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Spezialeinheit A

von

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Prolog eins: Joe

Die USA. Irgendwo in einer orangebraunen Felswüste stand eine alte Ranch mit einem Stall. Auf der Veranda vor der Haustür war eine Hängematte angebracht. Hier lag ein Mann, grob geschätzt Mitte Vierzig, der aussah, als wenn er aus einem Western-Film käme: Er trug ein ausgewaschenes Hemd, das wohl einmal weiß gewesen war, dessen Farbe nun jedoch an einen verblichenen Ockerton erinnerte, außerdem eine ausgebeulte Hose aus Rindsleder, halbspitze Lederstiefel und einen knöchellangen Mantel, ebenfalls aus braunem Rindsleder. Er hatte seinen breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen, so dass man nur noch die Bartstoppeln sehen konnte, zwischen denen auch schon mal das eine oder andere graue Haar zu entdecken war. Doch dies störte ihn nicht, auch er konnte das Altern nicht aufhalten. Er machte sich sowieso nicht sehr viel aus Äußerlichkeiten und hatte auch nie verstanden, warum Frauen sich nur so über ihre Frisur aufregen können. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum seine Frau eines Tages nicht mehr da war, als er aufwachte, nur die kleine Tochter lag noch nebenan im Kinderzimmer und schlief fest und zufrieden.
 

Die Vergangenheit kümmerte ihn jedoch auch nicht, daher hatte er auch diesen Verlust schnell überwunden. Das einzige, was für ihn zählte, war die Gegenwart: das Hier und Jetzt, leben für den Moment und sich nicht um die Zukunft sorgen, das war schon immer seine Philosophie. Selbst als er im Kindesalter sein linkes Auge verlor, war das für ihn schon nach zwei Tagen nicht mehr so schlimm, seine Großmutter war jedoch selbst drei Monate später noch besorgt, dass er nie wieder so leben könne wie früher.
 

Die Haustür stand offen. Eine Windböe fuhr über die Veranda und klapperte am Fliegengitter. Von Drinnen hörte man ein merkwürdiges Geräusch, ein leises, unregelmäßiges ticken auf Holz. Der Mann auf der Veranda schien sich jedoch nicht dafür zu interessieren, vielleicht bekam er es auch gar nicht mit, weil er schlief. Doch dann wurde die Fliegentür aufgestoßen und ein weißes Huhn lief auf die Veranda hinaus, geradewegs auf die Hängematte zu. Es schien, als wenn das Huhn den Mann aufwecken wollte, es flatterte kräftig mit den kurzen Flügeln, um den Körper des Mannes zu erreichen, doch die Hängematte war zu hoch angebracht. Als das Huhn merkte, dass diese Taktik nicht funktionieren würde, fing es schließlich an, lauthals zu gackern. Davon wurde der Mann anscheinend wach, sein Kopf bewegte sich kurz und man hörte ein leises stöhnen. Dann hob er eine Hand und rieb sich das Auge, setzte den Hut wieder auf und wollte aufstehen. Doch anscheinend hatte er es sich anders überlegt. Als er das Huhn bemerkte, hielt er inne, warf ihm einen bösen Blick zu und schleuderte schließlich seinen Hut nach dem Vogel. Davon angestachelt, gackerte das Huhn noch lauter, beinahe hörte es sich wie ein schimpfen an. Der Mann legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch, bevor er das Huhn ein zweites Mal ansah, diesmal erwiderte es seinen Blick und fast konnte man eine gewisse Boshaftigkeit in den Blick des Tieres hineininterpretieren. Schließlich huschte ein Lächeln über die spröden Lippen des Mannes, er murmelte ein paar Worte und schnipste anschließend mit den Fingern.
 

Vom einen Augenblick auf den Anderen verwandelte sich das Huhn mitten auf der Veranda in einen jungen, hübschen Latino. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm in die Augen, die starr auf den Cowboy gerichtet waren. Hätten Blicke töten können, so wäre der Mann in der Hängematte bestimmt auf der Stelle tot umgefallen. Doch dieser kannte die Reaktion wahrscheinlich schon: Er sah nicht besonders beeindruckt aus und wartete darauf, dass der Italiener etwas sagte. Als wenn dies eine Einladung gewesen wäre, sagte der Italiener ziemlich gereizt: „Joe...! Wie oft habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass du mich nicht verwandeln sollst, wenn ich schlafe? Jedes Mal, wirklich jedes Mal tust du das, obwohl ich dir immer wieder sage...“ Hätte Joe ihn nicht unterbrochen, wäre seine Anschuldigung wahrscheinlich noch einige Zeit so wiedergegangen. Doch der Cowboy, immer noch so gelassen wie schon die ganze Zeit, entgegnete: „Ja, ja. ‚Jedes Mal sag ich dir, dass du mich nicht verwandeln sollst, und jedes Mal...’ bla, bla. Ich kann ja dein Temperament verstehen, aber du solltest dich wirklich mal hören: Du klingst wie eine Frau.“ Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wurde immer noch nicht freundlicher, die braunen Augen fixierten seinen Gesprächspartner immer noch hasserfüllt und die Lippen waren ganz schmal. Joe ergriff wieder das Wort.
 

„Gut. Hast du dich genug ausgelassen für den Moment? Dann bin ich jetzt dran, OK? Jedes Mal machst du dieses Theater und jedes Mal sag ich dir, dass es nicht ganz einfach ist, ruhig zu schlafen, wenn man einen unberechenbaren Profikiller im Haus hat. Kannst du das verstehen?“ Der junge Mann sah nicht sehr kompromissbereit aus.
 

„Drei verdammte Jahre wohn ich jetzt schon hier, und du willst mir sagen, dass du immer noch kein Vertrauen in mich hast?“
 

„Du bist egoistisch, gierig und siehst nicht ein, dass auch mal andere als du Recht haben können. Irgendwie lässt mich das zweifeln...“ Joe grinste, doch sein Gesprächspartner blieb immer noch wie versteinert.
 

„Ach, du kannst mich mal!“ brach es plötzlich aus ihm heraus. Wie ein zickiges Mädchen, das einen Streit verloren hatte, stürmte er hinaus zum Stall. Joe schüttelte nur den Kopf. Die Einstellung werde ich wohl nie verstehen können... dachte er. Plötzlich wurde die Stille der Wüste durch einen heulenden Motor gebrochen, der junge Latino brauste auf einem roten Kawasaki-Motorrad aus dem Stall und den unbefestigten roten Schotterweg in die Weiten der Wüste hinaus. Hinter ihm baute sich eine lange, braunrote Staubwolke auf. Hoffentlich achtet er diesmal auf sein Benzin... Schließlich musste ich ihn letztes Mal schon abschleppen. Dann legte sich Joe in die Hängematte, zog seinen Hut tief ins Gesicht und schlief wieder ein.
 


 


 

Das nächste Mal wurde er nicht von dem jungen Latino geweckt, sondern von einer jungen, bildhübschen Frau. Sie trug ein leichtes Sommerkleid in weiß mit einem eingestickten Blütenmuster. Eine Windböe spielte mit ihren langen, blonden Haaren und sie zauberte ein beinahe engelhaftes Lächeln auf ihre Lippen.

„Hast du geschlafen? Oh, tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich dachte, du hättest es auch gehört...“

Joe wusste nicht, wovon sie sprach, aber wenn er einmal richtig schlief, dann schlief er. Und wenn man Pech hatte, konnte man das auch nicht ändern. Ein wenig verwirrt richtete er sich in der Hängematte auf und schüttelte den Kopf.

„Wovon sprichst du? Ich hab nichts gehört. Aber das ist ja auch nicht sehr verwunderlich...“ Er lächelte das Mädchen an.

„Ich hab gerade ein wenig gelesen. Na ja, und dann hab ich auf einmal dieses merkwürdige Geräusch gehört... Als wenn ein... riesiges Pferd oder so etwas angeritten käme.“

„Ein Pferd?“ Joe schüttelte ungläubig den Kopf. „Das einzige Pferd hier ist Betty und die steht drüben im Stall. Selbst wenn hier jemand langgeritten wäre, müsste man den Reiter noch lange sehen.“ Langsam erhob er sich und ging von der Verandatreppe hinunter auf die Straße. Dann sah er sich um; erst in die Richtung der Straße, in die der junge Mann mit seinem Motorrad verschwunden war, dann in die andere. Doch nirgends war eine Spur eines Reiters zu erkennen. Schließlich sah Joe zu Boden, um nach Spuren zu suchen. Im roten Sand waren einige Hufabdrucke zu erkennen. Verwundert ging er in die Hocke und sah sich die Spuren genauer an: Es waren eindeutig Hufe, doch für ein normales Pferd viel zu groß. Außerdem waren die Abdrucke sehr tief im Sand, was bedeuten musste, dass das Pferd sehr viel Gewicht hatte, ob nun Eigengewicht oder Gepäck oder eventuell sogar eine Panzerung, konnte er jedoch nicht fest stellen.

Jetzt kam auch die junge Frau von der Veranda herunter zur Straße. Sie blieb hinter Joe stehen und beugte sich ein Stück hinunter, um besser sehen zu können. Er betrachtete die Abrucke noch eine Zeit lang, dann schaute er zu ihr hoch.

„Du hattest Recht, es war wirklich ein Pferd. Aber ein sehr großes.“ Er nahm seinen Kopf ein Stück zurück, damit sie die Abdrucke sehen konnte. Als sie die enorme Größe der Hufe erblickte, zog sie ungläubig die Augenbrauen hoch.

„So eine riesige Pferderasse kenne ich gar nicht. Selbst Shire Horses haben Kinderfüße dagegen... Und sieh mal, die Hufeisen müssen auch schon ganz abgenutzt gewesen sein.“

Joe beugte sich noch einmal sehr nah über die merkwürdigen Abdrücke. Jetzt erkannte auch er es: Entweder waren die Hufeisen schon sehr abgenutzt, oder sie hatten ein bestimmtes Muster eingraviert. Ohne den Abdruck zu beschädigen, suchte er einen weiteren auf. Jetzt konnte man es besser erkennen: In das Metall waren wirklich Zeichen eingraviert! Doch auf dem sandigen Untergrund konnte man kaum noch Details erkennen. Joe vermutete, dass es Zeichen der Hohen Sprache waren, diese wurde jedoch nur in den zwei anderen Welten gesprochen. Mit der rechten Hand fuhr er sich durch die Bartstoppeln. Was hat das nur zu bedeuten? Warum waren sie hier? Und warum sind sie einfach so wieder verschwunden? So viele Fragen kamen auf einmal in Joes Kopf auf, und auf keine konnte er sich eine Antwort machen. Noch immer voll und ganz in Gedanken, stand er auf und ging langsam wieder zur Veranda zurück. Auf diesen Vorfall musste er erst mal einen Whiskey trinken. Also ging er ins Innere des Hauses, durch einen kleinen Flur in eine einfach eingerichtete Küche. Aus einem kleinen, sehr alt aussehenden Kühlschank nahm er eine halbvolle Flasche mit abgerissenem Etikett heraus, holte sich ein Glas und schenkte sich ein. Schließlich nahm er noch ein paar Eiswürfel aus dem Gefrierfach des Kühlschranks und setzte sich an den einfachen Holztisch, der in der Mitte des Raumes stand. Gedankenverloren nippte er an seinem Getränk, doch plötzlich riss ihn etwas aus den Gedanken.

„Hey, Joe! Ich glaub, ich hab was gefunden!“ Das Mädchen kam in die Küche gerannt. In ihren Händen hielt sie einen großen Umschlag aus einem pergamentartigen Material, das jedoch eher an Reptilien- als an Säugetierhaut erinnerte. Auf dem Umschlag stand weder eine Adresse noch ein Absender, das einzige Merkmal, das dieser eigenartige Umschlag aufwies, war ein großes Siegel aus schwarzen Wachs.

„Das lag auf der Veranda. Du musst es wohl übersehen haben, als du reingegangen bist.“ Joe sah sie irritiert an.

„.... Danke.“ sagte er nur leise und nahm den Umschlag entgegen. Er drehte ihn ein paar mal und begutachtete das merkwürdige Material, schließlich wandte er sich dem Siegel zu. Es war aus pechschwarzem Wachs und wies auffällig viele Details und Feinheiten auf. Es schien, als könnte man sich stundenlang allein an den kunstvollen Schnörkeln des Siegels satt sehen. Doch Joe hatte anscheinend kein Interesse an den Verzierungen, ihn schienen eher die verschnörkelten, schwer lesbaren und ringförmig am Rand des Siegels angeordneten Buchstaben zu interessieren. Er zog die Brauen zusammen und hielt den Umschlag dicht vor seine Augen, als wenn jede Serife und jeder Schnörkel an den Buchstaben höchst wichtig wäre. Man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

Die junge Frau stand noch immer im Raum und sah Joe besorgt zu, wie er den Umschlag begutachtete. Sie war zwar sehr gespannt, was dieses merkwürdige Kuvert wohl beinhaltete, aber gleichzeitig machte sich in ihr ein ungutes Gefühl breit, als wenn dieser Umschlag nur Unheil über sie bringen würde. Sie hätte Joe gerne gefragt, was auf dem Siegel geschrieben war, denn sie konnte die merkwürdigen Buchstaben weder lesen noch irgendeiner ihr bekannten Sprache oder Schrift zuordnen. Im Gegensatz zu ihr schien ihr Vater diese mysteriöse Sprache zu erkennen oder sogar zu verstehen, doch traute sie sich nicht, ihn anzusprechen, da er anscheinend tief in Gedanken war und sie ihn lieber nicht stören wollte, da es sehr den Anschein hatte, als wenn dieser Umschlag wichtige Informationen enthielt.

Joe selbst brach schließlich die angespannte Stille. Er schaute zu der Frau hinauf und ließ sich einen Moment Zeit, bevor er etwas sagte, vielleicht suchte er auch nur die richtigen Worte, um seine Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen.

„Ich kann es auch nicht richtig lesen, es ist schon sehr lang her, dass ich die Hohe Sprache lernte...“ Die Mimik der jungen Frau brachte ihre innere Gespanntheit und Furcht glasklar zum Ausdruck, tausende Gedanken kreisten in ihrem Kopf nur um das eine: Muss er von hier weg? Wird er mich ganz allein hier in der Wüste zurücklassen? Doch sie sagte nicht das, was sie dachte.

„Und wenn der Brief auch in dieser ‚Hohen Sprache’ geschrieben ist, und du ihn nicht lesen kannst? Ist es denn wichtig?“ Den letzten Satz hätte sie sich auch selbst beantworten können: Sie wusste zwar nicht, wo diese „Hohe Sprache“ gesprochen wurde, doch wenn der Umschlag schon aus Pergament und mit einem großen Siegel verschlossen war, konnte es nur wichtig sein. Die Angst, auch noch ihren Vater zu verlieren, trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen.

„Ich war noch nicht fertig, keine Angst.“ Joe sah, dass sie mit ihren Gefühlen kämpfte und lächelte sie an, dann sprach er weiter: „Der Brief trägt das Siegel der wichtigsten Regierungsbehörde der drei Welten.“

Die junge Frau wusste zwar weder, was die drei Welten waren noch wo diese Behörde war, schon allein das Wort „wichtig“ ließ den Damm brechen und eine dicke Träne kullerte über ihre ebenmäßig glatte Wange. Sofort stand Joe auf und schloss sie in seine Arme. Das Mädchen wehrte sich weder, noch erwiderte sie die Umarmung ihres Vaters. In diesem Moment wusste sie selbst nicht, ob sie ihn hassen oder lieben sollte.

„Du musst weg... oder?“ schluchzte sie vorwurfsvoll und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Jetzt ließ sie die Tränen einfach laufen, auf einmal war es ihr vollkommen egal, dass sie weinte.

Joe strich über ihre Haare und fast hätte auch er eine Träne herausgelassen. Doch er konnte sich besser beherrschen.

„Ariane... Du bist doch ein großes Mädchen geworden, nicht wahr? Und Miguel ist auch noch da...“ Er wusste selbst, das Miguel diesbezüglich keine große Hilfe war. Der Mexikaner sah zwar blendend aus und war deswegen auch äußerst beliebt beim anderen Geschlecht, doch mit Frauen umgehen konnte er noch weniger als Joe. Er strich seiner Tochter noch einmal zärtlich übers Haupt und holte dann ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche mit dem er ihr vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht wischte. Er sah ihr in die Augen und konnte tiefe Trauer und Verzweiflung erkennen.

„Komm, setz dich hin. Ich hab den Umschlag ja noch gar nicht geöffnet und du fängst schon an, um mich zu trauern.“ Er lächelte sie an, doch Arianes Gesichtsausdruck blieb unverändert. Sie setzte sich an den Küchentisch und klammerte sich am Taschentuch fest, das sie vor ihrer Brust hielt. Joe setzte sich auch und öffnete vorsichtig den großen Umschlag, sehr bedacht darauf, das Siegel nicht allzu sehr zu beschädigen.

In dem Umschlag steckte ein großer Bogen aus dem selben, pergamentartigen Material, der in der Mitte einmal gefaltet war, damit er auch in das Kuvert passte. Joe zog das Papier vorsichtig heraus und faltete es auf. Es schien, als wäre das Dokument ein formeller Brief, doch komplett in den merkwürdigen Schriftzeichen der Hohen Sprache verfasst. Jemand hatte diesen Brief von Hand und mit einer glänzenden schwarzen Tinte geschrieben, die Joe irgendwie an schwarzes Blut erinnerte, obwohl sie überhaupt nicht danach aussah. Trotz dass der Brief handgeschrieben war, hatte er eine regelmäßige und akkurate Struktur, wie sie wohl nur eine Maschine zustande brachte. Nirgends war ein Rand überschritten, überall zwischen den Wörtern und Buchstaben der gleiche Abstand und alle Zeichen waren unheimlich sauber und klar lesbar geschrieben.

Joes Befürchtungen, die Hohe Sprache nicht mehr beherrschen zu können, bestätigten sich glücklicherweise nicht. Er musste zwar ein paar mal Inne halten, weil er sich die Bedeutung einiger Zeichen erst einmal wieder ins Gedächtnis zurückrufen musste, doch verstand er den Inhalt des Briefes ohne Probleme. Ariane neben ihm hatte inzwischen aufgehört zu weinen, zu ihrer Trauer und Verzweiflung war jetzt auch unheimliche Neugier gekommen.

