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Green Sea of Darkness

von

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Prolog

„Oh Will, Liebling …“, seufzte Elizabeth, als die Lippen ihres Ehemannes eine sinnliche Reise quer über ihr Schlüsselbein unternahmen. Es war ein lang ersehnter Vorstoß in unbekanntes Territorium, und sie konnte es kaum erwarten, bis jede auch noch so unscheinbare Stelle hinreichende Aufmerksamkeit erfahren hatte. Schließlich hatte sie lange genug auf ihre Hochzeitsnacht warten müssen, die nun paradoxerweise am späten Nachmittag und ganz unkonventionell am Strand von Shipwreck Island stattfand.
 

Eine Sache allerdings duldete keinen Aufschub.
 

„Will, warte …“
 

Es fiel ihr schwer, seine Zärtlichkeiten zu unterbrechen, doch ein reines Gewissen war ihr dieses Opfer allemal wert.
 

„Was ist los?“ Widerstrebend ließ Will von Elizabeths Schlüsselbein ab und betrachtete sie zweifelnd.
 

„Oh, ich weiß“, beantwortete er seine Frage schließlich selbst. „Es ist wegen Jack, nicht wahr?“ Zerknirscht wandte er sich ab und begann, mit der Stiefelspitze im Sand zu scharren.
 

„Natürlich nicht!“, erwiderte Elizabeth entrüstet. „Sei bitte nicht albern, Will, ich dachte, wir hätten das hinter uns!“
 

„Was ist es dann?“ Mit prüfendem Blick betrachtete er die Sonne, die dem Horizont immer näher rückte. „Unsere Zeit wird knapp, Elizabeth.“
 

„Ich weiß. Aber ich muss dir etwas sagen .... Es ist wegen James.“
 

„Ha! Ich wusste es!“
 

Elizabeth seufzte frustriert. Ihr blieb nur zu hoffen, dass es ihm an Bord der Flying Dutchman gelingen würde, seine Eifersucht in den Griff zu bekommen. Sie war beinahe erstaunt festzustellen, dass er sie noch nicht verdächtigt hatte, an Barbossa, Gibbs oder gar Captain Teague interessiert zu sein – was allerdings auch daran liegen mochte, dass sie bisher keinen von ihnen namentlich erwähnt hatte.
 

„James starb, um mich und meine Crew zu retten. Er hat dieses Schicksal nicht verdient.“
 

„Oh Elizabeth!“, sagte Will sanft und zog sie in seine Arme - ob aus Erleichterung oder Mitgefühl, vielleicht sogar einer Mischung aus beidem vermochte sie nicht zu sagen. „Es tut mir leid, dass du so viel Schreckliches erleben musstest. Aber ich verspreche dir, dass …“
 

„Ich will, dass du mir versprichst, mit Calypso zu sprechen!“
 

„Was?!“ Er ließ von ihr ab und stolperte rückwärts, seine Augen ungläubig auf ihre gerichtet.
 

„Sie hat Barbossa zurückgebracht, nicht wahr? Warum sollte sie das Gleiche nicht auch für James tun können?“ Elizabeth wollte es nur schwer gelingen, ihre Ungeduld zu verbergen. Im Grunde hatte sie es ebenso eilig wie Will, das Thema zu beenden und sich angenehmeren Dingen zuzuwenden. Eine Diskussion erschien ihr sinnlos, und beinahe bereute sie, James Norrington überhaupt zur Sprache gebracht zu haben.
 

„Calypso ist eine Göttin“, sagte Will überflüssigerweise. „Sie kann tun und lassen, was sie möchte. Und ich bezweifle, dass sie irgendein Interesse daran hätte, einen designierten Admiral zurückzubringen.“
 

„Sie schuldet uns einen Gefallen“, beharrte Elizabeth. „Und Gefühle können ihr nicht fremd sein, immerhin hat sie Davy Jones einmal geliebt.“ Als Will zweifelnd die Brauen runzelte, fügte sie schnell hinzu: „Selbst wenn es nicht in ihrer Natur lag, ihm treu zu bleiben.“
 

Diese letzten Worte zeigten sofortige Wirkung. Entgegen Elizabeths Absicht schien Will den Verweis auf Calypsos Untreue für eine versteckte Drohung zu halten und reagierte prompt. Er straffte die Schultern und richtete sich kerzengerade auf, dann sagte er ruhig und mit fester Stimme: „Nun gut, ich werde sie fragen. Aber ich kann dir nichts versprechen.“
 

„Danke, Will.“ Lächelnd ging Elizabeth auf ihn zu und hauchte einen betont unschuldigen Kuss auf seine Wange. „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“
 

„Immer“, erwiderte er, während er eine widerspenstige Strähne aus ihrem Gesicht strich. Er sah aus, als wollte noch etwas hinzufügen - vielleicht, dass er immer für sie da sein würde, selbst auf See, im Totenreich und am anderen Ende der Welt, doch sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.
 

„Es wird Zeit“, sagte sie mit leiser Stimme. „Könntest du mich vielleicht daran erinnern, wo wir stehengeblieben waren?“
 

Will lächelte ebenfalls. Und er ließ sich nicht zweimal bitten.

Die unglaubliche Geschichte des Admiral James Norrington war auch Wochen nach seiner Ankunft noch das vorherrschende Gesprächsthema in Port Royal. Obwohl ihn die wenigsten tatsächlich zu Gesicht bekommen hatten, schien er von der Aura eines Heiligen umgeben. Einige schrieben ihm gar übernatürliche Kräfte zu und es hätte wohl niemanden verwundert, wäre die schützende Hand Gottes persönlich in seinem Schlepptau erschienen. Schließlich konnte er den spektakulären Untergang der Endeavour kaum ohne himmlischen Beistand überlebt haben, ganz gleich, was man sich über seinen Heldenmut und seine herausragenden nautischen Fähigkeiten erzählen mochte.
 

Noch bevor er selbst die Hafeneinfahrt von Port Royal passiert hatte, spekulierte die gesamte Stadt über seine vermeintlichen Überlebenskampf und all die einsamen Tage und Nächte, die er auf dem Wasser treibend zugebracht hatte. In den Spelunken trank man darauf, dass er den schrecklichsten Piraten der Karibik entwischt war, und selbst die Sonntagspredigt einiger abenteuerlustiger Pastoren ließ ihn nicht unverschont. Ein dichterisch begabter Gastwirt schrieb sogar eine Ballade, die jedoch schnell in Vergessenheit geriet, weil sich niemand ihren Text merken konnte.
 

Allein James Norrington selbst konnte keinerlei Angaben zu seiner eigenen Geschichte machen. Er erinnerte sich daran, dass er auf der Flying Dutchman, dem berüchtigten Schiff des Davy Jones gewesen war, doch diese Information verschwieg er beharrlich. Wie er richtig vermutete, hätte ihm ja doch niemand geglaubt. Er hatte Elizabeth Swann zur Flucht und sich selbst damit ins Jenseits verholfen. Auch daran konnte er sich noch verschwommen erinnern, doch was danach passiert war, glich einem Strudel aus Stille und Dunkelheit, dem er keine Details abzuringen vermochte.
 

Und dann war er plötzlich am Kai von Bridgetown aufgewacht, gekleidet in eine Uniform der East India Trading Company, komplett mit Hut und Perücke. Er hatte keinerlei Erklärung dafür, wie er dort gelandet war - abgesehen von einer Vielzahl an gleichermaßen unglaublichen Mutmaßungen, die er eine nach der anderen wieder verwarf. Seine Großmutter zuhause in Surrey hatte ihm als Kind einmal von einem Frosch erzählt, der an einem heiteren Sommernachmittag plötzlich vom Himmel gefallen war.
 

Nun, James wusste jetzt, wie sich dieser Frosch wohl gefühlt haben mochte.
 

Schließlich war er an Bord eines Handelsschiffes nach Port Royal zurückgekehrt und hatte dort erfahren müssen, dass es eine Schlacht gegeben hatte, bei der überraschenderweise niemand zu Schaden gekommen war. Niemand, außer Lord Cutler Beckett und seiner Besatzung. Augenzeugen berichteten von einem riesigen Mahlstrom, der sich urplötzlich vor ihnen aufgetan und zwei Schiffe verschlungen hatte. Eben diese beiden Schiffe waren nach einer ganzen Weile wieder aufgetaucht und hatten die Endeavour, das Flaggschiff der East India Trading Company in Stücke geschossen. James Norrington, der zu Cutler Becketts unmittelbarer Entourage zählte, schien den Angriff als einziger überlebt zu haben.
 

So war die ganze Angelegenheit beiseite gelegt worden, ohne dass eine übersinnliche Erklärung überhaupt nur in Erwägung gezogen werden musste. Wie er nach Bridgetown gekommen war, blieb natürlich der Spekulation überlassen, zufällig vorbeikommende Eingeborene erschienen Samuel Bridenbaugh, Cutler Becketts hastig ernanntem Nachfolger jedoch eine mögliche Option. Er war eigens aus Barbados angereist, um seine erste Amtshandlung anzutreten und den mysteriösen Tod seines Vorgängers zu untersuchen. James hatte den Eindruck gewonnen, dass er die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, um sich in Ruhe seiner frisch angetrauten Ehefrau widmen zu können. Sie war ein zartes Ding, jung und blond, und damit in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Bridenbaugh, dessen Leibesfülle an einen gestrandeten Wal erinnerte.
 

Bei dem Gedanken an Mrs. Bridenbaughs engelsgleiches Erscheinungsbild vollführte James’ Magen einen schmerzhaften Salto. Nicht lange nach seiner Rückkehr hatte er sie in Begleitung ihres Mannes durch die Stadt spazieren sehen, ein Traum in hellblauer Seide, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er geglaubt, Elizabeth Swann vor sich zu haben. Er wollte ihr entgegenlaufen, doch just in diesem Augenblick hatte seine Haushälterin Mrs. Lidford zum Tee geläutet und ihm damit die Peinlichkeit einer solchen Szene erspart.
 

Nach drei Wochen des Grübelns war James schließlich zu seinem neuen Vorgesetzten beordert worden. Das Gespräch war informell gewesen und hatte nicht länger als eine halbe Stunde gedauert. Bridenbaugh hatte Becketts Büro nahe Fort Charles sang- und klanglos übernommen und sich auch nicht die Mühe gemacht, etwas daran zu verändern. James erkannte die riesige Weltkarte an der Wand wieder, ebenso den Cognacschwenker und sogar das Teeservice. Bridenbaugh hatte ihm weder Tee noch Cognac angeboten, doch auf derlei Plattitüden hätte James ohnehin nie sonderlich großen Wert gelegt.
 

Stattdessen hatte er gehofft, ein wenig Licht in das Dunkel seiner derzeitigen Existenz zu bringen. Leider vergeblich, wie sich nur allzu schnell herausgestellt hatte.
 

„Sir?“, ergriff er noch einmal das Wort, nachdem ihn Bridenbaugh freundlich aber bestimmt entlassen hatte. Er hatte die Frage eigentlich nicht stellen wollen, doch die Worte hatten sich ganz von selbst auf seine Zunge geschlichen. „Wisst Ihr, was mit Elizabeth Swann geschehen ist?“
 

Falls die Frage Bridenbaugh überraschte, zeigte er es nicht. „Leider nein, Admiral. Von ihr fehlt nach wie vor jede Spur, ebenso wie von ihrem Verlobten.“
 

„Und ihrem Vater. Lord Beckett hat Gouverneur Swann umgebracht.“
 

„Das sagtet Ihr bereits. Ich rate Euch, in dieser Angelegenheit den neuen Gouverneur zu konsultieren. Sobald er hier eingetroffen ist, versteht sich.“ Die Schärfe in Bridenbaughs Worten ließ nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass er die Sache für erledigt hielt. Ein Mordfall kam ihm denkbar ungelegen – insbesondere einer, in den sein Vorgänger und Mentor verwickelt war. Demonstrativ legte er ein Aktenbündel beiseite, das rein gar nichts mit der Sache zu tun hatte und nickte seinem Gast zu. Norrington verstand und wandte sich zur Tür, als ihn Bridenbaughs Stimme noch einmal einholte.
 

„Oh, und Admiral: Wenn ich Euch einen guten Rat geben darf: Ruht Euch ein wenig aus und versucht, die ganze Sache zu vergessen. Ich werde in nicht allzu ferner Zukunft nach Barbados zurückkehren, und die Company braucht einen Repräsentanten in Port Royal. Ich hoffe, auf Euch zählen zu dürfen.“
 

*~*
 

Er durfte. Wider besseren Wissens (und Gewissens) fand sich James Norrington nur wenige Wochen später an einem überdimensionierten Schreibtisch wieder. Natürlich war er auch als Commodore mit vielerlei Papierkram belästigt worden, allerdings war er damals vor allem Seemann gewesen, hatte Schiffe inspiziert und von Zeit zu Zeit Jagd auf eine Handvoll Piraten gemacht. Damit war nun endgültig Schluss. Sein Gehalt hatte eine beträchtliche Verbesserung erfahren, dafür beschränkte sich sein Aufgabenfeld nun darauf, Unterlagen zu sichten, Unterschriften zu leisten und möglichst wenige Fragen zu stellen. Kurz und gut: Er langweilte sich schrecklich.
 

Cutler Becketts Büro war nun endgültig in seinen Besitz übergegangen, minus des Teeservices, des Cognacschwenkers und der Weltkarte, die er durch ein monumentales Ölgemälde ersetzt hatte. Sturmumtoste Wellen brachen sich am Bug eines stolzen Dreimasters, dessen blendend weiße Segel sich in einen aschgrauen Himmel erhoben, das Ensemble eingefasst in einen schweren Silberrahmen. Norringtons Assistent Jeremiah Talbot fand das Bild deprimierend, was auch durchaus der Wahrheit entsprach.
 

James wollte deprimiert sein. Immerhin war er nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel gefallen, ohne die von Gott geschuldete Erklärung zu erhalten; seine Freunde waren allesamt tot, und es stand zu befürchten, dass er selbst einen nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen hatte. Selbst Sparrow hatte diesmal offenbar mit dem Leben bezahlt, was James näher ging, als erwartet. Sicher, der Pirat war eine Nervensäge und das eiternde Geschwür seiner ruhigen Tage in Port Royal gewesen, doch er hatte auch einen exzellenten Sündenbock abgegeben. Über all die Jahre hatte es James’ Gewissen sichtlich erleichtert, die Schuld für den Verlust seiner Verlobten, seines Schiffes und schlussendlich seines Postens bei Sparrow zu suchen. Der notorische Gauner machte sich offenbar einen Spaß daraus, sein Leben systematisch zu zerstören. Und nun war er fort, und James musste diese Aufgabe selbst übernehmen.
 

Bisher hatte er sich damit auch alle Mühe gegeben. Er hätte seine Beziehungen bei der Royal Navy spielen lassen und einen Posten irgendwo in den Kolonien annehmen können. Er hätte nach England zurückkehren oder sogar Ferien machen können. Doch stattdessen hatte er Bridenbaughs Angebot akzeptiert und betätigte sich nunmehr als Buchhalter. Der niemals schrumpfende Stapel Pergament auf seinem Schreibtisch war eine Quelle beständiger Frustration, die ihn auch an diesem Abend bis lange nach Sonnenuntergang im Büro hielt.
 

Er war mittlerweile so verzweifelt, dass er jegliche Dinnereinladung annahm, die sich ihm bot. Allein in der letzten Woche hatte er drei Matronen mit heiratswilligen Töchtern einen Besuch abgestattet, doch ausgerechnet an diesem Abend schien niemand in Port Royal eine Gesellschaft zu geben. Er seufzte tief, goss sich ein Glas Rotwein ein und wandte sich wieder den Papieren zu. Eine Frachtliste, eine Einfuhrerlaubnis, ein Gesuch um finanzielle Mittel für die Erneuerung der Takelage eines Schiffes, ein Fall von Piraterie an der westafrikanischen Goldküste …
 

Er seufzte noch einmal und ging zu dem großen Regal hinüber, in dem Beckett seine Akten aufbewahrt hatte. Trotz seiner Bemühungen war es James nach wie vor nicht gelungen, die Arbeitsweise der Company zu durchschauen. Talbot war ihm eine große Hilfe, doch auf sich allein gestellt war er noch immer so gut wie hilflos, wenn es um finanzielle Transaktionen ging. Alles drehte sich immer nur ums Geschäft, eine Denkweise, die er sich erst aneignen musste. So suchte er nach einem Hinweis darauf, wie Gelder für Reparaturarbeiten bisher gehandhabt worden waren und stieß schließlich auf ein Fach mit viel versprechender Aufschrift: „Schäden und Versicherung“ stand dort in ordentlichen Lettern geschrieben und er zog den Kasten aufs Geradewohl heraus. Der Inhalt hielt allerdings keineswegs die Ordnung, die der äußere Anschein versprach und ergoss sich auf den Boden des Büros.
 

James stieß eine Reihe von Flüchen aus, die ihn aus dem Mund eines anderen sicherlich in Empörung versetzt hätten. Dann bückte er sich und machte sich daran, das angerichtete Chaos zu beseitigen. Mit fahrigen Bewegungen schob er die Papiere zu einem ordentlichen Stapel zusammen, ohne dabei auf ihren Inhalt zu achten. Er war beinahe fertig, als sein Blick von einem bekannten Namen angezogen wurde.
 

Das konnte doch nicht wahr sein!
 

Mit klopfendem Herzen nahm er das entsprechende Schriftstück an sich und hielt es hoch, um im Kerzenschein besser lesen zu können. Er hatte sich nicht getäuscht. Das vergilbte Pergament war mit „Der Fall Wicked Wench“ überschrieben und ein kurzer Blick auf den nachfolgenden Text zeigte unmissverständlich, dass eines der dunkelsten Kapitel seiner Vergangenheit soeben dabei war, ihm einen Besuch abzustatten.
 

Kanonendonner hallte in seinen Ohren wider, schwarzer Rauch senkte sich über ihn, und er erinnerte sich an die Schreie, zu grauenvoll, um jemals ganz aus seinem Gedächtnis zu verschwinden. Er war noch sehr jung gewesen, ein frischgebackener Lieutenant, und es war ganz sicher nicht seine Schuld gewesen. Auch nicht die des Kapitäns, denn er hatte nur einen Befehl befolgt. Schließlich hatte keiner von ihnen ahnen können, wie viele Menschen sich an Bord befanden. Menschen, die eigentlich gar keine sein durften und deren Schreie ihm doch so menschlich erschienen waren, wie kein anderer Laut, den er jemals zuvor gehört hatte. Und sie brannten.
 

Gott, sie brannten wie Fackeln, bis das Feuer im Meer erlosch.
 

Norrington bemerkte nicht, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten und das Pergament zerknüllten. ‚Schluss damit!’, befahl er sich selbst. Er war übermüdet, deprimiert und hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu viel getrunken. Seine Entdeckung war weder ein schlechtes Omen, noch ein Wink des Schicksals. Die Wicked Wench war ein Schiff der East India Trading Company gewesen, es war also völlig natürlich, dass sich die zugehörigen Unterlagen hier befanden. Er würde sie einfach zu den anderen auf den Stapel legen, alle zusammen zurück ins Regal stellen und nicht mehr darüber nachdenken. In einem plötzlichen Anflug von Pflichtbewusstsein strich er das Papier glatt, doch als er es zurücklegen wollte, schien sich eine unsichtbare Macht dagegen zu sträuben. Ihm war, als würde er seine eigenen Abgründe für alle Welt zugänglich in einem Aktenschrank deponieren - und dieses Gefühl machte ihm Angst. Kurz entschlossen rollte er das Pergament zusammen und steckte es in die Tasche seines Gehrocks.
 

So schnell er konnte raffte er den Rest zusammen und warf ihn achtlos zurück in das dafür vorgesehene Fach. Wahrscheinlich war es nun gänzlich unmöglich geworden, jemals auch nur ein Dokument darin wiederzufinden, doch das kümmerte ihn in diesem Augenblick herzlich wenig. Mit einem letzten, schuldbewussten Blick auf die ausstehende Korrespondenz löschte er die Lampen und verließ sein Büro.
 

Das Pergament knisterte leise in seiner Tasche und vermittelte ihm das beruhigende Gefühl, seinen Ruf gewahrt zu haben. Eigentlich, dachte er bei sich, war es doch ein Glück, dass er diese Unterlagen gefunden hatte. Vielleicht würde es ihm nun endlich gelingen, zu vergessen.
 

*~*
 

James Norringtons Domizil in Port Royal lag beinahe zwei Meilen vom Kontor der Company entfernt, was ihm einen angenehmen Spaziergang am Meer entlang bescherte. Im Hafen lagen zwei Handelsschiffe, die Constance und die Dove vor Anker und schaukelten ruhig im Abendwind. James seufzte sehnsuchtsvoll und konnte der Versuchung nicht widerstehen, seine Perücke abzunehmen. Das plötzliche Gefühl von Freiheit erinnerte ihn an all die Jahre auf See, und er schloss für einen Moment die Augen. Mit den Schreien der Möwen im Ohr versuchte er sich vorzustellen, der Steg unter seinen Füßen wäre die Kommandobrücke eines Schiffes, doch die Illusion war nur von kurzer Dauer. Jamaika weigerte sich rundheraus, im Rhythmus der Wellen zu schwanken; auch wenn Sparrows Gang Gegenteiliges hätte vermuten lassen.
 

Schon wieder Sparrow!
 

Es war ihm ein Rätsel, warum er immer und immer wieder an den verdammten Piraten denken musste. Seine Zeit als Crewmitglied der Black Pearl gehörte keineswegs zu James’ glücklichsten Erinnerungen, ebenso wenig wie der Verlust seines Schiffes oder der Schwertkampf auf der Isla Cruces. All diese Demütigungen fanden keinen Vermerk in den Akten der Company, den er vom Boden klauben, in die Tasche stecken und verschwinden lassen konnte.
 

Hungrig und erschöpft passierte er schließlich seine Gartenpforte, schritt an den duftenden Bougainvillea-Sträuchern vorbei und schloss die Haustüre auf. Die Eingangshalle war dunkel, was ihn keineswegs erstaunte. Mrs. Lidford war wohl schon vor einer ganzen Weile zu Bett gegangen, der Koch hatte Ausgang und Daisy, das Zimmermädchen war zu ihrer Familie nach Kingston gefahren. Er legte seinen Mantel ab und erwog, die Haushälterin wachzuklingeln, damit sie ihm das Abendessen aufwärmte, entschied sich jedoch im letzten Augenblick dagegen. Sie würde ja doch nicht aufstehen, ganz zu schweigen davon, dass sie ihm die nächtliche Störung noch tagelang nachtragen würde.
 

„Neununddreißig Jahre auf dieser Erde und noch immer nicht dazu in der Lage, sich gegen seine Frau durchzusetzen. Wirklich beeindruckend, Admiral Norrington!“, murmelte er vor sich hin, während er die Tür zum Salon öffnete. Er war angenehm überrascht, dort nicht nur brennende Kerzen, sondern auch ein Tablett vorzufinden. Offenbar war Mrs. Lidford ausnahmsweise guter Laune gewesen und hatte einen Teller mit Sandwiches vorbereitet. Er beglückwünschte sich selbst zu seinem außerordentlich guten Händchen bei der Auswahl von Dienstboten und hob die silberne Speiseglocke an, nur um sie Augenblicke später wieder sinken zu lassen. Der Teller war leer. Lediglich einige Krümel und der traurige Rest eines welkenden Salatblatts deuteten noch an, wo sich sein Abendessen befunden haben musste. Mit gerunzelten Brauen sah er sich im Raum um, doch niemand war zu sehen.
 

Natürlich nicht!
 

Wahrscheinlich gab es für das Verschwinden der Sandwiches eine völlig rationale Erklärung. Mrs. Lidford, der Koch oder sogar eine dieser schrecklichen Echsen kamen ihm in den Sinn. Er schauderte bei dem Gedanken an die kleinen, sandfarbenen Drachen, die sich von Zeit zu Zeit in seinen Garten verirrten. Wenn einer von ihnen sein Abendessen auf dem Gewissen hatte, so befand er sich wahrscheinlich noch immer im Haus, möglicherweise in seinem Schlafzimmer. James stand kurz davor, all seine guten Vorsätze über den Haufen zu werfen und nach Mrs. Lidford zu läuten, als sein gesunder Menschenverstand einsetzte. Der Wein musste ihn völlig benebelt haben!
 

Echsen stahlen keine Sandwiches, um das Tablett anschließend wieder abzudecken – ebenso wenig wie Katzen, streunende Hunde oder anderes Getier. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung, und er gedachte, der Sache auf den Grund zu gehen. Entschlossen stürzte er zurück in den Flur, um seinen Degen aus dem dort abgelegten Halfter zu ziehen, doch soweit kam es nicht. Kaum hatte er den Salon verlassen spürte er, dass etwas anders war, als sonst. Er wurde beobachtet. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich in der Dunkelheit der Eingangshalle um, konnte jedoch nichts entdecken, bis … DA!
 

Etwas hatte sich bewegt, dort drüben, genau unter dem Treppenaufgang. ‚Ein Einbrecher!’, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Einbrecher, der es offenbar auf Sandwiches abgesehen hatte, dafür jedoch kaum Interesse an der wertvollen Uhr oder dem Tafelsilber hegte.
 

„Hey da, komm sofort raus!“, rief er dem Unbekannten zu. Dabei ging er langsam rückwärts, immer seiner Waffe entgegen, um sich im Ernstfall verteidigen zu können.
 

Nichts geschah.
 

