mir nicht ganz sicher, ob ich das konnte. Nach fünf Jahren, in denen sich mein Magen vor Angstkrämpfen praktisch in Nichts aufgelöst hatte, fiel es mir schwer an so etwas wie Vergebung überhaupt zu denken. Schließlich konnte er sich nicht damit heraus reden, dass er nicht gewusst hätte, was er da tat. Er war jedes Mal bei vollem Bewusstsein gewesen, genauso wie Yuri, sein kleiner, greller Freund, und sie waren oft genug hämisch und demütigend gewesen. Sie hatten mich nicht nur physisch verletzt, sondern auch psychisch so unter Druck gesetzt, dass ich mich manchmal Morgens vor der Schule mehrere Male übergeben hatte, so sehr hatte die Panik mir zugesetzt.
 

Trotzdem nickte ich.
 

„Ja.“
 

Shusukes Mundwinkel zuckten erneut, in einem kläglichen Versuch ein Lächeln zu bilden.
 

„Ich…“, er atmete tief durch. „Ich…. bin in dich verknallt, Yamato. Schon seit ich sieben oder acht Jahre alt bin.“
 

Entsetzt starrte ich ihn an.
 

„Wa–?!“
 

„Richtig gehört“, schnitt er mir das Wort ab, vergrub das Gesicht in den Händen und gab ein trockenes Schluchzen von sich. „Ich bin so heftig in dich verknallt, dass ich seit Jahren nur noch von dir Träume. Nachts und tagsüber auch. Sogar wenn ich mir einen runter hole denke ich an dich! Und verdammt, ich hasse mich dafür! Ich hasse es, dass ich in dich verliebt bin. Und… o Yamato, es tut mir so leid. Ich war so wütend, dass… dass dir nie aufgefallen ist, dass ich dich liebe. Ich konnte sagen, was ich wollte, du hast es einfach nicht gerafft! Und wenn ich versucht habe, dir näher zu kommen, bist du auf Abstand gegangen. Irgendwann bin ich dann ausgerastet. Und ich hab mit Yuri drüber geredet. Und—und er meinte, wenn er so sehr in jemanden verknallt wäre und der würde es nicht merken, dann würde er ihm in schlimmsten Falle gewaltsam zeigen, wie sehr er ihn mochte!“ Er japste, biss sich auf die Lippe und holte tief Luft.
 

„Ich hab natürlich total überreagiert. Ich hab—ich hab dich geschlagen und es tat mir so leid, aber ich konnte nicht aufhören! Solange ich dir weh tat, war ich dein Mittelpunkt. Du hast immer nur mich angesehen und—und das war so… ich hab mich so gut gefühlt… Endlich hatte ich deine volle Aufmerksamkeit! Du hast mich in den Pausen beobachtet, genauso wie ich dich immer beobachte. Und im Unterricht auch. Ich – Herrgott, ich weiß, dass ist alles so scheiße von mir. Aber ich konnte einfach nicht aufhören. Ich wollte nur… ich wollte nur, dass du mich so ansiehst, wie du Taichi ansiehst… nur ein einziges Mal“, ein kläglicher Laut entschlüpfte seiner Kehle und ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er weinte.
 

Starr vor Schreck saß ich neben ihm und konnte mich nicht rühren, wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Atem und sein ersticktes Schluchzen waren das einzige Geräusch in dem sonst so stillen Raum. Es war kalt, niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Heizung anzuschalten und ich sah die sanfte Gänsehaut auf Shusukes Unterarmen. Er zitterte am ganzen Körper und ich fühlte einen stechenden, brennenden Schmerz, der nicht körperlich war. Und obwohl ich mir fest auf die Lippe biss, verschwand er nicht.
 

Ich hatte Mitleid mit ihm. Mit Shusuke. Ich war dabei ihm zu verzeihen, dabei wollte ich das doch gar nicht. Er hatte mir weh getan. Er hatte die letzten Jahre auf der Schule für mich zur Hölle gemacht, ich hatte meinen Bruder wegen ihm angelogen. Ich hatte mir selbst die Nase gerichtet, als er sie gebrochen hatte! Ich hatte meine eigenen Wunden flicken müssen, während er mit seinem dummen Freund in der Besenkammer rum machte! Er… war ein rabiater Arsch. Diese…Ausrede war ein grauenhaftes Klischee; es war lächerlich! Wenn er mich liebte, wenn er es wirklich tat, dann hätte er nicht zur Gewalt gegriffen, ganz gleich was sein minderbemittelter kleiner Freund dazu gesagt hätte.
 