Schließlich sah Joe von dem Schriftstück auf und seiner Tochter in die Augen. Er überlegte kurz, wie er die Botschaft am besten ausdrücken konnte, damit sie auch nichts falsch verstand. Dann sagte er:

„Es wird nicht für immer sein.“
 

Schon allein dieser Satz war genug für Ariane. Einerseits war sie glücklich darüber, dass sie ihren Vater wiedersehen würde, doch die Trauer über den nahenden Abschied auf ungewisse Zeit überwog deutlich. Diesmal konnte sie sich beherrschen und hielt ihre Tränen zurück.
 

„Wann musst du gehen?“ Längere Sätze konnte sie auf einmal nicht mehr hervorbringen. Trauer und Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu.
 

„Ein genaues Datum steht dort nicht, aber ich würde sagen, so bald wie möglich. Es tut mir leid...“
 

Das war keine Lüge. Auch Joe musste sich zusammenreißen, um nicht doch ein paar Tränen zu vergießen. Er hasste solche Momente, in denen man nicht wusste, was man jetzt am besten sagen sollte, um sie nicht zu verletzen.
 

Ein Motorengeräusch zerriss die quälende Stille. Das Heulen des Motorrades wurde immer lauter, bis es schließlich verstummte. Ariane stand auf und ging schnellen Schrittes aus der Küche hinaus und in den ersten Stock des Hauses, wo sich ihr Zimmer befand. Sie hatte in ihrem Zustand wirklich keine Lust, auch noch Miguel zu begegnen. Eigentlich kam sie gut mit ihm zurecht, aber er sollte sie nicht völlig verheult zu Gesicht bekommen.
 

Joe faltete den Brief wieder zusammen und knickte ihn noch einmal, damit er in seine Hosentasche passte. Dann steckte er ihn in eben diese und ging langsam und in Gedanken versunken wieder auf die Veranda und legte sich in die Hängematte. Inzwischen war es draußen am Dämmern. Er zog seinen Hut ein Stück weit ins Gesicht und wollte gerade die Augen schließen, da hörte er Miguels Schritte.
 

„Sag mal, pennst du immer noch?“ rief der Latino ihm zu. Es schien, als habe er den Streit von vorhin gänzlich vergessen und lief mit einem breiten Grinsen auf den Lippen auf die Veranda. Vor der Hängematte kam er – zu Joes Überraschung – zum stehen und wartete gespannt, dass der Cowboy sich aufrichtete. Joe schob schließlich den Hut aus dem Gesicht, sodass er Miguel von unten ansehen konnte. Jegliche Anstalten, sich in der Hängematte aufzurichten, machte er jedoch nicht.
 

„Was ist los?“ fragte Joe. „Du siehst irgendwie zu glücklich aus. Soll ich mir Sorgen machen oder hast du Drogen genommen?“
 

Miguel lachte. „Wo ist Ariane? Ich hab was für sie mitgebracht.“ Er knetete nervös seine Finger und wippte leicht hin und her.
 

Die Frage war ein Grund für Joe, wieder aufzustehen. Seine Tochter wollte bestimmt nicht, dass sie Miguel so sieht. Also richtete er sich in seiner Hängematte auf und sah dem vor Freude zappelig gewordenen Italiener in die Augen.
 

„Ich glaube, du solltest es ihr morgen geben. Sie ist in ihrem Zimmer und versucht, ihren Kummer in den Griff zu bekommen.“ Aber wehe, du gehst hoch zu ihr...
 

In Miguels Gesicht machte sich Verwunderung breit. „Warum? Was ist los mit ihr? Was ist passiert?“
 

Joe wusste, dass diese Frage kommen würde. „Warte hier. Ich hol mir nur schnell was zu trinken.“ Er stand aus der Hängematte auf und ging in die Küche. Miguel wusste, dass es schon etwas sehr ernstes sein musste, wenn Joe sich noch „schnell was zu trinken“ holen musste.
 

In der Küche ging Joe als erstes instinktiv zum Kühlschrank, doch dann sah er sein Glas mit Whiskey, dass er sich vorhin schon geholt hatte. Er nippte kurz an dem Getränk, zog eine Grimasse und tat noch ein paar Eiswürfel in das Glas. Dann ging er wieder auf die Veranda zurück. Er hatte überhaupt keinen Plan, wie er Miguel das alles erklären sollte.
 

Draußen saß der Latino auf den Stufen der Veranda und schaute starr in die Wüste. Joe setzte sich zu ihm und stellte sein Glas beiseite, nachdem er einen großen Schluck genommen hatte.
 

„Du kennst die Geschichte mit meiner Frau, nicht wahr? Wie ich vor 7 Jahren einfach morgens aufwachte, und das Bett leer war? Ich habe es dir bestimmt schon erzählt.“ Miguel nickte nur und sah weiter in die schier unendliche Weite der Wüste im Dämmerlicht hinaus.
 

„Ariane war damals zwar noch sehr jung – ich bezweifle, dass sie es damals wirklich mitbekommen hat – aber ich war und bin auch jetzt nicht in der Lage, ihre Mutter zu ersetzen. Ich habe ja selbst jetzt noch Probleme, allein ein guter Vater zu sein.“ Joe atmete tief durch und nahm noch einen Schluck Whiskey. „Na ja, und heute ist ein Brief gekommen. Ein sehr spezieller Brief. Habe ich dir von den drei Welten erzählt?“ Er wartete die Antwort nicht ab. „Es gibt nicht nur diese Welt mit uns Menschen... Sondern noch zwei Parallelwelten. Du musst es mir nicht unbedingt glauben, es ist sehr schwer für Außenstehende, das zu verstehen. Auf jeden Fall habe ich von einer Behörde aus einer der Parallelwelten heute einen Brief erhalten. Es reicht vollkommen, wenn du dir vorstellen kannst, das er von ‚weit weg’ kommt... Woher genau ist nicht wichtig für dich.“ Joe hoffte, dass der Latino ihm auch glauben würde.
 

„Ich muss weg. Dorthin, in diese Parallelwelt, so schnell wie möglich und auf unbestimmte Zeit. Ich habe Ariane zwar gesagt, dass ich wiederkommen werde, doch jetzt bin ich mir selbst nicht mehr sicher. Sie ist deswegen ziemlich aufgelöst gewesen. Ich kann das gut verstehen, auch für mich war es bis jetzt nicht immer einfach ohne ihre Mutter. Und nun geht auch noch ihr Vater weg...
 

Miguel? Ich möchte von dir, dass du auf meine Kleine aufpasst, solange ich weg bin. Ich bin mir sicher, dass sie dich nicht so hasst, wie sie immer vorgibt... Frauen halt.“ Er lächelte kurz, bevor er weitersprach. „Glaubst du, dass du das schafft? Ich kann mir gut vorstellen, dass es durchaus mehrere Jahre werden können...“
 

„Was hast du denn da so wichtiges zu erledigen? Mehrere Jahre...“ Miguel konnte es kaum fassen. Einfach so, von heute auf morgen, ohne jede Vorwarnung musste Joe einfach so weg von hier. „Hast du vielleicht was verbrochen oder so? Ganz unschuldig siehst du ja auch nicht aus...“ Der Witz ging voll daneben. Joe war in diesem Moment überhaupt nicht nach scherzen zu mute.
 

„Kannst du was für dich behalten?“
 

„Natürlich!“ antwortete Miguel mit entrüstetem Unterton. „Ich war fast mein ganzes Leben lang bei der Mafia, da muss man dichthalten, wenn man sich die Radieschen nicht von unten angucken will!“
 

„Also gut. Ich verlange nicht von dir, dass du mir das glaubst, aber ich bin bei so was wie einer... Elitekampfeinheit, um es mit deinen Worten auszudrücken. Ist aber alles streng geheim, selbst ich weiß nichts von den anderen Mitgliedern... Noch nicht einmal, was ich machen muss. Aber ich bin mir sicher, dass es nur eine Übung ist...“
 

Jetzt richtete sich Miguels Blick zum ersten Mal in diesem Gespräch direkt auf den Cowboy neben ihm, der gerade einen großen Schluck Whiskey nahm. Man konnte die Überraschung, die dem Italiener förmlich ins Gesicht geschrieben stand, deutlich sehen.
 

„Du willst ein Elitekämpfer sein? Ok, das würde die Sache mit dem Huhn erklären, aber du bist doch gar nicht trainiert! Solche Leute müssen Ausdauer ohne Ende und blitzschnelle Reflexe besitzen... Und bei dir hab ich so was bis jetzt noch nicht bemerkt... Und womit willst du überhaupt kämpfen? Du kannst doch gar nicht mit Waffen umgehen!“
 

Joe grinste nur. „Glaubst du, dass du alles über mich weißt? Ganz bestimmt nicht. Aber ich kann dich trösten: Ariane weiß genauso wenig wie du. Und jetzt sogar noch weniger. Nur wehe, wenn du ihr oder irgendwem anders das erzählst!“
 

„Du hast mein Versprechen. Ich werde auf sie aufpassen, wie auf meinen Augapfel, das kannst du mir glauben!“
 

„Gut.“ Entgegnete Joe nur. „Dann packe ich jetzt meine Sachen. Vor Sonnenaufgang werde ich dann losreiten.“
 

„Moment. Du willst reiten? Du hast doch eben selbst gesagt, wie weit weg das ist! Und dann mit dem alten Gaul... Mit dem kommst du doch nicht mal bis zu nächsten Stadt! Von mir aus kannst du gerne meine Kawasaki nehmen, damit bist du auf jeden Fall um einiges schneller.“
 

„Gewöhn dir lieber ab, alle Dinge nach ihrem Aussehen zu beurteilen. In mir hast du schließlich auch keinen Elitekämpfer vermutet. Und selbst vollgetankt würde mich dein Motorrad auch nicht annähernd so weit bringen wie Betty. Danke für dein Angebot, aber ich weiß schon, was ich tue.“
 

Mit diesen Worten stand Joe auf, nahm sein Whiskeyglas und ging ins Haus. Miguel war auf einmal wieder vollkommen fassungslos. Elitekämpfer, Parallelwelten, reiten... Also entweder ist er total abgedreht oder hier läuft eine gigantische Verschwörung... Er legte sich vor die Veranda in den Staub der Felswüste. Inzwischen war es Nacht geworden und viele Sterne standen am Himmel. Schon seit er ein kleines Kind war, hatten Miguel die Sterne immer fasziniert. Streng katholisch erzogen hatte er früher immer geglaubt, dass die Sterne die Lichter in den Häusern der Engel wären, und der Mond wäre das Licht von Gottes Haus. Später hatte er diesen Glauben natürlich verworfen, da ihm in der Schule von der Astronomie erzählt wurde. Auch seinen Glauben an Gott und die Engel gab Miguel irgendwann auf. Das einzige, an das man als Profikiller glauben sollte, waren die Kontoauszüge. Doch auf einmal war er sich nicht mehr ganz so sicher, ob man ihm wirklich das richtige erzählt hatte. So viele Gedanken und Möglichkeiten kreisten in seinem Kopf, dass ihm schwindelig wurde. Miguel schloss die Augen, und schon bald kam der Schlaf über ihn.
 

Joe stand derweil in seinem Schlafzimmer im ersten Stock und überlegte vor dem offenen Schrank, was er am besten mitnehmen sollte. Zu viel Gepäck würde hinderlich werden, das wusste er. Doch was könnte man entbehren? Schließlich nahm er ein weiteres Hemd, eine Hose und etwas Unterwäsche zum Wechseln aus dem Schrank und packte die Sachen in einen Schultersack, wie man ihn bei Seefahrern oft sieht. Dann schnürte er den Sack locker zu und verließ mit ihm über der Schulter den Raum. Vor Arianes Zimmer hielt er kurz inne um zu horchen, ob sie auch wirklich schlief. Als er kein Geräusch hören konnte, ging er schließlich die Holztreppe hinunter und in die Küche. Joe nahm aus einem Schrank einen kleinen Kochtopf und eine Pfanne mit abschraubbarem Stiel und tat die Sachen ebenfalls in den Sack. Auf dem Küchentisch lagen neben dem Pergamentumschlag noch ein paar Zettel und ein Stift.
 

Nach kurzem Überlegen nahm Joe einen Zettel und den Stift und schrieb:
 


 

Mein Schatz,
 

Bitte vermiss mich nicht zu sehr,
 

ich werde zurückkommen.
 

Miguel habe ich gesagt, er soll auf dich aufpassen,
 

mach es ihm nicht allzu schwer.
 


 

Joe.
 


 

Er war noch nie ein Mann großer Worte gewesen, für ihn zählten nur die Taten. Ein letztes Mal verließ Joe die Küche und ging hinaus auf die Veranda. Dort sah er Miguel im Staub liegen und schlafen. Er wollte ihn nicht aufwecken und versuchte deswegen, so leise wie möglich zu sein. Ohne ein Geräusch zu machen, schlich Joe zum Stall und öffnete vorsichtig die morsche Holztür.
 

Im Stall stand neben dem Motorrad und dem Schimmel Betty noch ein paar große Stroh- und Heuballen und einige Holzkisten. An der Wand hingen auf rostigen Nägeln aufgehängt ein Halfter, Zügel und ein alter Sattel. Daneben standen eine Heugabel, eine Harke und eine rostige Sense and die Wand gelehnt. Zu erst ging Joe zu den Holzkisten und öffnete eine, die ganz unten stand. Er nahm ein merkwürdiges, langes Eisenwerkzeug aus der Kiste und legte es in den Sand, der den Boden der Scheune bedeckte. Dann holte er noch einen grauen Stoffbeutel aus der Kiste und öffnete den Knoten. Zum Vorschein kam ein Gürtel mit zwei Waffenholstern. Joe legte sich den Gürtel an und nahm schließlich noch zwei kunstvoll gefertigte, schwere Trommelrevolver mit polierten Holzgriffen aus dem Beutel, der nun leer war. Er klappte kurz die Trommeln auf, um sich zu vergewissern, dass sich auch keine Insekten oder Staub darin befanden. Die Revolver waren beide ohne Patronen und Joe machte auch keine Anstalten, sich welche einzustecken Er tat die Revolver in die Holster verschloss die Kiste. Dann nahm er den Sattel von der Wand und ging zu seinem Pferd, das vor einem Heuhaufen stand und genüsslich kaute.
 

„Tja Betty, jetzt ist’s aus mit dem süßen Leben.“ flüsterte Joe dem Pferd ins Ohr und sattelte es. Dann nahm er noch den Halfter und die Zügel von der Wand und legte sie der Stute an, die diese Prozedur einfach über sich ergehen ließ. Anschließend nahm Joe das merkwürdige Werkzeug, das er aus der Kiste geholt hatte und band es am Sattel fest. Er schulterte seinen Sack mit den Wechselsachen und dem Kochgeschirr und stieg auf das Pferd.
 

Betty und Joe waren ein eingespieltes Team: Schon die kleinste Bewegung reichte aus, damit Betty das richtige tat. So ritten die beiden aus dem Stall hinaus. Vor dem alten Haus hielt Joe an. Miguel lag noch immer im Staub und schlief. Wehmütig atmete Joe tief durch und formte schließlich mit dem Fingern eine abstrakte Figur und schloss die Augen.
 

Auf einmal begann die Luft vor den beiden zu flirren, obwohl es angenehm kühl war. Joe öffnete die Augen nicht, und auch Betty schien nicht sehr beeindruckt, sie kannte diese Prozedur anscheinend schon. Langsam hob Joe den Kopf und öffnete schließlich die Augen und löste auch seine Fingerhaltung wieder. Mit einem leichten Druck in die Seiten des Pferdes setzte Betty sich in Bewegung und lief geradewegs auf die noch immer seltsam flirrende Luft zu. In dem Augenblick, in dem sie in diese Spiegelung hineintrat, verschwanden sowohl Ross als auch Reiter.

Prolog zwei: Kyeran

Kyeran wurde vom Lärm der vielen Marktstandbetreiber geweckt, die wie jeden Tag ihr Glück auf dem allseits beleibten und bekannten Delikatessenmarkt der Hauptstadt der Dämonenwelt versuchten und nun anfingen, ihre Stände aufzubauen. Ist denn schon wieder Morgen? Es war zwar letzte Nacht wieder reichlich spät geworden, doch irgendwie war Kyeran auch dankbar, dass er so früh geweckt wurde, denn nur wer schnell war, konnte einen der beliebten Jobs auf dem Markt bei den wohlhabenderen Händlern der Gegend ergattern. Kyeran blinzelte und drehte sich schwerfällig auf die Seite, damit er aus dem Fenster neben seinem Bett sehen konnte. Anschließend schätzte er, dass wenn er sich beeilen würde sein heutiger Lohn durchaus noch für ein Essen mit einer hübschen Frau reichen würde, denn wie die meisten Bewohner des Marktviertels war auch er immer auf eine neue Nummer in seinem Adressbuch aus. Zwar gefiel ihm der Gedanke nicht, gleich aus seinem gemütlichen Bett hinauszumüssen, doch heute Abend würde er diese Entscheidung ganz sicher nicht mehr bereuen.
 

Kyeran schloss noch einmal die Augen und streckte sich, sodass er unbewusst seine riesigen, schwarzen Schwingen zeigte, die zwischen seinen Schulterblättern aus dem Rücken wuchsen. Anschließend atmete er tief durch, schwang sich elegant aus dem Bett und ging ins Bad. Vor dem Spiegel brachte Kyeran seine strubbeligen, schwarzen Haare ein wenig unter Kontrolle, die ihm mittlerweile schon in den Augen hingen. Solange die Frauen drauf stehn, kann ich mir den Frisör auch sparen...
 

Was hatte er eigentlich letzte Nacht getrieben? Beim besten Willen konnte er es sich nicht ins Gedächtnis zurückrufen. Hab wohl wieder zu viel getrunken... Na ja egal. Solange man jung ist, sollte man das Leben genießen.
 