„Ich weiß, dass du da bist. Und ich habe eine Waffe!“
 

Er zog seinen Degen aus dem Halfter, das hinter ihm am Haken ging. Silbernes Mondlicht fiel in die Halle und brach sich auf der frisch geschliffenen Klinge. Dieser unerwartete Effekt zeigte sofortige Wirkung. Unter der Treppe bewegte sich etwas und schließlich konnte James eine schmale Figur ausmachen, die zögernd auf ihn zutrat. Er begab sich in Gefechtsposition, doch der Dieb schien keine Waffe zu tragen. Als die Gestalt in den schmalen Lichtstreifen trat, der aus dem Salon in die Halle fiel, konnte er auch erkennen, warum.
 

Der „Einbrecher“ war ein junges Mädchen, das lediglich mit einem Herrenmantel und hellen Hosen bekleidet war. Sie wirkte schmal, nahezu unterernährt, mit viel zu großen Augen, die ihn aus ihrem schwarzen Gesicht heraus erschrocken anstarrten. James öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch just in diesem Augenblick trat eine weitere Gestalt hervor, dann noch eine, bis schließlich vier Kinder in seiner Eingangshalle standen.
 

Ein hochgewachsener Junge hatte sich zu dem Mädchen gesellt und sah ihn herausfordernd an. Hinter den beiden versteckten sich zwei weitere Kinder, beides Mädchen, die höchstens zehn Jahre alt sein konnten.
 

„W … wer seid ihr?“, fragte James verdutzt. Er wäre mit einem gewöhnlichen Dieb fertig geworden, vielleicht sogar mit einer gefräßigen Riesenechse, doch der Anblick der vier schwarzen Kinder verstörte ihn zutiefst.
 

„Sheza“, sagte das älteste Mädchen zögerlich und zeigte dabei auf seine Brust.
 

„Momoh“, folgte ihr der Junge und trat zur Seite, um auf die beiden Kleinen zu deuten.
 

„Jemi“, sagte er und zeigte auf die rechte von beiden. „ Und Aimen.“
 

Alle vier sahen ihn erwartungsvoll an, als warteten sie auf etwas, doch James war wie versteinert. Aimen trug einen viel zu großen Gehrock, dessen Schöße auf dem Boden aufschleiften. Ein abgetragenes Kleidungsstück aus schwerem blauen Stoff, das er unter tausend anderen wiedererkannt hätte.
 

Es gehörte Jack Sparrow.

Kapitel 2

Jack Sparrow ging am Hafen entlang und pfiff leise vor sich hin. Auf den ersten Blick wirkte er wie einer der unzähligen anderen Seeleute, die an diesem Abend auf die Tavernen und Bordelle zusteuerten, doch der Anschein trog. Hätte ihn einer der zahlreichen Passanten genauer beobachtet, so hätte er festgestellt, dass er sich von Zeit zu Zeit nervös umwandte oder stehen blieb, um die vorbeieilende Menge wachsam zu mustern. Ursprünglich hatte er gehofft, die Dinge würden einfacher werden, sobald er die Kinder nicht mehr bei sich hatte, doch so war es nicht. So wenig er sich diese Tatsache auch eingestehen wollte: Er machte sich Sorgen.
 

Es lag wohl nicht in James Norringtons Natur, vier unschuldige Kinder dem sicheren Tod oder einem noch schlimmeren Schicksal zu überlassen. Allerdings neigte er ebenso wie der Welpe zu unbedachten Aktionen und es stand zu befürchten, dass er etwas entsetzlich Dummes anstellen würde, noch ehe Sheza ihm den Brief übergeben konnte. Das Mädchen war für ihr Alter ausgesprochen scharfsinnig, doch mit den beiden Kleinen im Schlepptau waren sie und Momoh leichte Beute. Wer auch immer sie und die anderen verschleppt hatte würde nach ihnen suchen lassen und sie letztendlich auch finden. Deshalb bestand seine oberste Priorität auch darin, sie aus Port Royal fortzuschaffen.
 

Nur aus diesem Grund war er schließlich über seinen Schatten gesprungen und hatte die Kinder zu Norrington gebracht. Er war nicht nur Geschäftsführer der East India Trading Company, sondern auch ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft; kurzum: eine gute Wahl, wenn man auf der Suche nach einem unscheinbaren Versteck war. Natürlich hatte Jack die Geschichten um die Rettung des Admirals gehört, doch er kannte sich selbst gut genug um zu wissen, dass derartige Behauptungen mit Vorsicht zu genießen waren. So begnügte er sich zunächst mit dem Wissen, dass Norrington trotz seiner unglücklichen Verbindung zu Cutler Beckett weder ein Unmensch, noch ein Sadist war.
 

Für einen Augenblick war er so in Gedanken versunken, dass er nicht mehr auf seine Umgebung achtete. Erst ein unsanfter Stoß in die Rippen, der ihn beinahe über die Kaimauer befördert hätte brachte ihn zurück in die Gegenwart. Er stolperte einige Schritte seitwärts, bis sein Gleichgewichtssinn schließlich die Oberhand gewann.
 

„Hey, ist das hier vielleicht der Trampelpfad zum Wasserloch, du Nashorn?“, rief er dem Übeltäter nach, doch dieser war entweder zu betrunken oder zu beschäftigt, um sich um sein Opfer zu kümmern. Frustriert stieß Jack noch einige unflätige Schimpfwörter aus, um seinem Ruf als furchterregender Pirat gerecht zu werden. Als sich niemand um ihn kümmerte, setzte er seinen Weg schließlich fort. Er verspürte die unbestimmte Lust, sich zu prügeln oder doch zumindest von seinem Degen Gebrauch zu machen. Nach allem, was er in den letzten Monaten gesehen hatte, erschien ihm diese Art roher Gewalt unter Männern normal, ja, beinahe tröstlich und es enttäuschte ihn ein wenig, dass niemand auf seine Provokationen einging.
 

Er drehte sich noch einmal um – eine völlig unnötige Vorsichtsmaßnahme, wie er sich selbst einzureden versuchte, dann bog er in eine dunkle Seitenstraße ein. Ein rostiges Schild schwang leise knarrend im Abendwind, darunter fiel ein schwacher Lichtschein nach draußen. Der vertraute Anblick entlockte Jack ein Lächeln, das nicht zuletzt durch die versöhnlich stimmende Aussicht auf Rum hervorgerufen wurde. Obwohl er es selbst kaum glauben konnte, hatte er seit Tagen keinen Tropfen mehr angerührt - und genauso fühlte er sich auch.
 

*~*
 

Die Taverne sah noch immer so aus, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte: Eng, stickig und so überfüllt, dass man den zentimeterdicken Schmutz auf dem Boden nicht sehen konnte. Die meisten Gäste waren betrunken und Jack machte sich nicht die Mühe, sie einzeln in Augenschein zu nehmen. Je unauffälliger er sich verhielt, desto besser. Entschlossen steuerte er auf den Tresen zu, der einem schlafenden Piraten als Kopfkissen diente. Dahinter stand ein junger Mann und schenkte Rum in schmutzige Krüge.
 

„N’Abend, Ben“, sagte Jack und klopfte zweimal auf das wurmzerfressene Holz.
 

„Jack Sparrow!“ Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Schankwirtes, als er eine halbleere Rumflasche sinken ließ, um den Neuankömmling in Augenschein zu nehmen. „Mann, du musst echt Nerven haben, dass du dich noch hier blicken lässt!“
 

Oh Himmel, das konnte ja heiter werden. „Ist sie sehr wütend?“
 

„Oh ja! Sagte, sie würde dich in Stücke hacken und die guten Teile für einen Eintopf verwenden.“
 

„Und die weniger guten?“
 

„Unten im Hafenbecken gibt es Haie.“ Damit stellte ihm Ben unaufgefordert einen großzügig gefüllten Krug mit Rum hin.
 

„Verlockende Aussichten.“ Jack nahm einen zögerlichen Schluck, nickte anerkennend und trank den halben Krug in einem Zug leer. „Was kannst du mir denn als Henkersmahlzeit empfehlen?“
 

„Eintopf!“
 

Jack verzog angewidert das Gesicht und beschloss, noch ein paar Tage länger zu fasten. Vielleicht hatte Anamaria ja etwas Genießbares in ihrem persönlichen Vorratsschrank – wenn sie ihn nicht vorher in sämtliche Einzelteile zerhackte, was ihr durchaus zuzutrauen war. In gewisser Weise, das musste er zugeben, hatte sie auch allen Grund, wütend zu sein. Bei seinem letzten Besuch hatte er sich eine beträchtliche Summe Geld von ihr geborgt, auf deren Rückzahlung sie bis zu diesem Tag wartete. Dass er die Münzen ungefragt bei seiner Abreise aus dem Schrank genommen hatte, machte die Sache nicht eben besser.
 

„Wo ist sie eigentlich?“, fragte er Ben, nachdem er die gesamte Kneipe mit den Augen abgesucht hatte, ohne ein vertrautes Gesicht zu entdecken.
 

„Nimmt ein Bad.“
 

„Denkst du, sie hätte etwas gegen ein wenig Gesellschaft einzuwenden?“ Er grinste anzüglich und Ben verstand den Wink. Ein kurzes Nicken in Richtung einer hinter dem Tresen eingelassenen Tür war alles, was es zu sagen galt. Jack nahm einen letzten Schluck Rum, dann begab er sich in die Höhle der Löwin.
 

*~*
 

„Ben, was soll das? Ist es so wichtig?“
 

Gott, was für ein Anblick! Anamaria lag mit geschlossenen Augen in einem Waschzuber, den Körper von Schaum bedeckt. Nur ihr glänzend schwarzes Haar ergoss sich über den Rand der Wanne und fiel fast bis zum Boden. Es war eine Schande, dachte Jack, dass sie es für gewöhnlich unter einem überdimensionierten Hut versteckte.
 

„Aye, Liebes. Es geht um Leben und Tod.“
 

Was in den nächsten Sekunden geschah, ging so schnell, dass Jacks überstrapaziertes Hirn mit der Reihenfolge der Ereignisse vollkommen überfordert war. War sie zuerst aus der Wanne gesprungen und hatte dann die Augen aufgerissen, oder war es umgekehrt gewesen? Und wie zum Teufel war sie an diese Pistole gekommen?
 

„Du“, zischte sie in sein Ohr. „Dass du ein gottverdammter kleiner Gauner bist, wusste ich. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass du tatsächlich so dreist sein würdest, hier aufzutauchen.“
 

„Du dagegen entsprichst noch immer ganz meinen Erwartungen.“ Jack verzog das Gesicht und hoffte, dass ein entwaffnendes Grinsen dabei herauskam. Trotz des kalten Metalls an seiner Schläfe kam er nicht umhin, den Blick zu senken und auf ihre nackten Brüste zu starren. Sie hatte sich tatsächlich nicht verändert. Ihr Körper war noch immer schmal und drahtig, ihre Schenkel fest und ihre Haut dunkel und geschmeidig. Dabei musste sie fast in seinem Alter sein.
 

„Spar dir dein Gesülze. Jedes Wort, das über deine Lippen kommt, ist eine verdammte Lüge.“ Ihre Stimme war schneidend kalt und Jack musste einsehen, dass es schwerer werden würde als geplant.
 

„Willst du nicht erst einmal die Waffe von der Stirn eines Mannes nehmen, um besagten Mann zu fragen, ob er dir das gebracht hat, was du von ihm haben möchtest?“
 

„Na gut“, sagte Anamaria und nahm die Waffe herunter. „Und? Hast du mein Geld?“
 

„Ehrlich gesagt und unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände – nein.“
 

Sekundenbruchteile später war der Pistolenlauf an seinen angestammten Platz zurückgekehrt – in die beunruhigende Nähe seines Gehirns.
 

„Anamaria, Teuerste“, begann er aufs Neue. „Meinst du nicht, wir sollten das hier regeln wie zivilisierte Menschen?“
 

„Ich sehe hier nur einen zivilisierten Menschen, und das bist ganz sicher nicht du.“
 

„Hör zu, es tut mir leid.“ Hatte er das wirklich gesagt? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er selbst nicht gewusst, wie verzweifelt er eigentlich war – aber er meinte es tatsächlich. Es tat ihm leid, dass er ihr das Geld nicht zurückzahlen konnte, insbesondere da er hierher gekommen war, um sie um einen Gefallen zu bitten.
 

„Darf ich das noch einmal hören?“ Die Pistole bewegte sich um keinen Millimeter, doch er glaubte so etwas wie Amüsement aus ihrer Stimme herauszuhören.
 

„Es könnte sein, dass ich vielleicht ein klitzekleines bisschen Reue zeige, was das Geld angeht, das ich mir von dir geborgt habe.“
 

Anamaria schien für eine Weile nachzudenken, dann senkte sie ihre Waffe und trat einen Schritt zurück. „Und was verschafft mir die Ehre, von einem reumütigen Jack Sparrow heimgesucht zu werden? Ich nehme nicht an, dass du hier bist, um dich bei mir zu entschuldigen.“
 

Jack schluckte schwer. Er wusste, dass der Augenblick geradezu nach einer schlagfertigen Antwort schrie, doch er konnte beim besten Willen keinen klaren Gedanken fassen, solange sie so vor ihm stand: Völlig nackt.
 

„Du siehst das völlig falsch, Liebes“, stammelte er. „Ich verbinde nur das Angenehme mit dem Nützlichen, sozusagen …“
 

Sie schien seine Blicke bemerkt zu haben, denn sie grinste, wackelte verführerisch mit den Hüften und griff schließlich nach einem Handtuch. Er verstand ihr Friedensangebot und stellte überrascht fest, dass er ihr vor lauter Dankbarkeit am liebsten um den Hals gefallen wäre.
 

„Können wir reden?“, fragte er, während er ihren Hintern bewunderte.
 

„Siehst du hier jemanden, der uns belauschen könnte?“
 

Jack fühlte leises Bedauern in sich aufsteigen, als sie nach ihren Hosen angelte und Anstalten machte, sich ein Hemd überzuziehen. ‚Es ist besser so, alter Junge’, hielt eine warnende Stimme in seinem Kopf dagegen, und er musste ihr grummelnd zustimmen. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein Neuaufguss einer schon mehrfach gescheiterten Beziehung.
 

„Dann werde ich dir jetzt eine Geschichte erzählen“, sagte er schließlich, „und du wirst mir sagen, was du davon hältst.“

Kapitel 3

@Crunchyhearts: Vielen Dank für das liebe Review! Freut mich, dass Dir die Geschichte gefällt! Ich wünsche Dir noch einen wunderbaren Urlaub und viel Spaß mit dem neuen Kapitel^^
 

***
 

James las den Brief. Las ihn noch einmal. Ging zum Kabinett, holte eine Flasche Rotwein heraus, trank. Dann griff er zum dritten Mal nach dem schmutzigen Papierfetzen, als hätte der Alkohol den Worten eine neue Dimension verliehen.
 

Mein lieber, treuer Freund,
 

ich hoffe (ja, ich weiß), Ihr befindet Euch wohl. Aufgrund komplizierter, völlig unvorhergesehener Umstände, deren Explikation sicherlich mehrere Tage in Anspruch nehmen würde, muss ich Euch um einen Gefallen bitten. Wie ich annehme, habt Ihr zu diesem Zeitpunkt bereits Sheza und ihre Freunde kennengelernt, denen ich in besonderer Weise verpflichtet bin. Leider rufen mich wichtige Geschäfte, die mir keine andere Wahl lassen, als die Kinder in Eure Obhut zu geben. Mit Blick auf alles, was ich für Euch getan habe vertraue ich darauf, dass Ihr gut auf sie achten und es ihnen an nichts fehlen lassen werdet.
 

Ich und mein Degen erlauben uns, auf Eure Diskretion zu zählen.
 

Auf ewig der Eure,
 

J.F.C.S.
 

James zweifelte keine Sekunde lang daran, dass es tatsächlich Jack Sparrow war, der diesen Brief geschrieben hatte. Wofür auch immer F. und C. stehen mochten, allein die Wortwahl schloss jeden vernünftig denkenden Menschen aus. ‚Aber warum ausgerechnet ich?’, schoss es ihm zum wiederholten Male durch den Kopf. Was hatte den Piraten nur veranlasst, die vier Kinder ausgerechnet in seinem Haus abzusetzen? Und wie waren sie überhaupt hereingekommen?
 

Er blickte auf und sah die vier vor sich stehen, ordentlich aufgereiht wie die Orgelpfeifen. Im Kerzenschein wirkte ihre Haut noch schwärzer, ihre Augen größer, ihre Kleidung schäbiger. Und sie waren nicht nur dünn, sondern völlig abgemagert, was wohl die Frage nach dem Verbleib seiner Sandwiches erübrigte.
 

„Du lesen?“, fragte das Mädchen, das sich als Sheza vorgestellt hatte. Dabei deutete sie auf das Papier in James’ Hand.
 

„Natürlich kann ich lesen!“, entgegnete er barsch. Plötzlich fiel ihm ein, dass sie ihn wohl hatte fragen wollen, ob er den Brief gelesen hatte und er bereute, sie angeblafft zu haben. „Ja“, begann er schließlich sanfter. „Ja, ich habe ihn gelesen.“
 

„Wir bleiben?“ Ihre Augen schimmerten hoffnungsvoll und er fühlte sich einmal mehr um seine Entscheidungsfreiheit gebracht.
 

„Ja, natürlich könnt ihr bleiben“, sagte er und nickte bekräftigend.
 

Sheza schien einen Moment zu brauchen, um die Information zu verdauen. Dann erschien ein zögerliches Lächeln auf ihren Lippen, das breiter und breiter wurde, bis sie schließlich übers ganze Gesicht strahlte. Als Momoh keine Anstalten machte, in ihre Begeisterung mit einzustimmen, versetzte sie ihm einen sanften Stoß mit dem Ellenbogen. Sie beugte sich zu ihm herüber und raunte ihm etwas in einer fremden Sprache zu, das ihm ein unwilliges Schnauben entlockte. Er blickte zu James und runzelte missbilligend die Brauen, dann zurück zu Sheza, die mit den Schultern zuckte und sich den beiden Kleinen zuwandte.
 

„Captain Jack“, sagte Momoh zu James und formte mit seinen Händen eine Waffe. „Peng!“ Dann zeigte er mit dem Finger direkt auf James’ Herzgegend. „Du!“
 

Diesmal brauchte er keine Denkpause um zu verstehen, was der Junge meinte. Zweifellos besaßen die Kinder einen versteckten Wert, den er nicht kannte und wohl auch nicht erfahren würde. Piraten waren niemals selbstlos, am Allerwenigsten Jack Sparrow. James legte eine Hand auf seine Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Es war nur allzu offensichtlich, dass Sparrow wieder einmal in Schwierigkeiten steckte – und mit beinahe beängstigender Präzision war es ihm gelungen, ihn, James Norrington mit hineinzuziehen.
 

Er zwang sich, die Augen wieder zu öffnen und sich den Kindern zuzuwenden.
 

„Wollt ihr etwas essen?“, fragte er und führte dabei unbewusst die Hand zum Mund. Immerhin stand nicht zu vermuten, dass sie von seinem Abendessen wirklich satt geworden waren.
 

*~*
 

Eine knappe Stunde später saß er wieder in seinem Sessel und beobachtete mit einiger Genugtuung, wie die vier die letzten Reste seiner Vorräte verschlangen. Mit Schrecken hatte er feststellen müssen, dass er Mrs. Lidford nicht wecken konnte und sich daher selbst um alles kümmern musste. So war er zum ersten Mal in seinem Leben in die Küche hinuntergegangen, um dort nach etwas Essbarem zu suchen. Er hatte Brot gefunden, ein wenig Wurst und Käse, sowie abgehangenes Fleisch und den kläglichen Rest einer Pastete. Die Kinder schienen nichts davon jemals zuvor gesehen zu haben, doch sie verschlangen es mit dem Heißhunger einer Horde Termiten.
 

„Wo kommt ihr her?“, fragte er schließlich an Sheza gewandt. Sie saß mit den anderen zusammen auf dem Fußboden, nachdem sich Momoh und die Kleinen rundheraus geweigert hatten, das Sofa zu benutzen. James hatte den Eindruck gewonnen, dass sie besser Englisch sprach, als die anderen, doch vielleicht verfügte sie auch einfach über eine raschere Auffassungsgabe.
 

Sie sah ihn an und es kam ihm so vor, als würde ihr Blick mit einem Mal ernst und traurig werden. Ihre Hand vollführte eine Wellenbewegung und sie zeigte in eine unbestimmte Richtung. Sie schien für eine Weile nachzudenken, dann fügte sie hinzu: „Afrika“.
 

Natürlich hatte er es die ganze Zeit über gewusst, doch bis zu diesem Augenblick war es ihm auf wundersame Weise gelungen, das Offensichtliche zu verdrängen. Die Kinder waren entflohene Sklaven, vier unglückliche Seelen, die man aus ihrer Heimat verschleppt hatte. James wusste um die Notwendigkeit dieser Praxis, wusste um die Plantagen und das Wohl seiner Nation.
 

Doch sie brannten wie Fackeln …
 

Er fühlte die altbekannte Übelkeit in sich aufsteigen, den bitteren Geschmack von Schuld und Hilflosigkeit, doch er schluckte sie hinunter.
 

„Flügel“, rief Aimen plötzlich. Es war das erste Mal, dass er das Mädchen sprechen hörte und der Klang ihrer Stimme erschreckte ihn. Es lag etwas Angstvolles darin, doch gleichzeitig so viel Ehrfurcht und Staunen, dass er sich unwillkürlich fragte, ob sie überhaupt verstand, was man ihr und den anderen angetan hatte. Sofort drehte sich Momoh zu ihr um und redete mit barschem Tonfall auf sie ein, doch Aimen beharrte auf ihrer Aussage. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie zum Kaminsims und wiederholte bestimmt: „Flügel!“
 

Jetzt erst verstand James, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Aus seiner Zeit bei der Royal Navy besaß er ein Modell der Interceptor, welches er über all die Jahre gehütet und sogar in seinem Salon ausgestellt hatte. Alles war bis ins kleinste Detail perfekt, sogar die Schnitzereien und die Takelage. Und natürlich die Segel. Flügel.
 

Kurzentschlossen ging er zum Kaminsims hinüber und nahm das Modell herunter. Vorsichtig sank er zu den Kindern auf den Fußboden und reichte es Aimen. „Segel“, sagte er und deutete auf das Schiffsmodell. Aimen betrachtete es staunend. Ihre Augen wanderten zwischen ihm, Momoh und dem Spielzeug hin und her, bis sie schließlich wagte, ihre Hand auszustrecken und vorsichtig über die winzige Stoffbahn zu streichen. Nun rutschte auch Jemi näher und James beobachtete schmunzelnd, wie sie sich verrenkte um zu sehen, was sich in dem Modell befand.
 

„Hier“, sagte er schließlich und reichte der strahlenden Aimen das kleine Schiff. Sie nahm es mit zitternden Fingern entgegen und stellte es mit unerwarteter Vorsicht auf dem Fußboden ab. Sheza lächelte dankbar in James’ Richtung und er nahm an, dass er etwas richtig gemacht hatte. Verdammt, warum kümmerte ihn das überhaupt?
 

Mit einem Mal fühlte er sich ausgelaugt und erschöpft - und ein Blick auf die große Standuhr verriet ihm auch, warum. Die vergoldeten Zeiger zeigten bereits eine halbe Stunde nach Mitternacht, und er war schon seit morgens um sechs auf den Beinen. Auch die Kinder hatten wohl ein wenig Schlaf nötig. Der Himmel allein wusste, wie lange sie schon unterwegs waren.
 

„Was haltet ihr davon, wenn wir alle zu Bett gehen?“
 

Die vier sahen ihn verständnislos an, doch Jemi gähnte, was er als ein deutliches „ja“ wertete. Er erhob sich aus seinem Sessel und bedeutete den Kindern, ihm zu folgen. Die beiden ältesten gehorchten prompt, ebenso wie Jemi. Nur Aimen blieb sitzen und starrte sehnsuchtsvoll auf das Schiffsmodell.
 

„Du kannst es mitnehmen“, sagte James und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie schien die Geste zu verstehen, hob das Spielzeug auf und folgte den anderen.
 

James scheuchte die kleine Karawane vor sich her in den Flur und wollte sie gerade in Richtung der Gästezimmer lotsen, als ihm Sparrows Bitte um Diskretion einfiel. Verflucht, er hatte wirklich keinen guten Abend!
 

Mit einem müden Stirnrunzeln verabschiedete er sich von der Aussicht auf Ruhe und Erholung. Dann führte er die Kinder in sein Schlafzimmer.
 

*~*
 

Anamaria saß Jack gegenüber an einem wackeligen Tisch und runzelte sorgenvoll die Stirn. Das Licht einer einzelnen Kerze ließ die Schatten über ihr Gesicht tanzen und Jack fiel es zunehmend schwer, sich zu konzentrieren. Er fühlte sich, als wäre er mehrfach verdaut und wieder ausgespuckt worden -wobei er wohl zu den wenigen Menschen gehörte, die dieses Gefühl tatsächlich kannten. Die gesamte Geschichte zu erzählen war ihm schwerer gefallen, als erwartet. Beinahe war es, als würde er alles noch einmal durchleben. Die Überfahrt als blinder Passagier, die Kinder, die wochenlange Flucht quer durch die Kolonien…
 

„Du brauchst also ein Schiff?“, sagte Anamaria schließlich. Sie hatte ihn während der gesamten Erzählung nicht unterbrochen, wofür er ihr ausgesprochen dankbar war.
 

„Aye. Das heißt, ich brauche eine sichere Passage. Ich bin zwar Captain Jack Sparrow, aber auch ich kann ein Schiff nicht alleine segeln. Und die Kinder werden sicherlich keine große Hilfe sein.“
 

Anamaria schien für eine Weile nachzudenken, bevor sie zu einer Antwort ansetzte. „Ich kenne einen Kapitän, der Port Royal morgen Abend verlässt. Er segelt unter britischer Flagge, ist aber ein Gauner, wie er im Buche steht. Ich nehme an, gegen ausreichende Bezahlung könnte er euch nach Hispaniola bringen.“ Sie legte besonderen Nachdruck auf „ausreichende Bezahlung“ und sah ihn herausfordernd an.
 