Ein harter, schmerzhafter Knoten krampfte sich in meinem Magen zusammen, der nicht fort ging. Ein Knoten aus all den Erinnerungen an Schmerz und Tränen und Blut und blaue Flecken und Schürfwunden. Die Erinnerung brannte hinter meinen Augen, während ich wusste, dass das fehlende Feuer der Wut bedeutete, das sich dabei war, ihm wirklich zu verzeihen.
 

Aber ich wollte ihm nicht verzeihen.
 

Vorsichtig streckte ich die Hand aus, berührte ihn zaghaft an der Schulter und er fuhr mit einem lauten Keuchen zusammen. Seine gehetzten, wässrigen Augen suchten meine, hielten meinen Blick fest und sahen mich verständnislos an.
 

„Es… es tut mir wirklich leid“, flüsterte er mit belegter Stimme. „Wirklich Yamato. I—ich weiß, dass das durch ein paar Worte nicht wieder ungeschehen gemacht werden kann. Ich weiß, dass… dass wir dir unglaublich weh getan haben, aber… Yamato, es tut mir so leid. Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurück spulen und alles zurück nehmen. Alles, wirklich. Es tut mir so leid.“ Seine Wangen waren tränennass und für einen kurzen Moment zwickte mich die Schadenfreude, doch ich schupste sie zurück. Atmete tief durch.
 

Ich konnte ihm nicht für immer böse sein oder? Irgendwann würde es mich mehr zerstören als ihn…
 

Zaghaft nahm ich seine zitternde Hand in meine, merkte, dass auch meine Finger leicht zitterten, und erwiderte seines fassungslosen Blick. Sein Mund ging auf und zu, wie der von einem Karpfen, er schnappte nach Luft, sagte ein oder zwei Mal meinen Namen, aber er gab keinen sinnvollen Satz von sich. Sein Blick klebte auf mir, seine Finger verkrallten sich fest mit meinen. Er legte seine zweite darüber, drückte zu und sah mit glasigem Blick zu Boden. Seine Unterlippe zitterte verdächtig, aber ich sagte nichts. Ich hätte gar nicht gewusst, was.
 

„… danke, Yamato“, wisperte er nach einer Weile nur, seine Stimme ein leiser Hauch, der warm meinen Handrücken streifte.
 

Stumm sah ich ihn an.
 

„D-doch, ehrlich“, er lächelte kläglich, „das bedeutet mir wirklich viel. Ehrlich.“
 

Er hatte ein bisschen mehr Farbe im Gesicht als vorher. Seine Augen wirkten nicht mehr so trüb. So leer. Mit einem sanften Seufzen richtete er sich auf, drückte den Rücken gerade durch und sah zu mir. Ich konnte seinen Blick nicht deuten. Er leckte sich langsam über die Lippe, musterte mich und dann lief er klein wenig rosa an.
 

„Darf ich… ich meine, wü—würde es dir etwas ausmachen, wenn… wenn ich dich umarme?“
 

Wie bitte?
 

„Um… na ja, um es zu besiegeln. Ich tu sonst auch nichts, versprochen“ –für einen winzigen Augenblick schlich ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht– „ich weiß ja, dass du Taichis Eigentum bist.“
 

Meine Wangen begannen zu glühen, ich wusste, dass ich regelrecht leuchten musste wie eine Verkehrsampel und zuckte unschlüssig mit den Schultern, ein unangenehmes Gefühl im Bauch; am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen. Er näherte sich mir zaghaft, legte seine Hände auf meinen Rücken und drückte kurz seinen kantigen Körper an meinen. Es fühlte sich anders an, als jegliche Umarmungen mit Taichi. Ungewohnt. Kühler. Vorsichtig fuhren meine Hände hoch zu seinen Schultern, krallten sich sanft in sein T-Shirt und überrascht merkte ich, dass der Stoff feucht war. Aber ich fragte nicht, warum. Stattdessen lauschte ich seinem warmen Atem, der auf mein Schlüsselbein traf, spürte sein wild hämmerndes Herz.
 

Dann löste er sich wieder von mir. Behutsam, jede Bewegung in Zeitlupe ausgeführt. Seine braunen Augen sahen mich gutmütig an, mit dem Hauch eines Lächelns. Ich wusste nicht recht, was ich erwidern sollte. Shusuke ließ den Kopf wieder sinken, sah hinunter auf seine Hände und seine Lippen formten lautlose Worte. Er kratzte sich über die Wange. Sagte nichts mehr.
 

Kraftlos sank ich zurück in die Kissen, spürte Shusukes Präsenz neben mir regungslos auf der Couch. Er rührte sich nicht, nur seine Augen strichen ruhelos durch den Raum. Fanden einen Fixpunkt und blieben wie hypnotisiert darauf kleben. Ich wandte mich, folgte seinem Blick zu dem Regal, das neben dem Fernseher stand, bis hin zu dem kleinen Bilderrahmen und dem alten, vergilbten Foto.
 