In Gedanken schon bei der Planung für den heutigen Abend, ging Kyeran vom Badezimmer in die Kleine Wohnküche. Seine Wohnung war zwar nicht sehr groß, aber dennoch gemütlich eingerichtet und mitten im Marktviertel, dem Paradies für Nachtschwärmer und Gelegenheitsarbeiter in der Hauptstadt. Vor dem Kühlschrank blieb Kyeran stehen. Sollte er nun wirklich noch Frühstücken? Das würde wertvolle Zeit kosten, und am Ende wäre eventuell nur noch einer der schlecht bezahlten Stellen übrig für ihn. Lieber nicht... Ein Kaffe wird auch reichen. Also ging er zum Schrank, holte den Kaffe heraus und tat ihn in die Maschine. Dann füllte Kyeran noch ein wenig Wasser hinein und startete schließlich den Brühvorgang.
 

Auf einmal fiel ihm auf, dass er nur mit einer Unterhose bekleidet war, die er gestern ausnahmsweise nicht vor den schlafen gehen abgelegt hatte. Wäre vielleicht besser, wenn ich mir noch was ordentliches anziehen würde, bevor ich da rausgehe. Vor dem offenen Kleiderschrank hielt er kurz inne um zum überlegen. Lieber was bequemes... Könnte noch anstrengend heute werden mit dem Kater... Also nahm Kyeran eine weite Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt aus dem Schrank und zog sie sich an. Kaum hatte er die Jeans zugeknöpft, gab auch schon die Kaffeemaschine aus der Küche ein Signal, dass sie fertig war. Kyeran ging wieder zurück in die Küche, nahm sich eine große Tasse aus dem Schrank, goss den frisch gebrühtren Kaffee hinein und setzte sich an den Tisch. Ah, was wäre die Welt nur ohne Kaffee... dachte er und nahm einen großen Schluck. Die Hitze seines Getränks machte Kyeran überhaupt nichts aus, er trank heiße Getränke schon als Kind viel lieber als Saft oder Wasser.
 

Ganz unverhofft hatte Kyeran auf einmal eine Art Gedankenblitz, einen plötzlichen Drang, unbedingt zur Tür gehen zu müssen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er, der für angebliche Medien und Hellseher bislang immer nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Kyeran stand auf einmal wie verzaubert auf und ging zur Wohnungstür. Doch dort fasste er sich wieder und hielt Inne. Sag mal was mache ich hier eigentlich?
 

Kyeran war, entgegen den meisten jungen Dämonen, nie wirklich von Magie fasziniert gewesen. In der Schule war der magieverbundene Unterricht immer nur nötige Pflicht für ihn, vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er ganz offensichtlich kein Talent für Magie hatte. Sein MFQ war deutlich unter dem Durchschnitt und auch Kyeran Interesse und Neugier bezüglich den magischen Künsten war nie erwähnenswert, doch trotz alledem war dieser unterbewusste Drang, die Tür zu öffnen, weitaus stärker als die Vernunft. Kyeran atmete noch einmal tief durch – irgendwie hatte er das Gefühl, etwas Wichtiges würde ihn hinter dieser Tür erwarten – und drückte schließlich die Klinke hinunter.
 


 


 

Was Kyeran vor seiner Wohnungstür erblickte, war wirklich nicht, was er sich vorgestellt hatte. Beinahe den gesamten Türrahmen ausfüllend, stand dort eine vollkommen in Rüstung und Tücher gehüllte Gestalt, ein Soldat der Dunklen Garde, der wohl geheimsten und grausamsten Kampfeinheit der drei Reiche.
 

Kyerans Blick wanderte als erstes zum Gesicht des Gardisten. Man konnte nur erahnen, was sich hinter der schwarzen Kapuze aus Stofffetzen befand, denn wie durch einen Zauber konnte man selbst bei Tageslicht das Gesicht dieses Wesens nicht erkennen. Der gesamte restliche Körper des Gardistens war vollkommen in einer Rüstung versteckt, wie Kyeran sie noch nie gesehen hatte: Das Metall, aus dem die Rüstung bestand, sah unglaublich robust und unzerstörbar aus, doch gleichzeitig wirkte es auch äußerst leicht, dynamisch und filigran. Die einzelnen Teile waren perfekt zusammengefügt, jeder einzelne Finger bestand aus unzähligen Gliedern, die zusammengefügt panzerartig wie Schuppenkrallen eines Reptils und gefährlich wie die Klauen eines Greifvogels aussahen. Das mattglänzende Metall war über und über mit winzig kleinen, doch äußerst akkurat gearbeiteten Schriftzeichen bedeckt. Kyeran vermutete, dass es sich um einen alten Dialekt der Hohen Sprache – der Amtssprache der Dämonenwelt – handelte, doch die Schriftzeichen waren so winzig, dass man sie mit bloßem Auge nur aus näherster Nähe entziffern konnte. An den Schulterteilen der Rüstung war ein langer, schwarzer Umhang befestigt, der zwar schon einige Löcher aufwies – woher sie stammten, mochte Kyeran sich gar nicht fragen – aber so passte es noch mehr zum Gesamteindruck des Gardisten von einem unerschütterlichen, durch nichts zu besiegenden Kämpfer. Was Kyeran jedoch am meisten Angst einjagte, war das Schwert, dass der Gardist an einem Gürtel in einer – ebenso wie die Rüstung – kunstvoll geschmiedeten und verzierten Schwertscheide aufbewahrte. Der schwere Zweihänder machte einen außerordentlich gefährlichen Eindruck, als wenn man mit der Waffe mühelos einen erwachsenen Mann mit nur einem Schlag enthaupten könnte.
 

So voller Überraschung und auch Angst, wich Kyeran sofort einige Schritte zurück, als er realisierte, was dort in seiner Tür stand, und sein erster Gedanke war: Oh scheiße, was hab ich nur angestellt, dass ich so einen grausamen Tod verdiene?
 

Jedes Dämonenkind bekommt spätestens, wenn es etwas schlimmes angestellt hatte, die Geschichte von den bösen Rittern der Schwarzen Garde erzählt, die nachts die Häuser nach ungezogenen Kindern absuchen, die sie dann später bei lebendigem Leibe am Spieß braten und essen. Und genau diese alte Geschichte ging Kyeran in dem Moment durch den Kopf, als er den Gardisten erblickte.
 

Doch dieser machte überhaupt keine Anstalten, Kyeran verschleppen zu wollen. Es schien eher so, als wenn der Gardist seelenruhig darauf warten würde, dass Kyeran sich erst einmal wieder beruhigte. Als er anscheinend seinen Schreck überwunden hatte, hielt der Gardist ihm einen großen Umschlag aus pergamentartigem Material hin, der auf der Rückseite mit einem großen, schwarzen Siegel verschlossen war. Ungläubig sah Kyeran – immer noch in sicherer Entfernung – den Gardisten an, doch der hielt den merkwürdigen Umschlag immer noch in der ausgestreckten Hand hin und machte keine Anstalten, sein Schwert zu ziehen oder anderwärtig anzugreifen. Kyeran zögerte noch einen Moment, nahm dann schließlich aber doch den Umschlag entgegen.
 

Ohne groß das schwarze, kunstvoll gearbeitete Siegel zu betrachten, öffnete Kyeran den großen Umschlag. Verdammt, was ist das bloß für ein Alptraum heute! Schnell nahm er den Brief aus dem Umschlag, denn insgeheim hatte er doch Angst, der schwarze Mann könnte ihn kurzerhand enthaupten, wenn es ihm nicht schnell genug ginge. Mit zittrigen Fingern faltete Kyeran das Dokument auseinander und fing an zu lesen. Was dort stand, war fast noch merkwürdiger als der Bote, der immer noch in der Tür stand: Kyeran sollte sich bei der obersten Verwaltungsstelle des vereinigten Reiches, zum Reichssecretarius Milpeza, melden, da er „für eine äußerst wichtige Mission“ auserwählt sei. Ich und ne äußerst wichtige Mission? Das ich nicht lache... Aber irgendwie sieht es schlecht mit schwänzen aus, bei nem Gardisten als Begleitung? Also „Mission“ hört sich auf jeden Fall nach mehr als einem Tag an... ich pack mir lieber noch was zum Anziehen ein.
 

„Keine Angst, bin gleich wieder da...“, sagte Kyeran dem Gardisten, obwohl er nicht sicher war, ob er ihn auch wirklich verstehen konnte. Doch als Antwort nickte der Krieger nur. Also machte sich Kyeran daran, das nötigste einzupacken. Er fischte einen großen Rucksack aus seinem Kleiderschrank und tat wahllos eine Jeans, ein paar Boxershorts, zwei T- sowie ein Sweatshirt hinein. Anschließend wühlte er noch in seiner Nachtschrankschublade herum und vervollständigte sein Gepäck schließlich mit einem Deodorant und einer Familienpackung Kaugummis. Wer weiß, ob hübsche Frauen dabei sind... So schnell es ging, machte Kyeran den Rucksack zu und lief wieder zur Tür, wo der Gardist immer noch auf ihn wartete. Er nickte kurz, um seiner Begleitung zu signalisieren, dass er jetzt fertig war, und der Gardist gab ihm zu verstehen, dass er hinaus auf den Flur kommen sollte. Kyeran zögerte noch einen Moment, trat dann aber schließlich hinaus in den Flur und machte die Tür hinter sich zu.
 

Kaum hatte er dies getan, formte der Gardist schon ein Zeichen mit seinen Fingern. Oh, Teleportieren... Darin war ich zwar nicht wirklich gut in der Schule, aber man kann’s ja mal versuchen. Hastig versuchte Kyeran, das Zeichen so genau wie möglich nachzuformen und nach einigen Versuchen war er ganz zufrieden mit sich. Er sah kurz zu dem Gardisten hinüber, der anschienend schon länger fertig war und auf ihn gewartet hatte. Mit einem Nicken signalisierte der Krieger, dass sie jetzt teleportieren könnten und so schloss Kyeran seine Augen und begann sich in Gedanken auf die Teleportationsformel zu konzentrieren.
 

Schon nach ein paar Sekunden merkte er, wie ihm ein wenig schwindelig wurde – ein Anzeichen dafür, dass der Spruch funktionierte – und ehe er sich versah, spürte Kyeran eine Art leichten Elektroschock durch seinen Körper zucken.
 

Sie waren angekommen.

Prolog drei: Nikolaj

Nikolaj Trenkovich war 27 und lebte immer noch bei seiner Mutter in einem kleinen, völlig überteuerten Mietshaus in einem Dörfchen irgendwo in der Ukraine. Mit der Erbschaft seines früh verstorbenen Vaters hatte er die Möglichkeit, die Universität in der nächsten Stadt zu besuchen, und somit studierte er mittlerweile im vierten Semester Jura, obwohl er weder sonderlich gut darin war, noch dass es ihm Spaß machte, er tat es lediglich für seine Mutter, die sich doch so gerne einen guten Anwalt als Sohn wünschte.
 

Und auch sonst bestimmte seine Mutter Nikolajs Alltag: Morgens legte sie ihm seine Anziehsachen bereit – meistens eine Jeans und ein viel zu großes Holzfällerhemd, das sie wahrscheinlich auch schon seinem Vater Tag für Tag zum anziehen rausgelegt hatte –, machte ihm das Frühstück, jeden Tag bestehend aus zwei Brötchen von der Dorfbäckerei, einer Scheibe Käse, einer Scheibe Mettwurst und Butter sowie einem Glas Milch, und weckte ihn zu guter letzt mit einem „Guten Morgen, mein Kleiner Niko!“ und dem Aufziehen seiner Vorhänge. Ihr Sohn war der Mittelpunkt ihres Lebens und sie würde alles für ihn tun, damit er bei ihr bliebe – sie wusch seine schmutzigen Sachen schon seit 27 Jahren mit einem Lächeln auf den Lippen und freute sich jedes Mal, wenn er von der Uni meist spät abends wieder zurückkehrte und nach dem Essen sofort todmüde ins Bett fiel.
 

Doch bei Nikolaj war es anders: Er hatte keine Freunde und sein gesamtes Leben außerhalb der Uni spielte sich zu Hause ab. Er hatte noch nie ein Mädchen auch nur geküsst und war in seinem ganzen Leben noch kein einziges Mal abends ausgegangen. Am liebsten stand er unter der Dusche: Dort war er immer allein und er konnte dort so lange weinen, wie er wollte. Jedes Mal, wenn Nikolaj sich unter die alte Dusche stellte und das Wasser aufdrehte, quollen mit den ersten Wassertropfen, die sein Gesicht berührten auch jede Menge Tränen aus seinen Augen und verschwanden ungesehen mit dem Duschwasser im Abfluss. Nikolaj genoss es, dass er hier seinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte, unter der Dusche ließ er seinen ganzen Frust über sein Leben, seine Mutter und vor allem über sich selbst heraus. Natürlich hatte er bereits mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen, doch immer als er an das verheulte Gesicht seiner Mutter bei seiner eigenen Beerdigung denken musste, verwarf er solche Ideen sofort. Eins war klar: Seiner Mutter würde Nikolaj niemals etwas antun können.
 

Und somit begann mit diesem Tag wieder einer von vielen anderen, wieder mit dieser alptraumhaften Routine. Seine Mutter kam um punkt halb sechs Uhr morgens ins Zimmer. Schon als sie den Raum betrat, wachte Nikolaj auf, doch er stellte sich schlafend und wartete, bis seine Mutter ihren allmorgendlichen Spruch aufsagte. Er konnte genau hören, was sie gerade tat: Ihre Schritte führten in Richtung Schrank. Dann knarrte die alte Schranktür leise, als sie geöffnet wurde. Nikolaj konnte das leise Rascheln von Stoff hören, dann wieder die Schritte auf dem alten Holzfußboden, der an manchen Stellen schon sehr abgenutzt war. Mit einem leisen Geräusch der nachgebenden Bettdecke legte sie die Sachen hin. Dann verschwand sie wieder aus dem Zimmer und schloss die Tür, die mit einem leisen Klacken ins Schloss fiel.
 

Nikolaj atmete einmal tief durch und öffnete schließlich die Augen: Draußen war es noch fast dunkel, doch trotzdem konnte er das gesamte Zimmer gut überblicken. Neben seinem Bett stand ein kleines Nachttischchen, an der Wand rechts vom Bett ein Stuhl, über den Nikolaj immer seine schmutzigen Sachen hing, als Zeichen, dass sie gewaschen werden sollten. Ein einziges Mal hatte er versucht, seine Mutter zu überreden, dass er seine Wäsche auch problemlos selbst waschen konnte, doch es war klar, wer diese Auseinandersetzung gewonnen hatte. Dies war der Tag gewesen, als Nikolaj aufgegeben hatte, sein eigenes Leben führen zu wollen. Seitdem verlief ein Tag wie der andere und die schreckliche Routine begann, ihren Lauf zu nehmen. Damals hatte er nicht nur sein selbstständiges Leben aufgegeben, sondern auch sich selbst, doch das war Nikolaj bis jetzt gar nicht aufgefallen, für ihn zog sich jeder Tag mit schleppender, breiiger Routine dahin, doch es kümmerte ihn nicht. Er ließ sich einfach treiben wie ein Schiffbrüchiger auf dem offenen Meer.
 

Ein paar Minuten lag Nikolaj schon regungslos im Bett und starrte an die Decke, als ihm auffiel, wie viel er eigentlich sehen konnte, obwohl es noch so dunkel war. Er konnte einzelne Feinheiten im Verputz der Decke erkennen, doch draußen dämmerte es noch nicht einmal. Er richtete sich im Bett auf und sah sich um. Der alte Schrank, der gegenüber von seinem Bett stand, hatte schon einige Kratzer und Macken und sogar die kleinsten davon konnte Nikolaj aus einer Entfernung von gut vier Metern immer noch gestochen scharf erkennen. Er wusste zwar nicht warum, aber er war sich sicher, dass er im Hellen auf keinen Fall so gut sehen konnte. Auf einmal bemerkte Nikolaj, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Eine leise, kriechende Angst breitete sich in ihm aus: eine Angst vor dem eigenen Ich.
 

Im selben Augenblick konnte er Schritte auf der Treppe hören, daraufhin ließ er sich einfach nach hinten Fallen und schloss schnell die Augen, damit seine Mutter nicht merkte, dass er gar nicht mehr schlief. Kaum lag Nikolaj wieder mit geschlossenen Augen im Bett, öffnete seine Mutter auch schon die Tür und sagte ihren Spruch auf. „Guten Morgen, mein keiner Niko!“ hörte er sie von weitem sagen, dann hörte er, wie die Vorhänge aufgezogen wurden. Das wird jetzt wohl genug Schauspielerei sein, dachte er sich und tat so, als wenn er gerade wach würde. Nikolaj nahm den Kopf in den Nacken, streckte sich kräftig und gähnte herzhaft. Dann sah er seine Mutter mit einem gespielten Lächeln auf den Lippen an und sagte: „Guten Morgen, Mama.“
 

Sie lächelte nur zurück und sprach: „Beeil dich, mein Schatz, dein Frühstück wird kalt.“ Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Nikolaj blieb noch einen Moment liegen und wartete bis er ihre Schritte auf der Treppe hören konnte. Dann stand er auf und zog sich die Sachen an, die seine Mutter aufs Bett gelegt hatte: Frische Unterwäsche, selbstgestrickte Socken, eine ausgewaschene Schlabberjeans, die wohl noch von seinem Vater war und ein rot-kariertes Hemd. Bevor er aus dem Zimmer ging, sah Nikolaj noch einmal aus dem Fenster. Das Dorf schlief größtenteils noch, nur ein paar Leute, die schon früh arbeiten mussten, waren schon auf den Beinen. Der Anblick war der gleiche wie fast jeden Morgen, doch irgendetwas stimmte hier nicht. Nikolaj wusste nicht was und warum, aber trotzdem beschlich ihn bei diesem Anblick ein merkwürdiges Gefühl.
 

Er riss sich los und ging die Treppe hinunter, den schmalen Flur entlang ins Bad. Im Spiegel sah Nikolaj sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den tiefen hellblauen Augen. Halbherzig wusch er sich und brachte anschließend seine kurz geschnittenen, braunen Haare in Ordnung, doch irgendwas beschäftigte ihn im Unterbewusstsein. Eigentlich glaubte Nikolaj nicht daran, dass man in die Zukunft sehen konnte – er war streng christlich erzogen wurden, obwohl es ihm egal war, ob es einen Gott gab, solange er ihm nicht aus seiner Zwickmühle half – doch unterbewusst breitete sich in ihm eine Vorahnung aus, dass dieser Tag nicht normal verlaufen würde.
 