Jack seufzte. Verflucht, sie kannte ihn viel zu gut. „Tja, weißt du … trotz aller nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen, Rücklagen und Versicherungen sind meine finanziellen Möglichkeiten im Moment stark eingeschränkt.“
 

„Du bist also pleite?“, stellte Anamaria nüchtern fest und begann mit den Fingern auf der Tischplatte zu trommeln. Jack zuckte hilflos mit den Schultern.
 

„Selbst wenn ich wollte könnte ich dir kein Geld leihen“, fuhr sie langsam fort, und er glaubte ehrliches Bedauern aus ihren Worten herauszuhören. „Die Taverne läuft nicht schlecht, aber ich muss das Dach in Stand setzen lassen, sonst bricht das ganze Gebäude beim nächsten Sturm in sich zusammen.“
 

Jacks Gesichtsausdruck schien seine Enttäuschung widerzuspiegeln, denn sie stand auf und ging zu einem Getränkekabinett hinüber. Schließlich kam sie mit einer Flasche Rum und zwei Krügen zurück.
 

„Sag mal, was ist mit dem Admiral?“, fragte sie, während sie ihm einen großzügigen Schluck eingoss.
 

„Norrington?“ Jack lachte freudlos. „Eher würde ich zurück in den Locker gehen, als ihn um Geld anzubetteln.“
 

„Dann wirst du den Kindern wohl Adieu sagen müssen.“ Sie ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken und stemmte ein Knie gegen die Tischkante. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass der rechtmäßige Eigentümer nach ihnen suchen wird. Die Tageszeitungen sind voll von solchen Anzeigen, und die meisten stammen von völlig unbedeutenden Plantagenbesitzern. Wer auch immer die Kinder hergebracht hat, ist von ganz anderem Kaliber - ein Perverser, wenn du so willst. Und er legt sicherlich keinen besonders großen Wert darauf, dass sein kleines Geheimnis an die Öffentlichkeit dringt. Sklaven kosten Geld und du weißt wohl selbst am besten, dass die Schiffsladungen aus Afrika normalerweise keine Kinder enthalten. Er muss sie also explizit angefordert haben. Wenn du meine Meinung hören willst, Jack: Diesmal hast du dich mit jemandem angelegt, der eine ganze Nummer zu groß für dich ist.“
 

Jack erwiderte nichts. Stattdessen nahm er einen Schluck aus seinem Krug, doch die tröstende Wärme blieb aus. Natürlich hatte Anamaria recht. Nach allem, was passiert war hätte er es besser wissen müssen. Wahrscheinlich wäre sein ganzes Leben anders verlaufen, hätte er sich damals zusammengenommen und die Sklaven einfach abgeliefert. Andererseits: Was wäre die Alternative gewesen? Selbstmord? Er war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie Anamaria aufstand und hinter ihn trat.
 

„Armer Jack“, raunte sie in sein Ohr, während sie ihm die Arme um die Schultern schlang. „Du ziehst die Schwierigkeiten förmlich an.“
 

„Ich bin ein Idiot“, seufzte er und lehnte sich in ihre Umarmung.
 

„Vielleicht“, stimmte sie ihm zu. „Aber ich habe dich immer gemocht. Du lässt mich an das Gute im Menschen glauben.“ Sie küsste seine Wange und für einen viel zu kurzen Augenblick durchflutete ihn ein Gefühl, das weit besser war, als Rum. Eine Frau wie Ana hatte es wahrhaftig nicht verdient, betrogen und verletzt zu werden – Vergehen, derer er sich selbst unzählige Male schuldig gemacht hatte. Doch vielleicht war jetzt alles anders. Vielleicht konnte er alles wieder gutmachen. Er drehte den Kopf, um sie auf den Mund zu küssen, doch sie wich ihm aus.
 

„Ich werde mit diesem Kapitän reden“, sagte sie in rein geschäftsmäßigem Ton und begann, im Raum auf und ab zu gehen. Er kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie auf ihre Weise versuchte, die Situation zu retten. Die Gewissheit versetzte ihm einen Stich ins Herz, doch er nahm sich zusammen und konzentrierte sich auf ihre Worte. „Komm morgen Nachmittag hierher, und ich werde euch zusammenbringen. Es wäre natürlich von Vorteil, wenn es dir bis dahin gelungen wäre, ein paar hundert Dublonen aufzutreiben.“
 

„Ein paar hundert Dublonen? Machst du Witze?“
 

„Deine Fracht ist gefährlich, das lässt sich nicht verbergen“, bemerkte sie sachlich. „Außerdem ist es immer gut etwas zu haben, mit dem man verhandeln kann.“
 

*~*
 

Nur wenig später befand sich Jack auf dem Rückweg zum Haus des Admirals. Der Morgen dämmerte bereits über dem Meer und die Sorge um die Kinder stahl sich nach und nach zurück in sein Bewusstsein. Vielleicht würde sich Norrington ja gnädig zeigen und ihm selbst ein paar Stunden Schlaf gewähren. Er brauchte dringend einen klaren Kopf, wenn er tatsächlich Geld für die Überfahrt auftreiben wollte – und was blieb ihm schon anderes übrig?
 

Er hatte knapp die halbe Strecke des Weges bewältigt, als er bemerkte, dass sich etwas verändert hatte. Unmerklich zunächst, dann immer deutlicher. Ein Augenpaar schien sich förmlich in seinen Hinterkopf zu bohren. Jemand folgte ihm. So unauffällig wie möglich beschleunigte er seinen Schritt und tastete nach dem Griff seines Degens. Den Blick hielt er starr geradeaus gerichtet – ‚nur nicht umdrehen!’ - als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Zu Tode erschrocken fuhr er herum, zog seinen Degen – und erstarrte.
 

Vor ihm stand eine junge Frau, die ihn ebenfalls mit vor Schreck geweiteten Augen ansah. Wahrscheinlich war es nur dem Zittern seiner Hand zu verdanken, dass er sie nicht aufgespießt hatte. Schuldbewusst ließ er die Waffe sinken und legte ihr nun seinerseits die Hand auf die Schulter.
 

„Alles in Ordnung, Liebes? Ich dachte, Ihr wärt … jemand anderes.“
 

Sie nickte langsam, doch er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt eines seiner Worte verstanden hatte. Er musterte sie kurz, ein junges, abgemagertes Ding, an dessen Gewerbe es keinerlei Zweifel geben konnte. Aus ihrem hoch aufgetürmten, blonden Haar hatten sich einige Strähnen gelöst und fielen ihr weich ins Gesicht. Ihr Make-up war im Laufe des Abends verlaufen und verlieh ihr ein seltsam unschuldiges Aussehen.
 

„Ich … ich denke ja“, sagte sie schwer atmend und mit starkem Akzent. Offenbar war sie Französin, eine von jenen Unglücklichen, die man zu Hunderten in die Kolonien gelockt hatte. Als er keine Anstalten machte, von ihr abzulassen entsann sie sich ihres ursprünglichen Anliegens und setzte ein schiefes Lächeln auf. „Gibt es etwas, das ich für Euch tun kann – Captain?“
 

Jack wollte ablehnen, doch sein Körper schien andere Pläne zu haben. Noch bevor er etwas dagegen tun konnte, ertappte er sich dabei, wie er mit dem Kopf nickte und in der Tasche nach den letzten Resten seines Barvermögens kramte. Es war nicht viel, aber so verbraucht wie die Dirne aussah, würde es wohl reichen.
 

Er zeigte ihr die Münzen und sofort erschien ein gieriges Glitzern in ihrem Blick. „Wo?“, fragte sie geschäftstüchtig und ohne Nachzudenken nickte er in Richtung eines Tordurchgangs. Die Straßen waren ohnehin beinahe ausgestorben, außerdem hatte er es eilig.
 

Verdammt, warum musste er auch ausgerechnet jetzt an seinen Schwanz denken?
 

„Oh, Ihr seid also einer von der ganz schnellen Sorte“, sagte sie im Plauderton, als sie gemeinsam durch die Gasse gingen.
 

„Ich bin Captain Jack Sparrow, Darling”, antwortete er grinsend und fühlte sich beinahe an seine sorgenfreien Tage in Tortuga erinnert.
 

„Und wie wollt Ihr mich haben?“
 

„Auf eine Art und Weise, die so gut wie keine Beteiligung meinerseits erfordert. Denn seht Ihr: Ich bin ausgesprochen erschöpft.“
 

Sie runzelte die Stirn, als müsste sie erst darüber nachdenken, was er meinte. Als sie endlich verstanden hatte, grinste sie breit und sank auf die Knie, um seinen Gürtel zu öffnen.

Kapitel 4

A/N: Vielen Dank an alle Leser :-)
 

***
 

James befand sich an Bord der Grace Of God und sah zur Wicked Wench hinüber. Ihr blank polierter Rumpf glänzte golden in der warmen Abendsonne, während ihre Segel stolz in den azurblauen Himmel ragten. Sie war ein wunderschönes Schiff, sicherlich erst vor wenigen Jahren vom Stapel gelaufen, und es wollte nicht in seinen Kopf hinein, warum die East India Trading Company von ihnen verlangte, sie auf den Grund des Meeres zu schicken. Er hatte bereits mit dem Kapitän darüber gesprochen, doch dieser hatte ihm gleichmütig versichert, dass die Entscheidung von der Company getragen und ihnen auf diese Weise ein potentiell verlustreicher Kampf erspart würde.
 

Die Männer versammelten sich an Deck, ein jeder ging auf seinen Posten, und James wusste, dass die Zeit gekommen war. Er hob den Arm und wartete, bis sie volle Breitseite erreicht hatten. Dann gab er den Befehl zum Feuern.
 

Es war der Untergang der Welt, wie er sie gekannt hatte. Kanonendonner und Pulverdampf, Rauch und Feuer. Er konnte sie nicht sehen, doch er hörte ihre Schreie, durchdringend und schrill. Erst als sich der graue Schleier langsam lichtete, sah er das sinkende Schiff und die Menschen im Wasser. Ihre Leichen trieben auf dem Rücken und er erkannte Sheza und Aimen, neben sich das Spielzeugschiff im schwarzen Wasser. Ihr Anblick lies ihn vorwärts stürmen, doch bevor er sich über die Reling stürzen konnte, wurde er von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten. Er trat um sich, lehnte sich mit wilder Entschlossenheit auf, doch es half nichts. Sein Angreifer hatte ihn nicht nur fest im Griff, er besaß sogar die Dreistigkeit, ihm eine Ohrfeige zu verpassen.
 

„Hey, was soll das, Mann?“ Er riss vor Schreck die Augen auf und starrte geradewegs in das mondbeschienene Gesicht der denkbar letzten Person, die er in diesem Augenblick sehen wollte.
 

Jack Sparrow ließ sofort von ihm ab und stolperte mit erhobenen Händen einige Schritte rückwärts. „Ganz ruhig, Admiral. Ihr hattet einen Albtraum und ich sah es als meine gute Christenpflicht an, Euch daraus zu erlösen.“
 

James war noch immer zu perplex, um etwas zu erwidern. Stattdessen rieb er sich die schmerzende Wange und starrte seinen nächtlichen Besucher ungläubig an. „Sparrow“, zischte er schließlich, „wie um alles in der Welt seid Ihr hier hereingekommen?“
 

„Ihr solltet das Schloss an der Luke Eures Kohlenkellers überprüfen“, erwiderte Jack ungerührt. „Gar nicht auszudenken was passiert wäre, hätte nicht ein so ausgesprochen ehrlicher Mann wie ich diese Schwachstelle entdeckt. Zudem – und verzeiht, wenn ich mich irren sollte – habe ich den starken Eindruck gewonnen, dass ich erwartet wurde. Warum sonst würdet Ihr zu dieser Stunde vollständig bekleidet in einem Sessel schlafen?“
 

Sparrows Logik war wie immer bestechend, doch James fühlte sich nicht in der Lage, seinen Worten auch nur im Ansatz zu folgen. So begnügte er sich mit einem missbilligenden Stirnrunzeln, bei dessen Ausführung er einen pochenden Schmerz hinter seiner Schläfe bemerkte. Er stöhnte leidvoll auf, doch sein nächtlicher Besucher kannte keine Gnade.
 

„Wo sind die Kinder“, fragte er unvermittelt.
 

„Im Bett, wie es sich für ihr Alter gehört.“ Trotz der Kopfschmerzen meldeten sich James’ Lebensgeister langsam zurück. „Wer sind sie überhaupt und warum habt Ihr sie ausgerechnet hierher gebracht?“
 

„Mein lieber Commodore – Verzeihung, Admiral: Ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, undankbar zu sein, doch meine Privatangelegenheiten gehen Euch nichts an.“
 

„Und ob sie mich etwas angehen!“, rief James mit einer Heftigkeit, die ihn selbst überraschte. „Sie liegen schließlich in meinem Bett. Und sie haben mein Abendessen auf dem Gewissen. Also raus mit der Sprache: Was habt Ihr mit ihnen vor?“
 

„Auch wenn es Eurem begrenzten Verstand schwer fällt, das zu glauben“, zischte Jack und verschränkte die Arme demonstrativ vor der Brust, „ich will nur das Beste für diese Kinder.“
 

„Das Beste!? Ich könnte mir nichts Schlimmeres für ein Kind vorstellen, als Eurer Willkür ausgesetzt zu sein.“ James war aufgesprungen und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er wusste selbst nicht, was ihn an Jacks Worten so aufgebracht hatte, doch der Ernst in seiner Stimme erschien ihm wie der blanke Hohn.
 

Zu seinem Erstaunen verwandelte sich das Gesicht des Piraten augenblicklich in Stein. „Das denke ich mir“, sagte er kalt. Dann trat er unvermittelt näher und begann, James wie eine Raubkatze zu umkreisen. “Lasst mich Euch einen guten Rat geben, Admiral: Bleibt in Eurer behüteten kleinen Welt sitzen, umgebt Euch mit Daunenkissen und Gartenpartys, aber hört gefälligst auf, mich nach Dingen zu fragen, die Ihr gar nicht wissen wollt.“
 

James brachte kein Wort heraus. Mit Jack Sparrow verband er vor allem Adjektive wie „nervtötend“, „irritierend“ und „verschlagen“. Dennoch schien eine nicht zu unterschätzende Bedrohung von dem Mann auszugehen, der mit bebenden Schultern vor ihm stand.
 

„Gebt die Kinder her und wir verschwinden“, sagte Jack schließlich. „ Noch heute Nacht.“
 

Für einen kurzen Augenblick war James tatsächlich versucht, der Forderung nachzukommen. Die leise Stimme der Vernunft flüsterte ihm mit Nachdruck ins Ohr, dass er den Piraten so schnell wie nur irgend möglich vor die Tür setzen sollte, wenn ihm sein Seelenfriede lieb war. Dann jedoch drängte sich Shezas verängstigtes Gesicht in sein Bewusstsein, die stille Dankbarkeit in Aimens Augen, als er ihr das Schiffsmodell gegeben hat, und er fasste einen Entschluss.
 

„Oh nein, die Kinder bleiben hier“, sagte er mit fester Stimme.
 

Jack blinzelte, als hätte er diese Reaktion nicht erwartet. „Nun, dann müsst Ihr mir wohl ein Quartier für die Nacht gewähren, denn ich werde auf gar keinen Fall ohne sie gehen.“
 

„Himmel, Sparrow“, stieß James hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, weil er schon wieder in eine von Jacks Fallen getappt war. „Ihr denn nicht, in welche Schwierigkeiten Ihr mich auch schon ohne Eure leidliche Gegenwart gebracht habt? Wo auch immer Ihr diese Sklaven herha …“
 

Weiter kam er nicht. Etwas ausgesprochen Solides kollidierte mit seinem Kinn und schleuderte ihn rückwärts, zurück in den Ohrensessel.
 

„Wagt es ja nicht, sie noch einmal so zu bezeichnen.“ Jack stand über ihm, schwer atmend und mit dunkel glitzernden Augen.
 

„Sind sie das denn nicht?“, fragte James, zu perplex, um in irgendeiner Weise angemessen zu reagieren.
 

„Nein, sie sind frei. Und ich werde dafür sorgen, dass das auch so bleibt.“ Mit diesen Worten wandte Jack sich um und sah auf die Standuhr, die mittlerweile drei Uhr morgens anzeigte. James konnte sein Gesicht nicht sehen, doch die Haltung des Piraten zeugte von einer Entschlossenheit, die er ihm nicht zugetraut hätte. Er erschrak beinahe über sich selbst, als er sich dabei ertappte, wie er so etwas wie Bewunderung für ihn empfand. James Norrington schätzte Männer mit Prinzipien, und unter diesen Umständen musste er – wenn auch grummelnd – zugeben, dass Jack Sparrow einer von ihnen war.
 

„Gut, Ihr könnt bleiben“, sagte er leise und rieb sich sein schmerzendes Kinn. „Aber nur für diese eine Nacht – und morgen früh seid Ihr verschwunden.“
 

Als sich Jack umwandte, stand ihm die Verwunderung deutlich ins Gesicht geschrieben. Offenbar, dachte James, hatte er nach dem Fausthieb mit einer anderen Reaktion gerechnet. „Ihr habt mein Wort“, sagte der Pirat schließlich und streckte ihm eine schmutzige Hand hin.
 

„Behaltet Euer Wort!“, erwiderte James ungerührt. „Es ist nicht mehr wert, als die Glasperlen in Eurer …“ Er rümpfte die Nase. „... Frisur.“
 

Jack nahm einen seiner Zöpfe zwischen die Finger und musterte ihn prüfend, sagte jedoch nichts.
 

„Ihr könnt eines der Gästezimmer haben“, fuhr James fort, „aber ich werde die Tür von außen abschließen. Ich verfüge über Dienstboten.“
 

„Schick. Werden sie mir das Frühstück ans Bett bringen?“ Ein Grinsen huschte über Jacks Gesicht, doch James blieb ungerührt. Stattdessen erhob er sich etwas umständlich aus seinem Sessel und zischte warnend:
 

„Sollten sie auch nur einen Mucks von Euch hören, werdet Ihr dieses Haus nicht mehr lebend verlassen – haben wir uns verstanden?“
 

Und zu seiner Überraschung nickte Jack.
 

*~*
 

Er wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen, als eine erbarmungslose Faust gegen die Tür trommelte. Langsam öffnete er die Augen, musste sie jedoch Sekunden später wieder schließen. Weiß! Der ganze Raum war weiß, von den spitzenbesetzten Vorhängen bis hin zu den verstörend sauberen Bettlaken. Allein seine Kleider bildeten einen Farbklecks auf dem blankpolierten Fußboden und Jack fragte sich unwillkürlich, ob er vielleicht tot war. Verdammte Scheiße, wie war er nur in den Himmel gekommen? Oder sah so vielleicht die Hölle aus?
 

Er hatte sich noch nicht ganz entschieden, als die Tür aufsprang und rasch wieder geschlossen wurde.
 

„Sparrow“, zischte eine ungeduldige Stimme. „Es wird Zeit!“
 

Jack blinzelte noch einmal und erkannte das Gesicht von James Norrington, der aussah, als würde ihm eine beträchtliche Menge Schlaf fehlen. Mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück, und plötzlich verspürte er das dringende Bedürfnis, einfach liegenzubleiben.
 

„Sparrow, steht gefälligst auf!“
 

„Nur noch eine halbe Stunde, Mama“, stöhnte Jack und presste sein Gesicht in die Kissen.
 

Für einen kurzen Augenblick glaubte Jack, der Admiral wäre seiner Bitte tatsächlich nachgekommen. Dann jedoch ging ein Ruck durch seine Bettdecke, und plötzlich fühlte er sich merkwürdig nackt.
 

„OH GOTT!“
 

Was er wohl auch war, wie Norringtons Reaktion vermuten ließ. Etwas umständlich drehte er sich auf die Seite und stellte dabei fest, dass sein Rücken mit der weichen Matratze alles andere als einverstanden war.
 

„Guten Morgen, Admiral Norrington!“, flötete er. Breit grinsend stützte er sich auf dem Ellenbogen ab und betrachtete seinen Gastgeber. Norrington hatte ihm den Rücken zugekehrt und hielt sich beide Hände vors Gesicht, als könnte er nur so vor dem skandalösen Anblick bewahrt werden.
 

„Himmel, Sparrow, hättet ihr Euch nicht etwas überziehen können?“
 

„Überziehen? Und hättet Ihr auch die Güte mir zu erklären, wofür?“
 

„Für Sitte und … und Anstand!“, würgte Norrington hervor. Zaghaft nahm er die Hände herunter und starrte mit religiöser Inbrunst auf den Türrahmen.
 

Jack lachte amüsiert auf. „Ihr wollt doch nicht etwa sagen, Ihr hättet noch nie einen nackten Mann gesehen. Wirklich, Admiral, und ich dachte, ihr wärt bei der Navy gewesen!“
 

Norrington erwiderte nichts, doch Jack konnte sehen, wie er die Hände zu Fäusten ballte.
 

„Zieht Euch an!“, stieß er schließlich hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich werde in fünf Minuten wieder hier sein, um Euch abzuholen.“
 

*~*
 

Tatsächlich verstrich eine knappe halbe Stunde, bis es wieder an der Tür klopfte. Jack hatte sich in aller Eile angezogen und anschließend einige Zeit mit der Suche nach seinem Mantel zugebracht. Endlich erinnerte er sich daran, ihn am Abend zuvor um Aimens zitternde Schultern gelegt zu haben. Leise Furcht um seinen langjährigen Begleiter stieg in ihm auf, wurde jedoch schnell von dringenderen Sorgen verdrängt. Er musste Geld beschaffen, die Frage war nur, wie.
 

An einen Akt ehrlicher Piraterie war ohne Schiff ohnehin nicht zu denken und für einen Überfall an Land fehlte ihm schlicht die Erfahrung. Er hatte noch immer keine zufrieden stellende Lösung gefunden, als ihn der Hausherr persönlich durch das Norrington’sche Anwesen führte. Zu seiner Verwunderung war ihr Ziel mitnichten die Abstellkammer oder der Hinterausgang, sondern das Ankleidezimmer.
 

„Captain Jack!“, rief Sheza erleichtert aus, als sie ihn durch die Tür kommen sah. Auch Momoh lächelte, doch es war Aimen, die blitzschnell auf die Füße sprang und ihm entgegenlief. Jack reagierte prompt und ging in die Knie, um sie aufzufangen. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und presste ihr Gesicht gegen seine unrasierte Wange. Ohne nachzudenken drückte er sie an sich, seltsam bewegt und erleichtert, die Kinder wohlbehalten wiederzusehen.
 

Schließlich ließ Aimen von ihm ab und er richtete sich auf, um nach Jemi und den beiden älteren zu sehen. Offenbar hatte Norrington genügend Anstand besessen, ihnen etwas zu Essen zu geben, denn Jemis Gesicht war über und über mit Marmelade beschmiert.
 

„Ich sehe, es hat geschmeckt“, sagte er, und das kleine Mädchen lächelte ihn glücklich an.
 

„Ich danke Euch“, wandte er sich an Norrington, der ihn mit ungläubigem Gesichtsausdruck musterte. Offenbar, dachte Jack, hatte er wirklich geglaubt, die Kinder wären seine Gefangenen oder irgendeine perfide Art von Beute, die er an den Meistbietenden zu verschachern gedachte. Die Erkenntnis machte ihn wütend, doch er schluckte die Bitterkeit hinunter und suchte den Raum stattdessen nach seinem Mantel ab. Als er ihn schließlich über einer Stuhllehne hängend fand, nahm er ihn an sich und schlüpfte hinein.
 

„Dieser Mantel war einmal Teil einer Uniform der East India Trading Company“, sagte Norrington unvermittelt und Jacks Herz setzte für einen Schlag aus.
 

„Tatsächlich?“, erwiderte er so gelangweilt wie nur möglich. „Das ist interessant, denn seht Ihr, die Wege, auf denen dieses Kleidungsstück in meinen Besitz gelangt ist, sind mindestens so verschlungen, wie das Labyrinth des Minotaurus. Ich bin also dankbar für jeden Hinweis, was den ursprünglichen Besitzer angeht, denn selbstverständlich wäre ich sofort gewillt, ihm sein Hab und Gut zurückzugeben, sollte er sich bei mir melden.“
 

‚Gott, was für ein Gefasel’, dachte Jack und setzte sein strahlendstes Lächeln auf.
 

„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand diesen Lumpen zurückhaben wollte“, bemerkte Norrington mit einem missbilligenden Stirnrunzeln.
 

„Nun, Ihr müsst es wissen“, sagte Jack gleichmütig. „Als Geschäftsführer besagter Gesellschaft. Meinen Glückwunsch zur Beförderung, übrigens.“
 

Norrington schluckte sichtbar und Jack fragte sich unwillkürlich, ob er vielleicht einen wunden Punkt berührt hatte. „Eure Glückwünsche könnt Ihr Euch sparen. Diesen Posten verdanke ich lediglich einem bedauernswerten Unglück, an dem Ihr – wenn ich recht informiert bin – nicht ganz unschuldig seid.“
 

Sheza legte den Kopf schief und sah Norrington aufmerksam an. Ihr Englisch war kaum gut genug, um dem Gespräch folgen zu können. Dennoch kam sie nicht umhin, den aggressiven Unterton in der Stimme des Admirals zu bemerken. Jack hätte ihm gerne einen zweiten Kinnhaken versetzt, doch die Gegenwart der Kinder hielt ihn schließlich davon ab und er erwiderte spitz: „Ob es sich beim Dahinscheiden von Cutler Beckett tatsächlich um ein Unglück handelt, liegt wohl im Auge des Betrachters. Aber sagt: Wie ist es Euch gelungen, den Untergang der Endeavour unbeschadet zu überstehen? Schildkröten?“
 

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da wurde Norringtons Gesicht kalkweiß, wechselte zu grün und pendelte sich schließlich auf einem ungesunden Grauton ein.
 

