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Code Geass: Fügung

Von missglückten Plänen und zweiten Chancen
von

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Fügung

„Du wirst diese Sache niemandem gegenüber erwähnen“, sagte Clovis zu dem hageren jungen Mann vor ihm, den er eigens zu diesem Zweck noch einmal zu sich bestellt hatte und der ihn nun aus großen Augen anstarrte. „Niemandem. Hast du das verstanden?“

Der bemitleidenswerte Soldat nickte eifrig, und als ihm klar wurde, dass das nicht genügen würde, presste er hervor: „Ja, Euer Hoheit.“

Clovis betrachtete ihn noch einen Moment länger mit eisigem Blick, dann nickte er. „Du kannst gehen“

Das ließ sich der Betroffene nicht zwei Mal sagen. Hastig salutierte er und verließ den Raum in einer Geschwindigkeit, die seinem Vorgesetzten Grund dazu gegeben hätte, ihn aufgrund himmelschreiender Respektlosigkeit bestrafen zu lassen, wären die Umstände andere gewesen. So jedoch konnte der junge Soldat sich glücklich schätzen, dass derlei Trivialitäten im Augenblick das Letzte waren, was Clovis la Britannia beschäftigte.

Der Dritte Prinz des Heiligen Britischen Reiches wartete, bis sein Untergebener die Tür hinter sich geschlossen hatte; dann wandte er sich wieder der Person zu, die in der Mitte des spärlich beleuchteten Raumes an einen Stuhl gefesselt war.

Sein kleiner Bruder hob den Kopf und bedachte ihn mit einem Blick, als wäre er ein verabscheuungswürdiges, wenngleich giftiges Insekt, und Clovis fragte sich, wie er diese Sache jemals wieder in Ordnung bringen sollte.
 

~
 

Lelouch hatte es schon lange aufgegeben, gegen seine Fesseln anzukämpfen, aber das hinderte ihn nicht daran, seinen Halbbruder hasserfüllt anzustarren.

Nachdem sein Vorhaben, die Welt zu verändern, auf unspektakuläre und erniedrigende Art und Weise gescheitert war, als ein übereifriger Soldat sich ohne ausdrückliche Erlaubnis in Clovis’ Kommandozentrale gewagt und die Geistesgegenwart besessen hatte, ohne zu zögern auf den bewaffneten Eindringling zu schießen, den er dort vorgefunden hatte, waren beinahe zwei Tage vergangen, in denen Lelouch nichts weiter getan hatte, als alleine in einer dunklen Zelle zu sitzen, Kerben in tristen Betonwänden zu zählen und darauf zu warten, dass sich irgendetwas tat.

Die Verletzung, die er bei seiner Gefangennahme erlitten hatte, war wie durch eine Fügung des Schicksals nichts weiter gewesen als ein Streifschuss, und so wunderte es ihn nicht, dass sein Halbbruder sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihm professionelle medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Dennoch fragte er sich, was Clovis damit bezweckte, ihn hier festzuhalten.

Er hatte erwartet, dass sein unliebsamer Verwandter ihn entweder still und heimlich beseitigen lassen oder versuchen würde, die Gunst des Kaisers zu gewinnen, indem er ihm kurzerhand ein politisches Werkzeug mehr zur Verfügung stellte, aber stattdessen hatte es für mehr als vierundzwanzig Stunden so ausgesehen, als hätte Clovis ihn ganz einfach vergessen – keine Nahrung, kein Wasser, nicht einmal Wachen vor seiner Zelle, und Lelouch hatte bereits zu glauben begonnen, sein Bruder hätte beschlossen, sich seiner auf diese Weise zu entledigen, ohne sich dabei selbst die Hände schmutzig machen zu müssen.

Aber dann war plötzlich derselbe dunkelhaarige Mann erschienen, der ihn zuvor auch angeschossen hatte, und hatte Lelouch in diesen Raum gebracht, der beinahe ebenso karg eingerichtet war wie seine Zelle, aber ganz offensichtlich für Befragungen gedacht war. Lelouch hätte sein Geass an dem Soldaten einsetzen können, aber zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht gewusst, dass es kein zweites Mal Wirkung an Clovis zeigen würde, und in seiner Ignoranz hatte er sich in sein mögliches Verderben führen lassen wie ein Lamm zur Schlachtbank; nur, weil er die Sache mit seinem Bruder so subtil wie möglich hatte zu Ende bringen wollen.

Widerstandslos hatte er sich an den sichtlich betagten, aber soliden Stuhl aus dunklem Holz fesseln lassen und anschließend ungerührt dabei zugesehen, wie der Soldat, der ihn die ganze Zeit über nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatte, den Raum wieder verlassen und die Tür hinter sich verriegelt hatte. Dann, wenig Stunden später, war Clovis eingetreten und hatte ihn mit nichtssagender Miene betrachtet, und Lelouch hatte den Blick erwidert und ihm befohlen, seine Fesseln zu lösen.

Als sein Bruder die Anweisung nicht sofort befolgt und ihn lediglich überrascht angestarrt hatte, war Lelouch für einen langen Moment perplex gewesen; aber dann hatte er begriffen, und als sein Bruder auf ihn zugekommen war, die Hand unter sein Kinn gelegt und ihm direkt in das rotglühende Auge gesehen hatte, hatte Lelouch nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

„Geass…“, hatte Clovis gesagt, in kaum mehr als einem tonlosen Flüstern, und Lelouch hatte sich gefragt, woher sein Bruder diese Bezeichnung kannte.

Für die Dauer mehrerer Atemzüge hatte Clovis ihn einfach nur angestarrt, ungläubig, beinahe furchtsam, und doch wie gebannt von der übernatürlichen Macht, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Dann hatte er sich von einer Sekunde auf die nächste wieder gefangen, war von ihm zurückgetreten und hatte seinen Untergebenen zurückgerufen, um diesem in einem merklich unterkühlten Tonfall Instruktionen zu geben, die Lelouch in seinem Verdacht bestätigt hatten: Clovis hatte nicht vor, irgendjemanden von seiner Existenz wissen zu lassen.

Und nun, da die einzige Ausnahme zu dieser Regel den Raum zum zweiten Mal wieder verlassen hatte, würde Lelouch vielleicht auch endlich erfahren, was der Gouverneur von Gebiet Elf stattdessen mit ihm zu tun gedachte.
 

Zu seiner großen Frustration jedoch schien Clovis es nicht sehr eilig mit Erklärungen zu haben, und kaum, dass er sich zu Lelouch umgewandt hatte, betrachtete er ihn auch schon wieder schweigend und mit einem Gesichtsausdruck, den Lelouch nicht zu deuten vermochte.

Also beschränkte der Junge sich darauf, ebenso wortlos zurückzublicken, wobei er keinen Hehl aus der Abscheu machte, die er für seinen Halbbruder empfand.

Auf diese Weise vergingen mehrere Minuten, bevor Clovis endlich sprach.

„Ich tue das hier wirklich nicht gerne“, behauptete der blonde Prinz dann und machte ein paar Schritte auf ihn zu. „Aber in Anbetracht der Umstände hatte ich nicht sonderlich viele Optionen.“

Etwa einen Meter vor ihm blieb Clovis stehen und sah abwartend auf ihn herab, und Lelouch stieß einen kurzen, höhnischen Laut aus. „O ja. Ich bin sicher, es bricht dir das Herz.“

„Lelouch…“

Die Stimme seines Bruders war weich, beinahe flehend, aber Lelouch achtete nicht darauf. Er schnaubte verächtlich. „Was kommt als nächstes, Bruder? Hast du vor, mich hier unten verrotten zu lassen, oder ist dir inzwischen etwas Besseres eingefallen?“

Clovis zuckte zusammen. „Lelouch…“

„Du bist erbärmlich, Clovis.“

Sein Bruder sah aus, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige verpasst, und für einen kurzen Moment empfand Lelouch Genugtuung, die größer war als seine Verachtung.

Dann wurden Clovis’ Züge wieder ausdruckslos, und er trat zurück. „Es tut mir leid, dass dir meine Gesellschaft so sehr zuwider ist“, sagte er tonlos. „Ich werde den Kaiser noch heute benachrichtigen. Spätestens übermorgen solltest du wieder in Britannien sein.“

Alles, was auf das Wort „Kaiser“ folgte, hörte Lelouch kaum noch. Bei der Erwähnung des Mannes, den er mehr hasste als alles andere, erstarrte er, und als ihm der Zusammenhang klar wurde, zog sein Magen sich schmerzhaft zusammen. Er hatte damit gerechnet, dass die Reaktion seines Bruders auf seine geringschätzigen Bemerkungen keine besonders angenehme sein würde – er hatte sich auf ein Spiel mit dem Feuer eingelassen und ganz bewusst die Hand zu weit in die Flammen gehalten. Aber im Nachhinein doch noch seinem schlimmsten Feind ausgeliefert zu werden, war die eine Sache, die ihm dabei nicht in den Sinn gekommen war, und ihm wurde schlecht, wenn er daran dachte, was das bedeuten würde.

„Ich werde die Umstände unseres Wiedersehens für mich behalten“, fuhr Clovis fort. Es war ein unnötiger Hinweis - Lelouch mochte Hochverrat begangen haben, aber sein Bruder hatte sich erstaunlich inkompetent gezeigt. Es war nur in seinem Interesse, die Ereignisse der letzten paar Tage niemals an die Öffentlichkeit dringen zu lasse - was auch der Grund dafür war, weshalb es Lelouch nicht gewundert hätte, wäre er einfach in den geheimen Kerkern unterhalb des Regierungsgebäudes vergessen worden.

Clovis' unbewegter Blick ruhte noch einen Moment länger auf ihm; dann straffte der blonde Gouverneur die Schultern und sagte ohne jegliche Betonung: „Bis irgendwann.“

Sein Bruder machte Anstalten, sich von ihm abzuwenden, und kalte Panik schlug ihre Klauen in Lelouchs Eingeweide.

„Warte“, befahl er hastig, und Clovis wartete tatsächlich. Lelouch erlaubte sich den Bruchteil einer Sekunde, um wieder Herr seiner Emotionen zu werden, und spürte, wie seine Furcht sich in etwas anderes verwandelte. „Es ist mir egal, was du mit mir machst“, sagte er, die Stimme eisig. „Aber ich schwöre dir, Clovis… wenn du diesen Mann über mein Überleben in Kenntnis setzt, wirst du es bereuen.“ Es war eine Drohung, die nicht weniger subtil hätte sein können. Ein riskanter Schachzug - hätte Lelouch noch irgendetwas zu verlieren gehabt.

Clovis, offenbar verdutzt, wandte den Kopf wieder in seine Richtung und starrte ihn an, und Lelouch hielt seinen Blick. Er würde nicht zulassen, dass Charles di Britannia noch einmal Macht über ihn erhielt, und noch weniger würde er ihm Gelegenheit geben, Eins und Eins zusammenzuzählen und auch Nanali ausfindig zu machen.

Und es gab nichts, was er nicht tun würde, um die Sicherheit seiner kleinen Schwester zu gewährleisten oder auch nur dafür zu sorgen, dass der Mann, der sich als ihr Vater bezeichnete, nicht noch mehr Grund zur Selbstgefälligkeit erhielt als ohnehin schon.

Er lächelte kühl. „Sie interessiert dich, nicht wahr? Diese Macht…“ Lelouch aktivierte sein Geass und sah unverwandt sein Gegenüber an. „Du hast das Mädchen verloren, das in der Kapsel war. Aber du hast immer noch denjenigen, dem sie diese Fähigkeit verliehen hat.“

Nun drehte Clovis sich wieder vollständig zu ihm um. „Was willst du mir damit sagen, Lelouch?“, fragte er, die Augen geweitet. „Dass ich meine Forschungen weiterführen soll? An dir?“

Lelouch lächelte noch immer. „Weshalb nicht? Du könntest sogar meine Kooperation haben… wenn du den Kaiser weiterhin im Dunkeln lässt.“

Clovis brauchte eine Weile, um seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen - dann wurde der Unglauben in seinem Blick von einem anderen Ausdruck abgelöst, den Lelouch unmöglich hätte näher definieren können.

Aber er rührte sich nicht, als sein Bruder wieder zu ihm herübertrat und ihm zögerlich die Hand auf die Wange legte. „Ich werde Vater nichts sagen. Nicht, wenn es dir so wichtig ist. Du musst nicht…“ Er hielt inne, holte tief Luft. „Du bist mein Bruder, Lelouch. Dich als Versuchskaninchen zu benutzen, ist das Letzte, was mir in den Sinn käme.“
 

~
 

Für einen Moment glaubte Clovis, so etwas wie Überraschung in den Augen seines Bruders aufflackern zu sehen, aber schon gleich darauf spiegelte Lelouchs Miene nichts mehr weiter als unverhohlene Verachtung wider, und Clovis zweifelte an seiner Beobachtung.

Bevor er die Hand jedoch wieder zurückzog, nahm er sich noch die Zeit zu registrieren, wie kühl Leouchs Wange war.

„Ist dir kalt?“, fragte er und schaffte es nicht ganz, sein schlechtes Gewissen zu verbergen. Er hatte sich nicht gerade verausgabt, um sicherzustellen, dass sein Bruder nicht mehr Unannehmlichkeiten über sich ergehen lassen musste als unbedingt nötig.
 

Lelouch sah ihn an und lachte, und Clovis lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ehe er sich versah, war er von seinem Bruder zurückgewichen.

„Lelouch?“, fragte er vorsichtig.

Aber Lelouchs Lachen verstummte nicht. Beinahe eine volle Minute lang hallte es an den Wänden der Kerkerzelle wider – ein verzerrter, grotesker Laut, der Clovis das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Erst eine ganze Weile später verebbte Lelouchs unerklärliche Erheiterung allmählich wieder und er setzte dazu an, etwas zu sagen; doch kaum, dass er den Mund geöffnet hatte, zuckte er plötzlich zusammen und schnappte nach Luft.

Im ersten Moment starrte Clovis seinen Bruder einfach nur an, ohne zu begreifen, was geschehen war; aber schon bald wurde es offensichtlich, dass Lelouch Schmerzen hatte. Die Gesichtszüge des Jungen hätten genauso gut in Stein gemeißelt sein können, aber der Ausdruck in den violetten Augen war der sturer Verbissenheit, und ein Schneidezahn presste sich so fest auf bereits blutende Lippen, dass schon das bloße Hinsehen wehtat.

Clovis’ Blick glitt vom Gesicht seines Bruders zu einer Stelle nahe seiner Rippen, von der er vermutete, dass die Kugel Lelouch irgendwo dort getroffen hatte. Laut des Verantwortlichen war es nur ein Streifschuss gewesen, aber selbst ein solcher dürfte ausgesprochen unangenehm sein, und Clovis musste zugeben, dass er sich nicht darum gekümmert hatte, dass sein Bruder die angemessene ärztliche Versorgung erhielt. Zu seiner Verteidigung ließ sich sagen, dass er die letzten zweiunddreißig Stunden damit verbracht hatte, den Schock zu verarbeiten, der nun einmal damit verbunden ist, von seinem totgeglaubten jüngeren Halbbruder um ein Haar eine Kugel in den Schädel gejagt zu bekommen, und dass es die Sache zusätzlich erschwerte, dass er den Vorfall selbst vor seinen engstem Beratern geheimhalten musste. Der Einzige seiner Untergebenen, der irgendetwas wusste, war der Soldat, der für Lelouchs Verletzung verantwortlich war, und selbst der wäre vermutlich längst auf mysteriöse Art und Weise verschwunden, hätte Clovis nicht jemanden gebraucht, der nicht vollkommen ahnungslos war, und hätte der Mann ihm nicht zufälligerweise das Leben gerettet.

So oder so aber war ein durchschnittlicher Soldat kein Mediziner, und Clovis fragte sich, was er sich dabei gedacht hatte, sich unter diesen Umständen so lange in seinen Gemächern zu verkriechen – lebenslanges Trauma hin oder her.

Nach kurzem Zaudern machte er wieder einen Schritt nach vorne und kniete sich neben seinen Bruder auf den Boden. „Lass mich sehen“, sagte er milde und schob vorsichtig den grauen Stoff der Militärsuniform zur Seite, die Lelouch noch immer trug. Dieser wirkte alles andere als begeistert, und es verriet etwas darüber, wie groß seine Schmerzen sein mussten, dass er nichts weiter tat, als ein leises Zischen von sich zu geben, als Clovis bei seinem Tun versehentlich mit der Wunde in Berührung kam.

Unmerklich zuckte Clovis zusammen, aber er entschuldigte sich nicht, sondern betrachtete abschätzend den behelfsmäßigen, aber fest anliegenden Verband, unter dem sich die Verletzung verbarg. Er war getränkt von Blut, das inzwischen allerdings getrocknet zu sein schien – immerhin etwas.

Doch das allein genügte nicht, um Clovis' Schuldgefühle nennenswert zu dämpfen. Er zögerte noch einen Augenblick, aber schließlich erhob er sich und trat hinter seinen Bruder. Dann ging er erneut in die Hocke und machte sich daran, Lelouchs Fesseln zu lösen.

„Ich würde es zu schätzen wissen, wenn du nicht versuchen würdest, mich zu töten“, sagte er mit einer Leichtherzigkeit, die er nicht empfand. Und dann, bevor er den letzten Knoten öffnete: „Ich werde dir nichts tun.“

Er legte das Seil neben sich auf den Boden und war erleichtert, als Lelouch nicht sofort aufsprang und versuchte, die Situation auszunutzen. Er bezweifelte, dass sein Bruder selbst in all den Jahren bedeutend weniger unsportlich geworden war, und in seiner momentanen Verfassung hätte er vermutlich ohnehin nicht viel ausrichten können; aber Clovis war selbst kein Athlet, und schon in seiner Kindheit hatte Lelouch einen Hang dazu gehabt, stets mehr als nur ein Ass in seinem Ärmel versteckt zu halten. Außerdem war das Letzte, was Clovis wollte, seinem Bruder noch mehr Schmerzen zuzufügen – und das würde er vermutlich unweigerlich tun, falls dieser ihn angriff.

Dennoch stützte er Lelouch nicht, als dieser sich auf die Beine kämpfte; er hatte keinen Zweifel daran, dass seine Hilfe unerwünscht war. Sein kleiner Bruder hatte schon immer einen die Grenzen der Vernunft übersteigenden Stolz besessen, und wenn er die Situation nicht unnötig verschärfen wollte, blieb Clovis nichts anderes übrig, als einen respektvollen Abstand zu wahren.

Zumal er sich eingestehen musste, dass er es ohnehin vorzog, sich einige Schritte hinter Lelouch zu halten... nur, um sicherzugehen.
 

Clovis geleitete seinen Bruder die verlassenen Korridore entlang. Es war bereits spät und da niemand ahnen sollte, was vor sich ging, hatte er die Wachen, die des Nachts normalerweise überall im Gebäude verteilt waren, rechtzeitig in den Eingangsbereich und diverse abgelegene Korridore geschickt, in denen sie nicht viel mitbekommen würden.

Die größte Gefahr für ihn im Augenblick war Lelouch, und hätte sein Bruder es in den Kerkern trotz der Fesseln geschafft, ihn zu attackieren, wären ein paar Wachen irgendwo außerhalb des Raumes vermutlich auch keine große Hilfe mehr gewesen. Nun, da er erfahren hatte, dass Lelouch eine Macht besaß, über die selbst er mit all seinen Nachforschungen so gut wie nichts wusste, erschien ihm seine erste Einschätzung der Lage umso treffender. An ihm selbst wirkte das Geass offenbar nicht – Clovis wusste nicht, warum, und vielleicht war es nur vorübergehend, aber er vermutete, dass es etwas mit seinen verschwommenen Erinnerungen bezüglich des Vorfalls in seiner Kommandozentrale zu tun hatte.

Nach zahlreichen Fluren und vier imposanten Treppen blieb Clovis vor einer aufwendig verzierten weißen Tür stehen. Neben ihm ging Lelouchs Atem keuchend, und er konnte nur ahnen, wie schlecht es seinem Bruder gehen musste, damit dieser so bereitwillig mit ihm kam – vermutlich tat er es nur, um seine Würde zu wahren.

Falls dem so war, machte er sich die Mühe umsonst. Clovis konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, in der er nicht beeindruckt von der stolzen, nervtötenden Art seines jüngeren Bruders gewesen wäre.

Aber er sagte nichts, als er Lelouch in das prunkvoll eingerichtete Gästezimmer führte, das normalerweise unangekündigten politischen Gesandten vorbehalten und in all seiner Zeit als Gouverneur noch nie benutzt worden war.

Erst, als sie vor dem großen Bett mit den seidenen roten Laken in der Mitte des Raumes ankamen, wies er Lelouch an, sich zu setzen.

Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob sein Bruder der Aufforderung nachkommen würde; aber er tat es, und aus irgendeinem Grund erleichterte Clovis das.

„Brauchst du sofort einen Arzt?“

Lelouch sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. „Es geht mir gut.“

Clovis schüttelte den Kopf. „Selbst, wenn es nicht so offensichtlich wäre, dass das eine Lüge ist, würde ich auf Nummer sicher gehen wollen. Heute oder morgen?“

Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als würde Lelouch ihn gereizt anfahren wollen; aber dann schloss er lediglich die Lider, als müsse er einen unerwarteten Anflug von Erschöpfung bekämpfen. „Morgen.“

Clovis musterte ihn abschätzend. Lelouch machte keinen sehr guten Eindruck, aber er sah auch nicht als, als würde er ihn Lebensgefahr schweben, und wenn er es vermeiden konnte, wollte er sich nicht einfach über die Wünsche seines Bruders hinwegsetzen. „In Ordnung“, sagte er daher schließlich. „Brauchst du noch etwas? Ich werde dir etwas zu essen und frische Kleidung bringen, und das Zimmer hat ein eigenes Bad, aber wenn es sonst noch irgendetwas gibt, was du…“ Er brach ab, als er bemerkte, dass Lelouch die Augen noch immer fest geschlossen hielt. „Ich werde mich auch nach einer Kopfschmerztablette umsehen“, schloss er, nicht ohne Mitgefühl.
 