Nikolaj schaufelte sich noch einmal Wasser ins Gesicht und trocknete sich anschließend ab. Dann verließ er das Bad und ging in die Küche, um dort zu frühstücken. Wie jeden Morgen hatte seine Mutter ihm schon das Frühstück gemacht, zwei Brötchen, je eine Scheibe Käse und Mettwurst, etwas Butter und ein großes Glas Milch. Sie selbst saß an der gegenüberliegenden Seite des Tisches und lächelte ihn an.
 

„Hast du gut geschlafen, mein Schatz?“, fragte sie besorgt. „Du seihst noch so müde aus...“
 

Nikolaj nickte nur, er sah seiner Mutter noch nicht einmal ins Gesicht und setzte sich wortlos hin. Gerade hatte er begonnen, sein Brötchen zu schmieren, da klopfte es an die Tür. Sofort sprang Nikolaj auf und sagte schroff: „Ich geh schon, bleib sitzen.“ Sofort schämte er sich, dass er seine Mutter so angeschnauzt hatte und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer.
 

Wer will denn um die Uhrzeit was von uns?, ging es Nikolaj durch den Kopf. Vor der Tür atmete er noch einmal tief durch und wollte gerade zur Türklinke greifen, als es erneut klopfte. Das Geräusch hörte sich äußerst merkwürdig an, ein bisschen wie das Schlagen von Metall auf Holz, doch die Haustür besaß keinen Türklopfer und war komplett hölzern. Mit was klopft der da? Nikolaj zögerte noch einen kleinen Augenblick. Sofort machte sich wieder dieses äußerst unangenehme Gefühl in ihm breit, dass er schon gespürt hatte, als er aus dem Fenster gesehen hatte, doch dann nahm er seinen Mut zusammen und öffnete die Haustür.
 

Draußen stand ein großer Mann – zum mindest glaubte Nikolaj, dass es ein Mann war, denn die Person war weit über zwei Meter groß, obwohl sie gebeugt stand, breitschultrig und komplett in eine schwarze Kutte gehüllt, die Kapuze soweit ins Gesicht gezogen, dass man noch nicht einmal ahnen konnte, wie dieses Wesen aussah. Einen Moment standen beide regungslos da: Die schwarze Person, weil sie auf eine Reaktion wartete, Nikolaj, weil er vor Schreck, Angst und dem unbeschreiblichen Gefühl gelähmt war. Schließlich streckte die merkwürdige Person ihren Arm Nikolaj entgegen. Zu erst dachte er, dass der Mann eine Waffe hatte und ihn erschießen wollte, denn für einen Moment sah er etwas metallenes aufblitzen, doch dann bemerkte er, dass die Finger des Mannes in einer silber-glänzenden Rüstung steckte, die aus unendlich vielen Einzelteilen zu bestehen schien und die den Fingern eine uneingeschränkte Bewegungsfreiheit verliehen. Wie Schlangen..., kam Nikolaj in den Sinn, doch sofort wurde er wieder aus seinen Gedanken gerissen.
 

„Wer ist denn da?“, rief seine Mutter aus der Küche.
 

Jetzt bekam Nikolaj noch mehr Angst: Würde seine Mutter diese merkwürdige Gestalt zu Gesicht bekommen, bekäme sie sicher auf der Stelle einen Herzinfarkt, denn zum einen war sie nicht mehr die jüngste, und zum anderen würde sie den Fremden bestimmt für einen Boten der Apokalypse halten, denn sie glaubte wirklich alles, was in der Bibel stand und war überzeugte Christin und außerdem sah der Kerl wirklich aus, als wäre direkt aus der Hölle gekommen. Sein Gewand war zwar vollkommen unversehrt, doch irgendwie machte er den Eindruck, dass er nicht von hier wäre. Nicht von dieser Welt.
 

„Ist schon gut... Für mich!“, rief Nikolaj und er hoffte, dass dies Grund genug für seine Mutter wäre, nicht zu kommen. Sekunden vergingen, ohne dass er eine Antwort bekam und mit jeder Sekunde wurde Nikolajs Angst stärker. Was ist, wenn der Typ nicht gerne wartet?
 

„Na dann beeil dich, sonst schafft du dein Essen nicht mehr!“
 

In diesem Moment fiel ein riesiger Stein von Nikolajs Herzen. Doch der Mann in der Kutte wartete immer noch. Nikolaj sah wieder auf seine Hand und bemerkte, dass die Person ihm etwas geben wollte: In der Hand hielt er einen großen Umschlag aus Pergament, wie Nikolaj vermutete. Er nahm den Umschlag an und der Mann senkte seinen Arm wieder. Als Nikolaj das Material berührte, fühlte es sich rau unter seinen Fingern an, nicht so glatt wie Pergament. An manchen Stellen war es jedoch glatter und als er genauer hinsah, konnte Nikolaj auf diesen Stellen merkwürdige Schuppen erkennen, die sich jedoch keinem ihm bekanten Tier zuordnen ließen. Langsam drehte er den Umschlag um und sah ein großes Siegel aus pechschwarzem Wachs, umständlich verziert mit kleinen, filigranen Schriftzeichen, die Nikolaj noch nie in seinem Leben gesehen hatte und auch keiner ihm bekannte Kultur zuordnen konnte.
 

Plötzlich wurde ihm wieder klar, dass zwei Personen auf ihn warteten und so ließ er ab von der Aufmachung des Briefs und öffnete vorsichtig den Umschlag. Auf einem Blatt aus dem gleichen Material waren noch mehr von den eigenartigen Zeichen geschrieben. Angestrengt versuchte Nikolaj, auch nur anhand des Schriftbildes einen Sinn zu erkennen, doch je länger er die Schriftzeichen ansah, desto schwindeliger wurde ihm, bis sich schließlich alles nur noch im Kreis drehte.
 

Nikolaj kniff dir Augen zusammen und blinzelte, dann sah er wieder auf den Brief. Auf einmal schienen sich die Zeichen zu verwandeln: sie huschten über das Papier, verformten sich und schließlich konnte Nikolaj alles gestochen scharf erkennen.
 


 


 

Sehr geehrter Herr Nikolaj Trenkovich,
 


 

Sie werden hiermit innigst gebeten, sich so schnell wie möglich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden im obersten Büro der Hauptverwaltung des vereinigten Reiches bei
 


 

Reichssecretarius Milpeza, ständiges Mitglied der Regierung
 


 

zwecks einer äußerst wichtigen Mission persönlich und unverzüglich zu melden. Der Soldat der Dunklen Garde, Übermittler dieses Schriftstückes, ist ausdrücklich dazu angewiesen worden, Sie dorthin zu begleiten und Sie ggf. auch zu zwingen, mitzukommen. Bei Nichtmeldung innerhalb der nächsten 24 Stunden wird auf der Stelle ein Strafverfahren gegen Sie eingeleitet. Bitte bringen Sie die nötigen Dokumente mit, um sich ausweisen zu können.
 


 


 

Als er zu Ende gelesen hatte, war Nikolaj kreidebleich. Vereinigtes Reich, Reichssecretarius Milpeza, Dunkle Garde... Was zum Teufel soll das denn sein? Doch dieser Brief schien dennoch äußerst wichtig zu sein und außerdem machte der Soldat vor der Haustür nicht unbedingt einen friedlichen Eindruck. Verzweifelt sah er den Mann an, der sich kein Stück bewegt hatte.
 

„Wo müssen wir denn hin?“
 

~Seid Ihr bereit?~, dröhnte eine seltsame Stimme, wahrscheinlich die des Soldaten. Nikolaj zuckte vor Schreck zusammen und schon im nächsten Augenblick fürchtete er, dass seine Mutter etwas gehört haben könnte. Doch dann wurde es ihm klar: Der Mann hatte in Gedanken zu ihm gesprochen! Noch immer stumm vor Schreck konnte Nikolaj nur nicken. Halt! Mein Ausweis! In dem Brief stand doch, dass ich mich ausweisen muss!
 

„Einen Moment noch, bitte. Ich brauche noch meinen Ausweis!“
 

~Ihr seid ein Mensch, ihr könnt Euch nicht ausweisen. Kommt einfach mit.~
 

Nikolaj wusste nicht, was das bedeuten sollte. Er hatte doch einen Ausweis! Aber anscheinend brauchte er ihn nicht, und zum nachfragen fehlte ihm eindeutig der Mut. Also trat er hinaus und schloss die Tür leise hinter sich, als in seinem Kopf plötzlich das Bild seiner in Tränen aufgelösten Mutter, die über ihren verschwundenen Sohn trauerte, auftauchte. Nikolaj wollte sich umdrehen und wieder zurück ins Haus gehen, doch eine schwere, große und eiskalte Hand legte sich auf seine Schulter und hinderte ihn am gehen.
 

~Sie wird es überleben, habt keine Angst.~, sprach die Stimme gefühllos in seinem Kopf. Na gut... dachte sich Nikolaj und ging schließlich auf die Straße. Glücklicherweise war dort niemand mehr zu sehen und in der Ferne hörte Nikolaj einen Bus davonfahren. Den Bus, mit dem auch er jeden Morgen zu Uni fuhr.
 

Fast hätte er wieder an seine besorgte Mutter denken müssen, doch eine äußerst wichtige Frage kam ihm in den Sinn:
 

„Wie kommen wir denn eigentlich dahin? Zu diesem Büro, meine ich.“, frage er leise mit zittriger Stimme.
 

~Nehmt meine Hand, schließt die Augen und versucht, an etwas zu denken, das Euch nicht hier festhält.~
 

Den letzten Satz verstand Nikolaj erst, als er schon seine Augen geschlossen hatte. Mit geschlossenen Augen streckte er sie Hand aus und spürte schließlich, wie die kalte, in Rüstung verhüllte Hand des Soldaten die seine nahm und sie fest hielt. Nikolaj versuchte, sich zu konzentrieren und überlegte, wer dieser Milpeza wohl sein mochte. War er ein Mensch oder ein anderes Wesen? Was würde er mit ihm anstellen? Was war das für eine merkwürdige Mission? Doch bevor er auch nur eine dieser Fragen beantworten konnte, durchzuckte ihn ein schwacher Stromschlag. Nikolaj kniff die Augen zusammen und blinzelte, als ihm wieder einfiel, dass er seine Augen geschlossen halten sollte, doch er war bereits dort, wo er hin sollte.

Kapitel 1: Das Kennenlernen

Auf dem Schild stand: "Milpeza - Reichssecretarius".
 

Dieses matt glänzende Stück Metall war das erste, was Kyeran wahr nahm, als er den Raum betrat. Direkt gegenüber der Fahrstuhltür, durch die er gerade hineingekommen war, stand ein massiver Schreibtisch aus dunklem Holz. Genau an der Mitte der Vorderkante ausgerichtet, wies es jedem Besucher aus, was für eine wichtige Persönlichkeit hier ihr Büro hatte. Reichssecretarius - ich bin zwischen den höchsten Köpfen der Politik gelandet! Die Erkenntnis traf Kyeran wie ein Schlag. Seine Augen, die zuvor noch am Metallschild geklebt hatten, wanderten ein Stück höher - und trafen den finsteren Blick des Secretarius. Für die Dauer eines Augenblickes fühlte sich Kyeran wie gelähmt, doch dann erkannte sein Gegenüber, wer dort vor ihm stand und die Fesseln lösten sich. Das Gesicht eines männlichen Dämons in seinen besten Jahren, umrahmt von pechschwarzem Haar, lächelte ihn nun mit gebleckten Zähnen an. Doch dieser Anblick war nicht unbedingt beruhigender für Kyeran.
 

"Kyeran." In der Aussprache schwangen unzählige Kehlkopflaute mit, die man nur in der hohen Sprache des vereinigten Reiches aufschreiben konnte.

"Ihr seid zu spät."
 

Der junge Dämon schluckte. Würde er jetzt bestraft werden? Unweigerlich musste er an die furchteinflößende Begegnung mit dem Gardisten vor ein paar Stunden denken. Doch allen hohen Mächten sei Dank hob der Secretarius nicht die Hand, um Kyerans Leben mit Hilfe von Magie oder irgendeiner unsichtbaren Waffe ein Ende zu bereiten, sondern um ihm aufzufordern, auf dem blutroten Sofa vor der Fensterfront Platz zu nehmen. Dort saß bereits ein zweiter Dämon. Nein, kein Dämon, berichtigte sich Kyeran. Es war ein Mensch, ohne Zweifel.
 

Würde man ihn fragen, woran ein Dämon Angehörige seiner Art von gewöhnlichen Menschen unterscheiden könne - er hätte keine Antwort gewusst. Obwohl sich beide äußerlich nicht unterscheiden ließen (Dämonen zeigen ihre Flügel niemals in der Öffentlichkeit) gab es doch irgendetwas, eine ganz spezielle Eigenschaft in ihrer Ausstrahlung, die es einem Dämon - Kyeran nahm an, dass es jedem so ging wie ihm - ermöglichte, auf den ersten Blick festzustellen ob man nun einen Artgenossen vor sich hat oder nicht.
 

Er zögerte kurz. Der Mensch sah nicht sehr sympathisch aus, irgendwie verstört. Von seinem Aussehen ganz zu schweigen. Diese Frisur! Und dann noch die Kleidung! Kyeran wollte gar nicht erst anfangen, sich darüber aufzuregen. Der Tag hatte schon merkwürdig begonnen, jetzt sollte er nicht auch noch in einer Katastrophe ändern. Äußerst schüchtern sah das Wesen zu ihm auf. Kyeran war das egal. Er setzte sich ans andere Ende des Sofas und versuchte sich mit einem Blick aus dem Panoramafenster zu beruhigen. Beim letzten Neubau aller wichtigen Regierungseinrichtungen hatte man sorgsam darauf geachtet, dass die oberen Etagen, die stets für die Inhaber der höchsten Ämter reserviert waren, einen perfekten Ausblick über die gesamte Hauptstadt boten. Es war Kyeran schon immer schleierhaft gewesen, wieso gerade auf dieses Detail so penibel geachtet wurde, doch gerade jetzt kam ihm die Erkenntnis. Bereits ein paar Augenblicke, nachdem er sich an den schier unendlichen Blickfängen dieses Panoramas gewidmet hatte, spürte der Dämon wie er allmählich wieder ruhiger wurde. Sollte der Typ neben ihm doch rumlaufen wie er wollte. Sie würden sich sowieso nie wiedersehen.
 

Da ging mit einem dezenten Signalton die Fahrstuhltür auf. Neugierig drehte sich Kyeran um und versuchte einen Blick auf den Neuankömmling zu erhaschen, doch die Möbel waren so geschickt platziert dass es ihm nicht möglich war, so sehr er sich auch wand. Aufstehen wollte er auf keinen Fall, schließlich hatte er nicht vor zu testen was der Secretarius mit Leuten anstellte, die seine Anweisungen missachteten.
 

"Milpeza!", hörte Kyeran den Neuankömmling freudig sagen. Der Name klang ausgesprochen mehr nach "Miil-pe-zach", doch das hatte sich der junge Dämon fast schon aus der Schreibweise ableiten können. Der Sprecher beherrschte also die hohe Sprache, folglich war er ein Dämon. Und er war männlich, mit einer tiefen, rauen Stimme, die sich jedoch sehr angenehm anhörte. Der Secretarius wechselte ein paar Worte mit seinem Besucher. Kyeran konnte nicht alles verstehen, doch anscheinend kannten sich die beiden aus er Vergangenheit. Dann erhob sich Milpeza von seinem Stuhl und die beiden kamen in Sichtweite des Sofas.
 

Der Neuankömmling sah nicht viel sympathischer aus als der Kerl auf dem Sofa. Er schien ein Nomade oder so etwas zu sein, auf jeden Fall kam er nicht aus der Stadt. Roter Staub, wie man ihn in den Felswüsten um die Hauptstadt fand, haftete an seinen abgetragenen Kleidern, das linke Auge war von einer schwarzen Klappe verdeckt. Den alten Schlapphut hatte er abgesetzt, Kyeran allerdings fand, dass er damit einen Fehler begangen hatte - die Haare des Mannes waren äußerst fettig und nicht gerade ansehnlich. Etwas störte den Dämon am Eindruck dieses Kerls. Er konnte sich nicht erklären warum, aber sein Gefühl wollte ihn überzeugen, dass vor ihm ein weiterer Mensch stand.
 

In diesem Moment begann der Secreatrius zu sprechen.
 

"Da wir nun vollzählig sind, möchte ich mit einer kleinen Vorstellung beginnen. Falls meine Person noch nicht bekannt sein sollte: Milpeza, oberster Secretarius des vereinigten Reiches. Auf Anordnung habe ich Sie hierher rufen lassen. Nikolaj Trenkovic, Kyeran, Joe McCoy - ", er blickte alle drei nacheinander an, "Sie sind heute hier, weil sich das vereinigte Reich in ernster Gefahr befindet."
 

Kyeran musste sich wirklich beherrschen, um nicht hysterisch loszulachen. Ein menschlicher Bauernsohn, ein Nomade und er selbst! Sie sollten dem Reich aus irgendwelchen Schwierigkeiten helfen? Der Mann auf dem Sofa schien ähnlich erstaunt, nur dieser "Joe" blieb ganz ruhig oder ließ sich zum mindest nichts anmerken. Der Reichssecretarius hatte wohl wissend um ihre Reaktion eine kleine Pause eingelegt und begann nun, nachdem sich die Verwunderung offensichtlich gezeigt hatte, weiterzusprechen.
 

"Wie ich Ihren Reaktionen entnehmen konnte, sind Sie sicherlich verwundert, dass genau Sie ausgewählt wurden. Doch ich kann Sie beruhigen: Es handelt sich keinesfalls um eine Verwechslung, Sie alle sind sorgfältig ausgewählt wurden."
 

Und das sollte Kyeran beruhigen? Der hat sie doch nicht mehr alle!
 

"Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken, weshalb Sie auf diese Mission geschickt werden, es wird sich alles früh genug klären. Meine Assistentin wird Sie gleich abholen und mit den weiteren wichtigen Dingen vertraut machen, doch zuvor möchte ich Sie kurz in die Problemstellung einweisen."
 

Ohne dass irgendwo ein Schalter betätigt wurde tönten sich die Scheiben des Panoramafensters, bis es fast stockdunkel wurde. Dann begann ganz langsam der Umriss einer Landkarte auf der undurchsichtigen Scheibe zu erscheinen. Kyeran ließ das Ganze über sich ergehen, entweder war er verrückt, oder dieser Secretarius war es.
 