„Das geht Euch gar nichts an“, würgte er mühsam hervor und wollte noch etwas hinzufügen, als sein Blick vom Fenster angezogen wurde.
 

„Mrs.Lidford!“, rief er aus und Jack trat ebenfalls ans Fenster, um eine dickliche Frau mittleren Alters den Kiesweg entlang eilen zu sehen. Ihre Haube hatte sich gelöst und sie wirkte sichtlich aufgeregt, als hätte sich etwas Unvorhergesehenes ereignet.
 

„Bleibt hier!“, sagte Norrington an Jack und die Kinder gewandt. „Sie darf euch auf gar keinen Fall finden.“
 

Damit eilte er davon, drehte sich am Türrahmen jedoch noch einmal um und sagte: „Ich werde gleich zurück sein.“
 

*~*
 

James hatte kaum den Treppenabsatz erreicht, da kam ihm seine Haushälterin auch schon entgegen. Sie atmete schwer, als hätte sie den ganzen Weg vom Marktplatz bis zum Hause Norrington im Laufschritt zurückgelegt.
 

„Sir“, keuchte sie mit hochrotem Gesicht, „habt Ihr schon davon gehört?“
 

„Wovon?“
 

„Ein Mord! Es hat einen Mord gegeben.“
 

„Ich will ja nicht unken, Mrs. Lidford, aber bedauerlicherweise kommt es hier recht häufig zu solchen Zwischenfällen. Und ich kann mich nicht erinnern, dass Ihr Euch jemals so darüber echauffiert hättet.“
 

„Oh, aber Sir! Man hat sie am Kai gefunden – über die ganze Straße bis nach Fort Charles hinauf verstreut.“
 

„Wen? Wer ist sie?“
 

„Eine Gefallene. Aber denkt nur, welches Monster so eine Tat begehen würde. Ich sage Euch, das war kein Engländer, ach, was sage ich! Nicht einmal ein Spanier würde eine solche Tat begehen. Wahrscheinlich einer von diesen entflohenen Wilden, wenn Ihr mich fragt. Ein Opfer für die heidnischen Götter … oh, und der Kopf fehlt! Wahrscheinlich hat er ihr Gehirn gegessen, um …“
 

„Mrs. Lidford!“, unterbrach James die Tirade mit scharfer Stimme. Er hatte genug gehört und weder Zeit noch Lust, das Thema zu vertiefen. Offenbar hatte wieder einmal ein Verrückter in Port Royal Station gemacht – ein Problem, das ihn in seiner neuen Position nichts mehr anging. So brutal und sinnlos dieser Mord auch schien, er hatte offenkundig nichts mit Sparrow und den Kindern zu tun. Eine Anspannung, die er noch nicht einmal bewusst wahrgenommen hatte, fiel mit einem Mal von ihm ab und er brachte ein ehrliches Lächeln zustande. „Eine schreckliche Sache“, fuhr er betont sanfter fort, „doch ich nehme an, unsere Truppen werden den Täter schnell gefasst haben. Ich kenne diese Männer! Sie haben noch immer mein vollstes Vertrauen.“
 

Die Haushälterin sah ihn zweifelnd an und nickte schließlich verwirrt.
 

„Vielleicht solltet Ihr zurück in die Stadt gehen. Ich nehme an, Ihr habt noch Einkäufe zu erledigen.“ Mit einem raschen Blick stellte er fest, dass ihr Korb leer war. So bestand vielleicht noch Hoffnung, dass sie das Haus wieder verlassen und seinen ungebetenen Gästen damit den Weg freimachen würde
 

„In der Stadt wimmelt es von Soldaten“, antwortete sie missbilligend. „Und Eure Vorratskammern sind gut gefüllt!“
 

‚Nicht mehr’, dachte Norrington in einem Anflug von Sarkasmus, sagte jedoch nichts.
 

„Wenn Ihr mir die Frage gestattet, Sir“, sagte Mrs. Lidford schließlich mit wachsamem Blick, „solltet Ihr um diese Zeit nicht bereits im Kontor sein?“
 

„Ich bin der Geschäftsführer“, sagte James spitz. „Und ich habe gestern lange gearbeitet.“
 

Verdammt, warum rechtfertigte er sich gerade vor seiner Haushälterin?
 

„Sehr wohl, Sir.“ Sie neigte den Kopf, doch er wusste nur zu gut, dass sie seine Erklärung keineswegs akzeptierte. Ihre gesamte Haltung drückte Missbilligung aus, doch noch ehe er sich fragen konnte, ob sie ihn vielleicht mit dem Mord in Verbindung brachte, sah sie ihn mit eindringlichem Blick an.
 

„Es geht mich ja nichts an“, begann sie und bedachte ihn mit einem fürsorglichen Lächeln, „aber ich denke, Ihr arbeitet zu viel. Und Ihr esst zu wenig.“
 

James musterte sie ungläubig, doch ihre Worte klangen aufrichtig. Offenbar machte sie sich wirklich Sorgen um ihn. ‚Natürlich, was auch sonst?’, schalt ihn seine innere Stimme. Sparrow und die Kinder waren nur eine einzige Nacht in seinem Haus gewesen, und schon litt er unter Verfolgungswahn. Wie war er früher nur mit derlei Aufregung fertig geworden?
 

„Ja“, sagte er schließlich langsam und nickte. „Ja, ich glaube, Ihr habt Recht.“
 

Mrs. Lidford wertete seine Zustimmung als Beweis für den maroden Zustand, in dem sie ihn vermutet hatte und klopfte ihm mitleidig auf die Schulter. „Was haltet Ihr davon, wenn ich Thomas überrede, heute Abend ein Coq au Vin für Euch zuzubereiten?“
 

Coq au Vin bedeutet frisches Huhn bedeutet Markt’, kalkulierte James’ Gehirn in größtmöglicher Geschwindigkeit, erstaunt über die Logik, zu der sein übermüdeter Geist noch immer fähig schien.
 

„Das wäre einfach fabelhaft“, hörte er sich selbst sagen.
 

„Dann müsst Ihr mir allerdings versprechen, pünktlich um acht wieder zuhause zu sein. Thomas wäre sicherlich nicht erfreut, Euer Abendessen schon wieder an die Schweine zu verfüttern.“
 

„Ich verspreche es“, lächelte er, auch wenn ihn eine leise Stimme davor warnte, sich allzu früh zu freuen.
 

*~*
 

Unter dem Vorwand, sich für die Arbeit zurechtmachen zu müssen, kehrte er schließlich in sein Ankleidezimmer zurück. Jack saß mit überkreuzten Beinen auf dem Fußboden, neben sich Aimen und Jemi, die fasziniert auf das Schiffsmodell in seiner Hand starrten. Offenbar erklärte er ihnen die verschiedenen Teile, denn er zeigte mal auf diesen, mal auf jenen Abschnitt, während er mit ungewohnt leiser Stimme zu den Kindern sprach. Er war so in seine Aufgabe versunken, dass James’ Ankunft zunächst völlig unbemerkt blieb.
 

Der Admiral stand für eine Weile im Türrahmen, unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Mit einem Mal fühlte er sich wie ein Eindringling im eigenen Haus; als wäre er Teil eines Schauspiels geworden, das nicht für seine Augen bestimmt war. Verlegen räusperte er sich, um auf seine Gegenwart aufmerksam zu machen. Sparrows Reaktion kam prompt. Mit einer raschen Bewegung reichte er die Interceptor an Aimen weiter, streckte die Beine aus und stützte sich auf den Ellenbogen ab. Beinahe war es, dachte James, als hätte er sich von einem Augenblick auf den anderen in eine völlig andere Person verwandelt. Einen Mann, der nun mit schalkhaft blitzenden Augen zu ihm aufsah und grinsend fragte: „Na, was gibt’s Neues? Hat sich der Gouverneur beim Nasebohren den Zeigefinger gebrochen?“
 

James stöhnte innerlich auf und winkte ab. „Nein, es gab einen Mord.“
 

„Wie aufregend“, erwiderte der Pirat betont uninteressiert. „Und wen hat es diesmal getroffen?“
 

„Eine …“, begann James, als er sich plötzlich an die Gegenwart der Kinder erinnerte. „Eine Gefallene.“
 

Er erwartete eine geschmacklose Bemerkung oder eine ironische Rückfrage, vielleicht auch eine sarkastische Reaktion auf seine Wortwahl, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen richtete sich Jack mit einem Mal kerzengerade auf und sah ihn aus weit geöffneten Augen an.
 

Als ihm die Erkenntnis dämmerte, schüttelte James langsam mit dem Kopf während seine Lippen ein lautloses „Nein“ formten. Doch die Schlinge um seinen Hals hatte sich bereits zugezogen.
 

*~*
 

Eine gefühlte Ewigkeit später saß er auf einem schlecht gepolsterten Stuhl, das Gesicht in den Händen vergraben, während Sparrow ihm hilflos die Schulter klopfte.
 

„Warum ich? Warum …?“, wimmerte er immer wieder, zu verzweifelt, um auch nur einen Gedanken an Ehrgefühl und Würde zu verschwenden. Er hatte es kommen sehen, oder etwa nicht? Warum nur hatte er nicht auf seinen Instinkt gehört und diesen vermaledeiten Piraten einfach vor die Tür gesetzt?
 

„Kopf hoch, Commodore“, sagte Sparrow, doch seine Stimme klang alles andere als beruhigend. „Wahrscheinlich ist alles nur halb so schlimm.“
 

„Halb so schlimm?!“ James nahm die Hände vom Gesicht und blickte ihn entgeistert an. „Wie um alles in der Welt könnte es denn noch schlimmer sein? Herrgott, Sparrow, Ihr habt gestern Nacht mit dieser … dieser … nun, in jedem Fall ist sie jetzt tot. Aber das reicht noch nicht, oh nein! Man hat ihr den Kopf abgehackt und den Rest von ihr über die gesamte Stadt verteilt. Ist Euch eigentlich klar, was das bedeutet? Ihr habt mir einen Irren auf den Hals gehetzt.“
 

„Wenn es Euch beruhigt: Ich glaube, es ist viel mehr mein Hals, auf den er es abgesehen hat.“
 

„Offenbar geht er dabei ohne Skrupel über andere Hälse“, erwiderte James gequält und dachte dabei an die kopflose Prostituierte. „Ihr wisst doch hoffentlich, dass das eine Warnung sein sollte?“
 

Jack verdrehte die Augen und schnappte hörbar nach Luft. „Ich bin ein Pirat, kein Idiot.“
 

„Wie könnt Ihr dann nur so ruhig sein.“
 

„Ich sagte doch, ich bin kein Idiot. Wer auch immer dieses unglückselige Mädchen umgebracht hat, er wusste nicht, wo ich mich aufhalte. Denkt doch einmal nach: Hätte er auch nur den leisesten Verdacht gehegt, wäre er hierher gekommen! Stattdessen sah er sich genötigt, mich auf diese zugegebenermaßen recht eigenwillige Art und Weise herauszulocken.“
 

„Schön, nehmen wir an, Ihr habt Recht. Was wollt Ihr dann tun?“
 

„Heute Abend verlässt ein Schiff den Hafen, um nach Hispaniola zu segeln. Mit ein wenig Glück werden die Kinder und ich an Bord sein. Ich brauche nur noch einen Tag …“
 

Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, besann sich jedoch im letzten Moment eines Besseren.
 

Nein, oh nein, oh nein.
 

„In Ordnung. Die Kinder können hier bleiben. Aber sie müssen sich verstecken. Und heute Abend seid Ihr verschwunden.“ James hatte das beunruhigende Gefühl, ein Dèja Vu zu erleben, doch für einen Rückzieher war es nun zu spät.
 

„Mein Wort“, gab Sparrow mit ungewohnt ernster Stimme zurück. Und als er James diesmal die Hand hinhielt, ergriff er sie.

Kapitel 5

Es war einfach unglaublich. Ein Wunder, wie selbst Jack zugeben musste, der eigentlich nicht an Wunder glaubte. Aus Mangel an Alternativen hatte ihn sein erster Weg an diesem Morgen erneut in Anamarias Taverne geführt. Und dort hatte ihn nicht nur ein reichhaltiges Frühstück, sondern auch ein Beutel mit Geld erwartet. 400 Dublonen, mehr als er sich je zu erträumen gewagt hätte.
 

„Wo hast du in so kurzer Zeit nur so viel Geld auftreiben können?“, fragte er Anamaria, während er die Münzen ungläubig in seiner Hand wiegte.
 

„Beziehungen“, erwiderte sie verschmitzt. „Weißt du, Jack, es kann sich bezahlt machen, Freunde zu haben. Das setzt natürlich voraus, dass man sie nicht bestiehlt.“
 

Jack verstand den Seitenhieb und setzte ein schuldbewusstes Grinsen auf, doch Anamaria tätschelte gutmütig seine Hand und sagte: „Es wäre natürlich überaus anständig von dir, wenn du mir das Geld irgendwann zurückzahlen würdest. Aber ich habe aufgehört, wirklich etwas von dir zu erwarten.“
 

Es war nur eine Feststellung, kein Vorwurf, dennoch versetzten ihm ihre Worte einen Stich ins Herz. Sie hatte ja Recht: Er war noch nie besonders gut darin gewesen, irgendwelchen Erwartungen gerecht zu werden. Im Normalfall störte ihn das auch nicht, doch mit Anamaria war das anders. Zur Hölle, vielleicht war es auch mit einer gewissen Gouverneurstochter anders gewesen – und natürlich mit Bill, doch die Erinnerung schmerzte mehr als alles andere und er wischte sie schnell beiseite. Vielleicht lag es einfach in seiner Persönlichkeit begründet, dass er immer wieder gezwungen war, andere zu enttäuschen. Selbst die, die ihm etwas bedeuteten.
 

Schon aus diesem Grund musste er die Kinder von hier fortschaffen – für sich selbst, um endlich Gewissheit darüber zu erlangen, ob er wirklich der Versager war, für den er sich manchmal hielt.
 

„Wenn ich mit mindestens zwei intakten Gliedmaßen aus dieser Sache herauskomme, bekommst du dein Geld zurück. Ich ver –“
 

„Nein!“ Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und sah ihn traurig an. „Keine Versprechen, die du doch nicht halten kannst.“
 

Ein Kloß formte sich in seiner Kehle, doch er schluckte ihn hinunter und stand auf.
 

„Ich … muss gehen“, sagte er leise und kam sich dabei wie ein Monster vor. „Heute Nachmittag werde ich mit den Kindern zurück sein.“
 

Er hatte schon beinahe die Tür erreicht, als ihn Anamarias Stimme erneut einholte.
 

„Was ist mit dem Geld?“
 

„Das Geld?“, fragte Jack verständnislos und blickte auf den Beutel, den er an seinem Gürtel befestigt hatte.
 

„Willst du es nicht lieber hier lassen?“
 

In dem Moment, in dem er die Worte hörte wusste er, dass sie Recht hatte. Und dass er das Geld trotz allem mitnehmen würde.
 

„Ich muss noch ein paar Besorgungen machen.“
 

„Jack …“ Ein flehender Unterton lag in ihrer Stimme und er wandte sich zu ihr um. „Nicht …“
 

Er hätte vorgeben können nicht zu wissen, wovon sie sprach, doch er brachte es nicht über sich. „Das ist lange vorbei, Liebes!“, sagte er so unbeschwert wie möglich. „Heute gibt es nur noch mich und den Rum.“
 

Sie nickte, doch er spürte bereits den weichen, fruchtigen Geschmack auf seinen Lippen und wusste, dass sie es ihm ansehen konnte. So schnell er konnte wandte er sich ab, fort von ihrem vorwurfsvollen Blick, und eilte hinaus in die schwüle Mittagshitze.
 

*~*
 

„Sir“, kündigte sich Jeremiah Talbot an, als er James’ Büro betrat. „Ein Bote.“
 

Die Ankunft seines Sekretärs riss James aus seinen wild kreiselnden Gedanken, die bis zu diesem Augenblick effektiv verhindert hatten, dass er auch nur einen Federstrich zustande brachte. Sparrows Worte mochten ihn kurzfristig überzeugt haben, doch ein ungutes Gefühl sagte ihm, dass sie leichtsinnig gehandelt hatten. Egal, welche Vorbehalte er gegen Sparrow hegte – die Kinder waren unschuldig! Und war es nicht seine Aufgabe, sie zu beschützen? All die anderen konnte er nicht wieder lebendig machen, doch diese vier waren ein Geschenk Gottes an ihn, ein Fingerzeig, wie er endlich alles wieder gut machen konnte. Er wagte kaum so weit zu denken, doch vielleicht war er nur aus diesem Grund hier. Vielleicht lag in diesen Kindern die Antwort auf all seine Fragen …
 

„Was gibt es, Talbot?“, fragte er verwirrt.
 

„Ein Bote, Sir“, wiederholte der Sekretär geduldig. „Er hat ein Päckchen für Euch.“
 

‚Jetzt schicken sie die Bittbriefe schon kistenweise’, dachte James, wollte sich jedoch vor Talbot keine Blöße geben und erwiderte stattdessen: „Dann nehmt es entgegen und bringt es in mein Büro.“
 

„Er besteht darauf, es Euch persönlich zu überreichen.“ Talbots jugendliche Züge blieben ernst, doch um seine Mundwinkel zuckte es. James fragte sich, ob er sich über ihn oder den Boten lustig machte, doch ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Sekretär hatte kaum zu Ende gesprochen, da schob sich auch schon der Kopf eines schmutzigen Jungen durch die Tür, der ihn aus viel zu großen Augen erwartungsvoll anblickte.
 

„Ich soll’s ihm selbst geben. In seine eigenen Hände, hat er gesagt.“
 

„Du impertinenter, kleiner …“, begann Talbot und schob ihn mit dem Ellenbogen zurück nach draußen, doch James hob beschwichtigend die Hand.
 

„Ist schon gut“, sagte er ruhig. „Lasst Ihn reinkommen.“
 

„Sehr wohl, Sir.“ Talbot neigte unterwürfig den Kopf, doch James konnte seinen Unwillen förmlich riechen. Sein Assistent mochte es nicht besonders, gemaßregelt zu werden. Zudem hegte er eine gewisse Verachtung für die unteren Klassen, die den Umgang mit einem Jungen wie diesem wohl zu einer besonders unerträglichen Angelegenheit verkommen ließ. Betont gelangweilt trat er zur Seite und ließ den Boten eintreten. Seine Hemd war schäbig und die Hosenbeine über seinen nackten Füßen zu kurz, als wäre er bereits vor längerer Zeit aus ihnen herausgewachsen. Offensichtlich, dachte James, war er niemandes Page oder auch nur ein Botenjunge, sondern eines von zahlreichen Straßenkindern, die für gewöhnlich an den Docks herumlungerten. Auf dem Arm trug er eine viereckige Schachtel, die in braunes Packpapier eingeschlagen und mit einer groben Schnur verschlossen war. Ein mulmiges Gefühl ergriff von James Besitz, fraß sich durch seine Eingeweiden und erreichte schließlich sein Gehirn, wo sofort die Alarmglocken zu schrillen begannen.
 

„Stell es auf meinen Schreibtisch“, wies er den Jungen an, während er in seiner Tasche nach einigen Münzen suchte. Er drückte sie ihm in die Hand und wollte ihn gerade fortschicken, als ihm etwas einfiel. „Wer hat dir dieses Paket gegeben?“
 

„Ein Nigger, Mister. Sagte, ’s wäre für sein’ Herrn und ich sollt’ nich’ weiter fragen. War ja nur ’n Nigger und wusst’s nicht besser.“
 

James sah den Jungen prüfend an, doch er wirkte komplett arglos. Schließlich musste er sich selbst eingestehen, dass es keinen Sinn hatte. „Du kannst gehen“, sagte er endlich und deutete in Richtung Tür.
 

„Danke, Mister!“ Der Junge deutete eine ungelenke Verbeugung an, drückte die Münzen an seine Brust und eilte davon. James starrte noch immer unverwandt auf das Päckchen, als sich Talbot mit einem Räuspern bemerkbar machte. Er hatte das Schauspiel vom Türrahmen aus verfolgt, war jedoch zu sehr in der Rolle des diskreten Sekretärs gefangen, um der Öffnung des Päckchens ungefragt beizuwohnen.
 

„Ihr dürft Euch ebenfalls entfernen, Talbot“, sagte James mit fester Stimme. Er wusste nicht, was ihn erwartete, doch es ging niemanden sonst etwas an. Talbot zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann verneigte er sich und verließ das Büro.
 

Endlich allein griff James mit zitternden Fingern nach dem Brieföffner. Er hatte das Gefühl bereits zu wissen, was sich in dem Päckchen befand, doch etwas in ihm weigerte sich, den Gedanken zu fassen. So setzte er die Klinge an die fest verknotete Schnur und holte ein letztes Mal tief Luft. Dann öffnete er das Päckchen, dessen Inhalt sich als eine graue Hutschachtel entpuppte. Vor seinem inneren Augen tauchten Bilder von Schlangen auf, die sich auf ihn zu bewegten und ihre Giftzähne entblößten, doch er nahm all seinen Mut zusammen und hob den Deckel an. Für einen Moment war er wie versteinert.
 

Dann formten sich seine Lippen zu einem stummen Schrei.
 

*~*
 

Die Münzen klimperten gut gelaunt in ihrem Beutel, während Jack die Straße entlang ging – ein Geräusch, das er schon seit geraumer Zeit nicht mehr gehört hatte. Er hatte keineswegs gelogen, als er Anamaria versichert hatte, er müsste noch Besorgungen machen. Die Kinder brauchten schließlich etwas zum Anziehen und er hatte nicht vor, noch einmal auf seinen Mantel zu verzichten. Die Frage war nur: Wo kaufte man Kleidung für Kinder? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er selbst sich zum letzten Mal tatsächlich etwas gekauft hatte, doch es war anzunehmen, dass er damals einen Schneider aufgesucht hatte. Diese Möglichkeit kam allerdings nicht in Frage, also musste er sich etwas anderes ausdenken.
 

Die besten Chancen ergaben sich wohl am Hafen, also steuerte er in diese Richtung, um dort sein Glück zu versuchen. James Norrington hatte in der Tat nicht übertrieben: Die ganze Stadt war voller Soldaten, die ihn von Zeit zu Zeit mit einem skeptischen Blick bedachten. Darüber hinaus zeigten sie jedoch kein Interesse an seiner Person. Noch vor zwei oder drei Jahren hätten die Dinge anders gelegen, doch er hatte sich längst damit abgefunden, dass der Name Jack Sparrow nun endgültig ins Reich der Legende gehörte.
 

So ging er unbehelligt die Hafenpromenade entlang, bemüht, den gestrigen Abend aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Mit ausladenden Schritten spazierte er an dem Tordurchgang vorbei, in dem er der unglückseligen Prostituierten begegnet war. Erst als er den Anlegesteg erreicht hatte, hielt er inne und ließ den Blick über die Schiffe schweifen. Eines von ihnen würde ihn und die Kinder von hier fortschaffen, und dann war alles vorbei. Er würde sie nach Hispaniola zu den anderen bringen – ihresgleichen, die sie hoffentlich aufnehmen würden. Es war nicht zuhause, nicht Afrika, doch es war besser als die Flucht und die ständige Furcht davor, entdeckt zu werden. Besser als seine unzureichende Gegenwart.
 

Er war noch immer in Gedanken versunken, als er aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie ein Matrose den Landungssteg entlang schritt, in den Händen einen Korb voller Wäschestücke. Jack reagierte prompt. Er gewährte dem grobschlächtigen Mann einige Schritte Vorsprung, dann wandte er sich um und folgte ihm durch die engen Gassen Port Royals. Der kurze Gang endete schließlich an einem unscheinbaren Hinterhaus. Der Matrose verschwand hinter einem Bretterzaun und Jack lugte vorsichtig um die Ecke. In einem schmutzigen Hof waren mehrere Zuber aufgestellt, aus denen es schäumte und dampfte. An einem Waschbrett stand ein schmächtiger Chinese und schrubbte etwas, das wie ein Hemd aussah. Jacks Lippen kräuselten sich zu einem zufriedenen Lächeln. Manchmal lohnte es sich eben doch, auf den richtigen Augenblick zu warten.
 

*~*
 

Nur wenig später schlenderte er mit einem Stapel sauberer Wäsche und unangetastetem Geldbeutel zurück zum Domizil des Admirals. Wenn alles nach Plan verlief – und davon wagte er mittlerweile auszugehen – würde er sich die Kinder schnappen, mit ihnen zu Anamaria marschieren und dort auf die Ankunft des Kapitäns warten. Er hatte den Marktplatz schon beinahe überschritten, als ihn die Zaubermacht eines unscheinbar wirkenden Schildes einfing. „Ich sehe gar nicht hin“, sagte er zu sich selbst und wiederholte die Worte im Geiste, während er weiterging. Warum das Apothekenschild trotz allem in seinem Blickfeld haften blieb, vermochte er nicht zu erklären. Vielleicht lag es daran, dass der ganze Marktplatz mit einem Mal voller Apotheken war, die ihm alle verführerisch zuzuzwinkern schienen. Er verdrehte die Augen und krallte die Finger in den Kleiderstoß auf seinem Arm, doch es half nichts.
 