Das unscharfe Profil von Mum, ein kleiner, lachender Takeru und ein kleines, schlafendes Ich zusammen auf einer bunten Picknickdecke, im Hintergrund ein Spielplatz.
 

Neben mir schniefte Shusuke, räusperte sich leise und ich spürte den durchdringenden Blick seiner Augen auf meinem Gesicht. Aber ich weigerte mich, ihn anzusehen. Eine Weile blieb es noch still zwischen uns, während ich unverwandt auf das Bild starrte und mich an den kleinen fremden Jungen erinnerte.
 

An Shusuke.
 

„Also…akzeptierst du meine Entschuldigung?“, fragte Shusuke schließlich zögerlich und rutschte unruhig auf dem Sofa umher, schluckte laut.
 

Ich nickte und hörte ihn erleichtert ausatmen, nur um dann den Atem anzuhalten;
 

„Aber das heißt nicht, dass ich dir verzeihe.“
 


 


 


 


 


 

Part XVII
 

END
 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

tbc...
 


 


 


 


 

Happy New Year!
 

Mein Neujahrsgeschenk an euch, ein neues Kapitel. Ein riesiges Dankeschön, an alle Leser und natürlich an alle, die so fleissig und so lieb kommentieren (Sethan, abgemeldet, Heromi, GeezKatsu, SayuriKon, Mirrowdothack, kitty007, Seto, u.v.m), ihr seid wirklich mein größter Antrieb! Es freut mich, dass ihr der Geschichte immer noch folgt, obwohl ich immer so lange mit neuen Kapiteln brauche.
 

Ab jetzt geht es in den Endspurt, nur noch 2 Kapitel!
 

Love you guys



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Kommentare zu dieser Fanfic (194)
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Von:  ParadoxKanata
2017-03-03T23:07:29+00:00 04.03.2017 00:07
Es ist echt schade das hier nichts mehr kommt :(
Dabei sind es nur noch zwei kapitel....
Von:  salud01
2016-08-01T19:37:19+00:00 01.08.2016 21:37
bin gerade wieder nach langem auf die FF gestoßeb, habe alle kapitel fast in einem Ruck nochmal gelesen und obwohl es ja schon lange her ist war gleich wieder gefesselt!!!!
Die FF ist wirklich spitze und ich hoffe sehr, dass es vielleicht doch weiter geht, denn ich bin unheimlich gespannt was passiert.
Die FF ist einfach viiiiiiiiel zu gut als das sie abgebrochen werden könnte ^^
lg
salud
Von:  kitty007
2015-02-01T12:27:15+00:00 01.02.2015 13:27
Kann mich gilgamesh nur anschließen ^.^

Schnell weiter schreiben!
Von:  gilgamesh-2009
2014-01-07T19:43:53+00:00 07.01.2014 20:43
ich weiß echt nich was ich schreiben soll .... ich liebe deine taito und hoffe das es bald wieder weiter geht ^^

viel erfolg beim schreiben <3
Von:  Seto
2013-10-17T13:17:28+00:00 17.10.2013 15:17
Wieso kenne ich deine FF nicht? Dabei ist sie so gut, so mitreisend, so Unbeschreiblich!
Die Thematik ist ziemlich krass, aber sowas ernstes lese ich sogar lieber als fluffige Lemons.

Und ich habe mir deine Geschichte nun in 2 Tagen rein gezogen, statt zu lernen, einfach weil mich die Gedanken daran einfach zu sehr festgehalten haben.
Ich mag die Dramatik und noch mehr mag ich die kleinen schönen Lichtblicke zwischen Taichi und Yamato, die die schlechte Welt ein wenig schön erscheinen lassen. Und wo ich am Anfang noch gedacht hätte das Taichi ein kleines angeberisches Arschloch sein könnte, ist er wunderbar niedlich und hilflos sobald es um Yamato geht. Ja die Liebe lässt auch den größten Macho erweichen.
Mit tut Yamato übrigens mächtig leid, ich kann ihn ein wenig verstehen, aber so einen starken Willen hätte ich nicht gehabt fast 10 Jahre alles hinzunehmen wie es ist und nix dagegen zu tun. Es muss höllisch schmerzen sogar für die eigene Familie nur selbstverständliche Luft zu sein.