~
 

„Leg dich hin.“ Clovis achtete sehr genau darauf, die Worte nicht wie einen Befehl klingen zu lassen. Bisher war Lelouch erstaunlich kooperativ gewesen, aber er hatte keine Ahnung über das Ausmaß dieser unerwarteten Willfährigkeit, und etwas sagte ihm, dass ein falsches Wort genügen würde, um Komplikationen heraufzubeschwören, denen er lieber aus dem Weg gehen wollte.

Sein Bruder zögerte einen Moment, aber dann senkte er den Oberkörper vorsichtig auf das große Kissen, das hinter ihm an der Wand lehnte. Dass seine Wunde noch immer schmerzte, war offensichtlich, aber es zeigte sich beinahe ausschließlich in der Art, wie er sich bewegte, und darin, wie er von Zeit zu Zeit nur sehr langsam einatmete oder sich kaum wahrnehmbar auf die Unterlippe biss.

Clovis gab ihm das Glas in die Hand und fragte sich, ob er die Tablette vielleicht noch nicht hätte hineintun sollen. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass sein Bruder glauben könnte, er wollte ihn vergiften, aber nun war er sich da nicht so sicher – ganz ohne jeden Zweifel hatte Lelouch keine sehr hohe Meinung von ihm, und wenn er ihm sogar zugetraut hatte, in das Attentat auf seine Mutter verwickelt gewesen zu sein…

Aber Lelouch setzte das Glas an die Lippen, ohne ihm auch nur einen skeptischen Blick zuzuwerfen, und das beklemmende Gefühl in Clovis’ Magengegend verschwand noch im selben Moment, in dem er es bemerkte.

„Gibt es jemanden, dem ich Bescheid sagen sollte, dass es dir gut geht?“, fragte er. Nanali? Der Name ihrer jüngeren Schwester hing zwischen ihnen in der Luft, aber Clovis sprach ihn nicht aus.

„Nein.“ Lelouch sah nicht von seinem Glas auf. „Niemanden.“

Clovis öffnete den Mund, um diese Aussage zu hinterfragen - aber dann erkannte er, dass es nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, und schloss ihn wieder. „Ich lasse dich dann alleine“, sagte er nach kurzem Schweigen.

Sein Bruder sah weiterhin mit nichtssagender Miene auf das Trinkgefäß in seinen Händen hinab, und Clovis warf ihm über die Schulter hinweg noch einen letzten flüchtigen Blick zu, bevor er das Zimmer verließ.

Entschluss

Ich lernte, dass der Tod keine schöne Sache ist.

Das war es, worüber ich am unglücklichsten war. Ich wollte es nicht wissen.

Ich liebte sie so sehr. Sie liebte mich so sehr.

Aber als ich die durchlöcherte Leiche sah, dachte ich...
 

Wie schmutzig.
 

Ich übergab mich.

Nicht wegen des Geruchs von Blut oder wegen der Eingeweide, sondern aufgrund der Hässlichkeit meines eigenen Herzens.

Ich übergab mich und übergab mich, und ich ließ es an allen um mich herum aus.

Möglicherweise, weil ich gewalttätig wurde, gaben sie mir etwas und ich schlief ein.

Als ich wieder erwachte, hatte meine Schwester ihre Augen geschlossen und der Welt ebenfalls den Rücken gekehrt.
 

- Light Novel: „Stage 1 - Shadow“ (S. 89; freie Übersetzung)
 


 


 

* * *
 

„Kann ich… es noch einmal sehen?“

„Sicher.“ Lelouch sah seinen Bruder an und aktivierte sein Geass. „Das war der Deal, nicht wahr?“

Clovis zuckte zusammen, als hätte er ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst, und Lelouch kam nicht umhin, den Anflug eines schlechten Gewissens zu verspüren. Sein Bruder mochte kein übler Schauspieler sein, aber in diesem Fall hatte Lelouch kaum Zweifel daran, dass Clovis es ernst meinte – er wollte ihm nicht schaden, und vielleicht hatte er sogar beschlossen, ihn vorerst nicht für seine eigenen Zwecke zu benutzen.

Natürlich war das nur ein vorübergehender Zustand, und nicht für eine Sekunde glaubte Lelouch daran, dass sein Bruder keinerlei Hintergedanken hegte; aber zumindest schien Clovis nicht auf Rache dafür zu sinnen, dass er seine Gehirnmasse um ein Haar auf der Rückenlehne seines Throns verteilt hatte, und das allein was bereits erstaunlich genug. Vor allem, wenn man bedachte, dass er ganz offensichtlich nicht so naiv war zu glauben, Lelouch hätte seine Mordpläne so einfach aufgegeben: Am Vorabend hatte Clovis beide Male den Raum hinter sich abgeschlossen, sobald er ihn verlassen hatte, und Lelouch damit in seiner Annahme bestätigt, dass er keineswegs uneingeschränkte Bewegungsfreiheit genoss. Das war ärgerlich, aber durchaus eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme, und inzwischen nahm Lelouch sie seinem Bruder nicht einmal mehr sonderlich übel.

Er hatte nach wie vor nicht die Absicht, Clovis etwas von Nanali zu erzählen – lieber sollte sie sich Sorgen um ihn machen, als dass er in Kauf nahm, dass sie wieder zu einem politischen Werkzeug gemacht wurde -, aber Lelouch konnte nicht länger die Augen davor verschließen, dass Clovis nicht ganz so rücksichtslos war, wie er geglaubt hatte.

„Ich weiß nicht, woher diese Skrupel plötzlich kommen“, sagte er daher leichthin, „aber sieh es dir ruhig an, wenn du möchtest. Es stört mich nicht.“

Zögerlich ließ Clovis sich neben ihm auf der Bettkante nieder. „Bist du dir sicher?“

Lelouch schnaubte. „Ich bezweifle, dass es mich umbringen wird, wenn du einen Blick darauf wirfst.“

Sein Bruder beugte sich vor, bis ihre Gesichter einander beinahe berührten. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich es einmal mit eigenen Augen sehen würde“, sagte er in einem Tonfall, der an Ehrfurcht grenzte. „Es ist…“ Er schüttelte den Kopf. „Zwingt es Leuten deinen Willen auf?“

Lelouch sah ihn lediglich mit ausdruckslosem Blick an, doch sein Schweigen war Antwort genug.

„Aber nur ein Mal?“

Lelouch war nicht überrascht. „Es scheint so.“

Clovis nickte. „Du hast es schon einmal an mir benutzt“, sagte er. Es war keine Frage.

„Ja.“

„Wozu?“

„Ich wollte Antworten.“

„Hast du sie bekommen?“

Nichts weiter als mildes Interesse klang in der Stimme seines Bruders mit, und Lelouch zögerte einen Moment mit seiner Erwiderung.

„Ja“, sagte er schließlich. „Nicht alle, aber genug.“

„Verstehe.“ Clovis setzte sich wieder gerade hin und schien einen Moment mit sich zu ringen. „Nicht jedem missfiel ihre Herkunft, weißt du“, sagte er dann plötzlich. „Sie hatte viele Bewunderer. Selbst Cornelia…“

Lelouch brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er von seiner Mutter sprach. Er ignorierte den Kloß in seinem Hals und schnaubte. „Das erklärt, weshalb du mir sie als potentielle Schuldige genannt hast.“

Clovis blinzelte. „Cornelia?“

„Und Schneizel.“

Clovis starrte ihn an. „War das mein genauer Wortlaut?“

Lelouch zögerte. „Nein“, gab er schließlich zu. „Aber es macht keinen Unterschied.“

Offenbar jedoch sah Clovis das anders. „Was genau habe ich gesagt?“, fragte er.

„Dass sie etwas wissen.“ Lelouch bedachte seinen Halbbruder mit einem kühlen Blick. „Spielt es eine Rolle?“

Clovis sah zur Seite. „Ich glaube nicht, dass sie die Verantwortlichen sind, Lelouch“, sagte er nach einer Weile. „Ich habe sie darüber reden gehört, ja, und ich bin sicher, dass sie mehr wissen als ich. Aber du solltest dir denken können, wie Schneizel ist – ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Motiv hat. Und Cornelia…“ Clovis schüttelte den Kopf. „Du hättest sie damals sehen sollen, Lelouch… sie ist die Letzte, die ich verdächtigen würde.“

Lelouch richtete sich auf und achtete nicht auf das brennende Stechen, das sich daraufhin schlagartig von seiner Verletzung durch seinen ganzen Körper ausbreitete. „Also soll ich aufgeben?“, fragte er mit einer Stimme, die vor Wut bebte. „Ich soll diejenigen laufen lassen, die meine Mutter getötet und dafür gesorgt haben, dass Nanali-“ Er brach ab und ihm wurde klar, dass er zu viel gesagt hatte. Wenn sein Bruder ihn auch nur ein bisschen besser kannte als ein vollkommen Fremder, würde Clovis nun keinen Zweifel mehr daran haben, dass Nanali ebenfalls wohlauf und irgendwo in Gebiet Elf untergetaucht war – ansonsten hätte Lelouch sie niemals erwähnt. Überhaupt bezweifelte er, dass er ohne seine kleine Schwester auch nur existieren könnte, aber wenn es jemanden in seiner Familie gab, der das volle Ausmaß seiner Abhängigkeit zu begreifen in der Lage war, dann war das Cornelia – nicht Clovis.

Und zu seinem Glück hatte Lelouch diesen offenbar so sehr aus dem Konzept gebracht, dass er auf Anhieb nicht einmal annähernd die richtigen Schlüsse zu ziehen vermochte. „Das meinte ich nicht, Lelouch“, sagte der blonde Gouverneur sichtlich bestürzt. „Ich…“ Er brach ab, schüttelte den Kopf. „Du solltest dich nicht so viel bewegen“, wechselte er abrupt das Thema.

„Viel?“, gab Lelouch ungläubig zurück. Seit er einige Stunden nach Sonnenaufgang ein Bad genommen und die unbequeme Uniform gegen die wesentlich angenehmere, wenn auch etwas extravagante Kleidung eingetauscht hatte, die sein Bruder ihm großzügigerweise zur Verfügung gestellt hatte, hatte er das Bett kein einziges Mal verlassen, und inzwischen war es schon beinahe Mittag.

„In deinem Zustand hättest du nicht einmal alleine baden gehen sollen - selbst wenn es dir offenbar irgendwie gelungen ist, den Verband nicht völlig zu durchnässen.“

Lelouch gab einen spöttischen Laut von sich. „Ich brauche niemanden, der mir die Hand hält.“

„Nein“, stimmte Clovis ihm zu. „Aber wenn du dich nicht gleich wieder hinlegst, werde ich davon ausgehen, dass du jemanden brauchst, der dich ins Bett bringt. Es mag dir entgangen sein, aber eine Schussverletzung ist kein kleiner Kratzer.“

Lelouch schnaubte. „Was du nicht sagst. Darf ich dich daran erinnern, dass ich diese Verletzung einem deiner Männer zu verdanken habe?“

„Nun“, erwiderte Clovis trocken, „vielleicht hättest du dir diese Unannehmlichkeit ersparen können, wenn du mir keine Waffe an den Kopf gehalten hättest.“

„Oh, so wie in Shinjuku? Als ein paar von deinen Leuten mich dafür umbringen wollten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein?“

Clovis starrte ihn an. „Was?“ Lelouch schwieg, aber er hatte bereits genug gesagt. Clovis mochte kein Genie sein, aber manchmal verfügte er dennoch über eine erstaunlich rasche Auffassungsgabe. „Das… das wusste ich nicht.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Lelouch kühl. „Weißt du überhaupt, was deine Leute machen?“

„Ich habe niemals behauptet, ein guter Befehlshaber zu sein.“ Aber Clovis’ Blick war weich. „Bist du verletzt worden?“

„Nein.“ Lelouchs Stimme war tonlos. „Es gab Leute, denen etwas an meinem Überleben gelegen hat.“

„Oh?“

„Sie sind tot.“

Der Anflug von Neugierde auf Clovis’ Zügen verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war. „Es tut mir leid.“

„Ich bin sicher, das tut es.“ Lelouch zwang sich, nicht an Suzaku zu denken, und lächelte höhnisch. „Eine der beiden war das Mädchen, das du so dringend wiederhaben wolltest.“

„Das Mädchen?“ Damit hatte Clovis ganz offenbar nicht gerechnet. „Bist… bist du dir sicher, dass sie tot ist?“

Lelouch schnaubte. „Sie hat eine Kugel zwischen die Augen bekommen und anschließend in einer Blutlache zu meinen Füßen gelegen. Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie tot ist.“

Verständnislos schüttelte Clovis den Kopf. „Der Befehl lautete, sie lebend zurückzubringen.“

Lelouch sah seinen Bruder mit ausdruckslosem Blick an. „Die Kugel war nicht für sie bestimmt gewesen.“

„Ich…es tut mir leid, Lelouch. “ Die Bestürzung auf Clovis’ Zügen war ohne jeden Zweifel echt. „Ich wusste nicht… Kannst du mir verzeihen?“

Der Tonfall seines Bruder war weich, sein Blick nahezu flehend, aber Lelouch blieb ungerührt. „Es gibt nichts zu verzeihen, Clovis“, sagte er kühl. „Du hättest die Leben zahlloser Menschen geopfert, nur, um dein Gesicht zu wahren. Das ist alles, was ich wissen muss.“

Clovis starrte ihn an. „Ich verstehe“, sagte er nach einer Weile und wandte den Blick ab. „Du solltest schlafen. Ich werde heute Abend noch einmal nach dir sehen.“ Er erhob sich, und Lelouch empfand weder Genugtuung noch Reue, als er dabei zusah, wie sein Bruder das Zimmer geradezu fluchtartig verließ.
 

~
 

Auf halbem Weg durch den Korridor blieb Clovis stehen und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine der weißen Marmorwände. Er schlang die Arme um die Brust, als würde sich dadurch etwas an der Tatsache ändern, dass sein gesamter Körper bebte, als hätte sein Bruder abermals eine Waffe auf ihn gerichtet, und schloss die Augen.

Lelouch hatte Recht - er war erbärmlich.

Damals war er mit solch großartigen Plänen nach Gebiet Elf gekommen. Er hatte sowohl Cornelias als auch Schneizels gutgemeinte Ratschläge abgelehnt und geglaubt, er könnte etwas bewirken, wenn er diese Angelegenheit auf seine Weise regelte. Stattdessen hatte er sich in einer Situation wiedergefunden, die ihm deutlicher als jemals zuvor bewusst gemacht hatte, weshalb er Politik verabscheute – umgeben von Speichelleckern, die ihn auf überaus ungeschickte Weise zu manipulieren versuchten und ihm jederzeit in den Rücken fallen würden, wenn sie sich einen Vorteil davon versprachen. Von den Terroristen, die hinter jeder Ecke zu lauern schienen und die ihm fortwährend das Leben schwermachten, einmal ganz zu schweigen.

Clovis hatte die Sinnlosigkeit seines Unterfangens erkannt und ihm war klar geworden, dass er so sein Leben verbringen würde – als Marionette eines Mannes, der seinen Respekt schon vor langer Zeit verloren hatte, und als Galionsfigur eines Reiches, an das er nicht glaubte; genauso wenig, wie er an irgendetwas anderes glaubte. Sein Vater hätte ihn niemals einen Rückzieher machen lassen – Nachsicht lag nicht in der Natur des britischen Kaisers, und Clovis fragte sich, was ihn jemals dazu getrieben hatte, sich freiwillig für diesen Posten zu melden.

Aber im Grunde kannte er die Antwort, und das machte sein Scheitern nur umso schändlicher.

Clovis war nicht Gouverneur von Gebiet Elf geworden, weil er nach Ansehen oder Macht strebte – nichts lag ihm ferner, als sich nach den unzähligen Verpflichtungen und der Verantwortung zu sehnen, die mit dergleichen einhergingen -, sondern weil er nicht dazu in der Lage gewesen war, sich mit dem Tod der Person abzufinden, die seit jeher eine seltsame Anziehung auf ihn ausgeübt hatte und die ihm möglicherweise mehr bedeutet hatte als jeder andere Mensch. Cornelia hatte ihn sentimental genannt, aber Clovis hatte sich nicht von seinen Plänen abbringen lassen und darauf bestanden, die Dinge zu einem angemessenen Ende zu bringen, indem er das ehemalige Japan in eine friedliche letzte Ruhestätte für die Geschwister verwandelte, die er verloren geglaubt hatte.

Wie töricht er gewesen war.

Lelouch lebte, und er verachtete ihn für das, was er geworden war. Und Clovis wünschte, er könnte es ihm verübeln.

Er wusste nicht, wann genau in den letzten drei Jahren er sein ursprüngliches Vorhaben und damit auch sich selbst aus den Augen verloren hatte. Es war langsam geschehen, schleichend, aber unbestreitbar und unwiderruflich. Clovis dachte an die Menschen, deren Tod er so gleichgültig befohlen hatte, und fühlte nichts außer der Kälte von Lelouchs Blick und Bestürzung darüber, dass er um ein Haar das Leben seines Bruders auf dem Gewissen gehabt hätte, ohne jemals etwas davon zu erfahren.

Clovis war nichts. Sein Leben hatte kein Ziel, keinen Sinn, und er war schon lange nichts mehr weiter als der Schatten der Person, die er einmal gewesen war. Dennoch klammerte er sich mit einer Verzweiflung an seinen gesellschaftlichen Status, die nur als jämmerlich bezeichnet werden konnte, und weigerte sich, sich vollständig mit der Nichtigkeit seiner Existenz abzufinden, die er durch seine Schwäche selbst herbeigeführt hatte.

Ja, es war in der Tat erbärmlich.
 

Je länger Clovis jedoch darüber nachdachte, desto weniger kümmerte ihn das. Sollte er nicht froh sein, Lelouch wiederzuahaben, selbst unter diesen bizarren Umständen? Und war es nicht seine Aufgabe, für seinen kleinen Bruder da zu sein, anstatt sich seinem Selbstmitleid hinzugeben – selbst, wenn dieser ihn verabscheute?

Es war nur, wenn er in Lelouchs mitleidslose Augen blickte, dass Clovis erkannte, was aus ihm geworden war. Und auch wenn er nicht glaubte, dass er sich jemals dazu bringen könnte, aufrichtige Reue dafür zu empfinden, dass er rücksichtslos die Leben namenloser Fremder seinem Titel geopfert hatte, würde er versuchen, sich zu ändern. Anteilnahme und Mitgefühl waren nichts mehr weiter für ihn als vage Erinnerungen, die im Laufe der letzten paar Monate und Jahre beinahe bis zur Unkenntlichkeit verblasst waren, aber vielleicht könnte er zumindest jemand werden, der Lelouchs Respekt verdiente. Und wenn nicht... nun, dann hatte er es zumindest versucht. Es genügte ihm, seinen Bruder zurückzuhaben; das allein reichte aus, um seine jahrelange Apathie so effektiv fortzuwaschen wie ein Schwall eiskalten Wassers den Zustand morgendlicher Müdigkeit. Es war besser, von Lelouch gehasst zu werden und ihm gegen seinen Willen zur Seite zu stehen, als Tag für Tag nichts anderes zu tun, als für die Medien ein falsches Lächeln aufzusetzen und sich zu fragen, wann alles so unglaublich sinnlos geworden war.

Clovis liebte seinen Bruder, und es war offensichtlich, dass Lelouch mehr durchgemacht hatte, als er sich vorstellen konnte, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Trotz all ihrer Meinungsverschiedenheiten in der Vergangenheit hatte Clovis seinen kleinen Bruder noch niemals so kalt, so bitter erlebt - und obwohl er wusste, wie sehr Lelouch seine Mutter geliebt hatte, konnte er nicht glauben, dass Marianne vi Britannias Tod allein solch verheerende Auswirkungen gehabt haben sollte. Er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um sicherzugehen, dass nichts mehr seinen Bruder verletzen würde – selbst, wenn er dafür dem Kaiser höchstpersönlich Informationen vorenthalten müsste. Solange es ihm auch nur gelang, einen noch so kleinen Teil von dem wiederwettzumachen, was auch immer Lelouch widerfahren war, machte das in seinen Augen selbst Hochverrat zu einer plausiblen Option.

Diese Erkenntnis ließ Clovis einen Moment in Gedanken innehalten; aber sie überraschte ihn nicht so sehr, wie sie es eigentlich hätte tun sollen. Sein kleiner Bruder war die eine Sache, die es vermochte, ihn innerhalb eines einzigen Herzschlags aus seiner ewigen Teilnahmslosigkeit zu reißen - und er hätte ihm keine Waffe an den Kopf halten müssen, um dieses Ergebnis zu erzielen. Bis Lelouch sich zu erkennen gegeben hatte, war die Vorstellung, sein Leben an einen bewaffneten Eindringling zu verlieren, nicht halb so beängstigend gewesen, wie sie es hätte sein sollen. Nicht besonders angenehm, aber es war Clovis ein Leichtes gewesen, eine gleichgültige Miene aufzusetzen und sein Gegenüber zu verspotten. Der Gedanke dagegen, durch die Hand seines eigenen Bruders zu sterben... Clovis schauderte. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor eine vergleichbare Furcht empfunden zu haben.

Und er wusste, dass es eine einzige Sache gab, die er niemals für seinen Bruder tun würde, so sehr er ihn auch liebte. Er würde niemals zulassen, dass Lelouch ihn tötete – nicht einmal, wenn er ihm damit tatsächlich einen Gefallen täte.

Es mochte egoistisch von ihm sein, aber Clovis war niemals eine übermäßig selbstlose Person gewesen. Mitfühlend, ja... vielleicht, vor langer, langer Zeit. Aber niemals selbstlos.