Schließlich blieb er stehen und atmete langsam ein und aus. Also gut. Er hatte Geld und es gab eine Apotheke. Warum sollte er seinem Verlangen nicht nachgeben, und ein Fläschchen davon kaufen? Er musste es ja nicht benutzen – würde es nicht benutzen, doch es konnte nie schaden, etwas auf Vorrat zu besitzen. Und was machte es schon? Immerhin war es nur ein Schmerzmittel, ein ordinäres, weit verbreitetes Schmerzmittel. Der Gedanke beruhigte ihn und er sah sich nach allen Seiten um, bis er schließlich einen unscheinbar aussehenden Jungen mit einem kleinen Hund bemerkte.
 

„Hey, du da“, rief er dem Kind zu. „Ja, du!“, wiederholte er, als es in seine Richtung sah. „Willst du dir nicht ein paar Münzen verdienen?“
 

*~*
 

Als er schließlich durch die Luke von Norringtons Kohlenkeller schlüpfte, fühlte er ein lange verloren geglaubtes Gefühl der Zuversicht in sich aufsteigen. Die Opiumtinktur lag schwer und beruhigend in der Innentasche seines Mantels, ein Rettungsanker, den er schon zu lange entbehrt hatte. Leise pfeifend klopfte er sich den Kohlenstaub von der Hose und wartete einige Sekunden, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erklomm er die hölzerne Stiege, doch noch bevor er den Absatz erreichen konnte, wurde sein Oberkörper mit Gewalt zurückgerissen. Instinktiv warf er sich nach vorne, als etwas Kühles gegen seine Kehle gepresst wurde. Eine Klinge.
 

„Du“, zischte eine Stimme an seinem Ohr, während sich eine kräftige Hand in sein Haar krallte. „Du … du bist Jack Sparrow!“
 

Und mit einem Mal war alles vorbei und sein Angreifer stieß ihn so heftig von sich, dass er beinahe die Stiege hinuntergefallen wäre.
 

„Norrington!“, keuchte Jack, als er sich wieder gefangen hatte. „Verdammt, was tut Ihr hier?“
 

Eine Antwort ließ auf sich warten. Stattdessen polterte es, dann wurde eine Tür aufgerissen und eine Hand packte seinen Oberarm. Nur Sekundenbruchteile später stand er in der Küche und starrte James Norrington fassungslos an.
 

Der sonst so korrekt gekleidete Admiral trug weder Perücke noch Gehrock. Seine Haare standen wirr nach allen Seiten ab, und Jack kam nicht umhin, die rostroten Flecken auf seinem ehemals weißen Hemd zu bemerken. Für einen Moment war er sprachlos, dann kämpfte sich die Angst zurück in sein Bewusstsein.
 

„Wo … wo sind die Kinder?“, stammelte er. „Was ist mit den Kindern passiert?“
 

„Weg“, sagte Norrington und starrte auf den steinernen Fußboden.
 

„Was?“ Jack brüllte, doch es kümmerte ihn nicht. Mit einer katzenartigen Bewegung stürzte er sich auf Norrington und warf ihn zu Boden. „Was habt Ihr mit ihnen gemacht?“
 

„Ich …“, japste der Gepeinigte, konnte den Satz jedoch nicht zu Ende bringen. Mit aller Kraft bohrte sich Jacks Knie in einen Oberschenkel und entrang ihm einen Schmerzensschrei.
 

„Scheiße, Sparrow“, würgte er hervor. „Ich war es nicht.“
 

Jack war wie von Sinnen. Sein Kopf war leer, nur grauenhafter, unvorstellbarer Hass brannte in seinen Adern. Seine Hände packten Norringtons Schultern, bereit, ihn auf den Boden zur schleudern, immer und immer wieder, bis er sich nicht mehr rühren konnte, doch soweit kam es nicht. Unter Aufbietung all seiner Kräfte bäumte sich der Admiral auf und warf ihn zurück. Jack taumelte und fiel gegen die steinerne Spüle, wo er schwer atmend liegen blieb.
 

„Mann!“, brüllte Norrington und langsam begann Jacks Welt wieder Konturen anzunehmen. Das Pochen in seinem Hinterkopf ließ sich kaum ignorieren, doch auf eine merkwürdige Art und Weise half ihm der Schmerz, die Dinge in ungeahnter Klarheit zu sehen. Die Furcht der letzten Wochen hatte ihn übermannt und war zur grausamen Realität geworden.
 

„Wer hat es getan?“, fragte er mit schwacher Stimme.
 

„Ich weiß es nicht.“ Hinter den Augen des Admirals schienen sich Wahnsinn, Panik und Trauer zu vermengen, und Jack fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
 

„Sind sie tot?“

Kapitel 6

Sie lag noch immer so da, wie James sie nach seiner überstürzten Rückkehr aus dem Büro vorgefunden hatte. Ihre ausgerenkten Arme standen in einem grotesken Winkel vom Körper ab und man hatte ihr den Unterrock hochgeschoben, um das klaffende Loch in ihrem Bauch zu enthüllen. Ein penetranter Gestank ging von dem Leichnam aus, über dem sich bereits die Fliegen in dunkel flirrenden Schwärmen versammelten.
 

Unfähig den Anblick auch nur einen Augenblick länger zu ertragen wandte er sich ab und presste die Schläfe seines Ärmels über Mund und Nase. Als die Übelkeit verflogen war, sah er sich nach Jack um. Der Pirat stand einige Schritte hinter ihm und schien darüber nachzudenken, ob er sich mitten in der Eingangshalle übergeben oder bis zum Treppenabsatz wanken sollte.
 

„Das ist … war Mrs. Lidford“, würgte James hervor.
 

Jack nickte stumm und nahm in einer seltsam hilflos wirkenden Geste seinen Hut ab.
 

James hatte während seiner Zeit bei der Royal Navy Dinge gesehen, die er gerne vergessen hätte. Schreckliche Dinge …
 

… und sie brannten wie Fackeln …
 

… doch der leblose Körper seiner Haushälterin, aufgeschlitzt und ausgeweidet wie Schlachtvieh erschien ihm eine Barbarei, der er sich selbst in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte ausmalen wollen.
 

„Er hat gewusst, dass sie hier sind“, stellte Jack mit schwacher Stimme fest.
 

„Und er hat es mich wissen lassen. Erinnert Ihr Euch an Eure Bekanntschaft von gestern? Nun, ich werde sie ganz sicher nicht vergessen – man hat mir ihren Kopf zugestellt.“
 

Allein der Gedanke an die weit aufgerissenen Augen und den blutigen Stumpf, elegant in eine Hutschachtel gebettet, ließ ihn Gallenflüssigkeit schmecken. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er vom Kontor nach Hause gelangt war, doch es fühlte sich an, als wäre er geflogen, getragen auf den blutigen Schwingen eines unvorstellbar grausamen Verbrechens. Wie Jack die Nachricht aufnahm, vermochte er nicht zu sagen. Die Augen des Piraten waren leer und mit hypnotisch anmutender Hartnäckigkeit auf Mrs. Lidford gerichtet. James war sich nicht sicher, ob er ihm überhaupt zugehört hatte, als er plötzlich aufblickte und mit seltsam tonloser Stimme fragte: „Wo habt Ihr sie versteckt?“
 

„Auf dem Dachboden,“ antwortete James verdutzt, „aber ich war bereits dort. Keiner von Ihnen hat …“
 

Weiter kam er nicht. Jack stürzte an ihm vorbei und hatte bereits den ersten Stock erreicht, als James’ Füße endlich seinem Befehl gehorchten und ihm folgten.

***
 

Ohne auch nur einen Gedanken an das Risiko einer Falle zu verschwenden stürmte Jack über den Treppenaufgang nach oben. Instinktiv wählte er den richtigen Weg, kämpfte sich durch das Dämmerlicht eines muffig riechenden Flures und erreichte schließlich die unscheinbare Klappe, die man am hinteren Ende in die Decke eingelassen hatte. Sie stand offen, ein klaffendes schwarzes Loch, das ihm wie das stinkende Maul eines grotesken, menschenfressenden Monsters erschien. Eine Leiter war noch immer angelehnt; offenbar hatte der Entführer sie zurückgelassen, als er mit den Kindern geflohen war.
 

Schwer atmend griff Jack nach den Streben und hielt für einen Augenblick inne. Obwohl er versuchte dagegen anzukämpfen, schlichen sich grauenvolle Bilder in sein Bewusstsein. Er sah Jemi und Aimen vor sich, wie sie die Leiter hinuntergestoßen wurden. Ihre Gesichter waren angstverzerrt und ihre Wangen tränenüberströmt, doch ihr Peiniger, eine groteske, gesichtslose Gestalt kümmerte sich nicht darum. Vor seinem inneren Auge tauchte Momoh auf, der gesenkten Hauptes die Leiter hinabstieg, seine Miene eine Maske aus Zorn und Enttäuschung. Und schließlich war da noch Sheza. Sheza, die …
 

„Nein, es reicht!“
 

Ohne sich dessen bewusst zu sein, sagte er die Worte laut in die Dunkelheit des Flures hinein. Erst ein irritiertes „Was?“ holte ihn in die Realität zurück. Erschrocken über die eigene Geistesabwesenheit wandte er sich um und erkannte die Silhouette von James Norrington, der einige Meter von ihm entfernt stand.
 

Er hatte die Beherrschung verloren, nur für einen Moment zwar, doch lange genug, um sich damit die Blöße zu geben. Mit einem Mal fühlte er sich nackt und schutzlos, was in diesem speziellen Fall rein gar nichts mit einem Mangel an Kleidungsstücken zu tun hatte. Peinlich berührt wandte er sich ab und stieg ohne ein weiteres Wort die Leiter hinauf. Ihm war, als würde er in völlige Dunkelheit eintauchen. Mit fahrigen Bewegungen tastete er nach dem Boden und fand schließlich auf knarrenden Dielen Halt. Er holte noch einmal tief Luft, dann zog er sich hoch und trat ins Ungewisse. Entgegen seiner Erwartungen wies der Dachboden einige schmale Luken auf, die matt schimmernde Lichtfetzen über die staubigen Bretter warfen. Als sich seine Augen an das unwirkliche Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte Jack einige aufeinander gestapelte Kisten und einen grotesk geformten Gegenstand, der sich bei näherer Untersuchung als geborstener Überseekoffer entpuppte.
 

Die Decke war hoch genug, um ihm eine annähernd aufrechte Haltung zu gestatten, wofür Jack und sein schmerzender Rücken ausgesprochen dankbar waren. Langsam tastete er sich vorwärts, eine Hand fest um den Griff seines Degens geschlungen. Die Panik war verflogen, ebenso der Drang, mit verzweifelter Stimme nach den Kindern zu rufen. Der Sturm war abgeflaut und hatte eine seltsam drückende Leere in seinem Inneren hinterlassen. Er schien sich selbst aus der Vogelperspektive zuzusehen, während er über die schrecklich quietschenden Dielen schlich, leicht nach vorne gebeugt und mit einem gelegentlichen Blick über die Schulter, als erwarte er, von einem versteckten Häscher übermannt zu werden.
 

„Sparrow!“, hörte er Norringtons Stimme zu sich heraufdringen, leise und verzerrt, als würde er aus weiter Ferne zu ihm sprechen. „Ich war bereits oben, da ist nichts. Wäre es nicht vernünftiger, wenn Ihr wieder -“
 

Es war durchaus möglich, dass er den Satz beendete, doch Jack hörte es nicht mehr. Ein Windhauch streifte seine Wange und er fuhr gerade noch rechtzeitig herum um die Gestalt zu bemerken, die sich aus den Schatten löste und auf ihn zustürzte. Eine Fülle von Gedankenfetzen raste ihm in Rekordgeschwindigkeit durch den Kopf, nur um am Ende zu der glorreichen Erkenntnis zu gelangen, dass er ein Idiot war. Ein Volltrottel, den die Erfahrung nicht klug, sondern unvorsichtig gemacht hatte.
 

Etwas kam auf ihn zugestürzt, streckte die Arme nach ihm aus, doch er konnte sich nicht rühren. Es verwunderte ihn selbst etwas, wie gelassen er seinem Ende entgegensah, als sich ein Körper gegen seine Brust warf. Der Tod schien ihn sprichwörtlich in die Arme zu schließen und er ertappte sich dabei, wie er die Geste erwiderte. Seine Hände ertasteten den rauen Stoff eines abgerissenen Hemdes und verfingen sich schließlich in einer widerspenstigen Lockenmähne. In diesem Augenblick erkannte sein Verstand, was sein Herz längst wusste.
 

„Sheza“, sagte er leise. Seine Stimme war heiser und drohte ihm zu entgleiten. So beschränkte er sich darauf, sie an sich zu drücken und ihrem Herzschlag zu lauschen. Sie zitterte am ganzen Leib und klammerte sich an ihm fest, als könnte sie sich nicht aus eigener Kraft aufrecht halten. Ihre Verzweiflung schien beinahe greifbar und mit einem Mal fürchtete er sich vor dem, was sie ihm zu sagen hatte.
 

Er hielt sie noch immer fest, als die ächzenden Sprossen der Leiter verrieten, dass sie nicht länger ungestört waren. Sheza wurde augenblicklich steif und auch Jack verfiel kurzzeitig in Alarmbereitschaft, bis er Norringtons Kopf in der Luke auftauchen sah. Er hielt seinen Degen gefechtsbereit und rechnete wohl mit dem Schlimmsten. Umso größer schien seine Verwirrung, als er die beiden schattenhaften Gestalten bemerkte, die sich noch immer fest umklammert hielten.
 

„Alles in Ordnung, Junge“, sagte Jack und hob die Hand. Nichts war in Ordnung, doch daran konnte in diesem Augenblick wohl keine Waffe der Welt etwas ändern.
 

„Es ist nur unser Freund James Norrington“, flüsterte er an Sheza gewandt und löste sich sanft aus ihrer Umklammerung. Vorsichtig legte er ihr die Hände auf die Schultern und schob sie von sich, bis er ihr Gesicht sehen konnte. Wolken waren aufgezogen und der Dachboden schien noch dunkler als zuvor. Lediglich ein zaghafter Lichtstreifen fiel auf ihre Züge und verriet ihm, dass sie nicht geweint hatte. Die Panik in ihrem Blick war jedoch unverkennbar, und er stellte fest, dass sie sich in einem Versuch nicht zu schreien auf die Unterlippe gebissen haben musste.
 

„Wo sind die anderen?“, fragte er überflüssigerweise.
 

Sie sah ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an und für einen Moment dachte er, sie hätte ihn nicht verstanden. Dann senkte sich ihr Blick und sie wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Treppe, wo Norrington noch immer mit gesenktem Degen stand. Sie schüttelte den Kopf und packte ihn mit überraschend festem Griff am Ärmel.
 

„Suchen!“, sagte sie, und es klang wie ein Flehen. „Wir suchen Momoh! Und Jemi und Aimen.“
 

„Wer hat sie geholt, Sheza? Wer ist hier gewesen?“
 

„Suchen!“, beharrte sie und Jack fühlte sich zunehmend hilflos.
 

„Wir können sie nicht suchen, wenn wir nicht wissen, wer sie entführt hat“, mischte sich Norrington mit belegter Stimme ein. Als er Shezas Aufmerksamkeit hatte, trat er langsam auf sie zu und sagte so langsam wie möglich: „Wer war es, Sheza?“
 

Es dauerte ein wenig, bis sie ihre Verwirrung überwunden hatte. Dann trat sie einen Schritt zurück und blickte unentschlossen zwischen Norrington und Jack hin und her. Schließlich legte sie eine Hand auf Jacks Kopf und sagte deutlich „nein“. Dann zeigte sie auf Norrington und nickte.
 

„Ihr?“, rief Jack aus, doch Sheza schüttelte schnell den Kopf, bevor er seine Waffe ziehen konnte. Wieder zeigte sie auf Jack und machte eine Geste, die auf seine Größe anzuspielen schien.
 

„Ich glaube, sie will damit sagen, dass er größer war, als Ihr“, mutmaßte Norrington.
 

Trotz der angespannten Lage verdrehte Jack die Augen. Es war nicht sonderlich schwer, ihn an Körpergröße zu übertreffen. Trotzdem ärgerte er sich jedes Mal wieder aufs Neue, wenn man ihn darauf aufmerksam machte.
 

„Was Ihr nicht sagt“, antwortete er deshalb schnell, um seine Befangenheit zu überspielen, doch Norrington schien keine Notiz von ihm zu nehmen.
 

„War es ein Weißer?“, fragte er Sheza. Als sie nicht antwortete, zupfte er kurzerhand an der Haut auf seiner Handfläche und sie nickte hastig. „Potho!“
 

„Ein Weißer, der ungefähr meine Größe hatte“, fasste Norrington zusammen, als wäre Jack nicht in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen.
 

„Das schränkt den Kreis der Verdächtigen erheblich ein“, erwiderte er sarkastisch, doch seine Worte schmeckten bitter wie Galle. Sie hatten keine Chance. Wie sollten sie die Kinder jemals wieder finden, wenn sie noch nicht einmal Namen und Gesicht ihres Gegenspielers kannten? Und warum dachte er überhaupt über „sie“ im Plural nach? Irritiert von seinen eigenen Gedanken warf er Norrington einen fragenden Blick zu, der Admiral schien jedoch ganz anderen Befürchtungen nachzuhängen. Donnergrollen drang von ferne zu ihnen herüber und Jack erinnerte sich an die ungewöhnliche Schwüle des Nachmittags. Ein Gewitter war aufgezogen und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis sich die Natur über Port Royal entlud. Sheza zuckte zusammen, und als sie ihre Hand in seine schob, drückte er sie unbewusst. Sie sah ihn an und aus ihren Augen strahlte trotz aller Verzweiflung der unerschütterliche Glaube an seine Fähigkeit, alles wieder in Ordnung zu bringen. Ihm schwindelte, doch noch im gleichen Atemzug stahl sich die Opiumtinktur zurück in sein Bewusstsein.
 

„Wir müssen hier weg“, sagte er unvermittelt und glaubte plötzlich, die Situation in aller Klarheit vor sich zu sehen. „Sie werden bald merken, dass eines der Kinder fehlt und zurückkommen. Bis dahin müssen wir hier verschwunden sein.“
 

Er erwartete, dass Norrington unnötig viele Fragen stellte oder erneut die Beherrschung verlor, doch er wirkte ganz ruhig, als wäre ihm selbst schon ähnliches durch den Kopf gegangen.
 

„Wohin?“, fragte er. „In die Stadt könnt Ihr nicht gehen. Wenn Euer Verfolger wusste, dass Ihr hier seid, dann weiß er auch von Euren Kontakten in Port Royal. Ich fürchte, Euer Plan die Stadt heute zu verlassen wurde bereits verraten.“
 

Jack nickte. Er dachte an Anamaria, kämpfte die Regung jedoch augenblicklich nieder und rief sich stattdessen das Opium zurück ins Gedächtnis.
 

„Was wollt Ihr also tun?“
 

Mit einem Schlag wurde Jack klar, warum Norrington so ruhig blieb. Er war ein Soldat und selbst unter widrigen Umständen bereit zu tun, was getan werden musste. Allerdings schien der Mord an seiner Haushälterin die Lage erschwert und sein Urteilsvermögen getrübt zu haben.
 

„Die Frage ist falsch gestellt“, sagte Jack vorsichtig, um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. „Eigentlich müsste es heißen: Was wollen wir tun?“
 

Ein Blitz erhellte den Dachboden und ließ Norringtons Haut seltsam bleich erscheinen. Der Ausdruck in seinen grünen Augen war erstaunt, beinahe ungläubig, und Jack fühlte das unwahrscheinlichste aller Gefühle in sich aufsteigen: Mitleid. Der arme Mann musste eine Menge durchgemacht haben, wenn er sich schon zu einem Bürodiener hatte degradieren lassen. Jacks Besuch hatte sein ganzes Leben aufs Neue durcheinander gebracht, und nun sah es tatsächlich so aus, als würden Ruhe und Ordnung auf ewig der Vergangenheit angehören.
 

„Wir?“, fragte er tonlos.
 

„Wenn Ihr hier bleibt, werden sie Euch töten.“ Es war keine mögliche Option, sondern eine Feststellung, die Jack an Anamarias Worte erinnerte:
 

„Diesmal hast du dich mit jemandem angelegt, der eine ganze Nummer zu groß für dich ist.“
 

Zweifellos war der Verfolger der Kinder kein gewöhnlicher Mann. Er war ein fanatischer Irrer, bereit, über Leichen zu gehen um zurückzuerlangen, was er glaubte zu besitzen. Natürlich waren Menschen kein Besitz, doch Jack wusste längst, dass es allzu weltfremd gewesen wäre, an diese Prämisse zu glauben. Ein Leben zählte nichts - gleich, ob es zu einem Kind oder einem Admiral gehörte.
 

„Aber sie sind hinter Euch her“, stellte Norrington mit zitternder Stimme fest. „Was habe ich …?“
 

„Ihr habt eine ganze Menge damit zu tun“, unterbrach ihn Jack hastig. „Eine ganz Menge mehr als diese unglückselige Straßenhure. Oder Eure Haushälterin.“
 

Es donnerte erneut und Norrington schluckte so heftig, dass der Adamsapfel unter seinem Kragen hervortrat. Er öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, erfüllte Shezas Stimme den Dachboden.
 

„Schnell!“, sagte sie entschlossen. „Wir gehen!“
 

Es schien, als hätte Norrington nur auf eine konkrete Anweisung gewartet. Mit gestrafften Schultern nickte er Sheza zu und wandte sich dann an Jack.
 

„Könnt Ihr reiten?“

Kapitel 7

Der Regen prasselte erbarmungslos auf sie nieder, durchnässte ihre Umhänge und ließ die Pferde unwillig mit den Köpfen schütteln. Das Gewitter war mit unerwarteter Gewalt losgebrochen, kaum dass sie die Tiere aufgezäumt und hastig einige Lebensmittel in den Satteltaschen verstaut hatten.
 

James zwang sich, den Blick starr geradeaus auf den Pfad zu richten, der vor ihnen lag. Der Sturm peitschte durchs Geäst, und einige Male waren sie schon gezwungen gewesen, umgestürzten Baumstämmen auszuweichen. Sein Wallach war ein ausgesprochen trittsicheres Tier, doch bei diesem Wetter konnte sich selbst die kleinste Unachtsamkeit als fatal erweisen.
 

Sheza saß vor ihm im Sattel und krallte sich in der Mähne fest. Es war offensichtlich, dass sie noch nie zuvor auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte, und obwohl sie die Situation mit Fassung trug, konnte er ihre Angst deutlich spüren. Zum Henker, sie war nicht die einzige, die Angst hatte. Allerdings waren weder er noch Sparrow mutig genug, sich dieser Tatsache zu stellen.
 

Jack ritt einige Meter vor ihm, den Oberkörper dicht über den Hals des Pferdes gebeugt, um dem Regen die Angriffsfläche zu nehmen. Er hatte vorgegeben, nur einmal versehentlich (durch einen Sprung aus mehreren Metern Höhe) auf einem Pferderücken gelandet zu sein, doch James glaubte ihm nicht. Er ritt, als sei der Teufel persönlich hinter ihm her, die Waden fest gegen die Flanken des Tieres gepresst und scheinbar unbeeindruckt von den tobenden Naturgewalten.
 

Je weiter sie ins Landesinnere vordrangen, desto wilder gebärdete sich der Sturm. Die Wolken verloren sich zwischen den Hügeln und umhüllten die Gipfel, als könnten sie keinen Ausweg aus dem immergrünen Labyrinth finden. Die Sichtverhältnisse waren denkbar schlecht und James befürchtete, dass sie ihr Ziel nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen würden. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatten sie vor etwa fünf Minuten die Wirtschaftsgebäude von Worthy Park Estate, der größten Zuckerrohrplantage der Insel passiert. Von hier aus konnte es nicht mehr weit bis zu der Abzweigung sein, die tiefer in die Cockpit Mountains hinein bis zur Jagdhütte des Gouverneurs führte. Genau genommen war es keine Hütte, sondern ein recht stattliches Haus, mitten in den Wäldern, in das sich Gouverneur Swann – Gott habe ihn selig - von Zeit zu Zeit während der heißen Sommermonate zurückgezogen hatte. James hatte ihn mehrmals begleitet und besaß auch selbst einen Schlüssel, den ihm der Gouverneur einmal mit einem Augenzwinkern zugesteckt hatte.
 

„Falls Ihr einmal Urlaub nötig haben solltet.“
 

Er hatte von diesem Angebot nie Gebrauch gemacht, hoffte jedoch, dass es nicht nur für Urlaubsaufenthalte, sondern auch für Notlagen galt.
 

Er kniff die Augen zusammen und stellte fest, dass Jack in einiger Distanz auf ihn wartete. Offenbar hatte er die Abzweigung rechtzeitig erkannt und wollte seinen Begleitern die Möglichkeit geben, aufzuschließen. James zügelte sein Pferd und spähte ins regennasse Unterholz. Der Weg war gut zu erkennen, wenn auch nicht ganz so breit, wie er ihn in Erinnerung gehabt hatte.
 

„Da rein?“, brüllte Jack gegen den Sturm an. Der Regen tropfte von seiner Kapuze und verlieh ihm ein geheimnisvolles, beinahe unheimliches Aussehen. James nickte ihm zu und ohne ein weiteres Wort wendete er sein Pferd und bog in den Waldweg ein. Er wollte gerade sein altes Tempo wieder aufnehmen, als die kleine braune Stute unter ihm zu tänzeln begann und zurück wich. Ihre Unruhe übertrug sich auch auf James’ Wallach und er spürte, wie sich Sheza vor ihm erschrocken verkrampfte.
 

„Alles in Ordnung“, sagte er beruhigend und wusste dabei nicht, ob er mit dem Pferd oder dem Mädchen sprach.
 