Und ich hoffe auch das du deine Geschichte noch zu ende bringen wirst (am liebsten natürlich schon morgen 8D), sie ist es alle mal Wert und ich werde sehnsüchtig den nächsten Teil erwarten wo Taichi der Held seinen kleinen Prinzen Yamato wieder retten kann, hoffentlich.
Von:  kitty007
2013-06-24T20:28:37+00:00 24.06.2013 22:28
was soll man da noch sagen... mitreißend.. wahnsinn.. hammer geil
Von:  Mirrowdothack
2013-05-23T22:50:14+00:00 24.05.2013 00:50
Ich glaube, ich errichte dir und deiner Tastatur jetzt mal eben einen Schrein. Ich liebe diese FF immer noch so total und wollte dir das nur mal "so total random" sagen XD - Immer wenn die ENS kommt mit "Neues Kapitel" finde ich mich in einem wunderschönen Licht eingehüllt vor meinem Monitor sitzend mit funklenden Augen und mit Schoki ^^
Von:  SayuriKon
2013-04-16T19:45:13+00:00 16.04.2013 21:45
So, jetzt komme ich auch endlich mal dazu ein Kommentar zu hinterlassen :)
Ich bin ganz schön geflasht.
Ich muss ehrlich sagen, dass ich noch nicht mit einem Auftritt seines Vaters gerechnet hatte :D
Das die beiden irgendwann aufeinander treffen müssen, war klar.
Herr Ishida ist aber auch echt nen schwieriger Charakter und ich finde es so schrecklich, dass er seine ganzen eigenen Probleme an seinen Kindern auslässt.
Es war schön zu sehen, dass Yamato am Ende der Kragen geplatzt ist, auch wenn die Konsequenzen eher nicht so angenehm sind.
Taichi wollte ihm nur Gutes tun und es ist leider etwas schief gegangen.
Und weißt du was?
Ich habe die ganze Zeit gedacht, als Yamato seinen Vater so angemacht hat, dass Herr Ishida sich endlich mal entschuldigt und sowas wie Mitgefühl zeigt. Die ganze Zeit! Und immer wurde ich enttäuscht, auch wenn er leicht geschockt war, so wurde er dennoch immer wieder wütend.
Echt fies :D

Ich hoffe man liest sich bald wieder :)
Bis dann!
Von:  GeezKatsu
2013-03-22T09:41:22+00:00 22.03.2013 10:41
Tja. Ich weiß jetzt nicht, was ich sagen soll. Bin etwas... sprachlos^^

Zuerst muss ich zugeben, dass ich ne Weile brauchte, um wieder in die Story rein zukommen. Aber nach einigen Absätzen klappte es ganz gut und erinnerte mich auch wieder an den Plot.

Man kann nicht wirklich sauer auf Taichi sein. In dieser Situation hätte jeder der etwas Charakterstärke besitzt versucht, den älteren Ishida den Kopf zu waschen. Jeder geht mit seinem Schmerz anders um, aber nicht Yamato sollte sich mit einem Psychiater unterhalten, sondern ne Familiensitzung würde ihnen ganz gut tun.
Du hast es so Realitätsgetreu beschrieben, dass ich langsam den Verdacht hege, du studierst Psychologie^^ Zumindest beschäftigst du dich sehr intensiv damit.

Yamato war vorher sehr ruhig und bedacht. Seine Gefühlswelt spielte sich nur in seinem Inneren ab und wie meine Vorgänger es schon sagten, man sollte seinen Hut vor ihm ziehen, das er seinem Vater die Meinung gesagt hat, wie er sich fühlt. Irgendwann (früher oder später) bricht alles aus einem hinaus und bei ihm war es da der Fall.

Wenn Herr Ishida sein Verhalten nicht mal überdenkt, wird es bald eine Explosion geben. Vorrausgesetzt dass Yamato jetzt nichts dummes in seinem Zimmer tut.
Apro pro Zimmer: man kann ein Schloss immer nur 2x umdrehen, nicht 3x. Wenn du ein solches Schloss kennst, verlange ich einen Nachweis, denn das will ich auch :P

Es war ... naja, ein schönes Kapitel trifft es nicht ganz. Also "schön" war es schon - schön geschrieben, schön rausgearbeitet ect. Aber es war sehr ernst gewesen vom Inhalt her und muss es selbst erstmal verarbeiten^^ Mein Leben besteht aus dem Alltag einer allein erziehenden Mama, da kommt so etwas nicht vor. Doch wieder hast du meinen Tag auf den Kopf gestellt. Das passiert mir immer, wenn ich ein neues Kapitel von dir lese.
Das solltest du als Kompliment sehen, wenn man soweit bei einem Leser vordringt ;)

Von:  Heromi
2013-03-21T11:48:26+00:00 21.03.2013 12:48
Made my day!
Immer wenn so ein richtig beschissener Tag kommt, erscheint plötzlich ein Lichtblick: Neues Kapitel!
Ich liebe diese FF so unheimlich T_T Man kann sich richtig in die Charaktere reinfühlen und das ist es doch, was eine gute Geschichte ausmacht... auch wenn ich jetzt kurz vorm heulen bin xD


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