Mit dieser Erkenntnis öffnete Clovis die Augen wieder und stieß sich mit neu gefundener Entschlossenheit vor der Wand ab. Er mochte eigennützig sein und Lelouchs Respekt nicht verdienen – aber er wäre verdammt, wenn er ein zweites Mal darin versagte, seine Rolle als älterer Bruder zu erfüllen.
 

~
 

Das Erste, was Clovis tat, nachdem er keine zwei Stunden später seine Kommandozentrale betrat, war, alle seine Untergebenen inklusive eines irritierten Bartleys nach draußen zu schicken und sich auf seinem Thron niederzulassen, wo er nachdenklich das Kinn auf dem Handrücken abstützte. Es war ein leicht beunruhigendes Gefühl, sich ohne Wachen in dem Raum aufzuhalten, in dem sich sein Gehirn erst kürzlich um ein Haar an Möbeln und Wänden wiedergefunden hätte, aber es war nicht so schwer, wie er erwartet hatte, sich von diesem Umstand abzulenken. Nicht, wenn er eine Entscheidung mit unvorhersehbaren Konsequenzen treffen musste.

Schon nach wenigen Minuten hatte Clovis vergessen, woher seine Unruhe ursprünglich gekommen war, und er erhob sich, um unschlüssig im Zimmer auf und ab zu laufen – bis er schließlich begriff, dass er gar keine andere Wahl hatte, als bei dem Entschluss zu bleiben, den er keine sechzig Minuten zuvor getroffen hatte. Inzwischen war er sich bei weitem nicht mehr so sicher, ob die Lösung, die er gefunden hatte, wirklich so ideal war, wie er anfangs geglaubt hatte; aber er brauchte nun einmal einen halbwegs ausgebildeten Mediziner, der sich Lelouch ansehen und weder zu viele Fragen stellen noch seine Schweigepflicht aus Habgier und Eigennutz brechen würde.

Und wenn er keinen berufsmäßigen Arzt kannte, der diese Kriterien erfüllte, dann musste eben ein exzentrischer Wissenschaftler herhalten, wenn dieser zufälligerweise auch eine vergleichbare Ausbildung genossen hatte.

Clovis hatte Graf Asplund noch nie sonderlich gemocht – der von seinen Forschungen besessene Adlige war überdreht, nervtötend und in jeder Hinsicht unkonventionell - einmal ganz davon zu schweigen, dass Clovis berechtigte Zweifel am Geisteszustand des Mannes hegte. Jedoch war er sich gerade deshalb sicher, dass der leicht wahnsinnig anmutende Wissenschaftler kein übermäßiges Interesse an irgendetwas hatte, das nichts mit seinem Beruf zu tun hatte. Das Schlimmste, was passieren könnte, war, dass Graf Asplund seinen Sponsor informieren würde, wenn er das nächste Mal mit ihm sprach, und immerhin war Schneizel nicht bekannt dafür, voreilig zu handeln.

Allerdings wollte Clovis selbst hier kein unnötiges Risiko eingehen - und er hegte den Verdacht, dass Graf Asplund nicht geneigt sein würde, bei der erstbesten Gelegenheit zu plaudern, wenn er die Möglichkeit in Aussicht gestellt bekäme, sein neues Spielzeug in Zukunft noch wesentlich häufiger zum Einsatz zu bringen.

Wie nannte er es noch gleich? Lancelot?

Clovis erlaubte sich ein kleines, hintersinniges Lächeln, bevor er sich dem Bildschirm zuwandte, über den er den er den exzentrischen Grafen zu kontaktieren gedachte.

Die verworrenen Ränkespiele der Politik mochten ihm nach wie vor nicht liegen; aber immerhin hatte Clovis gelernt, wie er am leichtesten das bekam, was er wollte, wenn er es wirklich darauf anlegte.

Konflikt

Bereits wenige Minuten, nachdem sein Bruder ihn alleinegelassen hatte, bereute Lelouch seine harschen Worte. Clovis mochte sich ihm gegenüber bisher erstaunlich entgegenkommend gezeigt haben, aber der Dritte Prinz hatte auch einen Haufen unschuldiger Menschen auf dem Gewissen und war in ethisch fragwürdige Forschungsprojekte verwickelt. Dass er Kritik nicht sehr gut aufnahm, war offensichtlich, und es es ließ sich unmöglich sagen, wie er reagieren würde, wenn Lelouch es mit seinen verächtlichen Bemerkungen zu weit trieb. Die Vorstellung, wieder in einer dunklen Zelle oder dieses Mal gar unter der Erde zu enden, übte keinen sonderlich großen Reiz auf ihn aus, und die vergleichsweise geringe, aber durchaus ebenfalls vorhandene Möglichkeit, dass Clovis gerade in eben diesem Moment dabei war, seinetwegen den Kaiser zu kontaktieren, genügte, damit sich das exquisite Mittagessen, das Lelouch genossen hatte, in halbverdauter Form in der Kloschüssel wiederfand.

Anschließend jedoch zwang er sich, die Nerven zu bewahren. Selbstverständlich war es grundsätzlich ratsam, auf den schlimmstmöglichen Fall vorbereitet zu sein; noch wesentlich wichtiger aber war es im Augenblick für Lelouch, die Konsequenzen seines bisherigen Handelns – was auch immer sie sein mochten - einzudämmen, und das würde ihm kaum gelingen, wenn er sie sie sich zuvor allzu lebhaft ausmalte. Etwas Derartiges würde nur seine Fähigkeit klar zu denken einschränken und die Situation, die er so dringend vermeiden wollte, möglicherweise erst herbeiführen.

Lelouch konnte es sich nicht leisten, die Kontrolle zu verlieren – nicht sonst, und schon gar nicht unter den gegebenen Umständen, unter denen sein Einfluss auf das, was auch immer kommen mochte, sogar noch geringer war als während der Japan-Invasion oder in der Obhut der Ashford-Familie. Also legte er sich wieder hin und schloss die Augen, und schließlich gelang es ihm sogar, noch ein paar Stunden zusätzlichen Schlafes zu finde.
 

~
 

Als sein Bruder am frühen Abend zurückkehrte, saß Lelouch aufrecht in seinem Bett und beobachtete angespannt die wie üblich verschlossene Tür. Nach einem überflüssigen Klopfen öffnete der blonde Gouverneur und trat ein, und Lelouch konzentrierte sich darauf, sich nicht anmerken zu lassen, wie beunruhigt er war.

In Anbetracht der Tatsache, dass Clovis weder abweisend noch entschuldigend wirkte, als er zu ihm herübertrat und sich am Rande seines Bettes niederließ, war das nicht so schwer, wie es hätte sein können. Dennoch fühlte Lelouchs Magen sich noch immer an, als hätte er sich zu einem winzigen Knoten zusammengezogen und nicht die Absicht, die nach wie vor vorhandene Übelkeit in naher Zukunft schwinden zu lassen.

„Du siehst nicht gut aus“, bemerkte Clovis, und Lelouch konnte nichts weiter aus seiner Stimme heraushören als aufrichtige Anteilnahme.

Er sah dem älteren Prinzen direkt in die Augen und erwiderte unbewegt den besorgten Blick, dem er dabei begegnete. „Es geht mir gut.“

„Behauptest du das immer noch?“ Clovis schien beinahe ein wenig verdutzt. Er schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht blind, Lelouch. Eine Schussverletzung, die dir letzte Nacht noch so schwer zu schaffen gemacht hat, verheilt nicht innerhalb von ein paar Stunden, und ich bezweifle, dass es selbst für dich normal ist, so blass zu sein.“ In einer Geste, die ebenso selbstverständlich wie instinktiv wirkte, bewegte sein Bruder die Hand zu Lelouchs Gesicht. Aus keinem bestimmten Grund ließ dieser ihn gewähren, und das schwarze Haar glitt nur ganz allmählich durch Clovis' Finger, als er es ihm auf eine Weise aus dem Gesicht strich, die Lelouch beinahe davon überzeugte, dass sein Bruder sein Wort nicht gebrochen hatte und der Kaiser nach wie vor nichts von ihm wusste. Für einen Moment schien es fast, als rührte Clovis' zuvorkommendes Verhalten bisher nicht nur aus einer Art Pflichtgefühl aufgrund ihrer Blutsverwandtschaft, sondern aus ehrlicher Zuneigung... aber Lelouch konnte sich nicht erklären, woher diese so plötzlich kommen sollte – nicht, wenn Clovis erst kürzlich beinahe sein Leben an ihn verloren hätte und sie sich in ihrer Kindheit nur gestritten hatten.

Lelouch drehte den Kopf ein wenig und entzog sich so der Berührung, und Clovis senkte den Arm wieder. „Brauchst du noch etwas? Gegen die Kopfschmerzen?“

Für ein paar Sekunden erwog Lelouch seine Antwort tatsächlich; aber seine Schmerzen waren seit der letzten Nacht deutlich zurückgegangen, und mit ein bisschen Zeit würde auch sein Magen sich von alleine wieder beruhigen. Dementsprechend bestimmt fiel seine Antwort aus, als er sie schließlich gab. „Nein“, sagte er tonlos.

Angesichts Clovis' besorgter Miene und seinem bisherigen Verhalten hatte Lelouch erwartete, dass sein Bruder noch mindestens ein weiteres Mal nachfragen würde, aber stattdessen nickte er leicht. „In Ordnung“, sagte er und betrachtete Lelouch einen Moment lang mit undefinierbarem Blick, bevor er ihm eröffnete: „Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich dich vorwarnen wollte.“

Lelouch war froh, dass er sein Mittagessen bereits wieder losgeworden war. So konnte er das flaue Gefühl in seiner Magengegend ignorieren, das sich auf unangenehme Weise mit seiner Übelkeit vermischte, und seinen Tonfall kühl halten, als er fragte: „Vorwarnen?“

Dennoch musste etwas an seiner Reaktion zu heftig ausgefallen sein, denn Clovis blinzelte erstaunt. „Ich arbeite nicht auf dein Verderben hin, Lelouch.“

Lelouchs Augen verengten sich, aber seine inneren Organe zogen sich anhand der offensichtlichen Überraschung auf den Zügen seines Bruder nicht mehr ganz so krampfhaft zusammen. „Ach nein?“

„Nein.“

Lelouch gab sich keine Mühe, seinen Argwohn zu verbergen. „Was ist es dann, das du mir sagen wolltest?“

„Nichts, weshalb du dir Sorgen machen müsstest“, versicherte Clovis ihm. Lelouch war nicht überzeugt, und das schien auch seinem Bruder bewusst zu sein, denn er fuhr ohne innezuhalten fort: „Ich hatte dir gesagt, dass es mir lieber wäre, ein Arzt würde sobald wie möglich einen Blick auf dich werfen, erinnerst du dich?“

Natürlich erinnerte Lelouch sich. Er litt mit Sicherheit nicht an Vergesslichkeit, auch wenn er in den letzten paar Stunden andere Dinge im Kopf gehabt hatte. „Und ich hatte dir gesagt, dass das unnötig ist.“

„Ich hoffe, du verzeihst mir, wenn ich das lieber von jemandem hören würde, der das ein wenig objektiver beurteilen kann.“ Lelouchs Blick wurde kalt, und Clovis seufzte. „Ich mache mir nur Sorgen, Lelouch.“

„Und riskierst dafür, dass der Kaiser von mir erfährt.“

„Graf Asplund ist der Letzte, der Vater benachrichtigen würde, solange wir ihm deine Identität nicht auf die Nase binden und ihn damit in Gefahr bringen, des Hochverrats bezichtigt zu werden.“ Clovis' Ton war sachlich, aber sein Blick war weich. „Mir ist bewusst, dass du mir nicht vertraust, aber ich weiß, was ich tue, und ich bin mir auch des Risikos bewusst. Bitte, Lelouch... dieses eine Mal?“

Lelouch bezweifelte, dass Clovis sich tatsächlich im Klaren darüber war, was es bedeuten würde, käme sein Überleben ans Tageslicht. Es war bereits ein Paradoxon, dass sein Bruder im selben Atemzug zugab, sich seines Argwohns bewusst zu sein, und ihn – auch wenn er es nicht ganz so eindeutig formulierte - darum bat, ihm in dieser Sache dennoch sein Vertrauen zu schenken.

Es war unlogisch, um nicht zu sagen absurd. Lelouch hatte keinen Grund, Clovis Glauben zu schenken, geschweige denn sich auf seine Kompetenz zu verlassen.

Doch gerade deswegen zögerte er damit, die einzig ehrliche Antwort zu geben. Clovis hätte ihn nicht fragen müssen – nicht, wenn er im Augenblick so eindeutig die Oberhand und Lelouch keine Möglichkeit hatte, sich ihm erfolgreich zu widersetzen. Lelouch war nicht so einfältig zu glauben, dass sein Bruder ein Nein akzeptieren würde; aber das machte es nur noch fragwürdiger, ob es einen anderen Sinn als Trotz hätte, sein gesundes Misstrauen noch einmal zu betonen.

Also beschloss Lelouch, stattdessen einen Mittelweg zu wählen. „Falls etwas schiefgeht“, sagte er – frostig, in der Tonlage eines düsteren Versprechens, „wird es dir mehr leidtun als mir.“ Insgeheim bezweifelte er, dass irgendjemand es mehr bereuen könnte als er selbst, wenn er oder gar Nanali wieder in die Hände des Kaisers fielen; aber solange er seinen Bruder einschüchtern konnte, spielte das keine Rolle.

Clovis jedoch wirkte nicht beunruhigt, sondern erleichtert, und Lelouch fragte sich, ob er sich seiner Sache wirklich so sicher war. Allerdings hatte sein älterer Halbbruder schon immer dazu geneigt, ungünstige Situationen zu unterschätzen – in dieser Hinsicht war Clovis stets ein Optimist gewesen, auch wenn er jedes Mal schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen landete, sobald eine besagter ungünstiger Situationen außer Kontrolle geriet. Nur, dass es dann für gewöhnlich schon zu spät war.

Nach den Ereignissen in Shinjuku zu urteilen, hatte sich an dieser Tatsache nichts geändert, und Lelouch war sich nicht sicher, ob der Vorteil, der sich unter Umständen aus der übersteigerten Zuversicht seines Bruders ziehen ließ, größer war als das Risiko, das sie vor allem für Lelouch barg.

„Danke“, sagte Clovis, seine Erleichterung noch immer offenkundig und mit einem aufrichtigen Lächeln auf den Lippen. „Ich verspreche, du wirst es nicht bereuen.“ Er straffte die Schultern. „Graf Asplund sollte nicht früher als in ein paar Stunden hier sein - ich wollte dir nur schon einmal Bescheid geben. Also hast du alles, was du brauchst?“

Lelouch nickte wortlos, und Clovis' Lächeln geriet ins Wanken. „Du... du würdest nicht dein Geass an ihm einsetzen, oder?“

Aber es war eine überflüssige Frage, und der Ausdruck in den Augen seines Bruders verriet, dass er sich dessen bewusst war. Lelouch lächelte. „Natürlich nicht.“

„Lelouch...“ Nicht zum ersten Mal sprach Clovis seinen Namen in einem Tonfall aus, der mehr ein Flehen war als alles andere. Und wie auch schon die Male zuvor kümmerte Lelouch sich nicht darum.

„Wenn du darauf bestehst, dass ich einen Arzt sehe, kann ich dich nicht aufhalten“, entgegnete er ungerührt. „Aber erwarte nicht, dass ich mich auch außerhalb des Spielfeldes an die Regeln halte.“

„Was willst du von mir, Lelouch?“ Clovis' Miene spiegelte eine Emotion wider, die nicht ganz Verzweiflung, aber doch nahe genug daran war. „Was schlägst du vor?“

Was Lelouch wirklich wollte, war, dass Clovis sein vollkommen unnötiges Vorhaben, einen britischen Adligen zu involvieren, aufgab und ihn in Frieden ließ; aber da er das für unwahrscheinlich hielt, würde er sich damit begnügen, sich bereits im Voraus an seinem Bruder zu rächen. Es mochte kleinlich und vielleicht sogar irrational sein, aber es war überaus befriedigend, seine Worte wie eine scharfe Klinge zu verwenden und ihre vernichtende Wirkung zu beobachten.

„Ich bin sicher, du wirst dir etwas einfallen lassen“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. „Ich habe dir gesagt, dass ich kooperieren werde – wenn du Vorkehrungen treffen willst, um sicherzustellen, dass ich diese Gelegenheit nicht zu meinem Vorteil nutzen kann, werde ich mich nicht widersetzen. Sollte ich dich aber dennoch überlisten...“ Auf sein Gesicht, das bis dahin bar jeder Emotion gewesen war, glitt ein kühles Lächeln. „Nun, dieses Risiko wirst du wohl eingehen müssen.“

Unglücklicherweise war Clovis dabei, die unangenehme Angewohnheit zu entwickeln, seine schlechtverhohlenen Drohungen ganz einfach zu überhören und stattdessen an Trivialitäten hängenzubleiben. „Vorkehrungen?“, fragte er mit großen Augen. „Was erwartest du von mir, Lelouch? Dass ich dich in Ketten lege und Graf Asplund wie einen Kriminellen vorführe?“

„Weshalb nicht?“ Lelouch blieb gleichmütig – unter anderem, weil es seine Fähigkeit in ihren Möglichkeiten nur geringfügig einschränken würde, wenn er gefesselt wäre, und er die Hoffnung hegte, dass Clovis das Ausmaß etwaiger Vorsichtsmaßnahmen überschätzen könnte. Es würde demütigend sein; aber alles, was Lelouch von seinem Bruder brauchte, damit die Erniedrigung sich lohnte, war ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit. „Ist es nicht das, was ich bin?“

Clovis starrte ihn an. „Denkst du wirklich, dass ich das tun würde?“, fragte er. „Dass ich dich in Ketten legen würde wie einen gemeinen Verbrecher?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Du bist mein Bruder, Lelouch. Mehr als alles andere. Ich könnte niemals-“

„Was willst du sonst tun?“, schnitt Lelouch ihm unbeeindruckt ins Wort..

Clovis schloss den Mund wieder und sah zur Seite. „Ich weiß nicht“, gab er nach kurzem Schweigen zu. „Ich schätze, ich könnte einen Weg finden, dein Auge zu bedecken... ich glaube nicht, dass das Geass wirkt, wenn du keinen Blickkontakt zu deinem Gegenüber aufbauen kannst.“ Lelouch hatte keine Ahnung, ob Clovis aufgrund seiner Forschungen zu diesem Ergebnis gelangt war oder einfach nur übereilte Schlüsse zog, aber er wusste, dass der blonde Gouverneur in seiner Annahme korrekt war, und als er sich vorstellte, mit verbundenen Augen einem britischen Adligen ausgeliefert zu sein, bemerkte er, dass seine Übelkeit noch immer nicht verflogen war. „Aber das will ich nicht“, fuhr sein Bruder nach kurzem Zögern fort und suchte Lelouchs Blick. „Ich könnte dir das niemals antun, Lelouch.“ Der Ausdruck in den meerblauen Augen war einmal mehr flehend. „Sag mir, was du willst, und ich werde versuchen, es dir zu geben - aber zwing mich nicht, zwischen deiner Gesundheit und deinem Stolz zu wählen.“

Lelouch musste zugeben, dass es ihn überraschte, wie sehr Clovis die Vorstellung zuwider zu sein schien, ihn noch einmal ähnlich zu behandeln wie zu Anfang seiner Gefangenschaft, obwohl es die einfachste und vernünftigste Lösung für sein Problem wäre. Er hätte vermutet, dass sein Bruder Hintergedanken hatte und konkrete Pläne mir seinem seltsamen Verhalten verfolgte, aber Clovis war nicht so gut, dass er diese Art von Emotionen so glaubhaft vortäuschen könnte – nicht auf Dauer. Er mochte an Lelouchs Geass interessiert sein und wenig noble Gründe dafür haben, weshalb er sich überhaupt erst so intensiv mit einem jüngeren Bruder auseinandersetzte, der erst kürzlich von den Toten zurückgekehrt und beinahe zu seinem Henker geworden war, aber es hatte ganz den Anschein, dass Clovis nicht kaltblütig genug war, um einen Feind auch gänzlich wie einen solchen zu behandeln, wenn dieser zufällig blutsverwandt mit ihm war – ganz im Gegensatz zu Lelouch.
 

~
 

„Was erwartest du, das ich sage, Clovis?“, fragte sein Bruder kühl. „Dass ich mein Geass unter keinen Umständen benutzen werde? Würdest du dich wirklich auf mein Wort verlassen?“

„Ich...“, begann Clovis und erkannte noch im selben Atemzug, wie albern er gewesen war. Er erwartete, dass Lelouch ihm vertraute – aber in Wahrheit war er selbst nicht bereit, sich auf ein bloßes Versprechen seines Bruders zu verlassen, selbst wenn dieser bereit gewesen wäre, es ihm zu geben. Er fragte sich, ob er dankbar sein sollte, dass Lelouch sich keine Mühe gegeben hatte, ihm etwas vorzumachen; aber etwas sagte ihm, dass seine Motive kein Anlass zur Freude waren. „Du hast Recht“, gestand er ein und wich dem unbarmherzigen Blick violetter Augen aus, der zugleich kalt, wissend und fast schon triumphierend auf ihm ruhte. „Unter diesen Umständen würde es keinen Unterschied machen.“ Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, bevor er sich mit neuer Entschlossenheit wieder seinem Bruder zuwandte. Dieser beobachtete ihn aufmerksam, jedoch ohne jede erkennbare Regung. „Aber ich bin nach wie vor nicht bereit, dich wie einen Kriminellen zu behandeln“, fuhr Clovis fort und spürte, wie sein Blick weich wurde. „Ich habe dir gesagt, dass ich dir niemals absichtlich schaden würde“, erinnerte er seinen Bruder sanft. „Was hättest du davon, dein Geass einzusetzen?“

Lelouchs Züge blieben unbewegt. „Oh, ich weiß nicht...“, sagte er mit unverkennbarem Sarkasmus in der Stimme. „Meine Freiheit?“

„Du bist kein Gefangener, Lelouch.“

„Ach nein? Dann sag mir, Bruder - wie würdest du das hier nennen? Ich kann nicht einmal bestimmen, ob ich einen Arzt sehe möchte oder nicht, geschweige denn diesen Raum verlassen.“

„Du bist verletzt“, erinnerte Clovis ihn, aber im Grunde war er sich bewusst, dass das eine schwache Ausrede war.