"In diesen Gebieten", in der oberen Hälfte der Karte leuchteten zwei Ovale rot auf, "wurden in den letzten Wochen überdurchschnittlich viele Überfälle und Plünderungen verzeichnet. Der Feind geht äußerst brutal, aber oft auch nicht gerade taktisch vor. Sie werden hier - ", ein weißes Kreuz leuchtete in der unteren rechten Ecke der Karte auf, "abgesetzt mit dem Auftrag, den Feind zu identifizieren und eliminieren. Noch Fragen?"
 

Obwohl es sich bei dem letzten Satz wohl eher um eine rhetorische Floskel hielt, konnte Kyeran es sich nicht verkneifen.
 

"Wie bitte? Sehen wir etwa aus wie Spezialeinheiten? Wieso schickt Ihr nicht einfach ein paar Cherubim hin und die Sache ist erledigt, so wie immer?" Der Dämon wurde immer lauter und hysterischer.
 

"Um ehrlich zu sein, haben wir das bereits getan."

Kapitel 2: Die Reise beginnt

Und ehe sie sich versahen, standen sie mitten in der Wüste. Milpezas quirlige Assistentin hatte sie zuvor noch mit allerhand Gerätschaften und warmen Decken ausgerüstet. Und so wie die Landschaft aussah, war das auch nötig gewesen.
 

In alle Richtungen erstreckte sich eine Wüste aus rotem Gestein. Kein Baum, kein Gras, kein Grün war am Horizont zu erkennen. Ein trockener Wind brachte Staub mit sich. Und hier sollten sie also ihre Mission erfüllen. Joe zog sein Halstuch vor Mund und Nase und setzte sich langsam in Bewegung. Wortlos folgten ihm die anderen. Nikolaj wagte es nicht, zu sprechen. Er wunderte sich zwar über die seltsamen Geräte, die er zu tragen hatte, und vor allem wunderte er sich über diese merkwürdige Mission, doch blieb er lieber still. Im Allgemeinen, das hatte Nikolaj herausgefunden, kam man damit wesentlich besser weg. Man wurde nicht gefragt, nicht gehänselt, beschimpft oder in sonstiger Weise zum Gespött gemacht, man blieb ganz einfach unbeachtet. So mochte es Nikolaj, schließlich konnte er sowieso nichts mit anderen Menschen anfangen.
 

Vorsichtig blickte er nach links. Dort ging der Mann, der sich vorhin noch so aufgespielt hatte. Nikolaj mochte ihn nicht, er war ihm viel zu aufdringlich. Doch jetzt lief auch er tonlos durch die endlose Wüste, den Kopf gesenkt, ein nachdenkliches Gesicht. Wahrscheinlich dachte auch er gerade darüber nach, wieso gerade er hier sein musste. Nikolaj erinnerte sich an seine Mutter. Wie spät war es jetzt wohl bei ihm zu Hause? Ob sie sich schon sorgte? Er spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Wie würde sie klar kommen, ohne ihn? Noch nie war Nikolaj länger als einen Tag weg gewesen, und jetzt das! Es musste die Hölle für seine Mutter sein.
 

Er schluckte. Nein, das sollte nicht sein! Nikolaj wollte weg, sofort! Was hatte er schon mit Spezialeinheiten, irgendeinem vereinigten Reich oder diesen Cherubim zu tun! Das einzig wichtige in seinem Leben war seine Mutter, er hatte gefälligst bei ihr zu sein! Nikolaj wollte stehen bleiben, dann schaute er sich noch einmal um. Die beiden anderen hatten ihn nicht zu Kenntnis genommen, sie gingen noch immer im selben Trott weiter. Sollte er? Doch was würde dann sein, dann wäre er ganz allein in dieser fremden Welt. Nikolaj schluckte. Um alles in der Welt wäre er jetzt wieder bei seiner Mutter auf dem Dorf. Natürlich könnte er nach dem Weg zurück fragen. Dieser Mann, der aussah wie ein Darsteller aus einem alten amerikanischen Film, er kannte sich sicher hier aus. Nikolaj schaute ihn aus dem Augenwinkel an. Er machte keinen besonders freundlichen Eindruck. Vielleicht würde er ihn sogar auslachen, wenn er fragte. Ach was, vielleicht. Ganz bestimmt sogar! Er war viel älter und erfahrener, Leute wie er nahmen keine Rücksicht auf Schwächere. Und Nikolaj war einer von den ganz schwachen.
 

Auf einmal erwiderte der Cowboy Nikolajs Blick. Er zuckte zusammen, richtete den Kopf stur nach unten auf den Erdboden – und hörte den Mann leise lachen. War das ein Auslachen? Ganz vorsichtig neigte er den Kopf ein Stück zur Seite und blickte in ein lächelndes Gesicht. Ein Lächeln? Das konnte nur ein Grinsen sein, noch nie hatte jemand fremdes Nikolaj einfach so angelächelt! Jetzt sah er noch einmal genau hin.
 

„Na, gefällt's dir hier?“ Jetzt sprach der Kerl auch noch mit ihm. Nikolaj war perplex. Aber anscheinend schien er nicht auf eine Antwort zu warten.
 

„Ich weiß, es ist nicht gerade das Paradies, aber wenigstens haben wir festen Boden unter den Füßen und genug Wasser. Stell dir vor, er hätte uns in die Sümpfe geschickt. Da wären wir jetzt schon total zerstochen.“
 

„Moment – WASSER?“ Jetzt meldete sich der andere zu Wort. Nikolaj war immer noch sprachlos und sagte nichts. War er überhaupt in diese Unterhaltung mit einbezogen? Am liebsten hätte er sich jetzt ein Stück zurück fallen lassen, doch er ging genau zwischen den beiden. Der andere blickte den Cowboy verständnislos an.
 

„Du kommst doch von hier, oder? Kennst du die Wüste nicht?“
 

„Nein, kenn ich nicht!“, antwortete er fast beleidigt. „Glaubst du, ich kenn' die gesamte verdammte Welt, nur weil ich hier wohne?“
 

Der Cowboy hob abwendend die Hände. „Ganz ruhig, ist doch nicht schlimm. Ich kenn mich schließlich hier auch besser aus als bei mir zu Hause.“ Er lächelte erneut und zog die verwunderten Blicke der beiden anderen auf sich. „Wisst ihr über den großen Krieg bescheid? Ich kann euch jetzt keine genaue Jahreszahl sagen, aber ihr wisst schon.“ Nikolaj wusste nicht. Aber der andere schien sich an etwas zu erinnern.
 

„Das war HIER? Nein!“ Er lachte, doch der Cowboy nickte nur bestätigend. „Gibt's hier wirklich noch Wasser? Ich dachte immer, das wäre so eine Legende oder so...“
 

„Lass uns eine Pause machen.“ Er hielt an und begann, sein schweres Gepäck abzuladen. Der andere tat es ihm gleich und schließlich begann auch Nikolaj, die Sachen in den roten Staub zu stellen. Der Cowboy schaute prüfend in den dicht bewölkten Himmel und gab dann ein unzufriedenes Geräusch von sich. „Wir sollten heute lieber nicht weiterziehen. Außerdem haben wir schon viel geschafft. Also macht es euch ruhig bequem.“ Dann breitete er selbst eine der Decken aus und setzte sich darauf. Gemütlich holte er eine Zigarette aus seiner Manteltasche und zündete sie gelassen an. „Ich bin übrigens Joe.“
 

„Kyeran.“ Der andere nickte ihm zu. Nikolaj beachtete niemand, doch jetzt blickte der Cowboy – Joe – ihn erwartungsvoll an.
 

„N-Nikolaj“, brachte er mit heiserer Stimme hervor. Joe lächelte. Kyeran sah ihn... nunja, er konnte diesen Gesichtsausdruck nicht einordnen. Eine Weile schwiegen sie sich noch an, jetzt allerdings nicht mehr so misstrauisch wie zuvor. Dann, als Joe seine Zigarette aufgeraucht hatte, nahm er eines der Metallgeräte und rammte es mit voller Kraft in den Erdboden. Gespannt sahen die anderen zu. Er drehte die lange Stange noch ein wenig, rüttelte daran um zu sehen, ob sie auch wirklich fest war, und schließlich holte er noch einen zerbeulten Metallbecher aus seinem Rucksack hervor. Dann drehte er an einer unscheinbaren Mutter, die am langen Hals des Gerätes angebracht war, und wie durch Zauberhand sprudelte klares Wasser aus dem oberen Ende der Stange in den Becher. Kyeran staunte nicht schlecht und Nikolaj fiel fast die Kinnlade herab. Wie konnte es in so einer Umgebung so viel Wasser geben? Eigentlich müsste hier doch alles grünen und blühen! Doch bevor einer von den Beiden weitere Fragen stellen konnte, reichte Joe den Becher weiter und sagte:
 

„Lasst uns das Abendessen vorbereiten, so lange wir noch können. Es wird hier sehr schnell dunkel. Dann reden wir weiter.“

Kapitel 3: Lagerfeuer

Keine zwei Stunden später saßen die drei um ein kleines Lagerfeuer und aßen still ihre aufgewärmten Rationen. Da es in dieser Gegend weit und breit kein Holz gab, hatten sie vor ihrer Reise einen großen Stapel Klötze aus einem leichten, aber Nikolaj gänzlich unbekanntem Material bekommen, die erstaunlich gut brannten und nun die Grundlage für ihr kleines Lagerfeuer bildeten. Nikolaj wieder die Unterhaltung von vorhin ins Gedächtnis: Diese Joe hatte etwas von einem großen Krieg erzählt, und anscheinend wusste der andere genau, worum es dabei ging. Nikolaj konnte es selbst kaum glauben, aber er war tatsächlich neugierig. Ja genau, wo befanden sie sich hier? Was war das für eine merkwürdige, triste Welt?
 

Aber er traute sich nicht etwas zu sagen. In sich gekehrt aß er langsam weiter.
 

Kyeran war deutlich hungriger, als er zunächst dachte. Die Ration war schnell verschlungen und trotzdem fühlte er sich kein Stück satter. Zu Hause, dachte er, würde ich jetzt schon lange in einem netten Bisto sitzen und einen großen Teller Pasta hinter mir haben. Er seufzte und ließ sich nach hinten auf seine Decke fallen. Roter Staub wirbelte auf und kroch ihm in die Nase. "Verdammt!" fluchte er und richtete sich niesend und hustend wieder auf. Nikolaj fiel vor Schreck beinahe der metallene Essnapf aus den Händen.
 

Nachdem Kyeran seine Atemwege von dem Staub befreit hatte, fiel ihm die Unterhaltung von vorhin wieder ein. "Also, Joe. Du hast uns noch eine Gute-Nacht-Geschichte versprochen", wandte er sich an den Cowboy.
 

"Ach ja, der Bruderkrieg. Vor langer, langer Zeit hatten die Brüder Luzifer - Oberster der Ledernen - und Jhweh - Oberster der Federnen - einen ziemlich heftigen Streit. Jhweh hatte die Cherubim geschlossen hinter sich, Luzifer konnte viele fähige Magier für seine Reihen gewinnen. Das unvermeidliche passierte also: Es gab Krieg, Tod und Leiden, Tausende starben. Die wohl blutigste Schlacht fand in den großen Grasebenen statt, dort wo wir uns jetzt befinden. Über mehrere Jahre haben die Brüder alles aufeinander geworfen, was sie aufzubieten hatten. Das Blut der Gefallenen färbte das Land rot, die zerstörerische Magie richtete sich auch gegen die Tiere und Pflanzen dieses Landstrichs. Aus grüner, fruchtbarer Ebene wurde öde, rote Wüste. Und hier sind wir."
 

Nikolaj wollte etwas sagen, wollte nachfragen wer diese "Ledernen" und "Federnen" und ihre Anführer waren und wieso es zu dem Krieg kam. Er öffnete seinen Mund zum Sprechen und brachte sogar ein paar Stotterer heraus, welche die Aufmerksamkeit seiner Reisegefährten auf sich zogen. Doch es ging nicht. Der Schweiß rann Nikolaj den Rücken herab, sein Kopf wurde wärmer und wärmer. Beschämt schaute er auf den Boden und bekam nicht mit, wie Kyeran theatralisch mit den Augen rollte.
 

"Stimmt ja!", Joe fasste sich an die Stirn. "Nikolaj, du bist ein Mensch, nicht wahr? Dann hätte ich wohl doch etwas weiter ausholen sollen." Mit einem Lächeln versuchte er sich zu entschuldigen. Nikolajs Gesichtsfarbe nahm langsam wieder eine gesunde Farbe an.
 

"Wie du dir vielleicht schon gedacht hast, sind wir hier nicht mehr auf der Erde. Naja, eigentlich schon... das ist ein bisschen kompliziert. Auf jeden Fall wird diese Welt 'Das vereinigte Reich' genannt, und für gewöhnlich wird sie von Leuten wie dem da bewohnt. Kyeran, würdest du uns bitte mal deine Flügel zeigen?"
 

"Ich glaub ich spinne! Sind wir hier in der Schule oder was? Ich weiß ja nicht ob ihr es tut, aber ich erinnere mich noch ziemlich genau an die Worte von diesem Secretarius! Wir sind in Gefahr, hier irgendwo fanden Angriffe statt, gegen die noch nicht mal die Cherubim was tun konnten! Und ihr betreibt hier Völkerkunde!?"
 

"Hey hey, ganz ruhig." Joe machte eine besänftigende Geste. "Wir sind gerade dabei uns etwas näher kennen zu lernen, und das ist eine sehr wichtige Voraussetzung wenn man zu viert gegen diese ganzen Horden etwas erreichen möchte. Und ich gehe mal nicht davon aus, dass ihr beide schon eine Kampfausbildung hinter euch habt."
 

"Vier?" Nikolaj war selbst überrascht, dass er etwas gesagt hatte. Kyeran schaute den Cowboy misstrauisch an. Nach einer Pause sprach Joe weiter.
 

"Ja, eigentlich besteht unser Team aus vier Leuten. Milpeza konnte bis zu unserer kleinen Besprechung keinen Kontakt zu der vierten Person herstellen, aber sie wird uns aller Wahrscheinlichkeit nach hier irgendwo treffen. Sie ist gut ausgebildet, also brauchen wir uns darüber keine Gedanken machen."
 

Ein vierter also, dachte Kyeran. Was das wohl für einer sein mochte? Anscheinend ein Kämpfer oder sogar ein Magier... vielleicht ja auch ein Cherub? Das brachte ihn auf eine weitere unangenehme Frage.
 

"Erm, du sagtest da gerade noch was von 'Kampfausbildung'..." Der junge Dämon hatte zwar schon die eine oder andere Kneipenschlägerei hinter sich, aber als "Ausbildung" wollte er das lieber nicht bezeichnen.
 

"Oha." Joe schaute verwzweifelt zu den beiden hrüber. "Und dabei bin ich doch ein so schlechter Lehrer.

Kapitel 4: Kampftraining für Anfänger

So viele neue Dinge prasselten am nächten Morgen auf Nikolaj ein, und Joe redete nicht langsamer. Für Kyeran schien das wieder alles bekannt zu sein, aber trotzdem bemühte er sich, wenigstens aufmerksam auszusehen.
 

"Fassen wir zusammen: Jedes Wesen besitzt Energie in sich. Dabei unterscheidet man zwischen Körperlicher Energie, dem Ki, und geistiger Energie, dem Mana. Ki setzt man quasi ständig ein: beim Gehen, Kisten schleppen, Armdrücken oder auch beim Kämpfen mit Hieb- und Stichwaffen. Das eigene Ki kann man relativ gut sammeln und kanalisieren, beim Mana ist das schon schwieriger."
 

"Deshalb ist es auch verdammt schwer, Magier zu werden." fügte Kyeran hinzu. Er musste sich gerade schmerzlich an sein unterirdisch schlechtes Abschneiden im Magie-Pflicht-Grundkurs in der Schule erinnern. Und vor zehn Minuten hatte ihm Joe dann verkündet, dass gerade er die Rolle des Magiers im Team übernhemen sollte.
 

Es stimmte zwar, Dämonen waren deutlich talentierter im Umgang mit Mana, aber wieso gerade er? Noch nicht einmal der klassische Feuerball, der Anfängerzauber schlechthin, wollte Kyeran mehr gelingen. Und wie war das nochmal mit diesen Konzentrationsübungen?
 

Kyeran hatte schon oft in der Arena gesessen und den besten Magiern des Reiches bei ihren Duellen zugesehen. Vor dem Kampf lag immer so ein Knistern in der Luft, man konnte das Mana formlich sehen. Und dann, nach Sekunden höchster Spannung, schnellten die Kontrahenten aufeinander zu. Feuer, Eis und Funken sprühten durch die Arena. Magisch verstärkte Schwerter prallten aufeinander. Oft passierte es dann, dass einer der Kontrahenten von einem unsichtbaren Stoß gegen die Bande gestoßen wurde. Dann sammelten sie sich wieder und der Kampf wurde taktischer. Fernkampfwaffen wurden bei solchen Duellen fast nie benutzt, schließlich war es ein Leichtes, Projektile aller Art abzuwehren. Also kreisten die beiden dann langsam umeinander, vom Schild geschützt und das Schwert in Angriffshaltung langsam kreisend. Und dann zeigte sich meist, wer der bessere von beiden war.
 

"... Konzentration. Das ist der Schlüssel. Du musst spüren, wie die Energie durch deinen Körper fließt, dann kannst du sie auch kontrollieren." Joe schloss für einen Moment die Augen und sammelte dann eine kleine, hellgelb leuchtende Kugel aus purem Ki in seiner Handfläche. "Schließ deine Augen, mach deinen Kopf leer und versuche alle deine Energie in deiner Hand zu sammeln."
 

Nikolaj schluckte und schloss dann die Augen. "Mach deinen Kopf leer", echote Joes Stimme in seinen Gedanken. Also gut. Leere.
 