Währenddessen versuchte Jack die Stute vorwärts zu treiben, doch sie widersetzte sich sowohl seinem Schenkel als auch der hastig zum Einsatz gebrachten Reitpeitsche. Schließlich wandte er sich im Sattel um und bedeutete James mit der Hand, an ihm vorbei zu reiten. Als die beiden Pferde auf gleicher Höhe waren, beugte er sich zu ihm herüber und sagte: „Da vorne stimmt was nicht.“
 

„Wahrscheinlich irgendein wildes Tier“, erwiderte James, war jedoch selbst nicht so recht von seiner Antwort überzeugt. Ihm war, als würde Jack die Brauen runzeln, doch der Pirat zuckte lediglich mit den Schultern und winkte ihn vorwärts.
 

James’ Wallach zögerte kurz, dann setzte er langsam einen Huf nach vorne. Offensichtlich war er mit der Entscheidung seines Reiters alles andere als einverstanden, sah es aber als seine Pflicht an, der kleinen Stute mit gutem Beispiel voranzugehen. Bevor er seine Meinung doch noch ändern konnte, versetzte ihm James einen gezielten Hieb aufs Hinterteil, und schon trabten sie den Weg entlang.
 

Die dicht beieinander stehenden Bäume spannten ihre Äste wie ein Zelt über den Pfad und hielten so den Regen fern. Dafür trommelten die schweren Tropfen nun auf das Blattwerk und verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm. James erinnerte sich, dass der Wald bei seiner letzten Durchreise sonnendurchflutet gewesen war, erfüllt vom Gezwitscher der Vögel und dem fröhlichen Lachen der kleinen Gesellschaft, die zu einem sorgenfreien Wochenende aufgebrochen war. Davon war nun nichts mehr zu spüren, lediglich ein gespenstisches Echo zeugte noch von den Geistern der Vergangenheit.
 

Nach einer ganzen Weile ertappte sich James dabei, wie er dem stetigen Rhythmus des Regens lauschte, als würde sich darin eine versteckte Botschaft verbergen. Dann wurde ihm klar, worauf er eigentlich wartete: Stimmen. Immer wieder schweifte sein Blick vom Weg durchs Unterholz, als müsste er die Schatten dort im Auge behalten. Flüsternde Schatten. Er konnte sie nicht hören, doch sie schienen überall zu sein. Einem plötzlichen Instinkt folgend trieb er sein Pferd weiter an, schneller und schneller, bis er Shezas spitzen Schrei hörte.
 

Er riss den Kopf hoch und erkannte mit Schrecken, was die Tiere schon vor vielen Meilen gespürt haben mussten. Der Wallach bäumte sich auf und James gelang es erst im letzten Moment, den Arm um Sheza zu schlingen und sie damit vor einem fatalen Sturz zu bewahren. Mit aller Kraft riss er die Zügel herum, bis das Pferd schließlich mit bebenden Flanken zum Stillstand kam.
 

„Wir werden jetzt absteigen“, raunte er Sheza zu und schwang sich selbst aus dem Sattel, bevor er das Mädchen herunterhob. Seine Beine zitterten, doch er legte eine beruhigende Hand gegen den Hals des Pferdes, um einen erneuten Ausbruch zu verhindern. Ein Blick nach hinten sagte ihm, dass Jack ebenfalls abgestiegen war und mit der Stute am Zügel zu ihnen aufschloss.
 

Sheza war die erste, die ihre Sprache wieder fand.
 

„Was?“, fragte sie und zeigte mit dem Finger auf den reißenden Strom, dessen Wassermassen den Weg vor ihnen glatt durchschnitten.
 

„Das … äh … ist ein Bach. Ein Gebirgsbach“, antwortete James, und kam sich noch im gleichen Augenblick schrecklich dumm vor. „Zumindest war er das, als ich zum letzten Mal hier war.“
 

„Muss eine ganze Weile her sein“, erwiderte Jack sarkastisch.
 

„Ich weiß nicht“, entgegnete James nachdenklich. „Für mich sieht es eher so aus, als hätte das Gewitter einen Erdrutsch irgendwo in den Bergen verursacht.“
 

„Ganz egal, jedenfalls kommen wir hier nicht weiter.“
 

Für einen Augenblick standen sie einfach nur da und starrten auf das Wasser, das von den Gipfeln ins Tal hinab schoss. Schließlich wandte sich Jack zu James um und fragte: „Gibt es nur diesen einen Weg?“
 

„Soweit ich weiß, ja. Zumindest kenne ich keinen anderen.“
 

„Und was ist das dort drüben?“ Mit ausgestrecktem Arm wies Jack ins Unterholz zu ihrer Rechten. Zuerst konnte James nichts erkennen, doch dann sah auch er, dass die Bäume dort weniger dicht zu stehen schienen.
 

„Ich weiß nicht“, gab er unsicher zurück. „Vielleicht eine Lichtung. Oder eine Schneise, die der Sturm in den Wald geschlagen hat.“
 

„Ich werde nachsehen. Haltet das mal!“ Kurzentschlossen drückte er James die Zügel seines Pferdes in die Hand und verschwand im Unterholz.
 

„Wartet!“ James hätte sich am liebsten auf die Unterlippe gebissen. In einem Dschungel wie diesem konnten allerlei Gefahren lauern. Fußangeln zum Beispiel. Oder Schlingpflanzen. An die großen braunen Echsen wollte er lieber gar nicht erst denken, und so sagte er schlicht: „Seid vorsichtig!“
 

Es raschelte im Gebüsch, dann tauchte Sparrows Kopf grinsend aus dem Dickicht auf.
 

„Ich bin Captain Jack Sparrow, mein Freund.“
 

„Eben deshalb“, murmelte James verdrossen, doch der Pirat schien es nicht mehr zu hören.
 

*~*
 

Es konnten kaum fünf Minuten vergangen sein, doch James kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, bis Sparrow endlich zurück war. Sheza hatte ihn die ganze Zeit über mit einer Mischung aus Angst und Verwirrung gemustert, und er ertappte sich dabei, wie er ihr irgendetwas Beruhigendes sagen wollte. Zum Beispiel, dass Jack Sparrow sich schon aus weitaus gefährlicheren Situationen herausgewunden hatte, ohne einen einzigen Kratzer davonzutragen. Er wusste nicht, ob sie seine Worte verstand, doch sie wirkte wenig überzeugt. James konnte es ihr nicht verdenken, teilte jedoch ihre Erleichterung, als Sparrow aus dem Unterholz gestolpert kam. Einige Kletten hatten sich an seinem Umhang verfangen, doch er lächelte zuversichtlich.
 

„Alles in Ordnung“, sagte er. „Jedenfalls ist es ein Weg, und er scheint in die richtige Richtung zu führen. Wenn wir Glück haben können wir den Erdrutsch umgehen und gelangen irgendwann auf den Hauptweg zurück.“
 

„Und wenn nicht? Ich meine, was, wenn wir kein Glück haben?“
 

“Wo sollte der Weg denn sonst hinführen?“
 

James merkte deutlich, dass es keine Provokation, sondern eine ernst gemeinte Frage war. Dennoch ermüdete ihn die Diskussion schon jetzt, wusste er doch bereits, wie sie enden würde.
 

„In diesen Wäldern verstecken sich die Maroons. Entflohene Sklaven, die meisten von ihnen wahrscheinlich aus Worthy Park Estate. Wir wären nicht die ersten Reisenden, die ihnen in die Hände fallen.“
 

„Und welche Alternativen haben wir?“, seufzte Sparrow. „Wir könnten natürlich auf die Hauptstraße zurückkehren, aber wo wollen wir hin? Wenn es uns gelingen sollte, bis zur Jagdhütte des Gouverneurs vorzudringen, dann wäre der Erdrutsch unsere Rettung. Niemand würde uns dort suchen.“
 

James nickte bedächtig. Der Pirat hatte Recht. Sein Verschwinden musste bereits bemerkt worden sein. Wenn schon nicht von ihren Verfolgern, dann doch zumindest von seinem Koch, dem Mrs. Lidfords Leiche kaum entgangen sein konnte. Und dann war da natürlich auch noch Talbot, der die Hutschachtel auf seinem Schreibtisch mit Sicherheit einer eingehenden Inspektion unterzogen hatte. Wahrscheinlich suchte man ihn bereits in Port Royal, vielleicht sogar als potentiellen Mörder. Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit, erleichterte jedoch seine Entscheidung, die Flucht fortzusetzen.
 

„Also gut, wir sollten es versuchen. Ist der Pfad zu Pferd passierbar?“
 

„Wenn Ihr Euch duckt, dann ja“, schmunzelte Sparrow, und James wusste, dass er soeben die Quittung für seine Bemerkung über die Körpergröße des Piraten erhalten hatte.
 

*~*
 

Der Pfad war gut ausgetreten und wurde offensichtlich häufig frequentiert. Zwar mussten sie ein ums andere Mal absteigen, weil tief hängende Äste ein Durchkommen zu Pferd unmöglich machten, doch immerhin schienen sie sich in die richtige Richtung zu bewegen. Sie mussten etwas über eine Stunde geritten sein, als James die Schreie der Vögel bemerkte.
 

„Der Regen hat nachgelassen“, sagte er zu Sheza, obwohl er nach wie vor nicht wusste, ob sie ihn überhaupt verstehen konnte. Zu seiner Überraschung wandte sie sich im Sattel um und nickte.
 

„Bamp“, sagte sie und zeigte in die Baumkronen. Dann begann sie leise zu pfeifen, als wolle sie ihn wissen lassen, dass sie die Rückkehr der Vögel ebenfalls bemerkt hatte. Für einen Augenblick war er nahezu euphorisch. Das Gewitter hatte sich verzogen, und selbst im Schutz des Waldes schien die Luft nun klar und sauber. Er nahm einen tiefen Atemzug und stellte sich vor, dass alles nur ein schreckliches Missverständnis war. Schon bald würde sich herausstellen, dass Sparrow übertrieben hatte. Niemand trachtete ihm nach dem Leben und sobald er den Piraten und das Mädchen in Sicherheit gebracht hatte, konnte er guten Gewissens nach Port Royal zurückkehren.
 

Er war noch immer tief in seinen Tagträumen versunken, als er den Hufschlags eines Pferdes dicht hinter sich vernahm. Nur wenige Augenblicke später hatte Sparrow zu ihm aufgeschlossen und bedachte ihn mit einem Blick, der all seine Hoffnungen mit einem Schlag zunichte machte.
 

„Wir sollten versuchen, zurück auf die Straße zu gelangen“, sagte er mit nachdenklicher Stimme. Der Waldweg war eigentlich zu schmal, um nebeneinander zu reiten und ihre Knie streiften sich mit beunruhigender Häufigkeit. „Es wird bald dunkel.“
 

Verdammt! Die Vögel hatten ihn völlig vergessen lassen, dass ihnen die Zeit davonlief. Eine rasche Bestandsaufnahme ihrer Umgebung ließ keinen Zweifel daran, dass die Dunkelheit schon bald über sie hereinbrechen würde. Das Tageslicht schimmerte nurmehr matt durch das dichte Blätterdach und James stellte besorgt fest, dass er den Weg vor sich nur noch mit Mühe erkennen konnte.
 

Jeder, der einmal die westindischen Inseln bereist hatte wusste, dass der Wechsel zwischen Tag und Nacht in diesen Breitengraden anders vonstatten ging, als im heimischen England. Eine Dämmerung gab es nicht. Bei gutem Wetter wurde man mit einem spektakulären Sonnenuntergang belohnt, dann senkte sich bleierne Schwärze über Land und Wasser. Der Wald und das Gewitter hätten seine Sinne schärfen sollen, stattdessen war er unvorsichtig geworden. James hätte sich selbst ohrfeigen mögen, folgerte jedoch richtig, dass eine solche Geste den Einbruch der Nacht auch nicht verzögert hätte. So beschränkte er sich darauf, Sparrow gegenüber zu wiederholen, was er bereits im Stillen gedacht hatte: „Verdammt!“
 

„Entnehme ich Euren Worten – oder vielmehr Eurem Wort, dass Ihr es für unmöglich haltet, die Jagdhütte noch heute Abend zu erreichen?“
 

Ihre Steigbügel schlugen gegeneinander, und ein klirrendes Geräusch zerriss die Stille. Sheza fuhr zusammen und James’ Wallach sprang erschrocken zur Seite. Nur mit Mühe konnte er ihn wieder auf den Pfad bugsieren, hielt dann aber vorsichtshalber an. Er hatte Mühe, Sparrow im Halbdunkel zu erkennen und stellte beunruhigt fest, dass es während dieses kurzen Zwischenfalls schon beträchtlich dunkler geworden zu sein schien.
 

„Es wäre lebensgefährlich, jetzt noch durchs Unterholz zu kriechen. Wir würden uns verlaufen.“
 

„Haben wir das nicht bereits?“
 

„Wessen Idee war es denn, den Weg zu verlassen?“
 

„Wer wollte denn bei diesem Wetter unbedingt in die Berge fliehen?“
 

„Nun fangt bloß nicht an so zu tun, als wäre das alles meine Schuld!“
 

James konnte nicht anders: Er musste die aufgestaute Frustration irgendwo loswerden, und Sparrow schien es ähnlich zu gehen. Wahrscheinlich hätten sie noch eine ganze Weile so weitergemacht, hätte nicht Sheza plötzlich das Wort ergriffen.
 

„Stop!“, sagte sie, laut genug, um die beiden Streithähne innehalten zu lassen. Ihre makellos weißen Zähne blitzten im Dämmerlicht, als würde sie lächeln. Dann wies sie mit der Hand in die Richtung, der der Pfad folgte. „Komm!“
 

„Wohin sollen wir kommen, Sheza? Was ist da vorne?“, fragte Sparrow alarmiert.
 

„Wahrscheinlich möchte sie einfach nur, dass wir weitergehen. Ich würde ihr ja zustimmen, wenn wir nur wüssten, wohin –“
 

„Aŋ-seth!“, unterbrach ihn Sheza bestimmt. Überrascht registrierte James, wie sie in die Zügel griff und mit den Beinen schlug, als wollte sie das Pferd antreiben.
 

„Ich glaube, sie hat da vorne etwas gesehen, das sie uns zeigen möchte“, sagte Sparrow überflüssigerweise.
 

James kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts erkennen.
 

„Ich möchte ja nicht unken, Sparrow, aber ich sehe da nichts, außer Wald und Bäumen.“
 

„Ich auch nicht. Aber ich wäre auch niemals so eitel zu behaupten, mein Augenlicht könnte es mit dem einer Vierzehnjährigen aufnehmen.“
 

Mehr gab es nicht zu sagen. Ein wenig energischer als nötig ließ er seine Peitsche auf die Kruppe des Tieres sausen und schon trabten sie weiter den Pfad entlang. Sie hatten kaum hundert Meter hinter sich gebracht, als sich die schmale Schneise zu einer Lichtung ausweitete. Die fahle Abendsonne brach durch die Wolkendecke und enthüllte eine kleine Holzhütte mit windschiefer Veranda.

Kapitel 8

„Ist das Euer Jagdschloss?“, fragte Jack Sparrow augenzwinkernd.
 

„Seid nicht albern. Ich habe keine Ahnung, wo wir hier überhaupt sind.“
 

„Sieht für mich aus wie ein Schuppen. Ein ziemlich baufälliger Schuppen, aber besser als nichts.“
 

James hatte noch nicht einmal begonnen, die volle Tragweite von Sparrows Worten zu begreifen, als sich der Pirat auch schon aus dem Sattel schwang. Mit einer fließenden Bewegung strich er sich die Kapuze vom Kopf und ging auf die Veranda zu.
 

„Sieht stabil aus“, bemerkte er und setzte prüfend einen Fuß auf die morschen Bretter. Ein leiser Windhauch strich über die Lichtung und bewegte die leeren Flaschen, die jemand an die Dachkante gebunden hatte. Langsam hob er die Hand und strich über das feuchte Glas.
 

„Wer auch immer hier haust, er fürchtet die Geister der Toten.“
 

James schnaubte verächtlich. Er hatte viel gesehen und erlebt – darunter seine eigene Auferstehung, doch er war nach wie vor davon überzeugt, dass die wirkliche Gefahr von den Lebenden ausging. Er wusste, dass die Afrikaner eine morbide Faszination für den Tod und längst verstorbene Ahnen hegten. Ihre Rituale und Zauber hatten ihn jedoch nie zu beunruhigen vermocht. Die Obsession der Kolonialverwaltung mit den Obeah-Frauen war ihm daher völlig unverständlich. Wann hatte Aberglaube jemals die Pfeiler eines Imperiums ins Wanken gebracht?
 

Sparrow hingegen schien die Präsenz der Flaschen durchaus ernst zu nehmen und musterte sie von allen Seiten. Erst als die Inspektion zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war, schritt er die Veranda der Länge nach ab. Schließlich spähte er durch eines der beiden schmutzigen Fenster und schüttelte nach einer Weile den Kopf.
 

„Niemand zu Hause, wie’s aussieht!“
 

Er wandte sich um und machte eine ungelenke Verbeugung.
 

„Mesdames et Messieurs, darf ich vorstellen: Unser Nachtquartier!“
 

Ungläubig schüttelte James mit dem Kopf. Das konnte er doch nicht ernst meinen! Wer konnte schon wissen, wem diese Hütte gehörte – und wann er wieder auftauchen würde! Vielleicht lebte hier ja ein entflohener Sklave, der Jagd auf wilde Tiere und vorbeiziehende Reisende machte. Oder ein Wahnsinniger, der sich in die Einsamkeit des Waldes zurückgezogen hatte, um …
 

Er hatte keine Möglichkeit, den Gedanken zu Ende zu bringen. Sparrow hatte bereits begonnen an der Tür zu rütteln, die sich jedoch als verschlossen herausstellte.
 

„Vielleicht sollten wir doch –“, begann James, doch der Pirat hatte bereits seine Pistole gezogen und zielte auf das Schloss. Ein Schuss hallte durchs Dickicht und scheuchte einen Vogelschwarm auf, der kreischend davon stob. Mit einem leisen Quietschen sprang die Tür auf und James beobachtete missbilligend, wie Sparrow in einer selbstgefälligen Geste über den Pistolenlauf blies.
 

„Seid Ihr wahnsinnig?“, rief er zu ihm hinüber. „Was, wenn Euch jemand hört?“
 

„Wer? Ein Waldgeist?“
 

„Wie wäre es mit dem Besitzer dieser Hütte, dessen Eigentum Ihr gerade mutwillig beschädigt habt?“
 

Sparrow zuckte mit den Schultern und betrat ohne ein weiteres Wort die Hütte. James spürte, wie Sheza im Sattel vor ihm unruhig hin und her rutschte, doch er konnte sich noch nicht dazu durchringen, abzusteigen. Es hätte bedeutet, sich Sparrow geschlagen zu geben, und soweit war er noch nicht. Die Wolken hatten den Himmel zurückerobert und in spätestens einer halben Stunde würde es dunkel sein. Trotzdem hätte er gerne weiter nach dem Haus des Gouverneurs gesucht. Da er ihn nie auf die Jagd begleitet hatte, kannte er auch die Wälder in der Umgebung nicht. Es war also durchaus möglich, dass sich die Hütte, vor der sie gerade standen in unmittelbarer Nähe befand. Vielleicht handelte es sich ja um einen Unterstand oder eine Schlafstätte für den Jagdaufseher. Sobald Sparrow wieder herauskam, würde er ihm seine Idee unterbreiten. Dann konnten sie zumindest noch für eine Weile weiter reiten und sehen, wohin der Pfad sie führen würde.
 

Die Aussicht beruhigte ihn, und so zog er die Füße aus den Steigbügeln, um seine schmerzenden Knöchel für eine Weile baumeln zu lassen. Er hatte gerade begonnen sich zu entspannen, als sich Sheza zu ihm umwandte.
 

„James?“, fragte sie. Es war das erste Mal, dass sie seinen Vornamen benutzte, und der ungewohnte Klang überraschte ihn. „Wo Captain Jack?“
 

„Da drin“, antwortete er verwirrt und zeigte auf die Hütte. Sheza verzog das Gesicht und verdrehte die Augen, als würde sie ihn für schwachsinnig halten. Dazu hatte sie, wie er sich eingestehen musste, auch allen Grund. Trotz der Sprachbarrieren war ihr nämlich durchaus zuzutrauen, dass sie wusste, wo sich Sparrow aufhielt. Dass er nach minutenlanger Abwesenheit noch immer nicht zurückgekehrt war, hätte ihm schließlich auch selbst auffallen können.
 

„Sparrow!“, rief er und zählte bis zehn, doch kein Laut war zu hören. Nur die Vögel hatten ihr Lied wieder aufgenommen, offenbar mit der Absicht, die Lichtung in Grund und Boden zu zwitschern. Sheza warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und diesmal brauchte es keine Worte um zu verstehen, was sie von ihm erwartete. ‚Neununddreißig Jahre’, dachte James bitter und fragte sich zum wiederholten Male, ob er jemals lernen würde, sich gegen das vermeintlich schwache Geschlecht durchzusetzen. Mit einem resignierten Seufzer hob er Sheza vom Pferd, stieg ab und band den Wallach neben Sparrows Stute am Geländer der Veranda an.

„Bleib hier“, sagte er und warf dem Mädchen einen strengen Blick zu, um die Ernsthaftigkeit seiner Worte zu unterstreichen. Dann betrat er die Veranda und ging zur Tür. Er hob die Hand, um die Holztür aufzustoßen, überlegte es sich jedoch im letzten Moment anders und zog seine Pistole aus dem Halfter. Mit gespanntem Hahn trat er gegen das Holz – und stutzte.
 

*~*
 

Jack hätte beinahe laut losgelacht, als er Norrington ins Zimmer stürzen sah. Der Admiral hatte offenbar eine blühende Phantasie und Jack fragte sich, was er in der leer stehenden Hütte wohl erwartet hatte. Einen kichernden Kobold vielleicht, der bereits an seinem Bein nagte?
 

„Könntet Ihr bitte so freundlich sein und aufhören mich zu bedrohen, während ich versuche mich, hier nützlich zu machen?“
 

Er hielt ein Auge auf die Waffe und das andere auf die Zünderbüchse in seiner Hand gerichtet. Es wäre zu ärgerlich gewesen, wenn das schwache Glimmen ausgerechnet jetzt erloschen wäre. Er hasste es auf diese Art und Weise Feuer zu machen, doch manchmal ließen ihm die Umstände keine andere Wahl.
 

Erleichtert registrierte Jack, wie Norrington den Arm senkte und sich in der Hütte umsah. Es war fast dunkel im Raum, doch das schwache Licht reichte allemal aus, um die schmale Pritsche mit der Strohmatratze zu erkennen, auf der Jack mit dem Zündbesteck saß.
 

„Was macht Ihr da?“
 

„Ich begebe mich zur Nachtruhe. Die ich, nebenbei bemerkt, dringend nötig habe. Ihr solltet wirklich die Matratze in Eurem Gästezimmer austauschen. Ich habe selten so unbequem gelegen!“
 

„Gott, Sparrow!“, stöhnte Norrington. „Bitte verschont mich.“ Dabei wirkte er so müde und elend, dass es Jack sofort leid tat, ihn geneckt zu haben. Wenn er ehrlich war, erging es ihm selbst nur wenig besser. Hätte er die Wahl gehabt, so hätte er sich auf der Pritsche zusammengerollt und wäre eingeschlafen. Gut, vielleicht hätte er sich vorher ein paar Tropfen von dem Opium genehmigt – nicht mehr als zwei oder drei, um besser schlafen zu können, doch darüber hinaus wünschte er sich nichts sehnlicher, als einen Moment der Ruhe. Leider war er weder dumm noch dreist genug, seinem Verlangen stattzugeben. So hatte er auf die altbewährte Strategie zurückgegriffen und hielt sich nun wach, indem er sich nützlich machte.
 

„Wenn wir bleiben wollen, brauchen wir Feuer. Es gibt hier einen Kamin, an dem wir unsere Kleider trocknen können.“ Er deutete mit dem Kinn zur gegenüberliegenden Wand, wo sich tatsächlich eine Art ummauerte Feuerstelle befand. „Außerdem sollten wir draußen ein Feuer anzünden. Wegen der Pferde, um Raubtiere fernzuhalten.“
 

„Dann ist es also beschlossene Sache“, sagte Norrington tonlos.
 

„Haben wir eine Wahl?“
 

Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte Norrington etwas sagen. Vielleicht wollte er widersprechen, sie zum Weiterreiten bewegen, doch am Ende nickte er nur und wandte sich ab.
 

„Seht nach, ob es hinter dem Schuppen eine Pumpe gibt“, rief ihm Jack hinterher, doch der Admiral war bereits verschwunden. Na wunderbar! Was man diesen Männern bei der Navy auch immer beibrachte, mit praktischer Lebenserfahrung hatte es offenkundig nichts zu tun. Missmutig rappelte er sich hoch und ging zum Kamin hinüber, um Feuer zu machen. Der unbekannte Bewohner dieser Hütte hatte sich immerhin die Mühe gemacht, einige Scheite Holz und Reisig aufzulegen, die Jack nun mit dem glimmenden Docht in seiner Hand entzündete. Die trockenen Äste brannten beinahe sofort, und ein warmer Schimmer erfüllte den kleinen Raum.
 

Jack schälte sich gerade aus seinem klammen Umhang, als Sheza mit dem Satteltaschen auf dem Arm hereinkam. Die Flammen zeichneten weiche Schatten über ihr Gesicht und er konnte sehen, wie erschöpft sie war. Dennoch schenkte sie ihm ein warmes Lächeln, bevor sie ihre Last zu Boden gleiten ließ.
 

„Zieh den Umhang aus“, sagte Jack und hängte seinen eigenen demonstrativ über eine Stuhllehne.
 