Lelouch schnaubte verächtlich. „Und das gibt dir das Recht, mich zu bevormunden und in einen goldenen Käfig zu sperren?“

Dieses Mal war es Clovis, dessen Blick kühl wurde. „Nein“, sagte er. „Aber wenn du versuchst, mein Hirn an den Wänden meiner Kommandozentrale zu verteilen, dann wirst du wohl oder übel mit den Konsequenzen leben müssen.“ Lelouchs Miene veränderte sich nicht, aber er schwieg, und Clovis wusste, dass er diese Runde zur Abwechslung einmal gewonnen hatte. „Was würdest du tun, wenn du dich frei bewegen könntest?“, fragte er milder. Und fügte dann mit einem kleinen, selbstironischen Lächeln hinzu: „Außer mich zu töten.“

Lelouch sah ihn noch einen Moment länger mit nichtssagendem Blick an, bevor er den Kopf drehte und stattdessen die Wand betrachtete. Offenbar hatte er nicht vor, ihm zu antworten.

Clovis unterdrückte ein Seufzen. „Es gibt wirklich nichts, was ich tun könnte, um deine Laune zu bessern? Zumindest ein wenig?“, versuchte er es noch ein letztes Mal – mehr aus Ratlosigkeit als weil er ernsthaft daran glaubte, dass Lelouch es sich anders überlegt haben könnte. Folglich war er nicht überrascht, als er als Antwort ein weiteres Mal nur Schweigen erhielt. Resigniert erhob er sich, nahm den leeren Teller von Lelouchs Nachttisch und wandte sich zum Gehen.

„Einen Laptop.“

Perplex drehte Clovis sich wieder um. „Was?“

„Gib mir einen Laptop mit Internetverbindung“, sagte Lelouch sachlich, „und ich werde darüber nachdenken.“

„Ich bin nicht sicher...“, setzte Clovis an, brach jedoch ab, als er den ungerührten Blick seines Bruders sah. Vermutlich war es keine gute Idee, Lelouch einen Computer in die Hand zu geben – Clovis hatte keinen Zweifel, dass sein Bruder mehr damit anfangen konnte, als E-Mails zu verschicken, und selbst das wäre ihm unter den gegebenen Umständen schon nicht ganz geheuer. Aber letzten Endes konnte er Lelouch nicht ewig von allem fernhalten, was er auch nur entfernt als Waffe gebrauchen könnte, und der Gedanke, seinen Bruder tatsächlich zu halten wie in einem goldenen Käfig, nur, weil er zu feige war, eine Alternative zu finden, übte beinahe einen ebenso großen Reiz auf Clovis aus wie die Vorstellung, Lelouch eine Pistole in die Hand zu drücken und abzuwarten, was er damit tun würde.

„In Ordnung“, stimmte er daher nach ein paar Sekunden des Zauderns zu. „Ich werde zusehen, dass du ihn noch vor morgen Mittag bekommst. Sonst noch irgendetwas?“

„Nein.“ Lelouchs Blick war undefinierbar. „Das ist alles.“
 

~
 

Viereinhalb Stunden nach der nicht sehr ergiebigen Konversation mit seinem jüngeren Bruder schickte Clovis alle Wachen im Gebäude fort und empfing höchst persönlich Graf Asplund, der die übliche unbefangene Gelassenheit an den Tag legte und keinen Hehl aus seiner Neugierde machte.

„Ich frage mich, wer es ist, den ich so dringend untersuchen soll...“, bemerkte er, als er in der für einen Adligen angemessenen Alltagskleidung und mit einem kleinen Koffer in der Hand Clovis die breite Treppe empor folgte. „Noch dazu bei einer Nacht- und Nebelaktion.“

„Niemand, dessen Identität von Belang für Euch wäre.“

„Ah?“, machte der Graf und klang sogar noch interessierter als zuvor.

Über die Schulter warf Clovis ihm einen warnenden Blick zu. „Es wäre besser, wenn Ihr keine Fragen stellen würdet.“

Lloyd zeigte sich nicht gerade abgeschreckt, ließ das Thema aber mit einem unbekümmerten „Ist das so?“ fallen. Es war in Augenblicken wie diesen, dass Clovis froh war, dass der sonderbare Wissenschaftler beinahe ebenso professionell wie exzentrisch war.

Er führte den Mann bis zu Lelouchs Zimmer, vor dem er stehen blieb und höflich anklopfte, bevor er die Tür aufschloss und Graf Asplund den Vortritt ließ. Dann trat er selbst ein, und sein Blick legte sich ohne jede Verzögerung auf seinen Bruder – trotz allem hatte er nicht vor, Lelouch eine Möglichkeit zu geben, unbemerkt Gebrauch von seinem Geass zu machen.

Sein Bruder jedoch machte nicht den Eindruck, irgendetwas dergleichen vorzuhaben – was nur bedingt ein gutes Zeichen, aber in jedem Fall auffällig war.

Der Junge saß aufrecht in seinem Bett, die Miene neutral und einen aufmerksamen Ausdruck in den violetten Augen, und unwillkürlich kam Clovis der Gedanke, dass Lloyd sich nicht anstrengen müsste, um seinen Bruder als den zu erkennen, der er war: Lelouchs blasse aristokratische Züge waren beinahe unübersehbar, und sein dunkles seidiges Haar unterstrich diesen ersten Eindruck nur noch. Auch seine Haltung war die eines Prinzen, stolz und reserviert, und wenn es eines gab, wonach Lelouch in diesem Moment nicht aussah, dann war es jemand, der gegen seinen Willen festgehalten wurde. Viel mehr vermittelte er den Eindruck, dass es nichts auf dieser Welt gab, das sich seiner Kontrolle entzog.

„Graf Asplund, nehme ich an?“, erkundigte er sich in einem Tonfall, der seinem Gesichtsausdruck entsprach.

Graf Asplund blieb stehen und musterte ihn mit unverhohlener Neugierde. „Einfach nur Lloyd. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Lelouch blinzelte nicht einmal. „Mit niemandem von Belang.“

Schon zum zweiten Mal hatte er eine Antwort erhalten, die unmöglich zufriedenstellend für ihn sein konnte, aber der exzentrische Graf schien sich nicht daran zu stören, genauso wenig wie an dem ausdruckslosen Tonfall. „Mhm“, machte er heiter und trat näher. „Eine Schussverletzung, ja?“

Lelouch nickte leicht und zog ohne weitere Verzögerung die Decke zurück. Seines Oberteils und selbst des Verbandes hatte er sich bereits entledigte.

Lloyd ging neben ihm in die Knie und betrachtete die Wunde für einige Sekunden mit schiefgelegtem Kopf. „Ah... interessant“, kommentierte er gutgelaunt, und Clovis hatte große Lust, ihm etwas an den Kopf zu verwerfen. Aber falls Lloyd den stechenden Blick bemerkte, der sich in seinen Hinterkopf bohrte, ließ er sich nichts anmerken. Er streifte sich einen Latex-Handschuh über und begann vergnügt, an den Wundrändern herumzustochern. Nicht unbedingt grob, aber Clovis bezweifelte, dass Lelouch bei den ersten zwei Malen derart offensichtlich zusammengezuckt wäre, wäre er wirklich behutsam vorgegangen. „Nicht so harmlos, wie man meinen könnte, aber in jedem Fall ein Streifschuss.“ Der Graf tippte noch ein letztes Mal dagegen, und Clovis sah, wie Lelouch sich auf die Unterlippe biss – etwas, das dem exzentrischen Mann direkt vor ihm entging, da er wesentlich größeres Interesse an der Verletzung als an dem Verletzten zeigte. „Hm... ja, definitiv eine beginnende Entzündung!“

Clovis entschied, den verantwortlichen Soldaten im Nachhinein doch noch verschwinden zu lassen. Glücklicherweise brauchte er ihn ohnehin nicht mehr.

Lloyd, unbekümmert wie eh und je, legte den Koffer, den er mitgebracht hatte, auf das Fußende des Bettes und öffnete ihn. Dann nahm er einige der sich darin befindlichen Utensilien heraus und machte sich daran, Lelouchs Wunde fachgerecht zu versorgen.

Anerkennend bemerkte Clovis, dass sein Bruder keine Miene verzog, als das Desinfektionsspray mit der Verletzung in Kontakt kam.

„Immerhin ist es keine Blutvergiftung“, meinte Lloyd, und klang dabei trotz des wenig verwerflichen Inhalts seiner Worte wesentlich zu fröhlich für Clovis' Geschmack.

Lelouch dagegen ließ sich nicht anmerken, ob er ähnlich empfand. Seine Gesichtsmuskeln zuckten nicht einmal, während Graf Asplund seine Wunde neu verband, und Clovis hatte die vage Vermutung, dass er die Angelegenheit einfach nur so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.

Wenn dem so war, musste er nicht lange warten. Schon nach wenigen Minuten richtete der sonderbare Adlige sich mit einem vergnügten: „Das war's!“ wieder auf und begab sich zurück zu seinem Koffer. Clovis wartete, bis der Mann seine Sachen wieder eingepackt hatte, und begleitete ihn dann ohne Umschweife nach draußen. Dabei überraschte es ihn nicht, dass Graf Asplund nicht für eine Sekunde daran dachte, sich formell von seinem Patienten zu verabschieden, und beinahe noch weniger wunderte es ihn es, dass Lelouch keine Anstalten machte, ihn auf sein Fehlverhalten aufmerksam zu machen.

Erst als Clovis die Tür hinter ihnen abschloss, warf Lloyd ihm noch einmal einen neugierigen Blick zu. Allerdings stellte er keine weiteren Fragen mehr, sondern lächelte – dasselbe Lächeln, das sich auf seine Lippen gelegt hatte, als er Clovis gebeten hatte, sein neues Spielzeug beim Namen zu nennen. „Bezüglich des Lancelots...“, begann er.

Und Clovis wusste, dass sein kleiner Bruder Graf Asplund nicht länger interessierte.

Annäherung

„Sie werden nun in richtigen Kämpfen eingesetzt, nicht wahr?

Wie viele Jahre sind vergangen, frage ich mich, seit ich zum ersten Mal Lady Mariannes Tanz sah?“
 

- Clovis la Britannia, Stage 0.884
 


 


 

* * *
 

„Hier.“ Clovis ließ sich am Rand des Bettes nieder und platzierte zwei kleine Schachteln auf dem Nachttisch.

Lelouch betrachtete sie für einen Moment mit nichtssagender Miene und richtete seinen ausdruckslosen Blick dann wieder auf Clovis.

„Von Graf Asplund“, erklärte sein Bruder. „Die einen sind gegen die Infektion, die anderen gegen die Schmerzen, sollten sie noch einmal schlimmer werden.“

Lelouch hob die Brauen. „Du hast vor, sie hier zu lassen?“, fragte er in demselben ungläubig-geringschätzigen Tonfall, in dem er sich einige Stunden zuvor auch schon erkundigt hatte, ob Clovis tatsächlich so töricht wäre, sich auf sein Wort zu verlassen.

Dieses Mal jedoch fiel die Reaktion des Dritten Prinzen anders aus, als er erwartet hatte. Anstatt seinem Blick auszuweichen oder zumindest den Faden zu verlieren, schien sein Bruder im ersten Moment lediglich perplex - dann erbleichte er plötzlich und starrte ihn an, nacktes Entsetzen auf den Zügen.

Lelouch brauchte einen Augenblick, um zu begreifen. „Ich habe nicht vor, mich umzubringen“, sagte er spöttisch. „Ich war lediglich erstaunt darüber, dass du mir wenigstens dieses Maß an Autonomie zugestehst.“

Clovis' Erleichterung war nahezu greifbar, auch wenn es keine zwei Sekunden dauerte, bevor wieder eine andere Emotion die Oberhand gewann. „Lelouch...“

„Gib dir keine Mühe, Clovis.“ Lelouchs Stimme war ebenso unbewegt wie der Ausdruck seiner Augen. „Du hast deinen Willen bekommen. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich jetzt alleine lassen würdest.“ Er hielt inne. „Es sei denn, du möchtest, dass ich vorher noch ein Kunststück vorführe?“

Es waren grausame Worte, und Lelouch war sich dessen bewusst. Er verfolgte ihre Wirkung mit einer sadistischen Genugtuung, die ihn beinahe für seinen angekratzten Stolz entschädigte.

Clovis' Blick war flehend, aber Lelouchs eigene Gesichtszüge blieben bar jeder Emotion, und schließlich stand Clovis auf und trat von ihm zurück. Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und verließ den Raum.
 

An jenem Abend sah Lelouch seinen Bruder noch ein einziges Mal, als dieser ihm etwas zu essen brachte, aber sie sprachen nicht miteinander. Hätte Lelouch es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, dass Clovis bedrückt wirkte; aber in Wahrheit hatte der blonde Gouverneur nur einen lästigen Hang zur Theatralik.

Lelouch selbst schwieg ebenfalls, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Er hatte kein Interesse an einer weiteren ergebnislosen Konversation mit seinem unliebsamen Verwandten, und er war zu beschäftigt damit, seine Wunden zu lecken, als dass er die nötige Geduld dafür hätte aufbringen können. Vielleicht hatte Clovis Recht gehabt, als er behauptete, Graf Asplund stelle keine Gefahr dar – was auch immer der Mann sein mochte, er war mit Sicherheit kein typischer britischer Adliger, und etwas sagte Lelouch, dass es nicht Ansehen bei Hofe war, das er suchte -, aber das änderte nichts daran, dass sein Bruder Lelouch dazu gezwungen hatte, seine ungünstige Lage nicht nur als das zu erkennen, was sie war, sondern sie überdies auch noch zu akzeptieren. Er hatte auf eine Gelegenheit gehofft, sein Geass an dem blaublütigen Arzt einsetzen zu können, aber Clovis hatte ihn für keine Sekunde aus den Augen gelassen, und Lloyd Asplund hatte nicht den Eindruck gemacht, in der Offensive eine besonders effektive Waffe zu sein. Sicher, Lelouch hätte ihm befehlen können, sich auf Clovis zu stürzen und ihn niederzuringen – aber das hätte ihm eher unangenehme Nächte in den Kerkern eingebracht als seine Freiheit.

Alles in allem hätten die Dinge nach den Ereignissen der letzten Tage wesentlich schlechter für ihn aussehen können, als es tatsächlich der Fall war; dennoch kam Lelouch nicht umhin, Bitterkeit darüber zu empfinden, dass es überhaupt erst so weit gekommen war. Wäre ihm nicht eine winzige Fehlkalkulation unterlaufen, hätte nicht ein dummer Zufall seine Pläne vereitelt, dann wäre er jetzt längst dabei, den Tod seiner Mutter zu rächen und eine Welt zu erschaffen, in der Nanali glücklich leben konnte, wie er es immer vorgehabt hatte. Das Schicksal hatte ihm unverhofft eine Möglichkeit gegeben, den Spieß umzudrehen und nicht nur gegen das korrupte Britannien vorzugehen, sondern auch überdurchschnittlich erfolgreich dabei zu sein – nur um es sich im nächsten Moment anders zu überlegen und im Gegenzug für die Macht, die er erhalten hatte, seine Freiheit zu verlangen. Er war vom Regen in die Traufe geraten; vom Planen eines nahezu aussichtslosen Unterfangens in eine Lage, in der er über die notwendigen Mittel verfügte, die er zuvor nicht gehabt hatte, sie aber nicht einsetzen konnte, weil es ihm nicht einmal möglich war, das Zimmer zu verlassen, in dem man ihn festhielt. Er war so machtlos, dass er nicht einmal über sich selbst bestimmen konnte.

Lelouch senkte den Oberkörper langsam auf das Kissen in seinem Rücken und starrte die Wand auf der anderen Seite des Zimmers an, als könnte er alleine Kraft seines Blickes ein Loch in sie hineinbrennen. Selbst wenn er einen Laptop hätte, würde er unter diesen Umständen nicht viel mehr damit anfangen können, als allgemeine Entwicklungen zu verfolgen und ein paar Erkundigungen einzuholen. Die einzige Waffe, die ihm zur Verfügung stand, waren seine Worte, die eine noch wesentlich größere Wirkung auf seinen Halbbruder zu haben schienen, als er sich hätte erhoffen können; aber wenn er so weitermachte, würde er auch diesen Quell schon bald erschöpft haben, und dann hätte er nichts mehr, was er zu seinem Vorteil nutzen könnte. Er wäre Clovis ausgeliefert, vollkommen hilflos, und so weit konnte er es auf keinen Fall kommen lassen. So sehr es ihm auch zuwider war, er hatte keine andere Wahl, als seine bisherige Einstellung zu überdenken und sich wie der Stratege zu verhalten, der er eigentlich sein sollte.

Es hatte den Fehler gemacht, sich von seinen Gefühlen beherrschen zu lassen. Britannien hatte ihm alles genommen: seine Mutter, die Beine und Augen seiner Schwester, seine Kindheit... und nun auch noch Suzaku, seine Freiheit und die Nähe zu der wichtigsten Person in seinem Leben. Aber es hatte sich herausgestellt, dass Clovis nur für die letzten drei dieser Dinge persönlich verantwortlich war, und das in zwei der Fälle auch nur indirekt. Wäre er nicht zufällig ein Kind des Mannes gewesen, den Lelouch mehr hasste als alles andere, hätte er sich niemals so sehr gehen lassen.

Weder konnte noch wollte Lelouch seinem Halbbruder dafür verzeihen, dass er durch seine Befehle den Tod des einen Menschen herbeigeführt hatte, dem er neben seiner Schwester nahezu vorbehaltlos hätte vertrauen können. Aber alle anderen Gründe für sein Verhalten waren kleinlich und die Sache nicht wert, und wenn er sie beiseite schob, sollte er in der Lage sein, das Beste aus seiner gegenwärtigen Situation zu machen, während er darauf wartete, dass sich ihm eine Gelegenheit bot, das Blatt zu wenden. Schließlich konnte Clovis ihn nicht ewig in diesem Raum festhalten. Nun, er konnte, aber Lelouch hoffte, dass er das nicht vorhatte.

Es war nun schon drei Tage her, dass er auf die grünhaarige Frau getroffen war, die ihm die Fähigkeit verliehen hatte, die dies alles in Gang gesetzt hatte. Drei Tage, seit er nur eine Haaresbreite davon entfernt gewesen war, das zu tun, wonach etwas in ihm seit jenem Tag vor acht Jahren gedürstet hatte, und eine ernsthafte Bedrohung für die Herrschaft des Mannes zu werden, der ihn und Nanali als nützliche Handelsware bezeichnet hatte, bevor er sie wie entbehrliche Bauern in einer bereits so gut wie gewonnen Partie weggeworfen hatte. Drei Tage, seit er bereit gewesen war, eigenhändig und ohne zu zögern den Abzug zu drücken, um seine Ziele zu erreichen, aber doch nicht schnell genug gewesen war. Drei Tage, seit er seine eigenen Pläne durch einen fatalen Mangel an Paranoia durchkreuzt hatte, noch bevor sie in seinem Kopf eine konkrete Form hatten annehmen können.

Drei Tage, seit er seine kleine Schwester das letzte Mal gesehen hatte.

Lelouch machte sich keine Sorgen um Nanalis körperliches Wohl – nicht viel mehr, als er es sonst auch tat. Sie hatte Sayoko und Milly, die für ihn auf sie achtgeben würden; zumindest für eine Weile war sie in Sicherheit, auch wenn Lelouch sich schon lange vor dem Vorfall in Shinjuku gefragt hatte, wie lange die Ashford-Familie sie beide noch beschützen würde. Wenn seine Schwester sich jedoch Sorgen um ihn machte, dann gab es wenig, was irgendjemand tun konnte, um sie zu beruhigen, solange er sich nicht meldete, und Lelouch konnte sich nicht erinnern, jemals ein so schlechtes Gewissen wegen irgendetwas gehabt zu haben.

Allerdings hatte er nach wie vor keine andere Option, als alle Gedanken an Nanali so weit es ging zu verdrängen und sich darauf zu konzentrieren, möglichst schnell wieder bei ihr zu sein – oder, wenn das nicht möglich war, sie zumindest nicht ebenfalls in Gefahr zu bringen. Er hatte seit jeher damit gerechnet, dass er bei seinem Vorhaben, Britannien den Krieg zu erklären, umkommen würde – als er noch nicht über die Macht des Geass verfügt hatte, schien dieses Schicksal nahezu unausweichlich gewesen zu sein, auch wenn er alles daran gesetzt hätte, zuvor noch eine friedliche Welt für Nanali zu erschaffen und die Mörder ihrer Mutter büßen zu lassen.

Dass er nun schon ganz zu Anfang seiner Bestrebungen gescheitert war, war ernüchternd – mehr als das, es rief eine Reihe von Emotionen in ihm hervor, die beinahe ebenso stark waren wie sein Hass auf den Kaiser und deren Kern allesamt eine tiefe Bitterkeit ausmachte, die ebenso sehr gerechtfertigt war wie sie ihn nicht weiterbringen würde.

Aber seine kleine Schwester würde über sein Verschwinden hinwegkommen, und noch war Lelouchs Niederlage nicht endgültig. Es war unwahrscheinlich, dass er nach dieser Sache einfach so zu Nanali zurückkehren könnte, aber wenn er etwas fand, womit sich seine unangekündigte Abwesenheit glaubhaft erklären ließ, und wenn er wartete, bis sich die Aufregung um das gelegt hätte, was auch immer ein verspäteter Triumph über Clovis nach sich ziehen würde, dann müsste er nur noch Graf Asplund ausfindig machen und den Mann vergessen lassen, dass er ihn jemals gesehen hatte, und schon könnte er da weitermachen, wo er aufgehört hatte.