Der junge Mann konzentrierte sich auf seinen Atem, versuchte den eigenen Körper bis in seine Zehenspitzen zu fühlen. "Niko" Hörte er eine geisterhafte Stimme. "Niko!" Es war seine Mutter. Er sah sie genau vor sich, die kleine, alte Frau. Ihre grauen Haare waren zu einem Dutt gebunden, unter dem Haushaltskittel trug sie einen Wollpullover und einen Rock. Das Gesicht war vom Alter gezeichnet und faltig, aber in ihren Augen lag ein Ausdruck von unendlicher Güte. Mit einem feinen Lächeln, die Hände vor dem Körper zusammengenommen, sah sie ihn an. Nikolaj konnte nicht loslassen, er konnte seinen Kopf nicht leer machen. Er musste an sie denken. Wie es ihr nun ging? Machte sie sich Sorgen, war sie vielleicht schon bei der Polizei gewesen und hatte ihn als vermisst gemeldet? Sie würde sicherlich viel weinen. Weinen...
 

Tränen unter der Dusche. Das Prasseln des Wassers übertönte sein eigenes Schluchzen. Jeden Morgen flossen seine Verzweiflung, seine Unsicherheit, seine Angst den Abfluss hintunter. Doch weniger wurden sie dadurch nicht, nur ein Stück weit erträglicher. Wieso war er überhaupt auf dieser Welt? Bestand der Sinn des Lebens nur darin, sich vor der Schrecklichkeit der Menschen zu verstecken? Wieso musste er das aushalten? Wieso konnte er nicht einfach...
 

"Rrraaagh!" Wut und Tränen schleuderte er von sich, die Arme weit nach vorn gestreckt. Sein Atem bebte und langsam sackte er in sich zusammen. Tränen tropften auf den Sandboden. Irgendwo klapperte Metall.
 

"Wow! Du hast unser halbes Lager verwüstet." Kyerans Erstaunen war echt und auch Joe schaute beeindruckt. Nikolaj hingegen verstand die Welt nicht mehr. Das war er gewesen?
 

"Respekt. Jetzt solltest du nur noch versuchen, deine Kraft kontrolliert und vor allem gut dosiert einzusetzen", sagte Joe mit einem freundlichen Lächeln. "Dann ist es nicht mehr weit bis zum Schwertkampf. Kannst du aufstehen?"
 

In der Tat, Nikolaj fühlte sich schummerig. Nur mit Mühe konnte er sich aufrichten und auf den Beinen halten. Anscheinend hatte er bei seinem Ausbruch einen erheblichen Teil seiner Körperkraft von sich weg geschleudert.
 

"Hmm. Joe, hast du Schwerter hier? Und... wie kämpfst du eigentlich?"
 

"Das wirst du noch früh genug erfahren, Kyeran.", antwortete der Cowboy, während er in seinem Gepäck kramte und schließlich zwei in festen Stoff verpackte Schwerter hervorholte. Nach einem kurzen Blick auf die Hefte reichte er eines an den jungen Dämon. "Aber stich dir bloß kein Auge aus", fügte er augenzwinkernd hinzu.
 

Ehrfürchig wickelte Kyeran die Klinge aus, sie steckte in einer robusten Scheide aus dunkelbraunem Leder. Die Waffe fühlte sich kalt an und lag schwer in seinen Händen. Wie lange hatte er kein Schwert mehr in der Hand gehabt? Langsam zog er es aus der Scheide. Die lange Klinge blitzte in der Morgensonne und ließ keinen Zweifel an ihrer Schärfe. Am Griff und auf der Parierstange liefen feine Runen entlang, Kyeran konnte sie nicht lesen. Das war eindeutig ein Indiz für das Alter der Waffe. In der Mitte des Griffstücks prangte ein großer, tiefschwarzer Stein, der alles Licht um ihn herum einzusaugen schien.
 

Plötzlich unterbrach ein merkwürdiges Rascheln und Scharren Kyerans Gedanken. Suchend schaute er sich um, doch viele große Feldbrocken versperrten ihm die Sicht. Auch Joe schien das Geräusch bemerkt zu haben, er suchte hektisch Blickkontakt mit den beiden anderen. Nikolaj umklammerte ängstlich das Bündel, das ihm gerade übberreicht worden war.
 

Joe rief etwas, doch im selben Moment sprang das furchtbare Wesen von oben auf sie herab.

Kapitel 5: Der Kampf

Nikolaj dachte, er würde sterben. Der Ausbruch eben hatte ihn zu viel Kraft gekostet, als dass er auch nur die Chance hatte, auszuweichen. Er schloss die Augen und sah bereits sein Leben an sich vorbeiziehen.
 

Es war kein schöner Film. Schon im Kindergarten wurde er gehänselt und ausgestoßen, zu Hause herrschte die selbe Kälte. Bilder von seinem Vater schoben sich vor Nikolajs inneres Auge - schreckliche Erinnerungen folgten. In der Schule wurde es nicht besser, mit durchschnittlichen Leistungen und Stille schaffte er es, für die anderen nahezu unsichtbar zu werden. Die Universität: Lauter junge Leute, die viel zu sehr auf Selbstdarstellung fixiert waren. Und dazwischen Tränen, immer wieder Tränen und Wasser aus der Dusche.
 

Kyeran hingengen reagierte so schnell wie er es selbst nicht von sich geglaubt hatte. Das Schwert, was er eben noch sorgfältig begutachtet hatte, wurde nun zur tödlichen Verlängeurng seines Armes. Mit einem schnellen Sprung stürzte er sich dem Angreifer entgegen, in der linken Hand formte sich Mana zu eine knisternden Kugel aus Elektrizität.
 

Joe wirbelte ebenfalls herum, warf einem Blick zu seinem Rucksack und entschied in Sekundenbruchteilen, dass er seine Waffen nicht rechtzeitig erwischen würde. Statt dessen warf er sich in Nikolajs Richtung und brachte seine Faust zwischen den Angreifer und sich.
 

Es tat weh - mehr als gedacht. Doch es schein zu wirken. Joe spürte unter der Haut Knochen auf Knochen prallen, dazwischen Haare, Fell - und der Angreifer wurde in Kyerans Richtung zu Boden geschleudert. Erst jetzt erkannten sie, was sie eigentlich angegriffen hatte: ein ausgemergelter Berglöwe. Joe atmete innerlich auf, doch im selben Moment griff das Tier wieder an, es hatte es offensichtlich auf den geschwächten Nikolaj abgesehen, der mit zusammengekniffenen Augen auf dem Boden gekauert lag.
 

Doch Kyeran wollte schneller sein. Mit einem Schrei schleuderte er die knisternde Kugel aus seiner linken Hand auf das Tier zu und brachte das Schwert in der Rechten in Angriffshaltung. Die Blitzkugel streifte den Löwen nur, doch das reichte um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein fauchendes Brüllen gefolgt von unzähligen scharfen Krallen schossen Kyeran entgegen. Er versuchte irgendwie zu parieren, doch auf einen Gegenangriff hatte er sich nicht eingestellt.
 

Der Löwe landete auf seiner Brust und grub die Krallen tief in Kyerans Fleisch. Das Schwert lag dabei zwischen ihnen und die rasiermesserscharfe Klinge kam Kyerans Kehle gefährlich nahe. Irgendwie versuchte er, das Tier von sich abzuschütteln, doch es schien nur noch schlimmer zu werden. Der Löwe merkte wohl das selbe und riss sein Maul zu einem Kehlenbiss auf. Ein fauliger Gestank wehte Kyeran entgegen, er dachte dass dies das letze wäre, was er spürte.
 

Dann war auf einmal überall Blut. Mit einem saftigen Krachen zerplatzte der Kopf des Löwen nur Zentimeter von Kyerans Gesicht entfernt. Dann sackte der leblose, kopflose Körper auf seiner Brust zusammen, auch die Krallen lösten ihre Spannung in seinem Brustkorb. Für einen Moment konnte er nicht atmen, Blut und Fleischbrocken strömten über sein Gesicht, in die Nase und den Mund. Kyeran musste sich übergeben. Es wurde dunkel.
 

"Bist du schwer verletzt?" Kyeran öffnete die Augen nur, weil es Joes Stimme war, die er hörte. Dieser suchte gerade einen gute Stelle um den Kadaver der Raubkatze von seinem Kollegen runterzuschaffen. Kyerans Magen fuhr noch immer Achterbahn und in seiner Brust schmerzte es, aber er hatte keine Ahnung was von dem ganzen Blut an ihm nun sein eigenes war.
 

Mittlerweile stand sogar Nikolaj wieder auf den wackeligen Beinen. Er hatte den Angriff tatsächlich überlebt! Doch Kyeran schien schwer verletzt zu sein, blutüberströmt lag er im Wüstensand. Daneben die Überreste eines großen Raubtieres. Geistesgegenwärtig suchte er seinen Rucksack, Nikolaj wusste genau, dass sich Verbandszeug darin befand. Schließlich fand er es auch und rannte zu dem Verletzten.
 

"Halt", entgegenete Joe als Nikolaj sich halb setzte und halb fiel um Kyerans Wunden zu versorgen. "Wir müssen erst das Blut von dem Vieh aus seinen Wunden kriegen." Mit diesen Worten ging er zurück zum Lagerfeuer und nahm den Topf mit Wasser. Erst riss Joe das zerfetzte T-Shirt vom Oberkörper des jungen Dämonen, dann ließ er vorsichtig das heiße Wasser zunächst über den Oberkörper laufen, dann auch über Schultern und Kopf des jungen Dämonen. Kyeran schrie auf und zog sich zusammen. Schließlich war das Schlimmste beseitigt.
 

Nikolaj betrachtete die Szene nur. Es kam ihm irgendwie komisch vor, noch nie hatte er sich den Körper eines Anderen so genau angesehen. Vier tiefe Furchen sogen sich jeweils links und rechts vom Brustbein in die Haut. Aus ihnen quoll Blut, langsam aber stetig. Tiefrot auf blasser Haut... dieser Kontrast faszinierte ihn. Dann wanderte sein Blick ein Stück hinab, er hielt noch immer den Verband in den Händen. Kyeran atmete schwer. Langsam rollte er den Verband ab und überlegte, wie er diesen am besten am Körper des Dämonen befestigen konnte. Joe ging etwas direkter an die Sache und richtete Kyeran langsam auf.
 

Behutsam legte Nikolaj den Verband an. Der erste Kontakt seines Fingers mit dem fremden Körper löste ein unbekanntes Gefühl in ihm aus. Erst fühlte es sich wie ein Stromschlag an, dann druchfuhr ein Kribbeln erst seine Hand und dann den gesamten Körper. Nikolaj hielt kurz inne und versuchte diese Empfindungen einzuordnen, doch als er Joes irritierten Blick auf sich spürte, beeilte er sich den Verband weiter anzubringen.
 

Kyeran öffnete die Augen und sah die beiden an. Vor allem Joe sah sehr besorgt aus. War er so schlimm verletzt worden? Oh ja, dachte sich Kyeran im nächsten Moment. Jeder Atemzug tat höllisch weh. Und durch den Druck, den Nikolaj beim Verbinden ausübte, wurde es nicht besser.
 

Nach scheinbar einer Ewigkeit war er endlich fertig. Vorsichtig richtete Kyeran sich auf und setzte sich - gestützt von Joe - wieder an das Lagerfeuer. Auch die anderen beiden nahmen Platz. Niemand traute sich, etwas zu sagen. Nur Kyeran stöhnte leise vor Schmerz.
 

"J-Joe?" Alle Augen ruhten nun auf Kyeran. "Meinst... meinst du, wir überleben das? Ich... meine, das eben - " mit schmerzverzerrtem Gesicht musste er husten - "das eben, das war n-nur ein scheiß Löwe! Und di-dieser Secre...tarius will uns gegen... Feinde schicken, die noch nichtmal die... die Cherubim schaffen?"
 

"Tja...", antwortete er nach einer kurzen Pause. "Das eben lief wirklich nicht gut, da hast du Recht. Ich selbst hätte auch besser vorbereitet sein sollen." Joe senkte den Blick und rieb sich das Auge. "Allerdings haben wir noch einen weiten Weg vor uns, also viel Zeit euch auf das vorzubereiten, was noch kommt."
 

"Außerdem werden wie noch einen Vierten bekommen, oder?", fragte Nikolaj leise.
 

"Ja, das stimmt. Allerdings weiß ich nicht, wann. Sie ist da immer ziemlich... kurzfristig."
 

"Sie?" Kyeran blickte den Cowboy ungläubig an. "Eine Frau?"
 

Joe nickte. "Geraldine." Ein Hauch von Wehmut schwang in seiner Stimme mit.
 

Die Stille breitete sich wieder über dem Lager aus. Kyeran und Nikolaj schienen noch mehr von Joe zu erwarten, doch der blieb stumm.
 

"Wir sollten langsam aufbrechen. Kyeran, kannst du aufstehen?"
 

"Ich... weiß nicht.", antwortete er.
 

"Nikolaj, räum bitte hier auf. Ich werd inzwischen mal versuchen, unseren Kumpel hier wieder auf die Beine zu bringen."
 

Schon nach kurzer Zeit war das Gepäck wieder vollständig verpackt. Einer der drei Rucksäcke war deutlich leichter, dieser wurde an Kyeran weitergereicht. Joe hatte in der Zwischenzeit noch einen Blick auf die Wundversorgung geworfen und versucht, das ganze mit ein wenig Magie zu beschleunigen. Nikolaj war gerade dabei, sein Gepäck zu schultern, als Joe sich ihm noch einmal zuwandte.
 

"Mir ist noch etwas eingefallen", begann er. "Hast du schon deine Waffe angesehen?"
 

Nikolaj schüttelte den Kopf.
 

"Pack mal aus. Es müsste sogar in deinem Rucksack sein. Grobes Leinen."
 

Er musste den Rucksack fast zur Hälfte wieder ausräumen, bis Nikolaj endlich das Paket fand. Der Form nach zu urteilen war es ein weiteres Schwert, doch das, was er durch dem Stoff ertasten konnte, passte nicht zu einer Klingenwaffe. Vorsichtig wickelte er den Stoff ab, der Inhalt schien aus mehreren Teilen zu bestehen. Nach dem die letzte Lage des groben Leinens entfernt wurde, kamen vier etwa fünfzig Zentimeter lange Stäbe aus rötlichem, glatt polierten Holz zum Vorschein. In der Mitte der Holzstücke war jeweils ein breits Stück mit einem farblich passenden Lederband umwickelt, um die Griffigkeit zu erhöhen.
 

Nikolaj stutzte. Wie sollte er mit so etwas kämpfen?
 

"Füg sie zusammen. Zwei oder drei müssten erstmal reichen."
 

Er schaute Joe verwirrt an. Dann nahm er zwei Segmente in die Hände und betrachtete die Enden. Kein Gewinde war zu entdecken. Ungläubig führte er die Stücke aneinenader. Auf einmal war ein Schnappgeräusch zu hören und die Stöcker waren fest verbunden. Mit skeptischem Blick versuchte Nikolaj, sie wieder voneinander zu lösen, doch es gelang ihm nicht.
 

"Gib her." Joe nahm ihm den Stab ab und drückte ihn Kyeran, der auf wackeligen Beinen neben ihm stand, in die Hand. Dieser zeigte zum Dank ein gequältes Lächeln.
 

Nikolaj setzte die verbliebenen Segmete ebenfalls zusammen und machte seinen Rucksack wieder bereit. Dann setzten sie sich langsam in Bewegung.

Kapitel 6: Heimweh

Die nächsten Tage zogen sich zäh dahin. Sie reisten, soweit Kyeran konnte. Dann schlugen sie ihr Lager für die Nacht auf, bereiteten das Essen vor und trainierten.
 

Der lange, sperrige Stab überforderte Nikolaj komplett. Er wusste noch nicht einmal, wie man dieses Ding vernünftig halten sollte: Mit einer Hand oder mit beiden? Sollte man ihn schwingen oder damit zustechen, obwohl keine Speerspitze an seinem Ende befestigt war? Halbherzige Schwünge endeten meist darin, dass sich seine Arme verknoteten, sobald der Stab seinen Schwerpunkt hinter Nikolajs Rücken bringen wollte. Er wechselte die Technik und nahm den Stab mitting in die Hände, wie ein imaginäres Geländer. Dann hob er langsam das eine Ende und machte einen kleinen Schritt nach vorn, anschlißend wechselte er die Seite und zog den anderen Fuß nach. Das schien ganz gut zu funktionieren, man durfte nur nicht die Handgelenke zu sehr verdrehen. Nikolaj schwang noch ein paar Achten und bekam den Bogen so langsam raus. Am wichtigesten war, sich den langen Stab nicht zwischen die eigenen Beine zu schieben, denn sonst hatte man sofort verloren. Generell schien die Waffe äußerst gut geegnet, um Gegner auf Distanz zu halten. Nach einigen weiteren Übungen wagte Nikolaj sich sogar in ein kleines Sparring mit Joe. Im Nahkampf kam dieser nur in den seltensten Fällen an ihn heran.
 

Allerdings nur ohne den Einsatz von Ki. Mit der Fokussierung der eigenen Körperkraft kam Nikolaj nur sehr schwer voran, er bekam seinen Kopf einfach nicht leer. So viele Dinge plagten ihn: Wie ging es wohl seine Mutter? Machte sie sich Sorgen? Hatte sie vielleicht schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben? Dachte sie gar, er wäre tot?
 

Nikolaj musste an die Beerdigung seines Vaters denken. Nein, eigentlich dachte er nur an den Augeblick, in dem er seine Mutter so traurig wie noch nie erlebt hatte. Dicke Tränen rollten ihr wettergegerbtes Gesicht herab, die Augen rot und wund vor Trauer. Wie sollte er ihr das nur erklären? Wie, um alles in der Welt?
 

"Hey, Niko. Niko?"
 

Er wurde aus den Gedanken gerissen. Normalerweise nannte nur eine einzige Person ihn so... Mit einem grimmigen Blick antwortete er.
 

"Alles okay? Du warst grad irgendwie... weggetreten." Es war Kyeran, noch sehr blass im Gesicht. In letzter Zeit führte er hauptsächlich Konzentrationsübungen durch, um seine Wunden zu schonen.
 

"J-Ja.", antwortete er knapp. "Es ist nichts." Er schaute zu Boden.
 

"Sicher? Ich finde, du kannst uns das ruhig erzählen, wenn dich irgendwas beschäftigt."
 

Nikolaj schüttelte den Kopf. "Du verstehst das nicht."
 

"Wieso probierst du es nicht mal?" Kyerans Stimme wurde lauter.
 