Sheza folgte seinem Beispiel, dann ließ sie ihren Blick durch die Hütte schweifen. Im Schein des Feuers wirkte der Raum noch um einiges karger. Es gab zwei Stühle, einen niedrigen Tisch und ein schäbiges Bettgestell mit Strohmatratze. An einem Haken hing ein Lederbeutel, darunter standen ein Paar Stiefel und ein blank poliertes Gewehr. Zweifellos handelte es sich um eine Jagdhütte, die ihrem Besitzer nur gelegentlich als Unterschlupf diente und ansonsten leer stand. Gut so! Immerhin blieb ihnen unter diesen Umständen wohl eine unangenehme nächtliche Überraschung erspart.
 

Seufzend ging Jack zum Tisch hinüber und zog aufs Geradewohl die Schublade unter der Tischplatte heraus. Wie erhofft befanden sich darin einige Kerzenstummel, von denen er die zwei längsten heraussuchte. Als Norrington wenige Minuten später zur Tür hereinkam, warfen ihre Flammen bereits Licht auf einen Laib Brot und ein angeschnittenes Stück Käse, die Sheza aus der Satteltasche geholt und ordentlich angerichtet hatte.
 

„Draußen gibt es noch einen kleineren Schuppen. Sieht so aus, als hätte unser Vermieter eine ganze Menge Holz und etwas Heu zurückgelassen“, sagte er und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen.
 

„Und Wasser?“ Jack hätte es bei weitem vorgezogen, in der Höhle eines Rumschmugglers Zuflucht zu suchen, doch die Pferde und der Commodore waren in dieser Hinsicht wohl anderer Meinung.
 

„So eine Art Brunnen mit Ziehvorrichtung. Allerdings gibt es auch eine Tränke, und die ist dank des Regens randvoll!“
 

„Ihr schlagt also vor, dass wir alle nach draußen gehen und einen kräftigen Schluck nehmen sollten?“, fragte Jack amüsiert. Trotz der ernsten Situation empfand er die Unbedarftheit des Admirals als überaus unterhaltsam. Die Männer der Royal Navy mochten echte Überlebenskünstler sein, allerdings nur so lange, wie das Fußvolk für elementare Nichtigkeiten wie Verpflegung und Wasser sorgte.
 

Norrington wurde rot wie eine Tomate, fing sich jedoch schnell wieder und sah Jack scharf an. „Wenn Ihr Durst habt, dann holt Euch gefälligst selbst etwas zu trinken. Ich hatte für heute weiß Gott schon genug Wasser.“
 

Jack hob die Brauen, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen wandte er sich an Sheza und fragte ruhig: „Hast du Durst?“ Dabei führte er ein imaginäres Glas zum Mund und sie nickte enthusiastisch. Peinlich berührt sprang Norrington auf die Füße und wandte sich zur Tür um, doch Jack winkte ab.
 

„Lasst nur. Ich brenne darauf zu entdecken, was unser Nachtlager noch so alles an Komfort zu bieten hat.“
 

Damit ergriff er eine der beiden Kerzen und ging nach draußen.
 

*~*
 

Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden und die Nacht lag lau und friedlich über der kleinen Lichtung. Die Pferde waren nicht länger an der Veranda angebunden, sondern dösten an der Rückseite der Hütte, wo sich nicht nur eine Tränke, sondern auch ein Anbindebalken befand. Norrington hatte die beiden Tiere abgesattelt und ihnen einen Arm voll Heu hingeworfen, über den sie sich nun gierig hermachten. Als sie Jack kommen sahen, blickten sie neugierig auf, befanden ihn jedoch schnell für ebenso uninteressant wie ungefährlich und wandten sich wieder ihrem Futter zu.
 

Der Anblick entlockte seinem Magen ein unwilliges Knurren, doch er achtete nicht darauf. Seine schmerzenden Schenkel erinnerten ihn daran, wie lange er nicht mehr geritten war und er stellte irritiert fest, dass es sich beim Laufen ein wenig so anfühlte, als wäre er gerade von Bord eines Schiffes gegangen. Die kleine Stute schien in sich hineinzugrinsen, während er auf ein niedriges Mauerrund zuwankte; offenbar war das der Brunnen, von dem Norrington gesprochen hatte. Darüber war eine Zugvorrichtung angebracht, an der ein kleiner Eimer hing. Sehr gut. Sie hatten also etwas zu trinken, auch wenn er im Augenblick kein besonders großes Verlangen nach Flüssigkeiten verspürte, die keinerlei Rauschmittel enthielten.
 

Wenig motiviert stellte er daher seine Kerze auf dem Brunnenrand ab und machte sich daran, das vertäute Seil zu lösen, um den Eimer in den Schacht hinabzulassen. Der Knoten ließ sich nur schwer öffnen und Jack fluchte leise, als ihm der raue Strick ins Fleisch schnitt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht saugte er an seinem verletzten Finger und erwog bereits, das Tau mit einem gezielten Schwerthieb zu lösen, als die beiden Pferde plötzlich die Köpfe hochrissen. Alarmiert ließ Jack von seinem Finger ab und griff instinktiv nach dem Knauf seines Degens. Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit, doch außer dem schweren Atem der Pferde war nichts zu hören. DA! Es knackte im Unterholz, ganz am Rande der Lichtung. Jack trat langsam einen Schritt zurück und zog seine Waffe. Es knackte erneut, wieder und wieder, in rhythmischen Abständen. ‚Schritte’, schoss es Jack durch den Kopf. Dort im Dschungel, nur wenige Meter von ihm entfernt ging jemand umher. Die Kerze auf dem Brunnenrand wies ihm den Weg, half ihm bei der Suche nach der richtigen Angriffsposition, doch Jack würde sich nicht mit der Rolle des wehrlosen Opfers zufrieden geben. Und er war schließlich nicht allein!
 

„Warum kommt ihr nicht raus?“, fragte er mit lauter Stimme, damit auch Norrington ihn hören konnte. „Habt Ihr etwa Angst? Ist das der Grund, aus dem Ihr Euch sonst an wehrlosen Kindern vergreift? Ich muss sagen, ich bin beeindruckt, Monsieur!“
 

Er machte einen Ausfallschritt nach rechts, und dem Knacken im Geäst nach zu urteilen folgte der unsichtbare Angreifer seiner Bewegung. Jacks Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, doch er blieb ruhig und konzentriert, als handle es sich bei dem Mann im Unterholz um einen bekannten Gegner und nicht etwa um einen gesichtslosen Irren. ‚Wenn sie uns gefunden haben, dann können sie uns auch zu den Kindern führen’, folgerte er in blitzartiger Geschwindigkeit. Es musste ihnen nur gelingen, sie – wer auch immer sie waren – zu überwältigen.
 

„Genug gespielt“, rief Jack. „Putz, putz, putz, komm raus, du kleines Kätzchen!“
 

Die meisten Wahnsinnigen reagierten prompt, wenn man sich über sie lustig machte, und ihr Verfolger schien keine Ausnahme zu sein. Jack hatte gerade noch genügend Zeit, seinen Degen in Gefechtsposition zu bringen, als er aus dem Unterholz und quer über die Lichtung schoss.

Kapitel 9

Er bewegte sich erstaunlich behände und mit beeindruckender Geschwindigkeit – dafür, dass er eine Eidechse war.
 

Überrascht sprang Jack einen Schritt zurück und quiekte erschrocken. Dabei wäre er fast über den Anbindebalken gestolpert, an dem die Pferde mit weit aufgerissenen Augen zerrten. Erst im letzte Augenblick packte ihn eine kräftige Hand an der Schulter und schubste ihn zurück in eine aufrechte Position.
 

„Was ist los?“, fragte James Norrington alarmiert. Er hatte seinen Umhang ebenfalls ausgezogen und stand nun in Hemdsärmeln und mit gezücktem Degen hinter Jack. Seine Augen huschten rastlos über die Lichtung, glitten mit militärischer Präzision über den nahen Waldrand und blieben schließlich an den beiden Pferden hängen, die noch immer nervös hin- und hertänzelten.
 

„Hoooo …“, sagte Jack unbeholfen und tätschelte der Stute den Hals; eine Geste, die sie überraschenderweise zu schätzen wusste. Als sich die Tiere beruhigt hatten, wandte er sich mit leiser Stimme an Norrington.
 

„Eine Eidechse“, sagte er und verzog das Gesicht. „Fiese kleine Biester, man weiß nie, was sie in ihrem schuppigen Köpfchen als nächstes aushecken.“ Um die Ernsthaftigkeit der Situation zu unterstreichen, fuchtelte er noch einmal mit seinem Degen durch die Luft, bevor er ihn wieder in die Scheide gleiten ließ.
 

„Eine Echse?“
 

Jack konnte kaum etwas erkennen, glaubte jedoch so etwas wie Panik aus Norringtons Worten herauszuhören. Er hätte beinahe geschmunzelt, wäre nicht im selben Augenblick ein scharfer Schmerz durch seine Hand gerast. Mit einer raschen Bewegung umklammerte er die pochende Faust und fluchte leise. Angewidert musste er feststellen, dass sein Handrücken mit einer warmen Flüssigkeit bedeckt war; Blut.
 

„Sie ist doch weg, nicht wahr?“, vernahm er Norringtons besorgte Stimme.
 

„Ich glaube, es hat ihr hier nicht sonderlich gut gefallen“, presste Jack hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. Der Schnitt an seiner Hand ging tiefer als vermutet – verdammtes Seil! – und brannte wie die Hölle. Der gequälte Ausdruck in seiner Stimme schien auch Norrington auf den Plan zu rufen, denn der Admiral gab seine Suche nach der bösartigen Echse auf und griff nach der Kerze auf dem Brunnenrand.
 

„Was habt Ihr da an Eurer Hand?“ Misstrauisch beugte er sich nach vorne und schreckte sofort zurück, als er das Blut sah. „Sie hat Euch gebissen?“
 

„Wir haben miteinander gerungen.“ Als Norrington ihn verständnislos anblickte, fügte er schnell hinzu: „Es war eine sehr große Echse.“
 

„Seid nicht albern, Sparrow.“ Offenbar hatte Norrington bemerkt, dass sich Jack über ihn lustig machte.
 

„Also gut, ich habe mit dem Knoten am Brunnentau gekämpft. Er hat mir bis zuletzt verzweifelten Widerstand geleistet. Zufrieden?“ Jack hoffte, dass sich der Admiral mit dieser Antwort zufrieden geben und keine weiteren Fragen stellen würde. Vergeblich.
 

„Zeigt mal her“, sagte er mit ruhiger Stimme und steckte seinen Degen weg. Die unbedeutende Verletzung hatte ihn jede Angst vor den herumstreunenden Echsen vergessen lassen und Jack konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Norrington regelrecht aufblühte. Offenbar gehörte er zu jenen Männern, deren Leben erst einen Sinn bekam, wenn sie Verantwortung für andere übernehmen konnten. Damit entsprach er zweifellos dem viel besungenen Ideal der Royal Navy, allerdings stand zu bezweifeln, dass er sich mit dieser Einstellung besonders viele Freunde gemacht hatte. Kein Wunder, dachte Jack, dass man den armen Kerl in die Verwaltung abgeschoben hatte.
 

„Na kommt schon!“, ermunterte ihn Norrington, als er keine Anstalten machte, seine schmerzende Hand loszulassen. „Es bringt uns auch nicht weiter, wenn Ihr Euch den Wundbrand holt!“
 

In seiner Stimme schwang eine Autorität mit, der sich selbst Jack nicht entziehen konnte. Jahrelange Erfahrung mit den königlichen Truppen hatte ihn gelehrt, dass man diesem Befehlston besser Folge leistete, wenn man sich eine Kugel in der Brust ersparen wollte. So streckte er seine Hand aus und presste die Augen fest zusammen, als Norrington danach griff. Ein heißer Luftzug glitt über seinen Handrücken und sagte ihm, dass der Admiral offenbar die Kerze zur Hilfe nahm, um besser sehen zu können. Beinahe erwartete er, dass man ihm unvermittelt den Hemdsärmel hochschieben und das Brandzeichen entdecken würde. Die Folgen kannte er nur zu gut.
 

„Sperrt ihn ein!“

„Peitscht ihn aus!“

„Hängt ihn auf!“
 

Doch diese Stufe ihrer Bekanntschaft hatten Jack und Norrington längst hinter sich gelassen; ganz zu schweigen davon, dass die Staatsgewalt ihre Arme kaum bis zu dieser gottverlassenen Lichtung ausstrecken würde.
 

Zögerlich öffnete Jack die Augen und beobachtete Norrington, der mit konzentriertem Gesichtsausdruck auf die offene Wunde starrte. Ein klaffender Schnitt zog sich über den Zeigefinger seiner linken Hand, blutete jedoch so stark, dass die Verletzung weitaus schlimmer aussah, als sie wahrscheinlich war.
 

„Zuerst die gute Nachricht: Ihr werdet es überleben“, stellte Norrington schließlich mit fachmännischer Präzision fest.
 

„Und die schlechte?“
 

„Der Schnitt ist ziemlich tief und die Wunde wird sich sehr wahrscheinlich entzünden, wenn wir sie nicht verbinden.“ Gedankenverloren strich Norrington über die Verletzung und die unerwartete Berührung ließ Jack zusammenzucken. Mit einer raschen Bewegung zog er seine Hand zurück und Norrington hüstelte verlegen.
 

„Ich … äh … ich habe Stofffetzen gesehen“, fuhr er hastig fort. „In dem kleinen Schuppen. Ich werde sie holen gehen. Drückt so lange das hier auf die Wunde.“ Er zog ein elegantes Taschentuch aus seinem Ärmel und reichte es Jack. „Und jetzt geht nach drinnen. Wir sollten Sheza sagen, dass alles in Ordnung ist. Das arme Mädchen hat heute schon genug mitmachen müssen.“
 

*~*
 

James sah Sparrows Silhouette nach, die o-beinig in Richtung Veranda wankte. ‚Was für ein seltsamer Mann’, sinnierte er nachdenklich. Zweifellos gefiel er sich in der Rolle des unbeschwerten Einfallspinsels, doch James hatte genug gesehen um zu wissen, dass sich hinter dieser Fassade ein überaus intelligenter und mutiger Mann verbarg. Sicherlich war er keiner von jenen armen Teufeln, die die Docks der Neuen Welt zu Hunderten bevölkerten; Gauner, Glücksritter und Gefallene, für die das Piratenleben oft letzter Ausweg und Erfüllung ihrer kühnsten Träume zugleich war. Er erinnerte sich an einen Piratenkapitän, der der Welt noch auf dem Schafott eine Kriegserklärung ausgesprochen hatte. Ob Sparrow wohl auch so dachte?
 

Er schüttelte irritiert den Kopf und warf einen Blick auf das Zugseil, das sich Jack so hartnäckig widersetzt hatte. Zwei kurze Handbewegungen, und er hatte den Knoten gelöst. ‚Ein herkömmlicher Kopfschlag’, stellte er schmunzelnd fest und hinderte das Seil mit einem Achtknoten am Durchrutschen. Jack Sparrow mochte der beste Pirat sein, den er je gesehen hatte, doch bei Nacht war er eindeutig blind wie ein Maulwurf.
 

Mit dem Vorsatz, das Wasser später mit nach drinnen zu nehmen, hob er die Kerze auf und ging zu dem kleinen Schuppen hinüber, in dem er zuvor schon Heu und Feuerholz gefunden hatte. Im Grunde handelte es sich um kaum mehr als einen hölzernen Verschlag, der mit wenig Sinn für architektonische Feinheiten an die Außenwand der Hütte gezimmert worden war. James schob die knarrende Tür auf und hielt die Kerze hoch, um besser sehen zu können. In der Tat hatte er sich nicht getäuscht. Direkt hinter der Tür befand sich ein Berg Lumpen, den der Besitzer der Hütte aus unerfindlichen Gründen dort einzulagern schien. Vorsichtig stellte er die Kerze auf dem staubigen Boden ab und ging in die Knie, um einen möglichst sauberen Stofffetzen zu suchen. Die Lumpen, die zuoberst lagen erwiesen sich als schmutzverkrustet und James warf sie achtlos zur Seite. Doch je tiefer er grub, desto aussichtsloser wurde seine Suche. Bald steckte er bis zu den Ellenbogen in dem Kleiderstapel, ohne auch nur ein einziges sauberes Stück Stoff finden zu können. Warum nur hob jemand einen Berg derartig schmutziger Wäsche auf?
 

Stutzig geworden zog er aufs Geradewohl einen Lumpen heraus, der dem Schnitt nach zu urteilen einmal ein Hemd gewesen war. Er hielt ihn auf Armeslänge von sich und betrachtete die Flecken im flackernden Kerzenlicht. Als ihm aufging, was die Kleider so in Mitleidenschaft gezogen hatte, warf er das Hemd schockiert von sich und stieß dabei die Kerze um, deren Flamme sofort im Staub erlosch.
 

Mit weit aufgerissenen Augen kroch er rückwärts, weg von den Lumpen, bis er einen Holzstoß im Rücken spüren konnte. Schwer atmend saß er in der Dunkelheit und überlegte zum zweiten Mal an diesem Tag, warum er nicht einfach losbrüllte. Auf den Kleidern war kein Dreck, sondern Blut. Überall verkrustetes Blut, als wäre er im Hinterzimmer einer Schlachterei gelandet.
 

Er sah den Körper seiner Haushälterin wieder vor sich, den aufgeschlitzten Unterleib, über dem die Fliegen kreisten. Sein Magen rebellierte, und obwohl er den ganzen Tag über nichts gegessen hatte beugte er sich nach vorne und übergab sich würgend auf den Boden. Es fühlte sich an, als würden seine Eingeweide allesamt den Weg nach draußen suchen. Als es endlich vorbei war und die Übelkeit einer seltsamen Taubheit wich, lehnte er sich erschöpft zurück und schloss die Augen.
 

‚Es ist eine Jagdhütte’, versuchte er sich verzweifelt selbst zu überzeugen. Wahrscheinlich hatte der Eigentümer lediglich ein Wildschwein ausgenommen. Doch eine leise Stimme sagte ihm, dass seine Reaktion durchaus angemessen war. Auf den Stofffetzen war Menschenblut; und wem auch immer diese Hütte gehörte, er war ein Mörder. Er verspürte den starken Impuls, zu Sparrow und Sheza zu rennen und sie davon zu überzeugen, dass sie schleunigst von diesem Ort verschwinden mussten. Dabei erschien ihm zweitrangig, wie sie das bei völliger Dunkelheit bewerkstelligen sollten. Hauptsache war schließlich, sie entkamen diesem Wahnsinnigen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo im Unterholz lauerte.
 

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenschlag. Mit ihrer Flucht aus Port Royal waren sie zu Gejagten geworden, Vogelfreien, deren Leben kaum mehr wert war, als das der Wildschweine, die die Cockpit Mountains durchstreiften. Der Dschungel hätte ihnen Schutz bieten sollen, doch stattdessen war er zur tödlichen Falle geworden. Bleierne Erschöpfung überkam ihn, eine Resignation vor den Tatsachen, die sich beinahe tröstlich anfühlte. Sie würden also sterben. Das war nicht weiter schlimm, denn eigentlich hätte er ohnehin tot sein sollen. Dass er lebte war ein Irrtum, den der Verantwortliche nun offenbar rückgängig zu machen gedachte. Auch bei Sparrow war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis ihn der Sensenmann irgendwann einholen würde.
 

Dann allerdings fiel ihm Sheza ein, und er begann an dem göttlichen Plan zu zweifeln, den er eben noch so deutlich vor sich gesehen hatte. Mit zitternden Knien hievte er sich auf die Füße und verließ den Schuppen. Unsteten Schrittes ging er zu der Pferdetränke hinüber, schöpfte mit den Händen Wasser und goss es sich über den Kopf. Unter den neugierigen Augen der beiden Tiere wiederholte er diesen Vorgang so lange, bis er sich wieder wie ein Mensch fühlte.
 

Schließlich ging er zum Brunnen hinüber, ließ den Eimer in den Schacht hinab und füllte ihn mit Wasser. Als er damit fertig war, zog er sein Hemd aus dem Hosenbund und riss einen Fetzen in ausreichender Größe ab, bevor er es zurücksteckte. Mit Eimer und Verbandsmaterial bewaffnet ging er schließlich zur Hütte zurück. Inzwischen hatte der kühl kalkulierende Soldat in ihm wieder die Oberhand gewonnen und warnte ihn davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. Gut, er hatte soeben Hinweise darauf gefunden, dass ihr Nachtquartier einem Axtmörder gehörte. Allerdings bedeutete das noch lange nicht, dass besagter Axtmörder sich auch tatsächlich in der Nähe aufhielt oder überhaupt noch am Leben war. Wenn man einmal genauer darüber nachdachte, so bedeutete es noch nicht einmal, dass der Axtmörder überhaupt ein Axtmörder war. Vielleicht hatte er sich ja selbst beim Holzhacken verletzt und versucht, die Blutung zu stillen. An ihrer Situation änderte sich dadurch trotzdem nichts.
 

Als er die Hütte betrat und Sheza erschöpft auf dem klapprigen Bett liegen sah, war sein Entschluss bereits gefasst. Er würde seine Entdeckung für sich behalten und darauf hoffen, dass sie sich als bedeutungslos erweisen würde.

Kapitel 10

Nachdem Jack verbunden und das Abendessen beendet war, hatten sich die beiden Männer darauf geeinigt, dass Jack die erste Wache übernehmen sollte. Um die Pferde vor unwillkommenen Besuchern zu schützen und im Notfall besser sehen zu können, hatten sie seitlich neben der Hütte ein Feuer entzündet, an dem sich Jack nun im Schneidersitz niedergelassen hatte. Die Nacht war angenehm lau, doch die Hitze der Flammen hinderte ihn immerhin daran, versehentlich einzuschlafen.
 

Als ob er das überhaupt gekonnt hätte! Seit sich die Ereignisse nicht mehr überschlugen, blieb ihm kaum etwas anderes übrig, sich der grausamen Wahrheit zu stellen. Es war ihm nicht gelungen, die Kinder zu schützen. Sobald er auch nur für einen kurzen Moment die Augen schloss, sah er Momoh, Jemi und Aimen vor sich, wie sie ihn vorwurfsvoll anstarrten. Sie hatten auch alles Recht dazu; wenn er nur ein wenig früher zurückgekommen - wenn er das verdammte Opium nicht gekauft hätte - dann wäre es vielleicht nie so weit gekommen. James Norrington machte er keine Vorwürfe, auch wenn ihn das selbst ein wenig überraschte. Der Admiral hatte alles getan, was in seiner Macht stand, um die Kinder zu schützen – weit mehr, als Jack von ihm verlangt oder ihm auch nur zugetraut hatte. Auch er hätte alles Recht gehabt, wütend zu sein. Davon hatte der Pirat bisher allerdings kaum etwas zu spüren bekommen; im Gegenteil hatte sich Norrington als bemerkenswert kooperativ erwiesen und Jack musste widerstrebend zugeben, dass sie es ohne ihn nicht einmal bis hierher geschafft hätten.
 

Gedankenverloren starrte er auf die Schatten, die über den Verband an seinem Finger tanzten. Er konnte sich nicht erinnern, wann sich zuletzt jemand die Mühe gemacht hatte, seine Wunden zu versorgen. Dabei war der Schnitt wirklich kaum der Rede wert und wäre wahrscheinlich auch so verheilt. Seine Fingerspitzen strichen über die Stelle, die Norrington noch vor kurzem berührt hatte und er fragte sich, ob er sich vielleicht in dem Admiral getäuscht hatte. Sicher, er hatte ihn immer für einen anständigen, wenn auch ein wenig steifen und in seinen Gewohnheiten erstarrten Mann gehalten. Allerdings hätte er nie erwartet, jemals so etwas wie Respekt und ehrliche Sympathie für ihn empfinden zu können. Er wagte den Gedanken kaum zu Ende zu denken, doch eigentlich war er sogar froh, dass er die Sache nicht alleine durchstehen musste. Das Schicksal hatte ihn schon mit weitaus schlimmeren – und deutlich unattraktiveren – Begleitern in die Löwengrube geworfen.
 

Die kleine Stute blickte neugierig zu ihm herüber, und für einen Moment fürchtete er, sie hätte seine Gedanken erraten. Obwohl sie nur ein Pferd und vorrangig an seiner Rolle als Futterspender interessiert war, sah er betreten in die andere Richtung. Merkwürdigerweise änderte jedoch auch das nichts an der Tatsache, dass er sich beobachtet fühlte. Als eine Gestalt aus dem Schatten trat, wurde ihm auch klar, warum.
 

„Kannst du nicht schlafen?“, fragte er, während Sheza langsam auf das Feuer zuging.
 

Das Mädchen schüttelte den Kopf und Jack spürte, dass sie nach seiner Gegenwart gesucht hatte. „Wenn du willst, kannst du dich noch ein bisschen zu mir setzen“, sagte er und klopfte einladend neben sich auf die festgetretene Erde. Sheza lächelte dankbar und ließ sich mit einer geschmeidigen Bewegung im Schneidersitz nieder. Der Feuerschein huschte über ihre fein geschnittenen Gesichtszüge und Jack wurde beinahe schlecht, als er an das Schicksal dachte, dem sie nur knapp entronnen war.
 

Wehe dem Mann, der es wagen sollte, seine dreckigen Finger an sie zu legen!
 

Er ballte seine unverletzte Hand zur Faust und sah zu Boden. Als er wieder aufblickte, hatte Sheza Tränen in den Augen. Ohne nachzudenken beugte er sich zu ihr hinüber und zog sie in seine Arme. Sie barg den Kopf an seiner Halsbeuge, irgendwo zwischen Holzperlen und Zöpfen, und er strich ihr unbeholfen übers Haar. Er ertappte sich dabei, wie er selbst gerne geweint hätte, doch irgendwie hatte er vergessen, wie das überhaupt ging. So begnügte er sich damit, Sheza an sich zu drücken und sich vorzustellen, ihre Schluchzer wären seine eigenen.
 