Das alles natürlich vorausgesetzt, sein Geass funktionierte noch und ließ sich wirklich nur kein zweites Mal an derselben Person einsetzen. Lelouch hätte große Lust gehabt, es an dem adligen Mediziner zu testen oder es sogar noch einmal an Clovis selbst zu versuchen; aber letzten Endes war es ihm das Risiko nicht wert gewesen. Er würde entweder einen anderen Weg finden oder auf günstigere Voraussetzungen warten müssen.

Lelouch lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Nein, im Augenblick gab es nur eines, was er tun konnte. Am Anfang seiner Gefangenschaft hatte er Clovis seine Kooperation im Austausch für Schweigen angeboten, und dabei war ihm niemals in den Sinn gekommen, dass er seine Feindseligkeit weiterhin so offen zeigen könnte. Dass sein Bruder wider Erwarten offenbar Skrupel hatte, ihn zu behandeln wie das vorherige Objekt seiner Forschungen, war kein Grund, seine Wut und Frustration ständig aufs Neue offenkundig zu machen, bis Clovis irgendwann genug von ihm hätte und beschließen würde, dass Blutsverwandtschaft doch nicht weiter von Bedeutung war. Viel mehr war es eine Schwäche, die er so gut wie möglich, aber geschickt und mit Bedacht ausnutzen sollte. Ein goldener Käfig mochte nicht immer besser sein als eine Kerkerzelle; aber in diesem Fall war Lelouch sich ziemlich sicher, dass er ihn den Alternativen vorzog. Schon alleine, weil er auf diese Weise wesentlich bessere Aussichten darauf hatte, in naher Zukunft seine Freiheit wiederzuerlangen; aber auch, weil er noch immer fürchtete, Clovis würde ihn dem Kaiser ausliefern und nicht seinen Wissenschaftlern, wenn er erst einmal die Nase voll von ihm hatte.

Wenn Lelouch sich nicht selbst einen Strick drehen wollte, musste er seinen Hass beiseite schieben und die überraschend wenigen, aber überaus vielversprechenden Blößen ausnutzen, die sein Halbbruder sich gab. Dann könnte er weitersehen.

Mit dem Gedanken, dass ohnehin alles andere nebensächlich war, solange Nanali sich nur in Sicherheit vor dem Rest ihrer Familie befand, ergab Lelouch sich schließlich der Erschöpfung, die seine Verletzung unweigerlich mit sich brachte. Wie er seinen Schlafrhythmus kannte, würde er mitten in der Nacht ohnehin noch einmal aufwachen, sodass er auch dann noch eine der Tabletten einnehmen könnte, die sein Bruder ihm dagelassen hatte. Und vielleicht wäre er bis dahin sogar hungrig genug, um doch noch etwas zu Abend zu essen.

Im Augenblick jedoch war Lelouch weder nach Nahrungsaufnahme noch nach irgendeiner anderen überflüssigen Bewegung zumute. Er rollte sich auf die Seite, auf der er keine Wunde zu berücksichtigen brauchte, die ihm bei einer falschen Bewegung unnötige Unannehmlichkeiten bescheren würde, und von da an dauerte es keine fünf Minuten, bis er eingeschlafen war.
 

~
 

Als Clovis seinem Bruder am Morgen nach ihrer Auseinandersetzung das Frühstück brachte, kostete es ihn einiges an Überwindung, über die Türschwelle zu treten. Seine Muskeln schmerzten beinahe vor Anspannung, und sein Magen zog sich bereits unangenehm zusammen, seit er keine halbe Stunde zuvor seine Gemächer verlassen hatte.

Bevor er am Abend zu Bett gegangen war, hatte er sich von der Tatsache abzulenken versucht, dass ihm gleich nach dem Aufstehen eine weitere Konfrontation mit Lelouch bevorstehen würde, aber bereits da war sein Erfolg ein kläglicher gewesen – und als er es nicht einmal zustande gebracht hatte, ein neues Bild anzufangen, nachdem er das letzte mit wenigen Pinselstrichen fertiggestellt hatte, war er so verzweifelt gewesen, dass er sich doch tatsächlich näher mit Lloyds kleinem Projekt beschäftigt hatte. Dabei war er auf ein paar interessante Fakten gestoßen, die ihm gezeigt hatten, dass der verrückte Graf genauso wenig Probleme damit hatte wie jeder andere Adlige, das ein oder andere unter den Teppich zu kehren, wenn es ihn voranbrachte; aber das das war nicht wirklich verwunderlich, und Clovis war von vornherein in keiner Laune gewesen, in der es ein paar unerwartete Enthüllungen vermocht hätten, seine Aufmerksamkeit für länger zu halten als für ein paar Minuten.

Dementsprechend hatte er sich schon bald darauf frustriert schlafengelegt und war kurz nach Sonnenaufgang in einer Stimmung aufgewacht, die kein bisschen besser gewesen war als am Vorabend. Im Gegenteil: Nun, da der nächste Streit mit seinem Bruder so unmittelbar bevorstand – und es würde ein Streit werden, denn Clovis hatte genug davon, sich schweigend bissige Bemerkungen von jemandem anzuhören, der versucht hatte, ihn umzubringen; totgeglaubter jüngerer Bruder hin oder her -, hätte er viel darum gegeben, an Ort und Stelle von einem Loch im Boden verschluckt zu werden und erst am anderen Ende der Welt wieder aufzutauchen.

Jedoch tat der Grund unter seinen Füßen ihm den Gefallen nicht, und so fand er sich schon bald inmitten von Lelouchs Zimmer wieder, einen Teller mit belegten Broten in der Hand und hin und her gerissen zwischen seinem schlechten Gewissen und Verärgerung über die anmaßende Egozentrik seines Bruders. Zögerlich öffnete er den Mund, um Lelouch einen guten Morgen zu wünschen – er würde zumindest versuchen, eine vernünftige Konversation zu führen.

Aber noch ehe er einen Ton herausbrachte, fiel sein Blick auf das Bett, und er hielt erstaunt inne.

Nun, damit hatte er ganz sicher nicht gerechnet.

Clovis schloss den Mund wieder und trat langsam bis in die Mitte des Raumes, wo er zunächst den Teller auf dem Nachttisch abstellte und sich dann nach kurzem Zaudern neben das ausladende Nachtlager kniete. Er betrachtete das schlafende Gesicht seines Bruders und fragte sich, ob er jemals zuvor einen so friedlichen Ausdruck darauf gesehen hatte.

Vielleicht, entschied er schließlich. Aber mit Sicherheit nicht, wenn sie unter vier Augen gewesen waren, und schon gar nicht innerhalb der letzten paar Tage.

Ehe er sich versah, hatte Clovis auch schon die Hand ausgestreckt, um seinem Bruder behutsam eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn Lelouch daraufhin die Augen aufgeschlagen und ihn finster angeblickt hätte – tatsächlich rechnete er halb mit einer vergleichbaren Reaktion -, aber er rührte sich nicht, und der letzte Rest von Clovis' Beklommenheit verschwand.

Er zog die Hand zurück, und das war der Moment, in dem er erkannte, dass die Gereiztheit, die er seit dem Aufwachen verspürt hatte, ausschließlich aus Ratlosigkeit geboren war. Er war nicht wütend auf Lelouch – wie könnte er, nach allem, was sein Bruder in den letzten Jahren durchgemacht haben musste, und wenn er schon früher Schwierigkeiten gehabt hatte, seinem kleinen Bruder etwas ernsthaft zu verübeln? - und nicht einmal auf sich selbst; denn wenngleich er sich sehr wohl bewusst war, dass er Lelouchs Wünsche von Anfang an hätte respektieren sollen, sah er keine Möglichkeit, wie er unter den gegebenen Umständen anders hätte handeln können. Und die Wunde hatte sich entzündet.

Es war die Gesamtsituation, die Clovis widerstrebte. Die hilflose Frustration, die sich daraus ergab, und sein eigene Machtlosigkeit.

Wenn das so weiterginge, würden seine Nerven schon bald vollkommen blankliegen. Das würde niemandem weiterhelfen, aber allmählich war er am Ende mit seinem Latein. Er würde versuchen, den Schaden wieder gutzumachen, den er angerichtet hatte; aber er bezweifelte, dass es etwas nützen würde.

Resigniert schloss Clovis die Augen und senkte den Kopf, bis seine Stirn am Rand der kühlen Matratze lehnte.

Wann war alles so unglaublich kompliziert geworden?

~
 

„Wie war dein Tag?“

Lelouch schloss den Laptop, der noch immer auf seinem Schoß ruhte, obwohl er ihn bereits vor einer Weile abgeschaltet hatte, und blickte auf. Sein Halbbruder stand mehrere Meter von ihm entfernt, nur wenige Schritte vom Türrahmen, und sah ganz so aus, als wäre er am liebsten gar nicht erst eingetreten.

Als er Lelouch am Morgen das Essen gebracht hatte, hatte dieser uncharakteristischerweise noch geschlafen – vermutlich war es das leichte Fieber, das er entwickelt hatte, irgendwann bevor er in der Nacht noch einmal wachgeworden war, das ihm einen so festen Schlaf beschert hatte -, was bedeutete, dass die letzten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten, keine besonders freundlichen gewesen waren. Ganz offensichtlich erwartete sein Bruder, dass Lelouch die Gelegenheit nutzen würde, um seinen Unmut einmal mehr nur allzu deutlich kundzutun. Er irrte sich.

„Gut“, sagte Lelouch in neutralem Tonfall und lehnte sich gegen das Kissen in seinem Rücken. „Danke.“ Er ließ bewusst offen, ob er „Danke der Nachfrage“ meinte, oder ob er sich auf den Rechner bezog.

Clovis war so überrascht, dass er nicht sofort reagierte. Für die Dauer mehrerer Herzschläge starrte er Lelouch einfach nur an, während er vermutlich die Tatsache verarbeitete, dass die Antwort, die er erhalten hatte, weder feindselig noch abweisend war, sondern nahezu höflich. Dann huschte ein Ausdruck über sein Gesicht, den Lelouch nicht zu deuten wusste, und er machte vorsichtig einen Schritt nach vorne. „Geht es...“, begann er und leckte sich nervös über die Lippen. „Geht es dir besser?“ Seine Stimme war so leise, als fürchtete er, ein falsches Wort könnte genügen, damit die Konversation ähnliche Züge annehmen würde wie am Vortag und damit auch schon bald wieder zu einem abrupten Ende käme.

Diese Sorge war durchaus verständlich, hatte Lelouch seinem Bruder doch bisher keinen Grund gegeben, irgendetwas anderes anzunehmen. Es war ein Umstand, den er zu berichtigen gedachte.

„Ja“, sagte er – wenn schon nicht mit einem Lächeln, dann doch zumindest nicht unfreundlich. „Ich habe nur ein wenig Schlaf gebraucht“, setzte er hinzu, weil er nicht zu kurz angebunden erscheinen wollte. „Das war alles.“

„Das freut mich“, gab Clovis mit einer seltsamen Mischung von Erleichterung, Hoffnung und Beklommenheit in der Stimme zurück. Zögerlich trat er zu ihm herüber. „Ich...“, setzte er an. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“

„Entschuldigen?“ Nun kam Lelouch doch nicht umhin, die Brauen um den ein oder anderen Millimeter anzuheben. Er hatte mit vielem gerechnet, aber anscheinend war Clovis stets für eine Überraschung gut. „Wofür?“

„Ich hätte mich nicht einfach über deinen Willen hinwegsetzen sollen. Ich weiß, dass es nicht richtig war, und dass eine Entschuldigung nichts ändern wird... vor allem, weil ich es vermutlich wieder tun würde. Aber ich will, dass du weißt, dass es die Wahrheit war, als ich sagte, ich mache mir nur Sorgen um dich.“ Obwohl Clovis schon die ganze Zeit über so aussah, als würde er jeden Moment die Augen schließen oder zumindest den Kopf abwenden, hielt er weiterhin Lelouchs Blick. „Ich weiß, dass es egoistisch von mir ist. Aber ich will dich nicht verlieren, Lelouch. Nicht noch einmal.“

Die beinahe verzweifelte Bitte um – was? Verständnis? - in der Stimme seines Halbbruders war nichts weiter als ein leicht zu überhörender Unterton; der flehende Ausdruck in seinen Augen jedoch war unverkennbar. Dieses Mal war es an Lelouch, sprachlos zu sein.

Das hier war kein fehlgeleitetes Pflichtgefühl oder der Versuch, aus einer Banalität ein Drama zu machen.

„Du...“, sagte Lelouch und betrachtete seinen Bruder noch für einen Moment länger, während er zu einem Schluss kam, den er noch wesentlich befremdlicher fand als die Vorstellung, dass Clovis seinetwegen Gewissensbisse hatte. „Du meinst es ernst, nicht wahr? Du machst dir wirklich etwas aus mir.“

Clovis nickte, und Lelouch, dessen Gesichtsausdruck und Tonlage bis dahin vollkommen neutral gewesen waren, entwich ein kurzer, erstickter Laut der Belustigung, der sich schon wenig später in ein Lachen verwandelte.

Clovis zuckte zusammen.

„Was bist du, Clovis, ein Idiot?“, fragte Lelouch, seltsam amüsiert. Er versuchte, seine Erheiterung unter Kontrolle zu bringen, aber es dauerte ein paar Sekunden, bevor er weitersprechen konnte, ohne dass ihm dabei ein Kichern entglitt. „Ich habe dir eine Waffe an den Kopf gehalten. Und wenn ich nur den Bruchteil einer Sekunde länger Zeit gehabt hätte, hätte ich den Abzug gedrückt. Du hast es selbst gesagt: Ich habe versucht, dein Gehirn an den Wänden deiner Kommandozentrale zu verteilen – ich hätte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken. Und du willst mir erzählen, dass ich dir etwas bedeute?“ Abermals lachte er. „Was habe ich jemals für dich getan?“

Clovis schien sichtlich getroffen, aber Lelouch war überrascht zu sehen, dass er seinem Blick noch immer nicht ausgewichen war. „Ich weiß, dass du geschossen hättest“, sagte er, und erst jetzt schloss er die Lider. „Ich weiß, dass du nicht gezögert hättest, und ich habe nie geglaubt, du hättest es bereut.“ Er öffnete die Augen wieder, und ähnlich wie schon zuvor war der Ausdruck darin ebenso fest, wie er sanft war. „Aber du bist mein Bruder, Lelouch. Ich könnte dich niemals nicht lieben. Nicht, als du jede einzelne Partie, die wir gegeneinander gespielt haben, mühelos gewonnen und mich mit deinem selbstzufriedenen Lächeln immer wieder aufs Neue beinahe zur Weißglut getrieben hast, und auch nicht jetzt.“

Lelouch schnaubte. „Weil wir zufälligerweise denselben Vater haben?“

„Weil du du bist, Lelouch.“ Wieder schloss Clovis für einen Moment die Augen, als könnte er die nächsten Worte nur sagen, wenn er dabei weder Lelouch noch sonst irgendetwas von seiner Umgebung ansehen musste. „Ich weiß nicht, ob ich irgendein anderes unserer Geschwister so sehr liebe wie dich. Vielleicht bin ich töricht. Aber das ist nun einmal, wie es ist – selbst wenn ich wollte, könnte ich es nicht ändern.“

„Warum?“ Lelouch merkte kaum, wie Spott und an Hysterie grenzende Belustigung ihn so schnell wieder verließen, wie sie gekommen waren, und seine Stimme zu wenig mehr wurde als einem tonlosen Flüstern.

„Ich habe dich immer bewundert, Lelouch. Dich und Lady Marianne... du warst klug und stolz, und am Anfang war es wohl mehr Faszination als alles andere. Von Schneizel einmal abgesehen war ich niemals jemandem begegnet, der mich so einfach schlagen konnte – selbst Cornelia hatte das ein oder andere Mal Probleme, wenn ich sie denn überhaupt einmal dazu bewegen konnte, ein Schachbrett anstatt einer Klinge anzufassen. Und du warst sieben Jahre jünger als ich.“ Clovis schüttelte den Kopf. „Vielleicht ist es dir nicht bewusst, aber ich glaube, in dieser Hinsicht bist du deiner Mutter sehr ähnlich... die Leute konnten nicht anders, als zu ihr aufzusehen – selbst diejenigen, die geblendet von Eifersucht waren, hätten es niemals gewagt, ihr offen ins Gesicht zu sagen, was auch immer sie insgeheim über sie denken mochten. Ich habe mich nie sonderlich für Waffen und Knightmares interessiert, aber Lady Marianne...“ Die Ehrfurcht in Clovis' Stimme überraschte Lelouch beinahe ebenso sehr wie seine Worte, und er registrierte kaum, wie sein Halbbruder nun doch das Gesicht von ihm wegdrehte. „Es ist nicht, weil du mein Bruder bist – nicht nur. Es ist nicht einmal, weil du ihr Sohn bist. Ich kann nicht anders, als dich zu lieben, weil du Lelouch bist – und daran wird sich nichts ändern; auch, wenn du mich hasst.“

Schweigen legte sich über sie. Selbst wenn Lelouch sofort eine Erwiderung in den Sinn gekommen wäre, hätte er die Stille nicht durchbrechen können – Clovis' Worte hatten seinen Mund so gänzlich und unerwartet ausgetrocknet wie ein heißer Wüstenwind.

Als er eine Weile später dennoch das Erste entgegnete, was ihm ihn den Sinn kam, musste er die Laute erst an dem Kloß vorbeizwängen, der auf einmal seinen Hals blockierte. „Ich hasse dich nicht“, sagte er. Und erst als er die Worte ausgesprochen hatte, erkannte er, wie wahr sie waren.

Clovis' Kopf schnellte herum, und er starrte ihn an – ungläubig, aber es lag auch noch etwas anderes in seinem Blick.

„Es ist der Kaiser, den ich hasse“, fuhr Lelouch fort. „Nicht du.“

„Du...“ Das Erstaunen auf Clovis' Zügen war offenkundig und auch in seiner Stimme nicht zu überhören, und der Hoffnungsschimmer, der bereits zuvor in seine Augen getreten war, war nun deutlich als solcher zu erkennen.

„Ich sage nicht, dass es mir gefällt, wie die Dinge im Augenblick liegen“, stellte Lelouch klar. „Aber ich glaube nicht, dass ich dich jemals wirklich gehasst habe.“

Clovis war sichtlich verblüfft, und Lelouch konnte es ihm nicht verdenken. Er selbst hatte nicht gewusst, dass er so empfand... nicht, bis Clovis seine Mutter erwähnt und ihren Namen mit solch unverkennbarer Bewunderung in der Stimme ausgesprochen hatte. Er hatte geglaubt, sein Bruder wäre in ihre Ermordung verwickelt gewesen, und durch sein Geass war ihm klar geworden, dass er sich geirrt hatte - aber nicht, wie blind er gewesen war.

Er hätte niemals so überzeugt von der Schuld seines Halbbruders sein sollen. Clovis hatte seiner Mutter nie etwas Geringeres als Respekt entgegengebracht, und die einzigen seiner Halbgeschwister, die damals weniger politische Ambitionen an den Tag gelegt hatten als Clovis, waren Euphemia und vielleicht Odysseus.

Andererseits hätte vor acht Jahren auch noch niemand erwartet, dass Clovis eines Tages Gouverneur werden und ein willkürliches Massaker befehlen würde. Insofern war Lelouchs Verdacht nicht völlig unbegründet gewesen – selbst wenn man einmal davon absah, dass von Natur aus niemand bei Hofe als vertrauenswürdig bezeichnet werden konnte.

Dennoch... an jenem Tag in Shinjuku hätte er kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein können.

„Danke“, sagte Clovis, und in seiner kaum merklich bebenden Stimme lag etwas, das Lelouch nicht zu identifizieren vermochte. „Du weißt nicht...“ Er schüttelte den Kopf. „Danke“, wiederholte er.

Lancelot

„Du isst nicht sehr viel“, stellte Clovis fest, als er am Morgen nach ihrer sonderbaren Unterhaltung neben Lelouch auf der Bettkante Platz nahm. Seine Stimme war bar jedweden Nachdrucks, aber er wirkte nicht länger zögerlich.

„Ich habe keinen Hunger.“ Mit einem Achselzucken klappte Lelouch seinen Rechner zu.

Clovis neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn neugierig. „Weshalb nicht?“, fragte er. Und fügte dann besorgt hinzu: „Ist dir nicht gut?“

„Nein.“ Beiläufig schob Lelouch den Laptop beiseite. „Ich schätze, ich gehöre zu den Menschen, die sich lieber von Koffein ernähren als von Nahrungsmitteln.“

Sein Bruder blinzelte. „Du möchtest Kaffee? Wenn du willst, bringe ich dir welchen.“

„Nicht nötig“, entgegnete Lelouch. „Ich habe hier ohnehin nicht viel Besseres zu tun, als zu schlafen.“ Clovis zuckte zusammen, und Lelouch gestattete sich ein kleines Lächeln. „Das war kein Vorwurf. Auch wenn ich mich frage, ob du vorhast, mich ewig in diesem Zimmer einzusperren.“

„Lelouch...“

Lelouch hob die Schultern. „Es ist in Ordnung - mir ist klar, dass du deine Gründe hast. Immerhin habe ich versucht, dich zu töten.“ Er bemerkte, dass sein Bruder sich bei diesen Worten förmlich unter seinem Blick zu winden begann, und lächelte. „Es ist eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme“, gab er zu und glättete mit einer Hand seine Bettdecke.