Wut sammelte sich in Nikolaj. Wut, die er normalerweise nur gegen sich selbst richtete, wollte jetzt gegen Kyeran ausbrechen. Er wusste nicht, wieso, aber er ließ sie gewähren.
 

"Glaubst du ich bin freiwillig hier? Glaubst du, ich bin gerne hier? Habt ihr keine Menschen zu Hause, die sich um euch sorgen? Wisst ihr was? Ich will weg, einfach nur weg! Weg von hier, weg von euch! Ich will mein Leben wiederhaben..." Mit den letzten Worten stiegen ihm die Tränen in die Augen. Beschämt wandte sich Nikolaj ab. Er wollte am liebsten allein sein, ganz allein.
 

Joe und Kyeran blickten sich hilflos an. Schließlich machte der Dämon den ersten Schritt und ging ein Stück auf den verzweifelten Nikolaj zu.
 

"Hey."
 

Er war keineswegs auf die Reaktion gefasst. Blitzschnell wirbelte Nikolaj herum, den Stab diagonal vor dem Körper gehalten und stieß Kyeran weg. Dieser taumelte völlig perplex nach hinten, die schmerzende Brust haltend.
 

Nikolaj war in diesem Moment mindestens genauso erstaunt. Was hatte er da eben getan? Er hatte ihn tatsächlich angegriffen. Joe hatte sich schon wieder abgewandt, er saß mittlerweile am Lager und rauchte.
 

"Es... Es tut... mir leid." Der Stab fiel in den Sand. Langsam gingen die beiden aufeinander zu. Eine seltsame Spannung lag in der Luft. Nikolaj blickte in Kyerans braune Augen. Zorn flackerte darin und Schmerz. Kyeran blickte in Nikolajs blaue, vom Weinen rot gewordene Augen. Traurigkeit und Verzweiflung lagen darin.
 

"Schon okay." Kyeran kam wieder einen Schritt näher und schluckte den Zorn herunter. "Ich glaube, es ist für uns alle nicht leicht. Ich zum Beispiel," Er setzte sich langsam auf einen größeren Fels. "hab zwar niemanden, der zu Hause auf mich wartet, aber weißt du was? Heimweh hab ich auch. Und ich wette, Joe auch."
 

Nikolaj nickte.
 

"Sag mal, hab ich eigentlich was Falsches gesagt? Also, erm, als ich dich Niko genannt habe, mein ich."
 

Sie blickten sich wieder an.
 

"Ist schon okay.", antwortete er schließlich. Einen Moment überlegte er noch, eine Erklärung nachzuschieben. "Ich war einfach nicht drauf vorbereitet. Normalerweise... nennt mich nur eine Person so."
 

"Ich hätte nicht gedacht, dass du eine Freundin hast."
 

"Meine Mutter."
 

"Oh." Wieso muss ich immer in Fettnäpfchen treten?, ärgerte sich Kyeran. "Tut mir leid. Ich wollte nichts falsches sagen oder so."
 

"Schon okay.", blockte er ab.
 

"Hm, glaubst du eigentlich... Ich meine, glaubst du, dass Joe schon Kinder hat? Um die er sich sorgt? Oder ob er verheiratet ist? Er sieht auch ziemlich unglücklich aus, findest du nicht?"
 

"Ich weiß nicht." Nikolaj fiel es in der Tat erst jetzt auf.
 

"Vielleicht sollten wir drei heute Abend ein bisschen quatschen. Der Stimmung kann es nur gut tun."
 

Als hätte er das Gespräch der beiden mitgehört, kam Joe genau in diesem Moment auf die beiden zu. "Lasst uns jetzt essen, es wird bald dunkel." Ohne etwas zu sagen, standen sie auf und halfen Joe beim Essen.
 

Eine Weile sagte niemand etwas, hungrig löffelten sie ihre Tagesrationen. Nach dem Essen zog Kyeran sein T-Shirt aus, um den Verband zu wechseln. Er war deutlich dünner geworden und sein mühsam antrainierter Waschbrettbauch verschwand auch langsam. Glücklicherweise galt das selbe auch für die Wunden, die ihm der Löwe zugefügt hatte. Weiße, lange Narben sogen sich über Kyerans Brust. Ob das bei den Frauen ankommen wird?, fragte er sich und musste lächeln.
 

"Sagt mal, Leute.", fing er an während er neuen Verband um seinen Oberkörper wand, "wie habt ihr eigentlich so gelebt, bis neulich? Vielleicht hilft es ja, wenn wir uns mal ein bisschen kennen lernen. Ich mach auch gerne den Anfang.
 

Tja, also ich hab in nem kleinen Appartment gewohnt, in der Hauptstadt. Verdient hab ichs mir auf dem Markt, als Kistenschlepper. Hat den angenehmen Nebeneffekt, dass man sich das Training sparen kann." Er lachte vorsichtig. Die anderen beiden hörten anscheinend aufmerksam zu. Mittlerweile war Kyeran fertig mit dem neuen Verband und zog nach dem T-Shirt auch noch einen Pullover über, es wurde nämlich langsam kühl.
 

"Eigentlich hab ich jeden Tag auf den Abend hingearbeitet", fuhr er fort. "Erstmal auf den Feierabend, dann aufs Feiern. Ich war fast jeden Abend irgendwo unterwegs. Und fast nie bin ich danach allein ins Bett gegeangen." Jetzt musste er breit grinsen. "Naja, ihr seid wohl eher nicht so die Frauenhelden. Sag mal, Joe, wo kommst du eigentlich her?"
 

Stille. Joe wusste nicht recht, wo er anfangen sollte. Dann besann er sich auf das einfachste.
 

"Aus den USA." Nikolaj horchte auf. Er war also nicht der einzige Mensch.
 

"Das ist in der Menschenwelt, hm? Wie sieht es da so aus?"
 

"Das ist schon ein recht großes Land. Meere im Osten und Westen, dazwischen Flüsse, Wälder, Steppen, Sümpfe und viele kleinere Städte. Mein Haus steht in der Prärie, in Texas."
 

"Du wohnst auf dem Land? Alleine?"
 

"Ja, ziemlich abgeschieden. Man hat seine Ruhe." Nikolaj nickte zustimmend.
 

"Hm, Ruhe ist eher nichts für mich." Kyeran lächelte. "Hast du ne Familie?"
 

"Eine Tochter, ja." Nach einer Weile fügte er hinzu: "Ich glaube sie wird bald heiraten."
 

"Bist du verheiratet?"
 

Joes Gesichtszüge verhärteten sich.
 

"Nein."
 

Kyeran hatte das ungute Gefühl, schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten zu sein. Hilfesuchend blickte er zu Nikolaj. Glücklicherweise nahm dieser den Blick auf, anscheinend dachte er, dass er jetzt an der Reihe wäre.
 

"Ich komme aus der Ukraine. Dort ist es eher kühl und es gibt viele Tannenwälder."
 

"Du wohnst mit deiner Mutter zusammen, tippe ich mal?"
 

"Ja."
 

"Hm. Und was machst du so? Arbeitest du?"
 

"Ich... studiere Jura."
 

"Oh, du studierst. Ich weiß nicht, wie das bei euch ist, aber bei uns muss man schon einiges drauf haben, um studieren zu dürfen. Bist ziemlich intelligent, was?"
 

"Ich denke nicht. Eigentlich gefällt es mir auch nicht so sehr."
 

"Und dann machst du es trotzdem?"
 

"Ich tus für sie."
 

"Ist sie schon alt?"
 

"Hmhm."
 

"Wisst ihr was? Es ist ganz schön schwer, euch aus diesem blöden Heimweh rauszukriegen. Joe, hast du schon was von dieser Geraldine gehört?"
 

Er schüttelte den Kopf, ohne den Blick zu heben.
 

"Ich denke, ich werd morgen wieder anfangen mit dem Training. Wer weiß, wann das nächste Vieh aus dem Geröll springt und uns fressen will. Ich soll dann also der Magier im Team werden, hm?"
 

"Wir sollten jetzt schlafen gehen.", sagte Joe. Die Nachtlager waren schon bereit. Sie teilten noch ihre Nachtwachen ein und legten sich dann hin, ohne ein weiteres Wort zu wechseln.

Kapitel 7: Besuch

Der Turm war das am besten gesicherte Gefängnis des vereinigten Reiches. Das Bauwerk befand sich auf einer kleinen künstlichen Insel in der Mitte eines großen Sees, eingezäunt von einem kolossalen Bannkreis der höchsten Sicherheitsstufe. Magie war hier absolut tabu, und das musste auch so sein, denn im Inneren des Turms waren die mächtigsten, die gerissensten, die gefährlichsten Verbrecher des vereinigten Reiches auf einem Fleck versammelt.
 

Im der obersten Zelle dieses Turms saß ein Mann, bis auf die Knochen abgemagert und an Händen, Füßen und Hals an die Wand hinter ihm aus blankem Stein gekettet. Seine schwarzen Haare hingen in fettigen Strähnen vor seinem eingefallenen Gesicht, auch sein Bart wurde vermutlich schon seit Jahren nicht mehr gestutzt. Über seinem Kopf schwebte eine bizarre Struktur aus bläulich-durchscheinenden Stäben, Streben, Ringen und Verästelungen, die in ihrer ätherischen Schönheit so gar nicht in diese triste Umgebung zu passen schien. Diese Struktur verhinderte dem Gefangenen jede Art von Maigewirkung und koppelte beim Versuch einer solchen statt dessen in Form von purem Schmerz zurück. Dornenkrone wurde dieser Bannspruch selbst von offizieller Seite genannt, in den Gefängnissen des vereinigten Reiches gehörte er zum Standardprozedere wie das Verriegeln der Zellentüren. Doch die Dornenkrone dieses Mannes war etwas besonderes: So riesig, so komplex und so eng verästelt ließ sie auf einen überaus mächtigen Magier schließen, der hier gefangen gehalten wurde.
 

Der Gefangene öffnete einen Spalt breit die Augen. Sein Geruchssinn hatte ihn nicht getäuscht: Neben ihm stand ein metallener Essnapf mit einer dampfenden Ration auf dem Steinfußboden. Doch das Essen konnte vorerst warten, schließlich hatte der Gefangene im selben Augenblick etwas noch viel wichtigeres bemerkt: Einen Besucher an der Tür. Er richtete seinen wachen, durchdringenden Blick, der so gar nicht zum gebrochenen Äußeren des Mannes passte, auf die kleine, vergitterte Aussparung in der Tür. Dann formte sich sein Gesichtsausdruck zu einem breiten, furchteinflößenden Grinsen: Er hatte seinen Gegenüber erkannt.
 

"Gérard...", flüsterte er und seine Stimme hörte sich heiser und kratzig an, als sei sie seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden. "Wie lange ist es jetzt schon her? Zweihundert, Dreihundert? Oder gar schon fünfhundert Jahre?"
 

"Ich bin nicht zum Plaudern hier her gekommen.", antwortete eine kühle Frauenstimme abschätzig. "Außerdem kannst du mich nicht mit deinem heruntergekommenen Äußerem täuschen. Von wem hier erwartest du dir eigentlich Mitleid mit sowas?" Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. "Auf den Schlachtfeldern gibt es eine seltsame Anomalie, wie eine Quelle, die buchstäblich Mana ausspuckt. Natürlich hat das sofort alle möglichen Arten von Freaks angezogen, allen voran dieses widerliche Nekromantenpack der Jesuiten." Sie spuckte aus, um ihrer Abscheu Nachdruck zu verleihen.

In den Augen des Gefangenen flackerte purer Zorn auf, und seine Miene verhärtete sich. Den Blick wandte er nicht einen einzigen Augenblick von seiner Gesprächspartnerin ab, auf deren Gesicht sich eine Mischung aus Schadenfreude und Belustigung abzeichnete.
 

"Hah! An deiner Stelle würde ich mich eher von diesen Typen beleidigt fühlen. Ein Haufen Geisteskranker, die meinen sie würden dich mit irgendwelchen Opferritualen und dilettantischer Nekromantie aus dem Turm rausbeschwören können? Mal ganz abgesehen davon, dass Nekromantie strengstens verboten ist."
 

Stille machte sich wieder breit. Beide schienen abzuwägen, wie sie das Gespräch nun zu ihren Gunsten weiterführen könnten.
 

"Aber zurück zu der Quelle", fing die Frau schließlich wieder an. "Ich meine mich zu erinnern, in deinen Aufzeichnungen über ein ähnliches Phänomen gelesen zu haben. Wo war das nochmal? Athen?"
 

"Delphi", korrigierte der Gefangene bestimmend. "Delphi. Aber nein, das war keine Quelle, nur eine Kanalisierung, ein Filter. Vielleicht auch ein Fokus. Eine richtige Quelle habe ich noch nie erlebt, vermutlich ist es auch gar keine. Und wenn Milpeza immer noch Chef des Geheimdienstes ist, würde ich das an deiner Stelle auch stark anzweifeln. Und sag mal, Gérard...", fast genüsslich sprach er den französischen Namen aus. "Was ist eigentlich mein Lohn für diese Informationen? Was hast du mir mitgebracht?" Seine Augen weiteten sich, ine bizarre Mischung aus Extase und Wahnsinn spiegelte sich im Gesicht des Gefangenen wider.
 

"Ein Buch. Aber keine Angst, nichts was dich auf dumme Gedanken bringen könnte.", antwortete sie mit einem süffisanten Lächeln.
 

"Buch. Buch. Buch.", echote er leise. "GIB ES MIR!" Mit einem Ruck richtete er sich plötzlich auf und riss an den Ketten, nur um kurz darauf durch den Rückstoß wieder auf den Boden gerissen zu werden. Die Augen weit geöffnet und zitterig schnaufend, blickte er flehend zur Tür.
 

Ihr Lächeln wurde zu einem hämischen Grinsen. "Es wird dir morgen in die Zelle gebracht. Diese Paranoiden müssen sich erst noch vergewissern, dass ich auch keine Metallfeile drin versteckt habe." Noch ein letztes Mal blickte sie dem Gefangenen in die Augen: Verzweiflung, Schmerz, Zorn, Trauer, Wahnsinn, Begierde, Hass, Kälte. Aber sie war sich nicht sicher, ob einiges davon vielleicht nur aus ihren eigenem Blick reflektiert wurde. Dann wandte sie sich ab und machte sich an den Rückweg.
 

Der Gefangene starrte noch einige Zeit auf die vergitterte Aussparung in der Tür. Bevor er wieder in seiner Meditation versank, murmelte er: "Auf dass eure Mission genauso schief laufen möge wie die letzte."

Kapitel 8: Das Kreuz

"Sag mal Niko, was trägst du da eigentlich für einen Anhänger?" Kyeran war das dünne Goldkettchen schon sehr früh aufgefallen, aber der daran befestigte Anhänger befand sich immer unter Nikolajs Kleidung, so dass er bis jetzt keinen Blick darauf werfen konnte. Er grübelte schon eine Weile darüber, denn unter Dämonen trugen die introvertierteren Männer für gewöhnlich nicht so etwas.
 

"Was? Oh, das ist nur ein Kreuz.", antwortete er geistesabwesend.
 

Joe sog nervös die Luft zwischen den Zähnen ein. Er überlegte fieberhaft, wie er nun die Situation entschärfen könnte, doch es war zu spät. Kyeran blieb entrüstet stehen.
 

"Moment. Ein Kreuz? Ein KREUZ? Joe, hat er eben gesagt, er trägt ein verdammtes Kreuz mit sich rum?" Er schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. "Dafür wandern wir alle in den Knast, sobald wir hier fertig sind! Wieso hat mir niemand gesagt, dass der Typ ein radikaler Fanatiker ist?"
 

Nikolaj verstand die Welt nicht mehr. Natürlich trug er ein Kreuz, er war schließlich getauft. Seit diesem Tag trug er es ständig als Zeichen seines Glaubens... oder vielleicht auch eher um nicht aufzufallen, denn in seinem Umfeld war dezenter religiöser Schmuck halt üblich.
 

Joe packte die Gelgenheit, um einzulenken. "Jungs, wir sollten eine Pause machen. Diese Sache ist etwas, nunja, heikel." Also hielten sie an und tranken zunächst etwas. Kyeran ließ Nikolaj für keinen einzigen Moment aus den Augen.
 

"Die Menschen", fuhr er schließlich fort, "wissen nicht über Jesus Bescheid. Als die ganze Sache aufkam, entschied sich das damalige Ministerium dass es unproblematischer wäre, die Menschen weiterhin in ihrem falschen Glauben zu lassen. Es hieß, die christliche Religion würde in einigen hundert Jahren sowieso wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wenn Jesus nicht mehr selbst an ihrer Verbreitung beteiligt wäre."
 

Kyeran und Nikolaj saßen beide mit offenen Mündern vor ihm, doch aus verschiedenen Gründen. Der junge Dämon konnte es einfach nicht fassen, dass Menschen selbst heute noch diesem Monster huldigten! Seit drei Jahrhunderten hingen sie noch immer diesem egoistischen Hochstapler an und verbreiteten seine Schriften vermutlich sogar noch weiter! Nikolaj hingegen wiederholte Joes Sätze noch einmal langsam im Geiste, doch auch dann wollten sie kein bisschen mehr Sinn ergeben als zuvor. Redeten sie vom selben Jesus?
 

"Hm, ich sollte vielleicht noch etwas weiter ausholen. 'Jesus von Nazareth', wie die Christen ihn nennen, kam gar nicht aus Nazareth, sondern aus Alexandria. Er trieb sich einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung als Sohn eines Bibliothekars in der berühmten Bibliothek von Alexandria herum. Völlig ahnungslos stolperte er dabei über alte Zauberbücher, und durch irgendeine Begabung oder Empfänglichkeit fand er Zugang zu dieser Magie. Im Geheimen bildete er sich autodidaktisch zum Magier aus und träumte davon, die Macht die sie mit sich brachte zu seinem Vorteil zu nutzen. Er wurde also größenwahnsinnig. Leider war er aber auch wirklich begabt, und so gelang es ihm schließlich irgendwie seinen eigenen Geist in fremde Körper zu übertragen und so der Sterblichkeit zu entgehen. Jesus begann also, als mächtiger Herrscher Länder zu erobern, das antike römische Reich beispielsweise wurde unter seiner Führung zum wahren Imperium. Er war immer einen Schritt voraus und es gelang ihm jedes Mal, den zahlreichen Intrigen, Attentaten und Anschlägen zu entgehen. Sein ultimatives Ziel war natürlich die Weltherrschaft, doch nebenbei verlor er auch die Magie nicht aus den Augen. Er entwickelte gefährliche Zauber und schrieb sie nieder, versteckt in kryptischen Versen und erfundenen Geschichten über seine eigene Person, die ihn natürlich als den Messias darstellten, auf den die jüdischen Gelehrten schon seit Ewigkeiten gewartet hatten."
 