Er wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatten, als sich etwas veränderte. Zuerst merkte er gar nicht, was es war, doch plötzlich hatte Sheza ihre Arme fest um seine Schultern geschlungen und sagte etwas in ihrer Sprache, das er nicht verstand. Wahrscheinlich war der Inhalt auch egal, es war der Klang ihrer Worte, der ihm beinahe tröstlich erschien. Himmel, sie war vierzehn, war aus ihrer Heimat verschleppt worden und hatte soeben ihre Freunde verloren. Er hätte sie trösten sollen, und dennoch war sie es, die genügend Kraft fand, um sie beide zu stützen.
 

Als sie sich schließlich wieder voneinander lösten, fühlte er sich tatsächlich ein wenig besser.
 

„Wir werden sie finden, Sheza“, sagte er zuversichtlich und strich ihr über die Wange. „Das verspreche ich dir. Ich brauche nur ein wenig Zeit um darüber nachzudenken, wo wir anfangen sollen.“
 

Sie neigte den Kopf und sah in mit berechtigter Skepsis an, nickte dann jedoch langsam. „So lange?“
 

„Tja, weißt du, ich denke, es wird wohl eine Weile dauern, aber ich bin mir sicher …“ Er brach ab, als Sheza mit dem Kopf schüttelte. Sie legte einen Finger an die Lippen und er konnte sehen, dass sie angestrengt nachdachte. Offenbar suchte sie nach den richtigen Worten, um auszudrücken, was sie eigentlich sagen wollte.
 

Schließlich schloss sie konzentriert die Augen und sagte sehr langsam: „Was wir machen? So lange?“
 

„Nun ja, wir könnten … also weißt du, morgen werden wir erst einmal zur Jagdhütte des Gouverneurs reiten und hoffen, dass er nicht zuhause ist. Und dann –“ Ja, was war dann eigentlich? Wollten sie sich bis zum Ende aller Tage in den Bergen verstecken und von Wildschweinen und Beeren leben?
 

„Ah!“ Er hatte noch immer keine zufrieden stellende Lösung gefunden, als ihn Sheza unterbrach und leicht am Ärmel zupfte. Ein Leuchten trat in ihre Augen und sie lächelte, offensichtlich zufrieden mit sich und ihrem Einfall. „Ich weiß!“, sagte sie und bedeutete Jack, sich umzudrehen, damit sie einander gegenüber saßen.
 

„Und jetzt?“, fragte Jack mit hochgezogenen Brauen.
 

Sie zeigte auf sich und imitierte mit der Hand die Bewegung eines plappernden Mundes. „Deine Sprache!“ Dann zeigte sie auf ihn und grinste verschmitzt. „Und jetzt: meine Sprache!“
 

‚Oh oh’, dachte Jack und quälte sich ein Lächeln ab. ‚Nicht gut!’ Es war schon eine ganze Weile her, seit er zuletzt versucht hatte, eine Sprache zu erlernen. Er bildete sich ein, damals einiges an Talent gezeigt zu haben, doch er war sich nicht sicher, ob sich Shezas Sprache in irgendeiner Weise mit Französisch oder Latein vergleichen ließ.
 

Die junge Afrikanerin dagegen schien sich in ihrer neuen Rolle zu gefallen. Trotz der grotesken Situation setzte sie ein ernstes Gesicht auf und bedachte Jack eines schulmeisterlichen Blickes.
 

„minɛ yi Sheza“, sagte sie langsam und deutete dabei auf ihre Brust. „ ŋes ʌmu-a?“
 

*~*
 

Als sie eine knappe Stunde später gähnend zu Bett ging, kannte Jack eine ganze Reihe von Wörtern und Sätzen in ihrer Sprache. Sheza hatte sich als enthusiastische Lehrerin erwiesen und er hatte schnell festgestellt, dass ihm der improvisierte Unterricht tatsächlich Spaß machte. Am Ende bedauerte er es sogar ein wenig, weder Pergament noch Feder zur Hand zu haben, um sich Notizen zu machen. Die Herren Wissenschaftler mochten behaupten, dass die Sprachen der Afrikaner primitiv waren, doch das wollte er nicht so recht glauben. Tatsächlich erschien ihm Shezas Sprache weitaus komplizierter, als die meisten europäischen Sprachen. Um das Gelernte nicht sofort wieder zu vergessen, wiederholte er die Sätze noch einmal im Geiste und sagte einige von ihnen sogar laut vor sich hin. Die Pferde musterten ihn noch immer, als hätte er den Verstand verloren, doch daran hatte er sich mittlerweile gewöhnt. So verbrachte er eine weitere halbe Stunde, bis ihm die Ideen ausgingen.
 

Er durchsuchte seine Erinnerungen nach einer Geschichte, doch nur eine einzige kam ihm in den Sinn. Es war eine Episode, die er sich täglich selbst, aber kaum jemals einem anderen Menschen erzählt hatte. Nur Bill kannte die ganze Wahrheit, denn William Turner, Matrose aus Glasgow, war schließlich dabei gewesen. Wie so viele andere hatte er die Reise nach Cape Coast nicht freiwillig angetreten. Seine Schulden waren beträchtlich und Cutler Becketts Schergen von der wenig verständnisvollen Sorte gewesen. So war ihm schließlich keine andere Wahl geblieben, als seine Frau und seinen Jungen in Liverpool zurückzulassen, wo sie auf seine Rückkehr warteten.
 

Vergeblich.
 

„Ich lasse dich nicht allein, verdammt nochmal!“
 

‚Hättest du besser tun sollen, alter Freund’, dachte Jack bitter. Wäre er einfach abgehauen und hätte sich nach England durchgeschlagen, wäre ihm tatsächlich eine ganze Menge erspart geblieben. Zum Beispiel eine Reise zum Meeresgrund in Begleitung einer Kanonenkugel; oder der entschieden einseitige Arbeitsvertrag mit Davy Jones.
 

Sich mit Jack Sparrow anzulegen war eine Sache, ihn zum Freund zu haben eine andere. Und letzteres war ungleich gefährlicher.
 

Missmutig hob er einen kleinen Ast auf und schleuderte ihn ins Feuer. Funken stoben auf und eines der Pferde hob verwundert den Kopf. Das Tier schien ihn so vorwurfsvoll zu mustern, dass Jack entschuldigend die Hand hob.
 

„Tut mir leid, Mädchen.“
 

Für eine Weile beobachtete er die dösenden Pferde im Feuerschein und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Vereinzelt knackte es im Unterholz, hie und da schrie ein Vogel, doch ansonsten blieb alles ruhig. Zu ruhig. Das Gewitter hatte die Luft nur vorübergehend kühlen können. Inzwischen war es wieder so heiß und stickig wie zuvor und Jack wischte sich mit der Handfläche über die schweißnasse Stirn. Wenn nur das Feuer nicht wäre …
 

Die Hitze schien ihn förmlich zu erdrücken, nur die Brusttasche seines Mantels war angenehm kühl. Opium war ein wahres Wundermittel. Es vermochte selbst die kälteste Seele zu wärmen und das heißeste Gemüt zu kühlen. Manche glaubten, es würde jeglichen Schmerz lindern, doch Jack wusste es besser. Opium ergriff den Schmerz, packte ihn an der Wurzel und verwandelte ihn in das süßeste Gift, das jemals die Adern eines Menschen durchströmt hatte. Er brauchte das Opium, brauchte es mit einem Mal so sehr, wie er einst Bill gebraucht hatte. ‚Ambrosia’, dachte er und zog das Fläschchen heraus. Er betrachtete es im Feuerschein und wiegte die Flüssigkeit langsam hin und her.
 

Am liebsten hätte er den Korken herausgezogen und einfach getrunken, bis das Fläschchen leer war. Er dachte nicht mehr an die durchwachten Nächte, an das Fieber und den Wahn; den brennenden, unstillbaren Durst und die anhaltenden Krämpfe. Er stellte sich vor, wie sich der Wald lichten und in eine monumentale Säulenhalle aus weißem Marmor verwandeln würde. Die Stimmen der Vögel würden nicht mehr krächzend, sondern klar und rein klingen, die Luft sauber und kühl sein. Eine ganze Welt, die nur ihm und seinen geschärften Sinnen offen stand.
 

Jack kniff die Augen zusammen, während sich seine Faust immer fester um das Fläschchen schloss. Er biss sich auf die Lippen, als er fühlte, wie das Glas brach und die wertvolle Flüssigkeit zwischen seinen Fingern zerrann. Die Scherben hätten ihm ins Fleisch schneiden sollen, doch er verspürte keinen Schmerz, nur eine merkwürdige Taubheit. Verwundert öffnete er die Augen und stellte fest, dass die Opiumtinktur noch immer unversehrt in seiner Hand lag.
 

„Damit wären wir also in der Phase mit den Wahnvorstellungen angelangt“, sagte Jack leise zu sich selbst. „Glückwunsch, alter Knabe!“
 

Er kam nicht umhin, sich ein wenig wie Cottons Papagei zu fühlen. Was wohl aus dem alten Seebären und seinem Sprachersatz geworden war? Seit seiner Abreise aus Tortuga hatte Jack weder Gibbs, noch ein anderes Mitglied seiner treuen Crew wiedergesehen. Einige von ihnen waren sicherlich mit Barbossa gesegelt, doch auch die Black Pearl war nicht länger Teil seines Lebens. Als er zuletzt von ihr gehört hatte, war sie mitnichten auf der Suche nach dem Quell der ewigen Jugend gewesen, sondern hatte vor der Nordküste Kubas zwei spanische Karavellen aufgebracht. Offenbar hatte sich Barbossa damit abgefunden, dass Jack den zentralen Teil der Seekarte besaß, auf der die genaue Lage eingezeichnet war. Nun ja, zumindest hatte er die Karte besessen, bevor ihm aufgegangen war, dass es sich mitnichten um eine echte Seekarte, sondern um eine billig reproduzierte Wanddekoration handelte. Anders war immerhin kaum zu erklären, dass man in New Providence dutzende davon kaufen konnte. So hatte er den Traum von Unsterblichkeit fürs erste begraben und sich nach neuen Abenteuern umsehen müssen. Natürlich stand die Wiederbeschaffung der Black Pearl ganz oben auf seiner Liste, aber wie schon so oft hatte ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht.
 

Dabei war er so kurz davor gewesen! Wenn ihm nicht die Kinder über den Weg gelaufen wären, hätte er Barbossa wahrscheinlich abpassen und ihm die Pearl entreißen können. Er hatte zwar noch keinen konkreten Plan gehabt, zweifelte jedoch nicht im Geringsten daran, dass sich eine Gelegenheit ergeben hätte. Wie sagte man so schön: Das Glück war stets mit den Kindern und Schwachsinnigen. In diesem Fall hatte es allerdings den Kindern den Vorzug gegeben, wobei man wohl darüber streiten konnte, ob sich die Begegnung mit Jack tatsächlich als besonders glücklich erwiesen hatte.
 

An diesem Punkt angelangt beschloss er, falsche Wahnvorstellungen durch echte zu ersetzen. Es wurde ohnehin Zeit, den Admiral an seine Pflichten zu erinnern.

Kapitel 11

Als James Norrington am Morgen erwachte, war das Feuer bereits vollständig heruntergebrannt. Feiner Nebel lag über der Lichtung, doch die ersten Sonnenstrahlen filterten bereits durch den grauen Dunst und versprachen gutes Wetter. Er streckte sich und stöhnte gequält, als ihn seine schmerzenden Glieder daran erinnerten, wo er sich befand. Er lag auf der Erde, nur wenige Meter von den beiden Pferden entfernt, die zufrieden kauten.
 

Er drehte den Kopf zur Seite und stellte irritiert fest, dass sie bereits dabei waren, ihr Frühstück zu vertilgen. Jemand musste sie gefüttert haben, während er noch tief und fest geschlafen hatte. Verwirrt richtete er sich auf und rieb sich den verspannten Nacken, während er an sich hinunter sah. Seine Beine waren noch immer von einem dunklen Umhang bedeckt, als hätte er sich darin eingewickelt wie in eine Decke. Dabei konnte er sich noch nicht einmal daran erinnern, in der Nacht einen Mantel, geschweige denn einen Umhang mit nach draußen genommen zu haben.
 

„Guten Morgen, Admiral!“, unterbrach eine verstörend fröhliche Stimme seine noch immer vom Schlaf umnebelten Gedanken. Instinktiv riss er den Umhang bis zur Brust hoch und drehte den Oberkörper ein wenig zur Seite, um den Störenfried mit einem vernichtenden Blick zu strafen.
 

„Habt Ihr gut geschlafen?“
 

Jack Sparrow stand mit hochgekrempelten Ärmeln vor ihm und schleppte einen Eimer mit Wasser, den er offensichtlich soeben aus dem Brunnen geholt hatte. Als er James’ irritierten Gesichtsausdruck bemerkte, erklärte er grinsend: „Die Dame hat darum gebeten, sich ein wenig frisch machen zu dürfen, bevor wir weiterreisen. Ich hielt das für eine gute Idee.“
 

„Ich … muss eingeschlafen sein“, sagte James langsam und fasste sich an die Stirn, hinter der es gefährlich pochte. Verdammt! So etwas war ihm noch nie passiert.
 

Sparrow grinste, als könnte er seine Gedanken lesen. „Sieht ganz so aus. Allerdings solltet Ihr Euch keine Sorgen über Eure berufliche Qualifikation machen: Euer Schnarchkonzert hätte ein ganzes Schlachtschiff wach gehalten.“
 

James entging nicht, dass der Pirat allem Schlafmangel zum Trotz ungewöhnlich wach und heiter wirkte. Genau genommen hatte er seit seinem nächtlichen Auftritt in Port Royal nicht so gut ausgesehen, und James fragte sich, ob ihm diese Tour de force am Ende sogar Spaß machte. Der Gedanke war mehr als nur ein wenig beunruhigend und eine scharfe Entgegnung lag ihm bereits auf der Zunge, als ihm ein Gähnen die Kiefer auseinander zwang.
 

„Ihr solltet Euch wirklich noch für eine Weile hinlegen, Commodore. Reiten in übermüdetem Zustand kann äußerst gefährlich sein. Zumindest habe ich das gehört!“ Damit tippte er sich an die imaginäre Hutkrempe und trottete davon.
 

Stöhnend ließ sich James zurück auf die Erde sinken und starrte in den Morgenhimmel. Wenigstens hatten sie die Nacht ohne unangenehme Überraschungen überstanden, was wohl eher ihrem Glück als angemessener Vorsicht geschuldet war. Allerdings schien Sparrow seine Erschöpfung genutzt zu haben, um die Zügel fortan selbst in die Hand zu nehmen. Der Pirat verfügte über Kraftreserven, die er ihm niemals zugetraut hätte – was sich nun als Fehler erwies. Sparrows Unternehmungen waren dafür bekannt, mit beängstigender Präzision im Chaos zu enden. Ihre derzeitige Situation mochte den Eindruck erwecken, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, doch James wusste es besser. Wo ein Sparrow war, da war auch ein Weg; und der führte geradewegs ins Verderben.
 

Seine Gedanken kreisten noch für eine ganze Weile um ähnlich verworrene Wortspiele, bis er sich endlich eingestand, wovor er eigentlich solche Angst hatte. Paradoxerweise waren weder der vorgebliche Axtmörder, noch ihre gesichtslosen Verfolger für das merkwürdige Kribbeln in seiner Magengegend verantwortlich; es war der Umhang. Wollte er nicht annehmen, dass ein zufällig vorbeikommender Wahnsinniger plötzlich von mütterlichen Gefühlen übermannt worden war, so musste er wider besseren Wissens akzeptieren, dass Sparrow ihn zugedeckt hatte.
 

‚Verdammter Pirat!’, dachte er wütend und zog sich den Umhang über den Kopf. Als ob er hier, in der Karibik erfroren wäre!
 

*~*
 

James hätte die unheilvolle Lichtung am liebsten sofort verlassen, doch wiederum war es Jack Sparrow, der ihre Abreise verzögerte. Allerdings hatte er in diesem Fall einen ausgesprochen guten Grund. Die wenigen Stunden Schlaf schienen einen völlig neuen Mann aus ihm gemacht zu haben, und James machte noch nicht einmal den Versuch, ihm zu widersprechen, als er darauf bestand, die Spuren ihrer Anwesenheit so weit wie möglich zu verwischen.
 

Sie verbrachten beinahe zwei Stunden damit, die Überreste des Lagerfeuers zu verteilen und mit Erde zu überdecken. James zwang sich sogar, zurück in den Schuppen zu gehen und die Lumpen wieder auf einen Haufen zu werfen; auch wenn es sich dabei wohl um verlorene Liebesmüh handelte. Es war schließlich kaum anzunehmen, dass der Axtmörder das fehlende Heu oder gar das zerschossene Türschloss übersehen würde. Dennoch fühlte er sich einigermaßen beruhigt, als sie die Hütte verließen und den unwillig schnaubenden Tieren die Sättel auflegten. Vielleicht machte er sich ja nur selbst verrückt. Vorsicht war eine Sache, Verfolgungswahn eine völlig andere und noch dazu etwas, das sie sich in ihrer derzeitigen Situation nicht leisten konnten. Wenn sie sich auch nur die geringste Überlebenschance erhalten wollten, mussten sie einen kühlen Kopf bewahren und Hirngespinsten beizeiten einen Riegel vorschieben.
 

Entschlossen hob er zuerst Sheza in den Sattel und schwang sich dann selbst auf den Rücken seines Wallachs. Das Tier quittierte das Ende der Ruhepause mit einem unwilligen Schnauben und stampfte kurz auf, nahm sich jedoch glücklicherweise kein Beispiel an Jacks Stute, die friedlich grasend über die Lichtung ging, während ihr Reiter mit einem Fuß im Steigbügel neben ihr her hüpfte. Als auch diese Hürde gemeistert war und der Pirat mit gequälter Miene im Sattel saß, fühlte er eine kleine Last von sich abfallen. Nun gab es nichts anderes mehr zu tun, als die unheimliche Stätte so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.
 

Sparrow schien sein Verlangen jedoch keineswegs zu teilen. Anstatt seinem Pferd die Sporen zu geben, wandte er sich im Sattel um und sah ihn fragend an.
 

„Und nun?“
 

Zuerst verstand James nicht, was er meinte. Waren sie nicht darin übereingekommen, dass sie ihre Suche nach dem Jagddomizil des Gouverneurs fortsetzen wollten? Er wollte gerade danach fragen, als ihm das eigentliche Problem aufging. Die Lichtung war auf allen Seiten von Wald umgeben, lediglich der Pfad, auf dem sie gekommen waren schien vom Dschungel ausgespart worden zu sein. Ganz offensichtlich bildete er den einzigen Zugang zur Hütte. James’ Herz sacke nach unten und bewegte sich langsam auf seine Magengegend zu. Alles war umsonst gewesen! Das Haus des Gouverneurs war für sie unerreichbar geworden und er hatte keinen blassen Schimmer, wo sie sonst hingehen sollten – sofern sich diese Frage überhaupt noch stellte. War ihnen tatsächlich jemand gefolgt, so saßen sie nun da, wo dieser jemand sie zweifellos haben wollte: in der Falle. Er wollte diesen Sachverhalt gerade in einer angemessen pessimistischen Bemerkung zum Ausdruck bringen, als Sparrow plötzlich vom Pferd sprang und mit in die Seite gestemmten Armen am Ende des Pfades stehen blieb.
 

„Meint Ihr nicht, wir sollten so bald wie möglich umkehren und –“, begann er gequält, doch der Pirat brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. Für einen Augenblick erweckte er den Anschein eines Künstlers, der kurz vor der Vollendung seines Opus Magnum stand, dann ließ er sich schließlich dazu herab, James über seine Entdeckung in Kenntnis zu setzen.
 

„Findet Ihr es nicht merkwürdig, dass der Pfad genau hier endet? An einem Schlingpflanzengestrüpp?“
 

Sheza lehnte sich im Sattel vor, um besser sehen zu können; James tat es ihr gleich. Als er erkannte, was Sparrow meinte, war dieser bereits damit beschäftigt, die Ranken eine nach der anderen auf die Seite zu werfen. Der Durchgang war mitnichten zugewachsen – er war verdeckt worden, und zwar von Menschenhand. Der Eigentümer der Hütte hatte sich offenbar die Mühe gemacht, eine Vielzahl von Palmzweigen und Kletterpflanzen zu sammeln und so zu drapieren, als handle es sich um ein natürlich gewachsenes Gestrüpp. Trotz der beständig kräftiger werdenden Vormittagssonne wurde James von einem eisigen Hauch erfasst. Erst das Blut im Schuppen, und nun der versteckte Pfad. Man musste wahrlich kein Genie sein, um zu begreifen, dass der Dschungel ein Geheimnis barg, das besser ungelüftet blieb. Je mehr Sparrows Bemühungen enthüllten, desto größer wurde James’ Widerwille. Wohin dieser Pfad auch immer führen mochte, es war ganz sicher kein Ort, den er kennenlernen wollte.
 

„Danke für Eure tatkräftige Hilfe“, keuchte Sparrow schließlich und stützte sich schwer atmend auf den Oberschenkeln ab. Innerhalb kürzester Zeit war es ihm tatsächlich gelungen, einen Durchgang zu schaffen, der breit genug war, um von den Pferden passiert zu werden. Jenseits der Lichtung lag der Dschungel, dicht und düster, doch der Pfad war überraschend breit und schien gut ausgetreten. James schauderte.
 

„Ich glaube nicht, dass wir dort weiter reiten sollten.“
 

Sparrow richtete sich auf und sah ihn an. Sein Gesicht unter dem lächerlichen Kopftuch war schweißbedeckt, doch seine Augen schienen beinahe unnatürlich wach. ‚Irgendetwas stimmt nicht mit seinen Pupillen’, schoss es James durch den Kopf, doch er fand keine Zeit, noch länger darüber nachzudenken.
 

„Wir werden die Öffnung wieder zudecken“, sagte der Pirat nachdrücklich. „Und dann werden wir sehen, wo dieser Weg hinführt. Wenn wir nach einer Stunde das Gefühl haben, in die falsche Richtung zu reiten, werden wir umkehren. Klar soweit?“
 

„Gar nichts ist klar!“ James stand kurz davor, die blutigen Lumpen im Schuppen zu erwähnen, doch solange Sheza vor ihm im Sattel saß, brachte er es nicht über sich. „Nennt mich verschroben, doch irgendwie befürchte ich, dass dieser Pfad aus einem bestimmten Grund verdeckt wurde.“
 

„Nennt meine Phantasie überbordend, doch mein wertloses Piratenhirn hält es durchaus für möglich, dass diese Hütte –“, er wies auf die Lichtung, „einem armen Teufel gehört, der unerlaubterweise Jagd auf die wertvollen Schweine des Gouverneurs macht. Darüber hinaus sagt mir meine beträchtliche Erfahrung im kriminellen Gewerbe, dass er dabei nicht erwischt werden möchte. Entgegen anders lautender Gerüchte empfinden es die wenigstens von uns als anregend, nähere Bekanntschaft mit der Peitsche zu schließen.“
 

Sheza wandte sich zu James um und warf ihm einen fragenden Blick zu, doch Sparrows Ausdrucksweise kam auch für ihn einer Fremdsprache gleich. So runzelte er lediglich die Brauen und musterte den Piraten mit finsterer Miene.
 

„Ein Wilderer“, seufzte Sparrow schließlich. „Und was soll uns auf diesem Weg schon erwarten? Es dürfte kaum gefährlicher sein, als eine Rückkehr nach Port Royal.“
 

Damit war die Angelegenheit für ihn offenbar erledigt, denn er griff nach den Zügeln seines Pferdes und führte die Stute durch die Öffnung.
 

„Seht Ihr? Hier ist nichts Gefährliches!“, rief er triumphierend aus und James ertappte sich dabei, wie er die Luft anhielt. Beinahe erwartete er, die Stute würde im Treibsand versinken, während Sparrow von einer Fußfessel in die Baumkronen katapultiert wurde.
 

Nichts von alledem geschah.
 

Lediglich Sheza sorgte für eine Überraschung, indem sie ein Bein über den Hals des Pferdes schwang und zu Boden glitt. Binnen weniger Sekunden stand sie an Sparrows Seite und funkelte James herausfordernd an. Solcher Entschlossenheit hatte er nichts entgegenzusetzen. Begleitet von einem tiefen Seufzen stieg auch er ab und führte seinen Wallach ins Ungewisse.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von: abgemeldet
2009-05-22T18:06:06+00:00 22.05.2009 20:06
Hallo,
Eigentlich lese ich deine FF ja schon auf ff.de, aber den Kommentar gibt es nun trotzdem hier ;) (Wenn man schon mal hier ist ^-^)

Ich mag deine Geschichte sehr, sie ist sehr nachvollziehbar und wirklich sehr sehr gut geschrieben...Ich könnte mich jetzt sicher noch eine ganze Weile darüber auslassen, aber ich fürchte der Kommentar würde deiner FF auch dann nicht wirklich gerecht.

Ich freue mich auf jeden Fall, wenn es weiterhgeht/ich endlich wieder Zeit zum Weiterlesen finde!

Bis dahin:
Daumen hoch!!!

Soly
Von: abgemeldet
2009-05-20T09:30:04+00:00 20.05.2009 11:30
Wow, das Kapi war aber verdammt gut... Wenigstens hab ich Urlaub und Zeit deine FF endlich weiter zu lesen.

CU
Crunchyhearts



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