Für einen langen Moment schwieg Clovis - offenbar unschlüssig, ob Lelouch ihm tatsächlich keinen Vorwurf machte oder ob er zwischen den Zeilen lesen musste. Schließlich sagte er mit so viel Aufrichtigkeit in der Stimme, dass Lelouch sie nicht einmal hätte leugnen können, wenn er gewollt hätte: „Ich will dir nicht schaden, Lelouch.“

„Ich weiß.“ Lelouch lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Gibt es irgendetwas Bestimmtes, was du wolltest? Ich glaube nämlich, mein Kopf wäre mir dankbar, wenn ich mich noch einmal hinlegen würde.“

Clovis zögerte einen Augenblick - Lelouch vermutete, dass er erwog, ob er das Thema wirklich so einfach fallen lassen sollte. Aber er kam wohl zu dem Schluss, dass es unnötig war, sich noch einmal zu wiederholen, denn was er letzten Endes sagte, war: „Es ist nichts Wichtiges. Ich habe es nicht geschafft, die Veranstaltung abzusagen, die für heute geplant war, also werden wir uns wohl vor Mitternacht nicht noch einmal sehen.“

Lelouch öffnete die Augen wieder. „Veranstaltung?“

Clovis winkte ab. „Nur eine der üblichen Partys. Ab und an waren sie ein netter Zeitvertreib, aber vor allem sind sie ein nützliches Publicity-Mittel.“ Er zuckte die Achseln. „Normalerweise halte ich sie nicht so kurz hintereinander ab, aber das kommt dabei heraus, wenn man seine Terminplanung den falschen Leuten überlässt. Ich habe gestern davon erfahren, und ich habe selten weniger Gefallen an der Vorstellung finden, mich für die Hälfte des Tages mit Reportern herumschlagen zu müssen, die schon seit Jahren vergeblich auf einen Skandal warten, der gerade groß genug ist, um Aufsehen zu erregen, aber sie nicht gleich den Kopf kosten wird.“ Clovis' Gesichtsausdruck stand seinem Tonfall in Sachen Desinteresse in nichts nach. „Ich nehme an, eine noch ausführlichere Zusammenfassung würde dich ebenso sehr langweilen wie mich selbst?“

„Das wäre durchaus möglich.“

„Dann werde ich dich jetzt alleine lassen. Brauchst du noch etwas?“

„Nein.“ Lelouch schloss die Lider. „Trotzdem danke.“
 

~
 

„Eigentlich haben wir zu Beginn der Woche nicht genügend Zeit, um an Festlichkeiten teilzunehmen - aber da Ihr der Gastgeber seid, wollten wir uns diese Veranstaltung nicht entgehen lassen.“

„Es freut mich, dass Ihr so eine hohe Meinung von mir habt“, sagte Clovis und setzte ein kleines, aber einnehmendes Lächeln auf. Er hatte keine Ahnung, weshalb er sich mit einem Baron unterhielt – um ihn herum wimmelte es nur so von Grafen und anderen höhergestellten Adligen, aber irgendwie war er bei seinem Versuch, subtil einen besonders wichtigtuerischen Marquis abzuschütteln, bei einem Emporkömmling gelandet, der gerade einmal genug Beziehungen hatte, um sich noch zu den Gästen zählen zu können. Der Mann war schmal und unscheinbar, sodass Clovis niemals von ihm Notiz genommen hätte, wäre nicht seine wesentlich charmantere Gattin gewesen, die ihm mit ihrem langen schwarzen Haar und den smaragdgrünen Augen den idealen Vorwand geliefert hatte, einen wesentlich bedeutenderen Adligen einfach stehen zu lassen und nur wenige Schritte von ihm entfernt eine neue Konversation zu beginnen.

„Aber selbstverständlich haben wir das, Euer Hoheit! Es ist erstaunlich, wie Ihr es schafft, dieses Gebiet so friedlich zu halten, wenn man bedenkt... nun, versteht mich nicht falsch, ich finde es bewundernswert, wie ihr versucht, die Elfer miteinzubeziehen. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass diese Leute zur Gewalt neigen. Es ist eine Schande, dass sie Eure Bemühungen nicht zu schätzen wissen – schließlich tut Ihr alles, um Konflikte zu vermeiden, und diese Menschen danken es Euch, indem sie Gebiet Elf zu dem Gebiet mit den auffälligsten terroristischen Aktivitäten machen.“

„Es ist in der Tat ärgerlich“, stimmte Clovis dem hageren Mann zu, während er bei sich dachte, dass er nie mehr für irgendjemandem in diesem Land getan hatte, als in die Kamera zu lächeln. „Aber ich bin sicher, mit der Zeit werden auch diejenigen, die sich im Augenblick noch gegen unser System wehren, erkennen, was sie Britannien zu verdanken haben.“

„Ihr seid wahrhaft großherzig“, sagte der Baron und schaffte es dabei irgendwie, nicht so zu klingen, als würde er ihm nur schmeicheln wollen – eine Gabe, die sich erstaunlich selten in britischen Adligen finden ließ. „Und wenn man bedenkt... erst neulich, dieser Vorfall in Shinjuku...“

„Es war eine unglückliche Angelegenheit.“

„Es war entsetzlich“, schaltete die dunkelhaarige Gemahlin des Barons sich ein. Auch ihr gelang es, aufrichtig zu wirken, aber das überraschte Clovis nicht. Er hatte den Eindruck bekommen, dass die zierliche Frau in dem eleganten schwarzen Kleid der Grund war, weshalb ihr Gemahl es trotz seines bescheidenen Vermögens und Auftretens überhaupt zu irgendeiner Art von Ansehen gebracht hatte – und das nicht nur wegen ihres zweifelsohne angenehmen Äußeren „Und dann hieß es auch noch, der Kontakt zur Kommandozentrale sei zwischendurch abgebrochen. Als man die letzten Tage nichts von Euch gehört hat, gab es Gerüchte, Ihr wäret verletzt worden.“

„Ah, Ihr wisst, wie die Leute sind - sie neigen dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen. Wie Ihr sehen könnt, geht es mir ausgezeichnet.“

„In der Tat. Und Ihr wisst gar nicht, wie erleichtert ich bin.“ Die Baronin schüttelte den Kopf, und ihr langes schwarzes Haar, das nur zum Teil hochgesteckt war, folgte der Bewegung. „Diese Terroristen sind so blutrünstig. Sie wollten ein Giftgas stehlen, hieß es in den Nachrichten? Nun, Gott sei Dank ist ihnen dieser Versuch missglückt! Nicht auszudenken, was sie damit angefangen hätten, wenn sie es tatsächlich in die Finger bekommen hätten.“

„Zu wahr, zu wahr...“, stimmte ihr Gatte ihr zu.

„Ich kann Euch nicht sagen, wie glücklich mich Eure Anteilnahme macht, Milady.“ Galant nahm Clovis die behandschuhte Hand der jungen Frau in die seine und senkte die Lippen darauf. „Schließlich will ich mir nicht die Feindschaft Eures Gemahls zuziehen“, fügte er mit einem verwegenen Lächeln und einem kurzen Blick in die Richtung des besagten Mannes hinzu, als er sich wieder aufrichtete. „Wenn Ihr mich entschuldigen würdet?“

Die Baronin kicherte verhalten und zog ihren bleichen Arm zurück. „Natürlich“, sagte sie. „Es war überaus reizend, Eure Bekanntschaft zu machen, Euer Hoheit.“

Clovis neigte den Kopf. „Die Freude ist ganz meinerseits“, versicherte er und wandte sich dem Gemahl der jungen Frau zu.

„Es war uns eine Ehre, Euer Hoheit“, beteuerte dieser. Am Rande registrierte Clovis, dass der Baron stets den Plural verwendete und niemals nur von sich selbst sprach, wenn er eine solche Aussage machte.

Mit einem höflichen Nicken wandte er sich ab.
 

Es war bereits später Nachmittag, aber die Feierlichkeiten waren noch immer in vollem Gange. Überall standen kleine Gruppen von Gästen herum, die sich angeregt unterhielten und von Zeit zu Zeit an eleganten Weingläsern nippten. Hier und da war ein überspitztes Lachen zu hören.

So unauffällig wie möglich bahnte Clovis sich seinen Weg durch die Menschenmassen und ignorierte dabei alle Köpfe, die sich nach ihm wandten. Um Schmeichlern wie dem aufdringlichen Marquis von zuvor keine Gelegenheit zu geben, zu bemerken, dass er nicht länger in Gesellschaft einer Dame und somit praktisch Freiwild war, hielt er direkt auf eine Ansammlung junger Frauen zu, die er für den Rest des Abends zu unterhalten gedachte. Es war keine unangenehme Methode, die Zeit totzuschlagen, und am Anfang des Tages hatte er es sogar ungewöhnlich unterhaltsam gefunden, der ein oder anderen hübschen Dame ein charmantes Lächeln und anerkennende Worte zu schenken. Inzwischen jedoch war die Aufmerksamkeit, die er seinen Gesprächspartnern schenkte, noch oberflächlicher als gewöhnlich, und seine Gedanken drehten sich um gänzlich andere Dinge.

Wie zum Beispiel der Tatsache, dass die Leute noch immer über Shinjuku redeten. Es war taktisch nicht besonders klug gewesen, sich ausgerechnet nach diesem Vorfall für beinahe eine halbe Woche aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen – allerdings neigten seine Strategien ohnehin dazu, nicht besonders ausgereift zu sein, und in diesem Fall hatte er gute Gründe gehabt, seine Pflichten als Gouverneur zu vernachlässigen. Einmal ganz abgesehen davon, dass sein jüngerer Bruder gänzlich unvermittelt von den Toten auferstanden war und er alleine schon deshalb wenig Interesse daran hatte, sich mit den üblichen Trivialitäten herumzuschlagen, hatte er auch noch seinem Vater glaubhaft versichern müssen, dass sein abrupter Abbruch der Säuberungsaktion eine genau einkalkulierte Entscheidung zur Steigerung seiner Beliebtheit und seines Einflusses gewesen war, und nichts damit zu tun hatte, dass er zu weich gewesen wäre, die Sache tatsächlich zu Ende zu bringen. Es war eine Halbwahrheit – Clovis hätte diese Menschen ausgelöscht, ohne zu zögern; aber an Publicity hatte er ausnahmsweise nicht für eine Sekunde gedacht, als er die Aktion abgebrochen und auch später nicht fortgesetzt hatte.

Die ganze Angelegenheit hatte einen sonderbaren Nachgeschmack bei ihm hinterlassen, doch auch damit hatte er sich bisher nicht weiter beschäftigt, und er könnte sich selbst dafür auf die Schulter klopfen, wie überzeugend er gewesen war – obwohl Clovis' psychische Verfassung am Morgen nach dem Vorfall in Shinjuku einiges zu wünschen übrig gelassen hatte, war es ihm gelungen, den Kaiser davon abzuhalten, ihn zu enterben oder auch nur seines Postens als Gouverneur von Gebiet Elf zu entheben. Möglicherweise lag es daran, dass es unter seinen in Britannien verbliebenen Geschwistern niemanden gab, der sowohl nennenswert geeigneter für diese Aufgabe als auch interessiert und bei Hofe entbehrlich war, aber das kümmerte Clovis nicht sonderlich. Sein Vater hatte die Sache bereits nach wenigen Minuten mit einem Desinteresse abgetan, das größer kaum hätte sein können, und auch wenn Clovis nicht sehr viel Wert darauf legte, behandelt zu werden wie eine lästige Fliege, die es möglichst beiläufig zu verscheuchen galt, hatte er sich sich niemals etwas Besseres erhofft. Vierundzwanzig Jahre waren mehr als genug Zeit, um zu begreifen, dass Charles di Britannia kein Vater war, wie er im Buche stand.

Dennoch störte Clovis sich noch gelegentlich an dieser Tatsache, und offenbar war er da nicht der Einzige.

Er dachte daran, wie Lelouch auf die bloße Erwähnung des Kaisers reagiert hatte, und schauderte leicht. Diesen Mann hatte sein Bruder gesagt, und niemals zuvor hatte Clovis jemanden so viel Hass in zwei solch unscheinbare Worte legen hören.

Er mochte nicht die geringste Ahnung haben, was zwischen Lelouch und ihrem Vater vorgefallen war, aber es konnte nicht sehr schön mitanzusehen gewesen zu sein – Clovis hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, eine Rückkehr nach Britannien seinem Bruder gegenüber überhaupt erwähnt zu haben. Vermutlich hätte er Lelouch sagen können, dass er seine Exekution für den nächsten Morgen angesetzt hatte, und er hätte es nicht schlechter aufgenommen.

Die Vorstellung, dass Lelouch ernsthaft geglaubt hatte, er würde ihn für seine Forschungen benutzen – dass sein eigener Bruder der Überzeugung gewesen war, er müsste ihm einen solchen Vorschlag machen, damit er nichts tat, was Lelouch so offensichtlich zuwider war... von dem er, vielleicht ohne es zu merken, zugegeben hatte, dass es die eine Sache war, die er fürchtete... bis zu diesem Zeitpunkt hatte Clovis lediglich gemerkt, wie sehr Lelouchs Worte ihn verletzten, und er hatte die Angelegenheit nur noch so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen. Dabei wusste er nicht einmal, was er danach getan hätte; nach allem, was geschehen war, hätte er kaum einfach so weitermachen können, als wäre nichts gewesen.

Es ist mir egal, was du mit mir machst. Aber ich schwöre dir, Clovis...

Clovis hatte die Drohung in den Worten nicht überhört, aber er hatte sie als das erkannt, was sie war. Möglicherweise hätte Lelouch eines Tages einen Weg gefunden, es ihm heimzuzahlen – in der Tat hatte Clovis keinen Zweifel daran, dass sein Bruder früher oder später sein Ziel erreicht hätte, hätte er eine persönliche Vendetta aus dem Vorfall gemacht -, aber in diesem Augenblick waren seine Worte nichts weiter als ein leeres Versprechen gewesen. Ein verzweifelter Versuch, ihn lange genug zum Zögern zu bringen, um sich ein besseres Argument einfallen lassen zu können.

Und dann hatte sein Bruder sich ihm als Versuchsobjekt zur Verfügung stellen wollen, um sich sein Schweigen zu erkaufen, und diese Erkenntnis hatte denselben Effekt auf Clovis gehabt wie ein Eimer eiskalten Wassers, der sich plötzlich über seinem Kopf entleerte. Lelouch hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als ihm seinen Körper anzubieten – nicht im traditionellen Sinne, aber das spielte keine Rolle. Clovis bezweifelte, dass sein Entsetzen hätte größer sein können.

Das war der Moment gewesen, in dem er nicht länger Clovis la Britannia, Dritter Prinz des Heiligen Britischen Reiches und gleichmütiger Gouverneur von Gebiet Elf gewesen war, sondern einfach nur noch nur noch Clovis - ein bestenfalls mittelmäßiger Stratege, der sich angewöhnt hatte, schnell das Handtuch zu werfen, wenn die Dinge nicht nach Plan verliefen und er sich mit der Situation überfordert glaubte, der aber in diesem Fall zu sehr besorgter großer Bruder gewesen war, um sich sonderlich darum zu scheren.

Er hatte niemals aufgehört, Lelouch zu lieben. Und auch wenn sein Bruder sich dessen nicht bewusst gewesen war und vermutlich nach wie vor keine Schwierigkeiten hätte, ihn mit einem Achselzucken abzutun, änderte das nichts an seinen Gefühlen. Es erstaunte ihn bereits, dass Lelouch sich seit ihrer Unterhaltung am Vortag wesentlich weniger kühl ihm gegenüber zeigte; und zu wissen, dass er ihn zumindest nicht hasste...

Clovis hatte sich gesagt, dass es keine Rolle spielte, wenn sein Bruder ihn verabscheute, aber ihm war von vorne herein klar gewesen, dass das eine armselige Lüge war. Dennoch überraschte es ihn ein wenig, wie viel diese Worte ihm tatsächlich bedeutet hatten. Was auch immer folgen mochte... falls er jemals Zweifel daran gehabt hatte, dass es die Sache wert wäre, dann waren sie nun verflogen.

Aneue hatte Recht, dachte er mit einem kleinen, sardonischen Lächeln. Ich bin wirklich sentimental.
 

~
 

„Wie war dein Tag?“, stellte Lelouch seinem Bruder dieselbe Frage, mit der dieser ihn auch am Vortag begrüßt hatte. Es war bereits nach Mitternacht, aber da Lelouch den halben Tag über geschlafen und ohnehin schon immer dazu geneigt hatte, des Nachts weitaus länger aufzubleiben, als es eigentlich vernünftig war, war er noch nicht einmal ansatzweise müde.

„Erträglich.“ Clovis blieb wenige Meter von ihm entfernt stehen und musterte ihn kurz. „Sind deine Kopfschmerzen weg?“

„Aa. Das Fieber ebenfalls - ich schätze, die Tabletten haben geholfen.“

„Heißt das, du vergibst mir für die Sache mit Graf Asplund?“, fragte Clovis hoffnungsvoll.

Lelouchs Antwort kam ohne jegliche Verzögerung. „Nein“, sagte er bestimmt. Dann jedoch zuckte er die Schultern. „Aber solange er nicht meine Identität errät und herumerzählt, werde ich darüber hinwegsehen.“

Clovis lächelte erfreut. „Wird er nicht.“

Lelouch hob die Brauen. „Weshalb bist du dir so sicher?“

„Ich habe ihm das Einzige gegeben, was ihn interessiert“, erwiderte Clovis unbekümmert. „Lloyd liebt seine Maschinen über alles. Jetzt, da er die Möglichkeit hat, sein neues Spielzeug nach Herzenslust zu testen, wird er es nicht riskieren, in Ungnade zu fallen – sofern er überhaupt noch an etwas anderes denkt. Ich wäre nicht überrascht, wenn er dich längst vergessen hat.“

„Sein Spielzeug?“

„Aa... ein neuer Knightmare-Prototyp. Er nennt es Lancelot.“ Clovis hielt inne und beäugte Lelouch für einen Moment seltsam. Dann fuhr er im selben unbekümmerten Tonfall wie zuvor fort: „Da ich schätze, dass du derjenige warst, der den Terroristen geholfen hat, mir das Leben schwer zu machen, solltest du bereits Bekanntschaft damit gemacht haben.“

„Der weiße Knightmare?“ Clovis nickte, und Lelouch hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Graf Asplund hatte dieses Ding entworfen? Hätte er das vorher gewusst, hätte sein Bruder noch wesentlich mehr Schwierigkeiten gehabt, ihn davon zu überzeugen, den Mann in seine Nähe zu lassen – diese Maschine hätte ihn um ein Haar den Sieg gekostet, und ihren Erbauer machte er dafür beinahe ebenso sehr verantwortlich wie den Piloten. „Lancelot, hu?“, murmelte er.

„Immerhin ist es ein einfallsreicher Name.“ Beiläufig ließ Clovis den Blick durch den Raum schweifen und richtete seine Aufmerksamkeit schließlich auf etwas zur linken Seite von Lelouchs Bett. Er durchquerte den Raum, und Lelouch folgte ihm mit den Augen. „Hat es einen bestimmten Grund, dass du die Vorhänge geschlossen lässt?“, fragte sein Bruder, als er bei seinem Ziel angekommen war, und warf einen Blick über die Schulter. „Du wirst dich nicht in Asche verwandeln, wenn ich sie öffne, oder?“

„Es ist Nacht.“

„Soll mich das beruhigen?“ Clovis schob die Vorhänge auf und wandte sich dann wieder zu ihm um. Eine Weile musterte er ihn eindringlich. „Weißt du“, begann er schließlich, „jetzt, wo du es sagst, wundert es mich, dass ich nicht früher darauf gekommen bin. War da nicht auch irgendetwas mit einer Knoblauchallergie...?“

Lelouch bedachte seinen Halbbruder mit einem düsteren Blick. „Nein.“

„Oh. Nun ja, ich nehme an, du kannst nicht jedes Klischee erfüllen.“ Clovis lächelte, und Lelouch verspürte den unerklärlichen Drang, etwas nach ihm zu werfen.

„Bist du dir sicher, dass du nicht ein Glas Wein zu viel getrunken hast?“

„Ziemlich sicher. Es sei denn, ich hätte ganz auf Alkohol verzichten sollen.“ Clovis hob die Schultern. „In diesem Fall wirst du wohl mit meiner guten Laune leben müssen.“

Lelouch schnaubte.

„Ah“, sagte sein Bruder und bewegte sich wieder auf die andere Seite des Bettes. „Lass mich dir noch etwas zu essen holen, bevor wir uns weiter unterhalten. Irgendeinen bestimmten Wunsch?“ Er hielt kurz inne, und im nächsten Moment umspielte ein vielsagendes Lächeln seine Mundwinkel. „Tomatensaft? Blutwurst?“

Lelouchs erster Reflex war es, den blonden Gouverneur darauf hinzuweisen, dass er seinen Scherz nicht annähernd so unterhaltsam fand, wie dieser selbst es offenbar tat - aber dann überlegte er es sich spontan anders. „Keine Sorge, Clovis“, erwiderte er und lächelte hintersinnig zurück. „Sollte mich das Verlangen überkommen, werde ich mich bedienen. Welche Blutgruppe hattest du noch gleich?“

Clovis blinzelte – anscheinend noch verdutzter von diese Erwiderung als Lelouch selbst. Dann jedoch legte sich ein erfreutes Lächeln auf seine Lippen. „Das, mein lieber kleiner Bruder“, sagte er, „behalte ich besser für mich.“
 

„Was genau weißt du über das Geass?“, erkundigte Lelouch sich, nachdem er fertiggegessen und den Teller beiseiteschoben hatte. Es war eine beiläufige Frage, gestellt in einem unverbindlichen Tonfall und ebenso sehr aus Neugierde heraus wie aus Berechnung.