Nikolaj konnte es nicht fassen. Das durfte nicht sein! Das war unmöglich! Das ganze Christentum sollte eine Lüge sein? Die Bibel ein Zauberbuch? Nein, er konnte es nicht glauben. Obwohl er sich nie sonderlich viel aus Religion gemacht hatte, überschritt dies eindeutig eine Grenze für Nikolaj. Die Grenze des gesunden Menschenverstandes. Wer war dieser Joe überhaupt? Irgendein Amerikaner, der woher auch immer zaubern konnte und jetzt versuchte, ihm die Welt zu erklären? Nein, das konnte nicht sein.
 

"Als er schließlich als Napoleon Bonaparte erneut versuchte, Europa einzunehmen, schritt das vereinigte Reich ein. In den vernichtenden Schlachten wurden viele verdeckte Dämonen eingesetzt und in Waterloo kam auch unsere Einheit zum Zuge. Schließlich wurde er verhaftet und verurteilt und sitzt nun in einem der Gefängnisse hier."
 

"Wieso haben sie ihn eigentlich nicht einfach hingerichtet? So ein für alle Mal?", hakte Kyeran nach. Nikolaj war noch nicht wieder in der Lage, zu sprechen. Er musste das Geörte erst einmal verarbeiten und sein Verstand war dabei nicht gerade hilfreich.
 

"So hat man ihn wohl besser unter Kontrolle. Darüber hinaus würde man sich vielleicht nur den nächsten Tyrann herbei züchten, wenn man seine Seele wieder dem üblichen Wiedergeburtenkreislauf hinzufügen würde." Eine Weile überlegten die beiden noch über diese Gründe, dann fügte Joe schließlich hinzu: "Und ich habe schon öfters den Satz gehört, dass die Unsterblichkeit eine ungleich schlimmere Strafe sein soll als der Tod. Wie dem auch sei, die Bibel ist im vereinigten Reich ein verbanntes Buch. Ich hoffe, du hast keine dabei, Nikolaj, sonst müssen wir die heute Abend wohl verfeuern. Hey, Nikolaj?"
 

Der angesprochene reagierte nicht, er hatte auch gar nicht gehört, was Joe zuletzt erzählt hatte. Er spürte wieder Tränen hinauf steigen, diesmal aus Verzweiflung und Ratlosigkeit. Und da war wieder diese Wut, dieses seltsame neue Gefühl. Nikolaj wollte wieder weg. Wollte zurück in die Ukraine, zu seiner Mutter - Ach, seine Mutter war ihm so langsam auch egal! - nach Hause, wo er sich verkriechen konnte. Doch statt dessen konnte er sich nur ein paar Meter von ihrer Raststätte entfernen und auf den Horizont starren, dorthin wo sich der graue, wolkenverhange Himmel und die rote Felswüste trafen. Langsam verschwomm diese zunächst klare Linie, als sich ein Schleier über seine Augen legte. Im Hintergrund klapperte etwas, doch das wollte ihm egal sein. Er versuchte auch die Schritte zu ignorieren, die hinter immer lauter wurden.
 

Kyeran seufzte. Wie konnte der Typ nur so stur sein und so pessimistisch gegenüber allem, was er erfuhr? Er hätte sich freuen sollen, dass er endlich die schreckliche Wahrheit über seine komische Religion erfahren hat, doch statt dessen stand er wieder so apathisch rum und heulte. Und da Joe anscheinend keinen blassen Schimmer von sozialem Umgang hatte, war er nun wieder an der Reihe den blonden Typen zu beruhigen. Zunächst sagte er nichts, beobachtete nur wie Nikolaj in die Ferne starrte. Scharf umrissene Gesichtszüge, hohe Wangenknochen, eine leichte Stupsnase, die irgendwie nicht so recht zum Rest zu passen schien und etwas struppige, ohne einen Sinn für Ästhetik gestutzte blonde Haare rahmten die traurigen graublauen Augen ein. Eigentlich sah er ja schon recht gut aus, dachte Kyeran und erschrak beinahe ein wenig vor seinen eigenen Gedanken. Dann brach auf einmal der Schelm in ihm durch. Ohne auch nur einen Moment lang darüber nachzudenken, drückte er Nikolaj einen Schmatzer auf die Wange und beobachtete grinsend die Reaktion.
 

Nikolaj erschrak gehörig und zuckte zusammen wie nach einem Peitschenhieb. So oder so ähnlich fühlte sich die seltsame Berührung auch an. Er blickte Kyeran an und öffnete den Mund, nur um ihn danach wieder zu schließen. Nach einigen Sekunden fielen ihm schließlich wieder Worte ein, doch der Dämon war schneller.
 

"Muss ganz schön hart sein, jeden Tag so viel Neues zu erleben, was?", begann dieser das Gespräch.
 

"Naja, wenn das alles komplett neu wäre, hätte ich wohl nicht so sehr ein Problem damit. Aber wenn innerhalb von zehn Minuten Überzeugungen zerschlagen werden, die die Grundlage meines Lebens bildeten, dann ist das hart."
 

"Hm, ja, krass. Wenn du nachher oder so nochmal über den ganzen Kram reden willst, stehe ich auf jeden Fall zur Verfügung. Nur damit dus weißt."
 

"Danke." Tatsächlich fühlte Nikolaj sich ein wenig dankbar. So ein Angebot hatte er bisher noch nie bekommen. "Und sag mal, was war das eben eigentlich?"
 

Damit hatte Kyeran nicht gerechnet. Verlegen versuchte er, ein charmantes Lächeln aufzusetzen um irgendwie eine Erklärung einzuleiten. "Tjaa..."
 

Plötzlich erschraken sie beide gleichermaßen, als sie jeweils eine schwere Hand auf ihrer Schulter spürten. "So Kinder, das Essen ist fertig. Onkel Joe hat diesmal was ganz besonderes gezaubert!" Erwartungsvoll schauten sie sich um, doch Joe legte bereits eine entschuldigende Miene auf.
 

"Standardrationen."

Kapitel 9: Feindkontakt

Die nächsten Tage verliefen weitestgehend ereignislos. Tagsüber waren die drei Gefährten unterwegs, bei Einsetzen der Dämmerung schlugen sie ihr Lager auf und verbrachten die letzten Sonnenstunden mit Kampftraining. Nikolaj wurde immer schneller und wendiger im Umgang mit dem Stab, und von diesem Erfolg profitierte auch sein Selbstbewusstsein. Er hatte tatsächlich eine Sache gefunden, die ihm Spaß machte und nebenbei schien er auch noch Talent dafür zu besitzen. Mehr noch, er konnte sein eigenes Ki mittlerweile sogar spüren, es gezielt in die richtigen Bahnen lenken und so wurde er selbst Kyeran gefährlich, der diese Technik schon seit Kindestagen beherrschte.
 

Auch Kyeran fand sich immer besser mit seiner Rolle als Kampfmagier zurecht. Die Feuerzauber schienen ihm nicht besonders zu liegen, doch dafür hatte er herausgefunden, wie er sich eine eisige Aura auferlegen konnte, die alle Lebewesen in seiner direkten Umgebung mit ihrer stechenden Kälte schwächte und hektische Bewegungen fast unmöglich machte. Im Kampf schoss er mühelos Blitzkugeln aus seiner Hand und wirbelte den roten Wüstenstaub mit einem gezielten Windstoß auf, um dem Gegner die Sicht zu nehmen. Er fühlte sich stark und schnell, beinahe wie eine jener Raubkatzen, die ihn zu Beginn der Reise fast zum Verhängnis geworden war. Seine Wunden waren komplett verheilt, was vor allem an Joes magischen wie handwerklichen Heilfähigkeiten lag.
 

Es machte ihm Spaß, mit Nikolaj zu trainieren. Wenn die beiden mit ihren beinahe gegensätzlichen Fähigkeiten aufeinander trafen, stellte dies für beide gleichermaßen eine sportliche Herausforderung dar. Nikolaj musste aufpassen, nicht zu nahe an seinen Kontrahenten heranzukommen, damit er von der Eisaura nicht gelähmt wurde, doch gerade sein langer Kampfstab schien in dieser Situation die perfekte Waffe zu sein. Kyeran hingegen war ständig auf der Hut, wenn er mit Nikolaj kämpfte. Schon viel zu oft hatte dieser ihn in einem unachtsamen Moment den Kampfstab zwischen die Füße geschoben um ihn dann zu Boden zu reißen und nur Momente später mit einem Grinsen im Gesicht und dem Stabende auf der Brust des Verlieres wieder in sein Sichtfeld zu treten. Doch oft genug war es auch andersherum: Durch eine geschickte Finte oder den Einsatz von Magie verschaffte sich Kyeran den entscheidenen Vorteil gegenüber Nikolaj und bachte ihn letztendlich zu Boden.
 

Joe hingegen trainierte auffallend wenig. Nur selten wagte er sich in den Nahkampf mit einem der anderen, und wenn, dann kämpfte er nur mit seinen Fäusten. Seine Waffen, die beiden alten Revolver, lagen meist im Rucksack, nur selten trug Joe die Waffen geholstert am Gürtel. Seitdem er den Berglöwen erschossen und Kyeran damit das Leben gerettet hatte, lag sein Finger nicht mehr auf dem Abzug. Statt dessen meditierte er oft in der roten Abendsonne, sammelte sein Kräfte und festigte sein Ki, denn er ahnte, was vor ihnen lag. Neugierige Nachfragen zu sein Waffen beantwortete er nur knapp und auf die Anmerkung Kyerans - die dieser bei fast jedem Gespräch zu diesem Thema vorbrachte - dass die Munition fehle, blieb er nur stumm.
 

Langsam veränderte sich die Landschaft ein wenig. Der allgegenwärtige rote Wüstensand blieb bestehen, doch die Felsen, zu Beginn der Reise meist nur kniehoch waren, wandelten sich nun zu sichtversperrenden Hindernissen. Die Stimmung in der Gruppe wurde angespannter, tagsüber führten nun alle ihre Waffen griffbereit.
 

Und schließlich war es soweit. Es war Nachmittag, die Sonne stand noch ziemlich hoch und bahnte sich einen Weg durch die schleierhaften Wolken, die an diesem Tag den Himmel überzogen. Hinter einem Felsen entdeckte Joe aufgescharrte Erde, an mehreren Stellen durchzogen auf etwa zwei Metern Länge tiefe Furchen den roten Wüstenboden, häufig durchbrochen und mehrmals verwühlt. Mit erhobener Hand gab er den anderen zu verstehen, sofort stehen zu bleiben.
 

Joe blickte sich vorsichtig um. Nichts weiteres war zu sehen, kein Lebewesen in der Nähe, kein Feind. Langsam und sehr darauf bedacht, wenig Lärm zu verursachen, setzte er seinen Rucksack ab und lehnte ihn gegen den Fels. Kyeran und Nikolaj gab er lautlos zu verstehen, dass sie seinem Beispiel folgen sollten. Dann zog er den rechten Revolver aus dem Holster, legte beide Hände um die Waffe und begann, vorsichtig um den Felsen herum zu schleichen. Kyeran und Nikolaj blieben verunsichert stehen und sahen sich an. Das war nun der Feindkontakt, dem sie schon so lange entgegenfieberten. Hier würde sich zeigen, was das Training der letzten Tage aus den jungen Männern gemacht hatte. Doch die Angst, die sie nun überkam, war heftiger als gedacht. Schließlich ging Kyeran vor, das Schwert erhoben und langsam eine Blitzkugel in der anderen Hand formend. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich langsam um den Felsblock arbeitete.
 

Plötzlich hörte er ein hämisches Lachen. Nikolaj hinter ihm konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken und Kyeran entschied sich im selben Moment, die Flucht nach vorn anzutreten. Mit einem Satz sprang er das letzte Stück um den Felsen und schleuderte den Blitz aus seiner Hand, das Schwert zum Schlag erhoben. Doch was er sah, war nichts womit er gerechet hatte.
 

Vor ihnen tat sich eine kleine Freifläche auf, die auf fast allen Seiten von hohen Felsen begrenzt war. In der Mitte der Freifläche lag loses Geröll und einige kleinere Felsbrocken. Auf einem dieser, etwa kniehohen Felsbrocken stand eine Frau.
 

Sie sah erbärmlich aus, abgemagert und schwach und fast leichenblass. Sie trug eine knielange, schwarze Leggins, die trotz des engen Schnitts an vielen Stellen Falten warf und darüber ein zerschlissenes Sommerkleid aus einem cremeweißen Stoff mit roten Blumen, unter dem sich ihre kleinen, spitzen Brüste abzeichneten. Ihre gesamte Kleidung war dreckig und an einigen Stellen sogar aufgescheuert, sie trug keine Schuhe. Doch weitaus auffälliger als dies war ihr linker Arm, der in einem schwarzen Lederhandschuh steckte. Dieser Handschuh zog sich bis zu ihrer Schulter hinauf und wurde dort von mehreren, etwa fingerbreiten, elastischen Riemen festgehalten. Das verstörendste am Anblick dieser Frau war allerdings weder ihr abgemagerter Körper noch das zerschlissene Äußere, sondern die Tatsache, dass diese Riemen direkt in ihren Körper hineinzuwachsen schienen. In der Rechten hielt sie ein Messer oder einen Dolch, doch die Hand hing locker herab, auf den ersten Blick schien von ihr keine Gefahr auszugehen. Dann folgte Kyeran dem Blick ihrer grauen Augen, die von mittelblondem, etwa schulterlangem Haar eingerahmt wurden. Sie blickte zu Joe, und auf ihren Lippen zeichnete sich ein Lächeln ab. Auch er hatte die Waffe gesenkt und schien zugleich überrascht und erfreut zu sein.
 

"Ihr könnt eure Waffen wieder wegstecken, die sind tot. Wieder tot.", sagte sie.
 

Joe atmete erleichtert aus und trat ein paar Schritte in Richtung der Frau. Zufrieden reichte er ihr die Hand und half ihr von dem Stein herunter. Sie hatte diese Hilfe natürlich nicht nötig, doch die Geste schien ihr zu gefallen. Beide sahen sich kurz an und lächelten, wie zwei Eingeweihte in das selbe Geheimnis. Dann sagte Joe:
 

"Kyeran, Nikolaj, darf ich euch vorstellen: Unser viertes Teammitglied, Geraldine."



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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Von:  Sternengaukler
2011-09-08T15:42:36+00:00 08.09.2011 17:42
ui... auch nicht grade wenig zu lesen X.x
ich habs aber mal überflogen.
detailreich und elserfreundlich, worauf ichw ert lege.
manchmal musste ich ztwar noch mal nachlesen, wenn ich was nicht verstand, aber an sich sehr gut geschrieben.
finds sehr gut, mach weiter so. und vor allem viel arbeit da drinnen.
Von:  Flippi
2008-09-04T19:10:00+00:00 04.09.2008 21:10
Hi, ohhh, wie es wohl weiter geht?
War wieder ein super kapi!
Was die Drei wohl alles noch machen?
Bin schon super geannt auf das nächste kapi!
Hi, jetzt sind wir ja zwei!
(Musste ich einfach nochmals sagen...)
Lg

Flippi
Von:  Flippi
2008-09-04T19:06:37+00:00 04.09.2008 21:06
Hi, Nikolaj ist toll!
Oh, der arme Typ!
Hoffe mal das es mir nie so ergeht,
eine total schlimme Zukunft.....
Oh, gleich weiter lesen!
Lg

Flippi
Von:  Flippi
2008-09-04T18:57:06+00:00 04.09.2008 20:57
Hi, auch wieder ein super kapi!
Ha, bin nicht mal mehr die enizige!!!!!
Also die kleine sache mit den unterhosen fand ich klasse!
Oh, das ist sooo toll!
Lese gleich mal weiter!
Lg

Flippi
Von: abgemeldet
2008-09-04T15:55:47+00:00 04.09.2008 17:55
Oo"
Die schicken drei vollkommen Unerfahrene da hin?
Irgendwie tun die mir Leid...
Was ist mit den Cherubin passiert?
Du wirst es sicher beantworten!^^

Oh, schade, dass die Bilder nicht angezeigt werden.
Du hast wahrscheinlich zu große Dateien genutzt.
Verkleinere sie einfach!^^

Klasse Kapitel!
Ich warte dann auf Nachschub!^^
Von: abgemeldet
2008-09-04T15:49:31+00:00 04.09.2008 17:49
Hui, den mag ich auch!!!^^
Was ist der denn für ein Wesen?
Wirklich nur ein Mensch?
Nuja, ich werde es sicher erfahren!
XD
Lese dann gleich weiter.
Von: abgemeldet
2008-09-04T15:45:12+00:00 04.09.2008 17:45
Wo sind sie denn nun?
Ich bin schon total gespannt darauf!
Außerdem hab ich jetzt schon einen Lieblingschara!
XD
Ich lese gleich mal weiter!^^
Von: abgemeldet
2008-09-04T12:27:06+00:00 04.09.2008 14:27
Ein Mann, der in ein Huhn verwandelt wurde?
Oo
XD
Ist ja geil!
Die anderen beiden Seiten sind auch toll!
Ich werde auf jeden Fall mal weiter lesen!^^v
Von:  Flippi
2008-09-03T18:28:12+00:00 03.09.2008 20:28
hi, die seiten 2 und 3 waren auch super!
Oh, der name Miguel ist klasse!
keine ahnung aber den finde ich toll!
Bin mal gespannt wie es weiter geht!
Versuche so schnell wie möglichst weiter zu lesen!
Lg

Flippi
Von:  Flippi
2008-09-03T18:23:32+00:00 03.09.2008 20:23
Hi, super Anfang!
Habe jetzt schon mal die erste Seite gelesen!
Finde es einfach toll geschrieben!
Lese gleich mal weiter!


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