Clovis, der schon seit geraumer Zeit am Fenster gestanden und nach draußen geblickt hatte, drehte sich zu ihm um – es war offensichtlich, dass die Frage ihn überraschte. Doch schon nach wenigen Augenblicken verschwand die Verwunderung von seinen Zügen, und seine Miene wurde neutral. „Nicht viel“, gab er zu und trat ein paar Schritte näher. „Ich kannte das Symbol, und ich weiß, dass es sich um eine beeindruckende Fähigkeit handelt – aber das war es beinahe auch schon wieder. Ich war mir nicht einmal sicher, was genau das Mädchen damit zu tun hat. Wir haben sie durch Zufall entdeckt und festgestellt, dass sie kein Mensch ist. Sie ist... war... wesentlich älter, als sie aussah.“ Clovis hielt einen Augenblick lang inne, aber er schien eher nachdenklich als zögerlich, und es erstaunte Lelouch, wie bereitwillig er ihm diese Informationen gab. „Die Macht des Königs... das war es, was in den Aufzeichnungen stand. Ich habe mich über zwei Jahre lang damit beschäftigt, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich wohl nicht viel mehr als du.“

Lelouch nickte leicht, als Zeichen, dass er diese Antwort akzeptierte. „Und was ist mit Graf Asplund? Du sagtest, du hättest ihm die Möglichkeit gegeben, den Lancelot zu testen. Aber würdest du nicht ohnehin Gebrauch von einer so nützlichen Waffe machen?“

„Oh, das“, sagte Clovis und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Nun, vermutlich hätte ich früher oder später darauf zurückgreifen müssen; aber Lloyd weiß, dass ich mich nicht sonderlich für Knightmares interessiere. Solange es keinen Notfall gegeben hätte, wäre ich auch gut mit nur den älteren Modellen ausgekommen.“ Clovis hob nachlässig die Schultern. „Und dann hat sich inzwischen noch herausgestellt, dass der Pilot ein Elfer ist - die Puristen werden nicht sonderlich begeistert sein.“

Das ließ Lelouch aufhorchen. „Ein Elfer?“, fragte er verwundert. Weshalb sollte ausgerechnet ein Japaner sich dazu bereiterklären, Britannien einen solch entscheidenden Vorteil zu verschaffen?

„Nun ja, ein Ehrenbrite, wenn man es genau nimmt“, räumte Clovis ein. „Aber das macht es nicht weniger unkonventionell.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Und das ist noch nicht einmal alles. Nachdem Graf Asplund es nach seinem Besuch hier wohl endlich als angebracht empfunden hat, mich über dieses kleine Detail zu informieren, habe ich mir die Freiheit genommen, einen Blick in die Akte des Piloten zu werfen. Ich bin noch nicht sehr weit gekommen, aber offenbar handelt es sich um den Sohn des ehemaligen japanischen Premierministers.“

Es dauerte einige Sekunden, bis der letzte Teil der Aussage wirklich bei Lelouch ankam. Dann erstarrte er. „Suzaku?“, platzte es aus ihm heraus, bevor er es verhindern konnte.

Perplex sah Clovis ihn an. „Du kennst ihn?“

Lelouch hätte einen lautlosen Fluch ausgestoßen, wäre er nicht zu überrumpelt gewesen, um sich angemessen über seinen Ausrutscher zu ärgern. „Wir sind damals bei der Kururugi-Familie aufgenommen worden“, sagte er nahezu automatisch, war sich jedoch bewusst, dass dieser Umstand mehr oder weniger offiziell gemacht worden war, und dass auch Clovis sich dessen jeden Moment wieder bewusst geworden wäre. Die Überraschung seines Bruders rührte nicht daher, dass er Suzaku kannte - viel mehr war sie auf seine heftige Reaktion zurückzuführen.

Ein Ausdruck des Begreifens huschte über Clovis' Gesicht, aber er beobachtete ihn noch immer aufmerksam, und für die Dauer eines Herzschlags erwog Lelouch, wie viel er sagen sollte, bevor er sich damit abfand, dass sein Tonfall und die Art, wie sich seine Augen geweitet hatten, bereits zu viel verraten hatten. „Er ist... ein Freund“, sagte er.

Abermals reagierte Clovis mit unverhohlenem Erstaunen. Aber anstatt sich offen darüber zu wundern, was Lelouch mit einem 'Elfer' zu schaffen hatte, oder gar eine geringschätzige Bemerkung zu machen, fragte er nur: „Weshalb warst du dann so überrascht?“

Weil die weiße Maschine um ein Haar alle meine Pläne durchkreuzt hätte, dachte Lelouch. Weil Suzaku keinen Grund hat, Britannien gegenüber mehr Sympathie zu verspüren als ich selbst. Weil der Suzaku, den ich kannte, sich niemals gegen seine eigenen Leute gestellt hätte. Was er letztes Endes jedoch sagte, war: „Weil er vor meinen Augen erschossen worden ist.“

Clovis starrte ihn an. „In Shinjuku?“ Offenbar hatte er auch über den Tod des grünhaarigen Mädchens nicht vergessen, was Lelouch ihm sonst noch bezüglich dieses Vorfalls erzählt hatte, und dass er von mehr als einer Person gesprochen hatte.

„Ja.“ Konnte es wirklich sein? Hatte Suzaku nicht nur überlebt, sondern so geringen Schaden davongetragen, dass er sich sogleich wieder in den Kampf hatte stürzen können? Es wäre weitaus weniger unwahrscheinlich gewesen, wenn er nicht so eindeutig in die ungeschützte Seite getroffen worden wäre.

Andererseits hatte Suzaku schon immer außergewöhnliche physische Fähigkeiten und Reflexe besessen, und der rücksichtslose Kampfstil des Lancelot würde beunruhigend gut zu ihm passen. Es erschien ihm absurd, aber...

„Ist er dir wichtig?“, riss Clovis ihn aus seinen Gedanken. Lelouch lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Bruder und stellte überrascht fest, dass Clovis' Blick nicht weniger sanft war als sein Tonfall.

Er zögerte noch einen Moment, sah aber ein, dass er ohnehin schon zu viel gesagt hatte und längst nicht mehr glaubwürdig verneinen könnte. „Ja“, gab er daher schon nach wenigen Herzschlägen zu, die Stimme nur kaum merklich gedämpft. „Das ist er.“

Clovis betrachtete ihn eine Weile lang schweigend, abschätzend. Lelouch fragte sich bereits, ober einen Fehler gemacht hatte, als sein Bruder plötzlich sagte: „Möchtest du ihn sehen?“

Beinahe glaubte Lelouch, sich verhört zu haben. „Was?“

„Er ist dein Freund, nicht wahr?“ Clovis' Tonfalls war so milde, als bemerkte er Lelouchs ungläubigen Blick gar nicht. „Ich bin sicher, du langweilst dich. Wenn du versprichst, ihn nicht zu benutzen, um von hier zu entkommen, werde ich sehen, ob Graf Asplund ihn für eine Weile entbehren kann.“

„Und du würdest mir vertrauen?“ Lelouch fragte sich, ob sein Bruder irgendetwas plante, oder ob er einfach nur den Verstand verloren hatte.

Clovis hob die Schultern. „Du hast Recht - ich kann dich nicht ewig hier festhalten. Wenn dir meine Gesellschaft wirklich so sehr zuwider ist, werde ich mich wohl damit abfinden müssen. Früher oder später würdest du einen Weg finden, mich zu übertrumpfen.“ Er sprach in einem nachgerade leichtherzigen Tonfall – nur sein Blick war verräterisch weich. „Aber ich würde dir niemals absichtlich schaden, Lelouch. Es gibt keinen Grund für dich, zu versuchen, diesen Ort auf dem kürzesten Weg zu verlassen, und ich wünschte, du würdest mir vertrauen.“

Lelouch starrte seinen Bruder an, und eine kurze, sonderbar anmutende Stille trat ein.

Schließlich nickte er. „In Ordnung.“

Clovis blinzelte. „Was?“, fragte er perplex.

„Ich werde Suzaku nicht dazu benutzen, etwaige Fluchtpläne in die Tat umzusetzen“, erklärte Lelouch und lehnte sich zurück. „Du hast mein Wort.“

Er beobachtete die Gesichtszüge seines Bruders sehr genau; doch obwohl Clovis zu zögern schien, zeigte sich auf seiner Miene nicht annähernd so viel Argwohn, wie angebracht gewesen wäre. Und dann glitt sogar ein dankbares Lächeln auf seine Lippen.

Lelouch fand, dass es töricht von seinem Bruder war, ihm so einfach Glauben zu schenken. Vermutlich würde er sein Wort tatsächlich halten – weil er niemals sein Geass an Suzaku einsetzen könnte, und weil er seinen besten Freund bereits um einen anderen, mindestens ebenso wichtigen Gefallen bitten würde, sobald er sich Klarheit über einige Dinge verschafft hatte -, und vielleicht hatte Clovis ihn inzwischen sogar schon so weit, dass er nicht mehr in der Lage wäre, den Abzug drücken, wenn er die Gelegenheit hätte; nicht, solange es Alternativen gab. Dennoch war es ein großes Risiko, das sein Bruder einging, und je nachdem, was für Vorsichtsmaßnahmen er treffen würde, würde Lelouch ihn entweder für unglaublich leichtsinnig oder für vollkommen verrückt erklären.

Was ihn im Augenblick jedoch noch um einiges mehr beschäftigte, war Suzaku.

Lelouch schauderte leicht. Wenn sein Freund tatsächlich am Leben war...

Der Gedanke löste eine ganze Reihe von Emotionen in ihm aus, von denen er die meisten nur schwer hätte in Worte fassen können. Es war, als hätte er Stück seiner Vergangenheit zurückerhalten, das er – ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein - verloren geglaubt hatte. Gleichzeitig jedoch sah er sich mit der Tatsache konfrontiert, dass Suzaku sich Britannien angeschlossen hatte und bereits sein Gegner gewesen war. Er glaubte nicht, dass sein erster und bester Freund inzwischen zu seinem Feind geworden war, aber dennoch...

Lelouch konnte nur darüber spekulieren, wie diese Sache sich entwickeln würde.
 


 


 


 

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Nach langer Zeit ist es mir also endlich gelungen, ein neues Kapitel hochzuladen. Andere Projekte und vor allem das RL wollten mich nicht schneller arbeiten lassen. Ich hoffe, das Warten hat sich gelohnt!

An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich für die netten Kommentare bedanken. Es freut mich, dass mein Schreibstil gefällt und die Charaktere IC wirken. Ja, zwischen den Brüdern ist sicher noch nicht alles geklärt, aber sie kommen voran. Wie es dabei in Zukunft mit Lelouchs Bewegungsfreiheit aussehen wird... ah, das muss sich zeigen. ;P

Ehrlich gesagt finde ich es gar nicht so schwer, Clovis als liebenden Bruder zu schreiben; immerhin hat spätestens das entsprechende Sound-Drama eine unabstreitbare Tatsache aus seiner Zuneigung für Lelouch gemacht. Was allerdings schon etwas komplizierter ist, ist glaubhaft eine wechselseitige brüderliche Beziehung aus diesem Umstand zu machen, und ich hoffe, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Vielen Dank für die Rückmeldungen bisher - und ich hoffe, auch dieses Kapitel hat gefallen!

Auftakt

„Ich weiß euren Rat zu schätzen, aber werft zunächst einen genauen Blick auf das, wozu ich in der Lage bin. Schließlich sprechen wir von Lelouchs letzter Ruhestätte – und einem Ort, den ich so friedlich gemacht haben möchte wie möglich.“
 

- Clovis la Britannia, Stage 0.884
 


 


 

* * *
 

„Ist dir sehr langweilig?“

Lelouch sah von seinem Frühstück auf und betrachtete seinen Bruder mit einer Miene, die er bewusst nichtssagend hielt. „Spielt es eine Rolle?“

„Natürlich tut es das“, erwiderte Clovis und trat aus dem Türrahmen zu ihm herüber. „Du bist mein Bruder, kein Gefangener – auch, wenn ich es dir nicht zum Vorwurf mache, dass du das anders sieht. Wenn dir langweilig ist und es etwas gibt, was ich dagegen tun kann, genügt ein einziges Wort.“

Lelouch lächelte – er wusste sehr genau, dass diese Aussage nur eingeschränkt wahr war. „Solange ich dir nicht vorschlage, mich aus diesem Raum zu lassen“, stellte er fest.

„Solange du mir nicht vorschlägst, dich außerhalb dieses Raumes aus den Augen zu lassen“, verbesserte Clovis ihn. „Wenn du möchtest, kann ich dich im Gebäude herumführen.“

Das plötzliche, beinahe beiläufig gemachte Angebot überraschte Lelouch, aber anstatt sich etwas anmerken zu lassen, wölbte er die Brauen. „Hast du nicht andere Dinge zu tun?“

Sein Bruder hob nachlässig die Schultern. „Heute gibt es nichts, worum ich mich in meiner Tätigkeit als Gouverneur dringend kümmern müsste, und meine Bilder können warten. Ich müsste lediglich das Personal wegschicken und sicherstellen, dass die Wachen im Eingangsbereich ihre Posten nicht verlassen.“ Er legte den Kopf schräg und schenkte Lelouch ein einnehmendes Lächeln. „Und für meinen Lieblings-Kleinen-Bruder tue ich das natürlich gerne.“

Lelouch schnaubte, dachte jedoch ernsthaft über den Vorschlag nach. Im Augenblick hatte er kein Interesse daran, einen Fluchtversuch zu unternehmen – nicht, solange er nicht mit Suzaku gesprochen hatte – und vermutlich würde Clovis ihm auch gar keine Gelegenheit dazu geben, aber es konnte nicht schaden, sich mit seiner Umgebung vertraut zu machen.

Davon einmal abgesehen, war ihm wirklich langweilig. Schlafen war sicherlich nicht der schlechteste Zeitvertreib, aber auf Dauer konnte es ziemlich eintönig werden, das Bett jeden Tag bestenfalls für ein oder zwei Stunden zu verlassen. Und ein Laptop war nicht genug, um Lelouch dauerhaft zu beschäftigen; schon gar nicht, wenn es so vieles gab, worüber er in jeder freien Sekunde nachdenken könnte, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen.

„Es wäre eine willkommene Abwechslung“, sagte er daher schließlich, und sein Bruder strahlte ihn an.

„Dann lasse ich dich jetzt fertigessen und komme in einer Stunde wieder, falls es mir gelingt, bis dahin alle Angestellten loszuwerden. Hast du alles, was du brauchst?“

Lelouch nickte.

„Gut. Dann sehen wir uns gleich.“

Clovis verließ den Raum, und Lelouch nahm zur Kenntnis, dass er trotz allem nicht vergaß, die Tür hinter sich abzuschließen.
 

~
 

„Was möchtest du sehen?“, fragte Clovis, als sie den Korridor außerhalb des umfunktionierten Gästezimmers entlangschritten.

Lelouch zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Was tust du in deiner Freizeit?“

Clovis hielt nicht inne, aber er warf ihm über die Schulter hinweg einen überraschten Blick zu. „Interessiert dich das wirklich?“

„Irgendwo müssen wir schließlich anfangen, nicht wahr? Und es ist nicht so, als würde ich mich hier auskennen.“ Eine Halbwahrheit. Lelouch wusste, wie der Grundriss des Gebäudes ausgesehen hatte, kurz bevor er das Erste Mal Fuß in die Klassenzimmer der Ashford-Akademie gesetzt hatte – schließlich konnte es nicht schaden, sich auch mit Kleinigkeiten zu beschäftigen, wenn man den Untergang einer Weltmacht plante. Aber da Clovis seiner Kreativität bekanntlich auch in Sachen Architektur gerne freien Lauf ließ, war er sich nicht sicher, wie viele seiner Informationen noch aktuell waren.

„In Ordnung“, sagte Clovis nach kurzem Zögern. „Hier entlang.“

Schweigend folgte Lelouch seinem Bruder eine verschlungene Treppe empor in ein höhergelegenes Stockwerk und hinein in den südlichen Flügel desselben, von dem er annahm, dass es sich dabei um einen Teil von Clovis' Gemächern handelte. Am Ende eines Flures, der mit seinen vereinzelten roten Gobelins an den Wänden um einiges schlichter dekoriert war als die meisten der umliegenden Korridore, lag eine einzige Tür, die bei genauerem Hinsehen lediglich angelehnt war. Sein Bruder öffnete sie und trat zur Seite, um ihm den Vortritt zu gewähren.

Das Erste, worauf Lelouchs Blick unweigerlich fiel, waren die unverhangenen Fenster, die direkt gegenüber der Tür eine Wand ersetzten. Sie begannen auf Höhe des Fußboden und ragten von dort aus bis zur Decke empor, welche mindestens zehn Meter davon entfernt war, und außer aus Glas bestanden sie nur aus weißem polierten Holz, das ihre ohnehin eindrucksvolle Erscheinung in eine geschmackvolle Form brachte. In Kombination mit dem ungehindert eindringenden Sonnenlicht ließ es das Zimmer hell und freundlich wirken, obwohl keine einzige der drei von der Decke herabhängenden Lampen brannte.

In der linken Hälfte des Raumes gab es außer einem unter einem farblosen Tuch verborgenen Musikinstrument – ein Piano? Ein Klavier? - nicht viel zu sehen; sie ließ das Zimmer durch ihren auffälligen Mangel an Einrichtungsgegenständen lediglich noch geräumiger erscheinen. Auch auf der anderen Seite des Raumes befand sich auf den ersten Blick nichts weiter als ein kleiner runder Holztisch mit vier unscheinbar anmutenden, wenn auch gepolsterten Stühlen darum, und es dauerte nicht lange, bis Lelouchs Blick auf die rechte Zimmerwand fiel.

Gleich darauf war ihm klar, wo er sich befand.

Wie auch die anderen Wände war die vor seinen Augen in einem kräftigen Rot gestrichen. In ihrer Mitte befanden sich eine vergleichsweise unscheinbare britische Flagge und ein dekorativer Kamin, der zu beiden Seiten von etwa einer handvoll Gemälden flankiert wurde. Rechts davon, an der Wand gegenüber der Fenster, nahmen weitere Kunstwerke den gesamten Platz bis zum Türrahmen in Anspruch.

„Dein Atelier?“, fragte Lelouch, als er den Blick über die Bilder schweifen ließ, die zweifelsohne allesamt sehr eindrucksvoll waren.

„Aa“, bestätigte Clovis aus dem Türrahmen heraus. „Je länger ich hier gewesen bin, desto einfallsloser sind meine Gemälde geworden; aber hin und wieder konnte ich doch einen Erfolg verzeichnen.“ Er hob die Schultern. „Einen Großteil meiner Freizeit verbringe ich noch immer hier.“

Als Laie hatte Lelouch wenig Ahnung von den Feinheiten der Kunst, aber seine Allgemeinbildung war gut genug, um ihn beinahe auf Anhieb erkenne zu lassen, dass die Gemälde nicht nur die unterschiedlichsten Motive zeigten, sondern auch zahlreichen Stilrichtungen angehörten. Expressionismus, Impressionismus, Romantik... Landschaftsbilder, Stilleben, Portraits, ...das Einzige, was sie alle gemeinsam hatten, waren die weichen Farbtöne, in denen sie gehalten waren, und das unabstreitbare Talent des Künstlers, der sie geschaffen hatte.

Lelouch wollte sich gerade wieder abwenden, als sein Blick auf eines der Gemälde in der Mitte der rechten Wand fiel und er mitten in der Bewegung erstarrte.

„Das...“, brachte er hervor und spürte, wie seine Eingeweide sich zusammenzogen.

„Oh“, machte Clovis, beinahe ein wenig verlegen, und trat neben ihn. „Es ist schon eine Weile her, dass ich das gemalt habe. Ich bin nicht sicher, ob es gelungen ist. Vermutlich-“

„Es ist perfekt“, sagte Lelouch und merkte kaum, wie erstickt seine Stimme klang. Er starrte das blaue Kleid seiner Mutter an, das unbeschwerte Lächeln seiner Schwester, und registrierte nur am Rande sein neunjähriges Selbst zu Marianne vi Britannias Linken.

Es war die Szene aus einem Leben, das er beinahe vergessen gehabt hatte, weil die Erinnerung daran befleckt war von dem Wissen darum, wie es geendet hatte, und brennendem Hass auf diejenigen, die dieses Ende so abrupt herbeigeführt hatten.

Wenn Lelouch an seine Kindheit dachte, kam ihm zuerst seine Zeit im Haushalt der Kururugi-Familie in den Sinn; seine Freundschaft mit Suzaku und ihre gemeinsamen Bemühungen, Nanali zu beschützen. An das, was davor gewesen war, dachte er in diesem Zusammenhang nur selten, wenn überhaupt, und selbst seine kleine Schwester schien es nicht viel anders zu halten... oder vielleicht sprach Nanali ihn auch einfach nur nicht länger auf ihre gemeinsame Vergangenheit in Britannien an, weil sie Angst hatte, seine Gefühle zu verletzen. Falls dem so war, kannte sie ihn besser, als Lelouch sich selbst kannte.

Niemals wieder, dachte er mit einem seltsam beklemmenden Gefühl in der Magengegend, würde ihr Leben so sorglos sein.

Lelouch widerstand dem Drang, die Augen zu schließen. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr sich ein Teil von ihm noch immer nach dieser Unbeschwertheit sehnte. Nach Nanalis sorgloser Heiterkeit, Euphies unberechenbarem Idealismus... nach seiner Mutter.

Er bemerkte, dass er das Ausatmen vergessen hatte, und holte es nach. Als er seine Emotionen ein paar Sekunden später wieder unter Kontrolle hatte, wandte er sich seinem Bruder zu und stellte fest, dass dieser ihn aufmerksam beobachtete, einen sonderbaren Ausdruck in den Augen.

Bevor Lelouch jedoch dazu kam, Clovis' Blick zu deuten, verblasste die namenlose Emotion auf seinen Zügen auch schon wieder und wurde von einem frivolen Lächeln ersetzt. „Nun, wenn das Kompliment von dir kommt, werde ich es mir zu Herzen nehmen.“

Lelouch brauchte einen Moment, um zu begreifen, worauf sein Bruder sich mit dieser Aussage bezog. Dann schnaubte er.

Ein kurzes Schweigen folgte, und unwillkürlich glitt Lelouchs Blick wieder zu dem Gemälde. Zum ersten Mal betrachtete er sein jüngeres Selbst näher - den weißen, formellen Anzug, die verhältnismäßig ernste, aber doch alles andere als unglückliche Miene... war es das, wie sein Bruder ihn gesehen hatte?

War es das, wie er einmal gewesen war?

„Wollen wir weiter?“ Clovis' Stimme ertönte direkt neben seinem Ohr, und obwohl ihr jegliche Härte fehlte, riss sie Lelouch jäh aus seinen Gedanken.

Beinahe noch im selben Moment wandte Lelouch sich wieder um und nickte. „Ja.“

Während er seinem Bruder nach draußen folgte, hoffte er, dass er sich den belegten Klang seiner Stimme nur eingebildet hatte.
 

Zwei Stunden später hatten sie ihre Tour durch das Gebäude beendet, und Lelouch war zu dem Schluss gekommen, dass zwar das ein oder andere in den letzten Jahren umgebaut worden, die Abweichungen aber so wenig der Rede wert waren, dass die Besichtigung sich als nichts weiter als ein netter Zeitvertreib herausgestellt hatte. Er bezweifelte, dass er zu irgendwelchen neuen Erkenntnissen gelangt war, die ihm in der nahen Zukunft nützlich sein würden.

Als sie wieder die Ebene des Gebäude betraten, auf der Lelouchs vorübergehendes Zimmer angesiedelt war, hielt sein Bruder plötzlich inne und drehte sich zu ihm um. „Was ist mit deiner Verletzung?“

„Nichts.“ Lelouch blieb ebenfalls stehen. „Es geht mir gut.“

Clovis musterte ihn eindringlich. „Bist du dir sicher?“

„Ich bin nur ein bisschen müde“, entgegnete Lelouch mit einem unbekümmerten Achselzucken. „Das ist alles.“

„Willst du dich hinlegen?“

„Ich stehe nicht kurz davor, zusammenzubrechen, wenn du das meinst. Weshalb fragst du?“

Sein Bruder betrachtete ihn noch einen Augenblick länger abschätzenden Blicks, bevor er bereit schien, seinen Worten Glauben zu schenken. „Ich möchte dir etwas zeigen“, sagte er dann.

„Zeigen?“, wiederholte Lelouch.

Aber sein Bruder ließ sich zu keiner näheren Erläuterung hinreißen. „Komm mit“, sagte er nur.

Ohne seine Reaktion abzuwarten, wandte Clovis sicher wieder von ihm ab, und nach einem kurzen, perplexen Zögern folgte Lelouch ihm.

Was auch immer er jedoch vorzufinden erwartet hatte, als er wenige Minuten später durch eine unscheinbare Tür ins Freie trat – nichts hätte ihn auf den Anblick vorbereiten können, der sich ihm dort bot.
 

~
 

„Das ist...“

Wenn Lelouch Schwierigkeiten gehabt hatte, rechtzeitig wieder auszuatmen, als er in Clovis' Atelier das Bild seiner Mutter gesehen hatte, dann musste er sich nun daran erinnern, überhaupt erst Luft zu holen. Er befand sich mitten auf dem Dach des Regierungsgebäudes, sein Bruder wenige Schritte von ihm entfernt, und ganz gleich, wohin er sich wandte, er blickte direkt auf Aries' Kaiserliche Villa und den Garten, den seine Mutter dereinst darum herum hatte anlegen lassen.

Es war eine exakte Kopie. Von den kleinen Pavillons und bunten Blumen im Gras über die sorgfältig zurechtgeschnittenen Bäume und Hecken bis hin zu dem Vorbau der Villa selbst. Das gleiche dezente Rosa, die gleichen seichten Gewässer, die den Pfad zum Eingang markierten, und das gleiche säulenartige Gebilde, das zierend zwischen ihnen aufragte.

Es fühlte sich überwältigend unwirklich an und war genug, um Lelouch inmitten der Wiese wie angewurzelt stehenblieben zu lassen.

„Ich bin nach Gebiet Elf gekommen, weil das der Ort war, an dem du und Nanali angeblich umgekommen wart“, sagte Clovis und trat hinter ihn. „Ich dachte, ich könnte das ehemalige Japan in eine friedliche letzte Ruhestätte für euch verwandeln – ein gigantisches Grabdenkmal, wenn du so willst. Ich habe es als eine Herausforderung betrachtet; eine Fortsetzung der Partie, die wir niemals beendet haben.“ Ein leises, selbstironisches Lachen, dem die nötige Bitterkeit fehlte, um als zynisch bezeichnet zu werden, das jedoch spöttisch genug klang, um nicht in die Szenerie zu passen. „Aber ich konnte dich niemals schlagen, nicht wahr? Ich hätte ahnen sollen, dass es in der Niederlage meines Lebens enden würde.“

Clovis hielt einen Moment inne, und als er fortfuhr, war der Hohn aus seiner Stimme gewichen.

„Ich habe nicht vor zu versuchen, meine Taten zu rechtfertigen“, sagte er in einem überraschend milden Tonfall. „Ich habe versagt. Mehr als das, ich habe aufgehört, mich für irgendetwas außer meiner Bilder und meinem Status zu interessieren und damit nicht nur das Andenken meiner vermeintlich toten Geschwister beschmutzt, sondern ohne es zu ahnen auch willkürlich dein Leben in Gefahr gebracht. Ich wäre beinahe für den Tod deines Freundes verantwortlich gewesen, nicht wahr?“

Lelouch versteifte sich, als sein Bruder die Arme um ihn legte. Es war eine ausgesprochen lockere Umarmung und wenn er gewollt hätte, hätte er sich mit einem einzigen Schritt nach vorne oder zur Seite daraus befreien können; aber er war zu überrumpelt, um sofort zu reagieren, und anschließend war er sich nicht sicher, was er von alledem halten sollte. Also ließ er Clovis weitersprechen, während sein Blick noch immer wie gebannt auf der nachgebauten Villa ruhte. „Ich werde nicht noch einmal versuchen, dich um Verzeihung zu bitten“, sagte sein Bruder. „Ich habe Fehler gemacht, und einige davon sind unentschuldbar.“ Die einseitige Umarmung wurde kaum merklich enger, und im nächsten Moment ruhte Clovis' Kinn auf Lelouchs Schulter. „Aber ich liebe dich, Lelouch. Ich will nicht dein Feind sein - genauso wenig, wie ich zwischen dir und irgendetwas stehen will, was du dir vorgenommen hast.“ Der Tonfall seines älteren Halbbruders war sanft, bar jeden Nachdrucks. „Alles, worum ich dich bitte, ist eine Chance.“

Es dauerte eine Weile, bis Lelouch seine Stimme wiederfand. „Eine Chance?“

„Lass mich dir helfen.“

„Du weißt nicht einmal, was ich vorhabe.“

„Es spielt keine Rolle.“

Lelouch drehte sich um, und sein Bruder ließ von ihm ab und trat einen Schritt zurück. „Und was, wenn ich dir sage, dass ich Britannien dem Erdboden gleichmachen werde?“

Für einen kurzen Moment weiteten Clovis' Augen sich merklich, aber dann schüttelte er den Kopf. „Es spielt keine Rolle“, wiederholte er.

Lelouch starrte ihn an. „Ist das dein Ernst?“, fragte er. „Du würdest dabei zusehen, wie ich den Kaiser vernichte? Deinen eigenen Vater?“

„Er ist auch dein Vater, nicht wahr? Wenn du ihn so sehr hasst, musst du einen guten Grund dafür haben.“

„Das habe ich“, stimme Lelouch zu. „Aber es ist immer noch dein Heimatland.“

„Ebenso wie deines.“ Clovis hob die Schultern. „Ich schulde Britannien nichts“, sagte er. „Ich mache mir etwas aus meiner Mutter und unseren Geschwistern, aber das ist alles. Und selbst das...“ Er brach ab. „Aber du würdest keine Unschuldigen in diese Sache mit hineinziehen, oder nicht?“ Ein Anflug von Unsicherheit hatte sich auf Clovis' Züge geschlichen, aber seine Stimme war erstaunlich fest, als er hinzufügte: „Du würdest nicht so weit gehen, Euphie wehzutun.“

„Nicht, wenn ich es vermeiden kann“, räumte Lelouch nach kurzem Zögern ein. „Aber es wäre immer noch Hochverrat. Solltest du mir helfen und der Kaiser jemals davon erfahren, wird er dich hinrichten lassen. Dass du sein Sohn bist, bedeutet ihm nichts.“

„Ich bin mir des Risikos bewusst“, entgegnete Clovis – und lächelte zu Lelouchs Überraschung amüsiert. „Aber nachdem mein eigener kleiner Bruder mir um ein Haar eine Kugel in den Schädel gejagt hätte, schreckt auch das mich nicht mehr ab. Wenn ich so oder so mein Leben in Gefahr bringe, dann wähle ich lieber die Seite, der meine persönliche Sympathie gebührt. Die einzige Alternative wäre auf Dauer, dich dem Kaiser auszuliefern, und wenn du tatsächlich noch immer glaubst, ich würde dir derart in den Rücken fallen, dann hätte ich mich die letzten paar Tagen auch mit einer Betonwand unterhalten können.“

„Vermutlich“, sagte Lelouch, weil ihm nichts anderes in den Sinn kam. Inzwischen erschien es ihm lächerlich, dass er jemals geglaubt hatte, Clovis könnte in das Attentat auf seine Mutter verwickelt gewesen sein, und alle Fakten deuteten darauf hin, dass er seinem Bruder auch über diese Gewissheit hinaus vertrauen konnte – wenn er an seinen Worten noch Zweifel hatte hegen können, so sprachen Clovis' Taten doch für sich. Und dennoch...

„Bitte, Lelouch.“ Die Stimme seines Bruders war sanft, beschwörend. „Ich verspreche dir, dass ich mich nicht mehr einfach über deinen Willen hinwegsetzen werde. Und wenn-“

„In Ordnung.“

Clovis klappte den Mund zu und blinzelte. „In Ordnung?“

„Ich kann nicht sagen, dass ich dir vertraue“, sagte Lelouch. „Aber ich misstraue dir auch nicht. Ich werde versuchen, dir eine Chance zu geben, wie du es nennst... wenn es das ist, was du willst.“

Einen Augenblick lang starrte Clovis ihn an, sichtlich perplex. Dann glitt ein Lächeln auf seine Lippen. „Das ist es“, bestätigte er. „Also muss ich mir keine Sorgen machen, in allzu naher Zukunft doch noch mit einer Portion Blei in lebenswichtigen Organen zu enden?“

Etwas an dem unbekümmerten Tonfall seines Bruders rief eine vage Übelkeit in Lelouch hervor. „Nein“, sagte er tonlos, bevor er seine reservierte Haltung für einen Moment aufgab und hinzufügte: „Ich wusste nicht, dass wir dir so viel bedeutet haben.“

Es war keine Entschuldigung, nicht wirklich, aber es war das Beste, was sein Bruder in dieser Hinsicht von ihm bekommen würde, und Clovis schien sich dessen bewusst zu sein. „Es ist in Ordnung“, sagte er leichthin. „Es war meine eigene Schuld. Ich bin nur froh, dass die Nachricht von eurem Tod ein Irrtum war.“

Lelouch registrierte, dass sein Bruder Nanali so selbstverständlich miteinbezog, als hätte er keinen Zweifel daran, dass sie ebenfalls noch am Leben war. Aber das war in Anbetracht der Umstände nicht weiter verwunderlich, und obwohl Lelouch nicht so weit gehen würde, diese Annahme durch irgendetwas anderes zu bestätigen als sein beharrliches Schweigen zu diesem Thema, beunruhigte es ihn nicht, dass Clovis zu dem einzigen logischen Schluss gekommen war. Es war zu erwarten gewesen.

„Möchtest du noch hier bleiben?“

Lelouch wandte sich noch einmal zu der täuschend echten Imitation von Aries' Kaiserlicher Villa um und betrachtete sie eindringlich. „Nein“, entgegnete er nach einer Weile und sah über die Schulter hinweg seinen Bruder an. „Gehen wir.“
 

~
 

„Ich habe mit Lloyd gesprochen“, teilte Clovis seinem Bruder an jenem Abend mit. Sie saßen in dem geräumigen Esszimmer des Gebäudes, einen mit Ornamenten verzierten Tisch vor sich, auf dem mehrere Platten mit unterschiedlichen Sorten Gebäck sowie zwei bereits geleerte Teller aus weißem Porzellan standen.

Da Clovis den Großteil des Personals bereits in aller Frühe nach Hause geschickt hatte, hatte er keinen Grund gesehen, weshalb sie die Gelegenheit nicht nutzen sollten. Wenn es nach ihm ging, konnte er gar nicht genug Zeit mit dem jüngeren Bruder verbringen, den er so lange für tot gehalten hatte, und auch wenn Lelouch nicht gerade außer sich vor Begeisterung zu sein schien, war Clovis sich sicher, dass der Tapetenwechsel ihm guttat.

„Und was sagt er?“ Über den Rand seiner Tasse hinweg sah Lelouch ihn aufmerksam an. Seit sie ihre morgendliche Tour durch das Gebäude beendet hatten, war er beinahe ununterbrochen damit beschäftigt gewesen, Kaffee in sich hinein zu gießen wie Wasser auf ein ausgetrocknetes Blumenbeet.

Clovis rümpfte die Nase. Er hoffte wirklich, dass Lelouch übertrieben hatte, als er sagte, er ernähre sich bevorzugt von Koffein, und dass er lediglich das nachholte, was er in den letzten Tagen nicht an Kaffee konsumiert hatte. Es fehlte noch, dass sein kleiner Bruder auch unter normalen Bedingungen saufte wie ein Kamel am Wasserloch.

Und dann auch noch Kaffee. Was war so falsch an Tee?

„Du solltest deinen Freund in den nächsten paar Tagen sehen können“, setzte Clovis an und beschloss, den himmelschreienden Mangel an Kultur zu ignorieren, mit dem er sich konfrontiert sah. Es war Lelouch. Irgendetwas musste er tun, um seine Nerven zu strapazieren, und nach den letzten paar Tagen war ein bisschen fehlende Etikette fast schon ein Segen. „Ich habe Lloyd gesagt, dass ich mir den Piloten seines neuen Spielzeugs aufgrund dieses eher unkonventionellen Arrangements erst persönlich ansehen will, bevor ich ihn den Lancelot das nächste Mal einsetzen lasse, und wie erwartet hatte er nicht das Geringste dagegen einzuwenden. Allerdings haben offenbar auch die Puristen Wind von der Sache bekommen, als ich nach dem Vorfall in Shinjuku einige Zeit... ah, verhindert war, und nun muss ich erst einmal zusehen, dass ich sie mir noch eine Weile vom Hals halten kann – zusammen mit einem Team angeblich fähiger Wissenschaftler, dessen Mitglieder inzwischen herumlaufen wie kopflose Hühner. Ich versuche mein Bestes, aber morgen wird es wohl nichts mehr.“

Lelouch nickte leicht. „Was willst du bezüglich der Puristen unternehmen?“

Clovis hob die Schultern. „Ich nehme an, ich werde mich mit ihnen zusammensetzen müssen. Sie mögen ein wenig festgefahren in ihrer Meinung sein, aber die meisten von ihnen sind in erster Linie kronloyal. Vermutlich.“

Seinem Bruder entging sein mangelnder Enthusiasmus nicht. „Du hast es wirklich nicht mit Politik, oder?“, fragte er mit dem Anflug eines Schmunzelns.

Clovis verzog leicht das Gesicht. „Nein.

„Ich verstehe wirklich nicht, weshalb du hergekommen bist“, sagte Lelouch. „Nur, weil es hieß, wir seien hier umgekommen?“

„Zu jenem Zeitpunkt schien es mir eine gute Idee.“

„Und jetzt?“

„Jetzt...“, wiederholte Clovis. „Nun, ich schätze, ich bereue es nicht. Wäre ich in Britannien geblieben, würden wir jetzt nicht hier sitzen, nicht wahr? Aber wären die Dinge anders verlaufen, würde ich sagen, dass es der dümmste Einfall gewesen ist, denn ich jemals hatte – die Sache mit dem Frühlingsball miteingeschlossen.“

„Frühlingsball?“

„Ah... es war eine dumme Angelegenheit, wirklich“, sagte Clovis, setzte aber dennoch zu einer Erklärung an. „Da war dieser Sohn eines Herzogs auf einem Ball vor ein paar Jahren. Er konnte noch keine zehn gewesen sein, wollte aber älter wirken und war ausgesprochen förmlich, wenn man ihn ansprach. Aber jedes Mal, wenn Euphie ihn angesehen hat, ist er beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. Es war unglaublich offenkundig und man musste einfach Mitleid bekommen – er hat mich ein bisschen an dich erinnert, als du in dem Alter warst.“ Clovis konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen, als es für einen Moment so aussah, als würde Lelouch mitsamt seinem Stuhl zur Seite umkippen. Und war das da etwa ein Anflug von Röte auf seinem Gesicht...? Aber sein Bruder machte ihm nicht die Freude, ihn seinen kleinen Triumph auskosten zu lassen, und im nächsten Augenblick hatte Lelouch auch schon seine Fassung wiedergefunden. Das Überraschungsmoment war fort, und sein Bruder bedachte ihn mit einem finsteren Blick. Clovis quittierte ihn mit einem entwaffnenden Lächeln. „Mir war gerade nicht nach Tanz und Hofklatsch zumute“, fuhr er fort, als wäre nichts gewesen, „und so kam ich auf die glorreiche Idee, dem Ärmsten ein bisschen behilflich zu sein. Weshalb nicht, dachte ich – es würde sicherlich unterhaltsam sein.“ Er hielt inne, schauderte. „Lass mich dir einen Rat geben, kleiner Bruder... solltest du jemals den unwiderstehlichen Drang verspüren, Euphemia li Britannia frühzeitig unter die Haube zu bringen, stell erst sicher, dass ihre Schwester sich nicht im selben Raum befindet.“

Lelouch sah ihn an, als wäre er ein Idiot. „Und du musstest das erst ausprobieren, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen?“

Nur mühsam hielt Clovis sich davon ab, aufzustehen und seine Tasse über ihm zu entleeren.



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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Von:  Narukyu
2012-09-14T11:26:14+00:00 14.09.2012 13:26
Echt tolles Szenario, jetzt könnte es richtig spannend werden, wenn du weiterschreibst! Ob Kallen zu Lelouch halten wird?
Von:  Nugua
2012-03-06T17:57:29+00:00 06.03.2012 18:57
Interessantes Szenario. Schade, dass du die Geschichte nicht fortsetzt (wobei ich zugegeben auch nicht wüsste, wie man sie vernünftig abschließen könnte.)
Ich habe mich nie sonderlich mit Clovis beschäftigt und kenne die erwähnte Light Novel auch nicht, aber ich finde, du triffst seinen Charakter hier sehr gut.
Von:  Miharu_x3
2011-07-31T21:50:30+00:00 31.07.2011 23:50
haay xD
egal wie oft ich sie lese... sie ist einfach viel zu kurz...
kannst du bitte mehr hochladen?? >.<'
Von:  Miharu_x3
2011-06-30T19:44:14+00:00 30.06.2011 21:44
haayxD
Ich liebe diese ffxD
ich freu mich, wenns endlich wieder weitergeht *.*
Von:  saspi
2010-03-27T23:17:53+00:00 28.03.2010 00:17
Hey!!!
hab heute deine ff endeckt und find sie echt supi!!!
Bitte schreib schnell weiter!
Bin schon neugierig wie 's weitergeht!!!
Freu mich aufs nächste kappi.
Bye

Von:  fahnm
2010-02-27T18:19:33+00:00 27.02.2010 19:19
Oh weh das kann was werden mit den beiden.
ICh bin mal gespannt wie es weiter gehen wird.^^

mfg
fahnm
Von:  Orientalo
2009-11-08T16:54:52+00:00 08.11.2009 17:54
ooooh bin schon richtig gespannt was jetzt passiert! Oh mannnn mach bitte bald weiter^^ super kap! lg
Von:  Orientalo
2009-10-11T12:33:23+00:00 11.10.2009 14:33
Eine sehr gelungene Fanfic, muss ich sagen. Ist eine gute Idee. Das dein Schreibstil super ist muss ich sowieso nicht erwähnen. Das weißt du bestimmt auch so^^
Es ist wirklich sehr sehr spannend und ich hoffe das du weiterschreibst. Wenn auch noch bald, ist das noch besser^^

LG Kiss
Von: abgemeldet
2009-09-12T21:03:06+00:00 12.09.2009 23:03
Deine Geschichte ist wirklich sehr interesant... ich selber konnte mir nicht vorstellen wie sich der verlauf ändert wenn clovis am leben gelassen würde und er, statt Lulu nun über das leben des anderen bestimmen kann, auch fand ich die Idee eines bruder liebenden Clovis am anfang nicht umsetzbar und ich wollte die story auch erst gar nicht lesen aber dein schreibstil hat mich richtig gefesselt und nach dem ersten kapitel war ich von der umsetzung des ganzen begeistert du hast die Charactere so genau getroffen das es fast keine abweichungen gibt. Lloyd war für mich schon immer eine der witzigsten figuren und genau so hast du ihn auch dargestellt
ich hoffe du schreibst schnell weiter denn ich bin mehr als gepannt ob du Lelouch weiterhin in seinem godenen Gefängnis gefangen lassen wirst oder ob du ihm etwas bewegungs freiheit gewärst auch wenn zwischen den beiden brüdern noch lange nicht alles geklärt ist.

lg
dat schony ;D
Von: abgemeldet
2009-09-10T14:24:10+00:00 10.09.2009 16:24
Ein klasse Kapitel
Wirklich hervorrsgend

Mach weiter so

JLP


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